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Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen Yuri Kondratiev Universit¨ at Bielefeld SS 2016 Contents 1 Einf¨ uhrung 3 1.1 Was ist eine DGL ......................... 3 1.2 DGLen erster Ordnung ...................... 3 1.3 Trennbare DGLen ......................... 6 1.4 Lineare DGLen 1er Ordnung ................... 12 1.5 Differentialformen ......................... 14 1.5.1 Exakte und geschlossene Differentialformen ....... 14 1.5.2 L¨osen von DGLen mit Hilfe von exakten Differential- formen ........................... 16 1.5.3 Lemma von Poincar´ e ................... 18 1.5.4 Wegintegrale und Exaktheit ............... 20 1.5.5 Integrierender Faktor ................... 23 1.5.6 Parameter-abh¨ angige Integrale .............. 24 1.6 Die DGLen 2er Ordnung ..................... 26 1.6.1 Zweites Newtonsches Gesetz (das Aktionsprinzip) ... 26 1.6.2 Elektrische Schaltung ................... 28 1.7 Normalsystem ........................... 28 1.8 DGLen h¨oherer Ordnung ..................... 30 2 Lineare DGLen und Systeme von DGLen 31 2.1 Lineare Operatoren in R n .................... 31 2.2 Existenz von L¨osungen linearer Normalsysteme ........ 35 2.3 Existenz von L¨osung linearer DGLen n-ter Ordnung ...... 36 2.4 Der Raum von L¨ osungen linearer homogenen DGLen ..... 37 2.5 osungsmethoden f¨ ur homogene DGLen mit konstanten Ko- effizienten ............................. 38 1

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Gewohnliche Differentialgleichungen

Yuri KondratievUniversitat Bielefeld

SS 2016

Contents

1 Einfuhrung 31.1 Was ist eine DGL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.2 DGLen erster Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.3 Trennbare DGLen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.4 Lineare DGLen 1er Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121.5 Differentialformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

1.5.1 Exakte und geschlossene Differentialformen . . . . . . . 141.5.2 Losen von DGLen mit Hilfe von exakten Differential-

formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161.5.3 Lemma von Poincare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181.5.4 Wegintegrale und Exaktheit . . . . . . . . . . . . . . . 201.5.5 Integrierender Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231.5.6 Parameter-abhangige Integrale . . . . . . . . . . . . . . 24

1.6 Die DGLen 2er Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261.6.1 Zweites Newtonsches Gesetz (das Aktionsprinzip) . . . 261.6.2 Elektrische Schaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

1.7 Normalsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281.8 DGLen hoherer Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

2 Lineare DGLen und Systeme von DGLen 312.1 Lineare Operatoren in Rn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312.2 Existenz von Losungen linearer Normalsysteme . . . . . . . . 352.3 Existenz von Losung linearer DGLen n-ter Ordnung . . . . . . 362.4 Der Raum von Losungen linearer homogenen DGLen . . . . . 372.5 Losungsmethoden fur homogene DGLen mit konstanten Ko-

effizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

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2.6 Losungsmethoden fur inhomogene DGLen mit konstanten Ko-effizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

2.7 ∗ Die DGLen 2-ter Ordnung mit periodischer Storfunktion . . 512.8 Beweise von Satzen 2.4, 2.5, 2.8 . . . . . . . . . . . . . . . . . 562.9 Beweis von dem Satz 2.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642.10 Der Raum von Losungen linearer Normalsysteme . . . . . . . 702.11 Variation der Konstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742.12 Wronski-Determinante und Liouvillesche Formel . . . . . . . . 822.13 Losungsmethoden fur homogene Systeme mit konstanten Ko-

effizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872.13.1 Spezieller Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882.13.2 Exponentialfunktion von Operatoren . . . . . . . . . . 922.13.3 Eine Eigenschaft der Exponentialfunktion . . . . . . . 952.13.4 Exponentialfunktion von einem Jordanblock . . . . . . 982.13.5 Blockdiagonalmatrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1012.13.6 Anwendung von Jordan-Normalform von Operatoren . 103

3 Das Anfangswertproblem fur allgemeine DGLen 1153.1 Lipschitz-stetige Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1153.2 Existenz und Eindeutigkeit fur Normalsysteme . . . . . . . . . 1203.3 Existenz und Eindeutigkeit fur skalare DGLen . . . . . . . . . 1303.4 Maximale Losungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313.5 Stetigkeit von Losungen bezuglich f (t, x) . . . . . . . . . . . . 1353.6 Stetigkeit von Losungen in Parameter . . . . . . . . . . . . . . 1413.7 Differenzierbarkeit von Losungen in Parameter . . . . . . . . . 144

3.7.1 Die Variationsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1443.7.2 Hohere Ableitungen in s . . . . . . . . . . . . . . . . . 1483.7.3 Konvexitat und Hadamard-Lemma . . . . . . . . . . . 1513.7.4 Beweise von Satzen 3.12 und 3.13 . . . . . . . . . . . . 155

4 Autonome Systeme und Stabilitat von Losungen 1604.1 Autonome DGLen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1604.2 Stabilitat eines linearen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . 1624.3 Ljapunow-Satze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1664.4 Beispiele von Ljapunow-Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . 1694.5 ∗ Weitere Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1714.6 Beweise von Satzen 4.2, 4.4 und 4.3 . . . . . . . . . . . . . . . 1754.7 ∗ Periodische Losungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

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Literatur

Otto ForsterAnalysis 2Differentialrechnung im Rn

gewhnliche Differentialgleichungen8., aktualisierte AuflageSTUDIUM

Gerald TeschlOrdinary differential equationsand Dynamical Systems

Lars Grune, Oliver JungeGewohnliche Differentialgleichungen1. Auflage 2009Vieweg+Teubner

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1 Einfuhrung

1.1 Was ist eine DGL

Eine gewohnliche Differentialgleichung (abgekurzt mit DGL) hat die Form

F(x, y, y′, ..., y(n)

)= 0, (1.1)

wobei x eine unabhangige reelle Variable ist, y = y (x) eine gesuchte Funktion(und y(k) die k-te Ableitung von y), und F eine gegebene Funktion von n+ 2Variablen. Die Zahl n, die die maximale Ordnung der Ableitung y(k) in (1.1)ist, heißt die Ordnung von der DGL. Man sagt auch, dass (1.1) eine DGLn-ter Ordnung ist.

Die Gleichung (1.1) heißt “differential”, weil sie die Ableitungen dergesuchten Funktion enthalt. Eigentlich stellt die Gleichung (1.1) eine Beziehungzwischen verschiedenen Ableitungen von y (x) dar. Die Differentialgleihung(1.1) heißt “gewohnlich”, weil die Ableitungen y(k) gewohnlich sind, im Gegen-satz zu partiellen Ableitungen. Es gibt auch die partiellen Differentialgle-ichungen, wo die gesuchte Funktion von mehreren Variablen abhangt unddeshalb die partiellen Ableitungen benutzt werden mussen, aber in diesemKurs betrachten wir nur gewohnliche DGLen.

Gewohnliche DGLen entstehen in verschiedenen Gebieten von Mathe-matik, als auch in Wissenschaften und Technik, da viele Naturgesetze mittelsDifferentialgleichungen formuliert werden konnen. In meisten Anwendungenbraucht man eine Losung y (x) von (1.1) (mit gegebenen Randbedingungen)analytisch oder numerisch zu ermitteln. Es gibt bestimmte spezielle Typenvon DGLen, die sich explizit analytisch losen lassen. Andererseits, fur ziem-lich generellen Typen von GDLen kann man verschiedene Eigenschaften vonLosungen beweisen ohne sie explizit zu berechnen, z.B. die Existenz und Ein-deutigkeit von Losungen, Differenzierbarkeit, usw. In diesem Kurs werdenwir die beiden Richtungen erforschen: explizit Losungen zu bestimmen unddie allgemeinen Eigenschaften der Losungen zu beweisen.

Am Anfang besprechen wir verschiedene Beispiele von DGLen 1er und2er Ordnung, die sich explizit losen lassen.

1.2 DGLen erster Ordnung

Eine allgemeine DGL 1er Ordnung hat die Form F (x, y, y′) = 0. Haufigkann diese Gleichung bezuglich y′ gelost werden, und man erhalt die DGL inder expliziten Form:

y′ = f (x, y) , (1.2)

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wobei y = y (x) eine gesuchte reelle Funktion einer reellen Variablen x, undf (x, y) eine gegebene Funktion von zwei reellen Variablen. Wir betrachtendas Paar (x, y) als ein Punkt in R2. Der Definitionsbereich von f ist danneine Teilmenge D von R2. Die Menge D heißt auch der Definitionsbereichvon DGL (1.2).

Definition. Sei y (x) eine reelle Funktion, die auf einem Intervall I ⊂ Rdefiniert ist. Die Funktion y (x) heißt eine (spezielle) Losung von (1.2) genaudann, wenn

1. fur jedes x ∈ I, der Punkt (x, y (x)) ein Element von D ist;

2. y (x) an jeder Stelle x ∈ I differenzierbar ist;

3. fur jedes x ∈ I, die Gleichung y′ (x) = f (x, y (x)) erfullt ist.

Die Gesamtheit aller speziellen Losungen von (1.2) heißt die allgemeineLosung.

Bemerkung.

Hier und im Folgenden ein Intervall bedeutet jede Menge der Form

(a, b) = x ∈ R : a < x < b offenes Intervall

[a, b] = x ∈ R : a ≤ x ≤ b geschlossenes Intervall

[a, b) = x ∈ R : a ≤ x < b halboffenes Intervall

(a, b] = x ∈ R : a < x ≤ b halboffenes Intervall

wobei a, b reelle oder ±∞ sind und a < b.

Die Losingen von (1.2) lassen sich eine graphische Darstellung wie folgt.Der Graph einer speziellen Losung heißt eine Integralkurve der Gleichung.Offensichtlich ist jede Integral-Kurve im Definitionsbereich enthalten. Dassdie Losing y (x) die Gleichung y′ = f (x, y) erfullt bedeutet, dass die Tan-gente zur Integralkurve an jeder Stelle (x, y) die Steigung f (x, y) hat. Of-fensichtlich, man kann die Steigung an jeder Stelle (x, y) ∈ D bestimmenohne die DGL zu losen. Jeder Stelle (x, y) ∈ D entspricht eine Richtung :eine Gerade durch (x, y) mit der Steigung f (x, y). Die Gesamtheit von allenRichtungen heißt das Richtungsfeld der DGL. Es ist klar, dass die Tangentezu jeder Integralkurve an jeder Stelle ein Element des Richtungsfeldes ist.Losen von (1.2) hat die folgende graphische Bedeutung: man verbindet dieElemente des Richtungsfeldes durch eine Integralkurve.

In der Regel lassen sich die allgemeinen DGLen nicht explizit analytischlosen. Wir zeigen hier einige Klassen von Funktionen f (x, y), bei denen

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die allgemeine Losung von (1.2) in Form einer unbestimmten Integrationgefunden werden kann.

Beispiel.Angenommen, die Funktion f hangt nicht von y, so dass (1.2) wird y′ =

f (x). Offensichtlich muss y eine Stammfunktion von f sein. Unter derVoraussetzung, dass f eine stetige Funktion auf einem Intervall I ist, erhaltenwir die allgemeine Losung auf I durch die unbestimmte Integration:

y =

∫f (x) dx = F (x) + C,

wobei F (x) eine Stammfunktion von f (x) auf I ist und C eine beliebigeKonstante ist.

Beispiel.Betrachten wir eine DGL

y′ = y

und ermitteln erst alle positive Losungen. Angenommen y (x) > 0 auf einemIntervall I, konnen wir mit y dividieren. Da

y′

y= (ln y)′ ,

erhalten wir die aquivalente Gleichung

(ln y)′ = 1.

Daraus folgt, dass

ln y =

∫dx = x+ C,

alsoy = eCex = C1e

x,

wobei C1 = eC . Da C ∈ R beliebig reell ist, ist C1 = eC beliebig positive.Daher sind alle positiven Losungen y (x) auf I wie folgt:

y = C1ex, C1 > 0.

Angenommen, y (x) < 0 fur alle x ∈ I, erhalten wir ebenso

y′

y= (ln (−y))′

undy = −C1e

x,

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wobei C1 > 0. So, jede Losing y (x), die immer entweder positive odernegative auf I bleibt, hat die Form

y (x) = Cex,

wobei C > 0 oder C < 0. Es ist klar, dass C = 0 auch eine Losung y ≡ 0ergibt.

Behauptung. Die Gesamtheit von Losungen y = Cex, wobei C ∈ R, ist dieallgemeine Losung von y′ = y.

Beweis. Sei y (x) eine Losung auf einem offenen Intervall I. Wir mussenzeigen, dass auf diesem Interval gilt y = Cex fur eine Konstante C. Isty ≡ 0 auf I, so gilt y = Cex mit C = 0. Angenommen, y (x0) > 0 an einerStelle x0 ∈ I, bezeichnen wir mit (a, b) ein maximales offenes Intervall umx0 wo y (x) > 0. Dann entweder einer von den Punkten a, b gehort zu I oder(a, b) = I.

Im ersten Fall, nehmen wir an, dass a ∈ I (der Fall b ∈ I ist ahnlich),was ergibt y (a) = 0. Da y (x) auf dem Intervall (a, b) positive ist, wir wissenschon, dass auf diesem Intervall y (x) = Cex gilt mit C > 0. Da ex 6= 0,verschwindet die Losung y (x) an der Stelle x = a nicht, was im Widerspruchzu y (a) = 0 steht. Wir beschliessen, dass (a, b) = I, woraus folgt, dassy (x) = Cex auf I.

Mit dem gleichen Argument betrachtet man den Fall wenn y (x0) < 0 aneiner Stelle x0 ∈ I.

1.3 Trennbare DGLen

Eine trennbare DGL ist eine DGL in der Form

y′ = f (x) g (y) , (1.3)

wobei f und g stetige Funktionen sind, auf offenen Intervallen I and J jeweils.Damit ist der Definitionsbereich von (1.3) I × J .

Jede trennbare DGL kann mit Hilfe von dem folgenden Satz gelost wer-den.

Satz 1.1 (Trennung der Variablen) Angenommen, g (y) 6= 0 auf J . Sei F (x)eine Stammfunktion von f (x) auf I und G (y) eine Stammfunktion von 1

g(y)

auf J . Eine Funktion y : I ′ → J , wobei I ′ ein nichtleeres offenes Teilintervallvon I ist, lost (1.3) genau dann, wenn

G (y (x)) = F (x) + C (1.4)

fur alle x ∈ I ′, wobei C eine beliebige Konstante ist.

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Z.B., betrachten wir noch mal die DGL y′ = y im Bereich x ∈ R, y > 0.Dann f (x) = 1 and g (y) = y 6= 0 so dass Satz 1.1 ist anwendbar. Wir haben

F (x) =

∫f (x) dx =

∫dx = x

und

G (y) =

∫dy

g (y)=

∫dy

y= ln y

(wir schreiben hier keine Integrationskonstante C, weil wir nur eine Stamm-funktion brauchen). Die Identitat (1.4) wird

ln y = x+ C,

woraus y = C1ex folgt wie zuvor.

Beweis. Sei y : I ′ → J eine Losung von (1.3). Da g (y) 6= 0, wir konnen(1.3) mit g (y) dividieren und erhalten

y′

g (y)= f (x) . (1.5)

Da f (x) = F ′ (x) und 1g′(y)

= G′ (y), wir erhalten durch die Kettenregel, dass

y′

g (y)= G′ (y) y′ = (G (y (x)))′ .

Daher ist die DGL (1.3) aquivalent zu

G (y (x))′ = F ′ (x) , (1.6)

woraus (1.4) folgt durch Integration.Umgekehrt, efullt eine Funktion y : I ′ → J die Gleichung (1.4) und ist

außerdem auf I ′ differenzierbar, so konnen wir die Identitat (1.4) ableitenund deshalb (1.6) erhalten, woraus (1.3) auch folgt. Es bleibt nur zu zeigen,dass y (x) unbedingt differenzierbar ist. Da die Funktion g (y) verschwindetnicht, ist g (y) entweder positive oder negative auf ganzem Intervall J . Danndie Stammfunktion G (y) von 1

g(y)ist entweder strikt monoton wachsend oder

strikt monoton fallend auf J . In den beiden Fallen, ist die UmkehrfunktionG−1 auf dem offenen Intervall G (J) definiert und differenzierbar. Insbeson-dere kann man die Gleichung (1.4) umkehren und damit erhalten, dass

y (x) = G−1 (F (x) + C) . (1.7)

Daraus folgt, dass y (x) differenzierbar ist als Verkettung von zwei differen-zierbaren Funktionen.

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Korollar 1.2 Unter den Bedingungen von Satz 1.1, fur jeden Punkt (x0, y0) ∈I×J , existiert eindeutiger Wert von der Konstante C, derart, dass die Funk-tion (1.7) eine Losung von (1.3) mit die Bedingung y (x0) = y0 ist.

Die Bedingung y (x0) = y0 heißt die Anfangsbedingung. Dieser Begriffist mit dem Begriff von Anfangswertproblem verbunden. Letzteres ist eineAufgabe die Funktion y (x) zu bestimmen, die die folgenden Bedingungenerfullt

y′ = f (x, y)y (x0) = y0,

wobei (x0, y0) ein gegebener Punkt im Definitionsbereich D von f (x, y) ist.Das Korollar 1.2 bedeutet, dass das Anfangswertproblem fur die trennbareDGL (1.4) unter der Bedingung g 6= 0 eindeutige Losung fur alle (x0, y0) ∈ I×J hat. D.h., fur jeden Punkt (x0, y0) ∈ I×J existiert genau eine Integralkurveder DGL, die durch diesen Punkt geht. Wie wir es spater sehen, das gilt auchfur bestimmte allgemeinere DGLen, aber nicht fur alle DGLen.

Beweis. An den Stellen x = x0 and y = y0, ergibt (1.4) C = G (y0) −F (x0), woraus die Eindeutigkeit von C folgt. Jetzt zeigen wir, dass dieserWert von C immer eine Losung y (x) liefert. Wir mussen nur noch uberprufen,dass die Funktion y (x) = G−1 (F (x) + C) auf einem offenen Interval um x0

definiert ist (a priori es konnte sein, dass der Definitionsbereich der Verket-tung von zwei Funktionen leer ist). Fur x = x0 erhalten wir

G−1 (F (x0) + C) = G−1 (G (y0)) = y0,

so dass die Funktion y (x) an der Stelle x = x0 definiert ist. Da die beidenFunktionen G−1 and F + C stetig sind und auf offenen Intervallen definiert,ist ihre Verkettung auf einer offenen Teilmenge von R definiert. Da dieseTeilmenge x0 enthalt, muss sie auch ein Intervall um x0 enthalten, was zubeweisen war.

Die Funktion g (y) in der DGL (1.3) kann generell die Nullstellen haben.Ist s eine Nullstelle von g, lost die konstante Funktion y (x) ≡ s die DGL(1.3). Fur allgemeine Funktion g gilt folgendes.

Korollar 1.3 Sei f und g beliebige stetige Funktionen wie im Satz 1.1, aberohne die Voraussetzung g 6= 0. Dann fur jeden Punkt (x0, y0) ∈ I×J existierteine Losung von (1.3), die durch (x0, y0) geht (also, das Anfangswertproblemist immer losbar).

Beweis. Ist y0 eine Nullstelle von g, so ist die gewunschte Losing y (x) ≡y0. Ist y0 keine Nullstelle von g, so betrachten wir ein offenes Intervall J0 ⊂ Jum y0 wo g nicht verschwindet. Dann losen wir das Anfangswertproblem

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im Definitionsbereich I × J0 mit Hilfe von Korollar 1.2 und erhalten diegewunschte Losung.

Im Gegenteil, gilt die Eindeutigkeit im Anfangswertproblem nicht immer,wie wir in weiteren Beispielen sehen.

Wie wir es spater beweisen, die Eindeutigkeit fur das Anfangswertproblemy′ = f (x) g (y)y (x0) = y0

gilt, vorausgesetzt f ist stetig und g ist stetig differenzierbar.In Anwendungen von dem Satz 1.1 muss man die Funktionen F und

G bestimmen. Es ist bequem die Auswertung von F und G mit anderenBerechnungen zu kombinieren, wie folgt. Der erste Schritt ist immer divi-dieren (1.3) mit g um (1.5) zu erhalten. Danach integriert man die beidenSeiten bezuglich x und erhalt∫

y′dx

g (y)=

∫f (x) dx. (1.8)

Der nachste Schritt ist die Integrals auszuwerten. Man findet eine Stamm-funktion F (x) von f so dass∫

f (x) dx = F (x) + C. (1.9)

Auf der linken Seite von (1.8) macht man die Substitution y = y (x) (dieFunktion y (x) wird durch eine unabhangige Variable y ersetzt). Da y′dx =dy, erhalten wir die Identitat∫

y′dx

g (y)=

∫dy

g (y)= G (y) + C,

die zusammen mit (1.3) und (1.9) ergibt (1.4).

Beispiel.Betrachten wir die DGL

y′ − xy2 = 2xy, (1.10)

im Bereich (x, y) ∈ R2. Umschreiben sie in der Form

y′ = x(y2 + 2y

)und bemerken, dass die DGL trennbar its. Die Funktion g (y) = y2 + 2yhat zwei Nullstellen y = 0 and y = −2. Daher erhalten wir zwei konstanten

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Losungen y ≡ 0 and y ≡ 2. Betrachten jetzt die DGL in den Bereichen wog (y) 6= 0:

R× (−∞,−2) , R× (−2, 0) , R× (0,+∞) . (1.11)

In jedem von diesen Bereichen benutzen wir Trennung der Variablen underhalten

1

2ln

∣∣∣∣ y

y + 2

∣∣∣∣ =

∫dy

y (y + 2)=

∫xdx =

x2

2+ C.

Potenzieren ergibt danny

y + 2= C1e

x2 ,

wobei C1 = ±e2C . Es ist klar, dass C1 alle reellen Werte annehmen kann,außer 0. Da y ≡ 0 auch eine Losung ist, kann C1 auch 0 sein.. Umbenennenwir C1 in C so dass

y

y + 2= Cex

2

,

wobei C alle reellen Werte annimmt. Daher erhalten wir die folgendenLosungen:

y =2Cex

2

1− Cex2und y ≡ −2. (1.12)

Wir behaupten, dass die Integralkurven von Losungen (1.12) nie schnei-den einander. In der Tat nimmt jede Losung

y =2Cex

2

1− Cex2, C 6= 0, (1.13)

die Werte 0 und −2 nicht an, so dass diese Losung und die Losungen y ≡ 0und y ≡ 2 nie schneiden einander. Insbesondere bleibt jede Losung (1.13) im-mer in einem von Bereichen (1.11). Zwei Losungen (1.13), die in verschiede-nen Bereichen liegen, schneiden einander offensichtlich nicht. Zwei Losungen(1.13) mit verschiedenen Werten von C, die in einem Bereich liegen, schnei-den einander auch nicht, nach Korollar 1.2. Mit dem gleichen Argument, wieim obigen Beispiel mit y′ = y, zeigt man, dass (1.12) die allgemeine Losungist. Daraus folgt, dass das Anfangswertproblem fur (1.10) eindeutig losbarist.

Jetzt zeigen wir, wie man ein Anfangswertproblem fur (1.10) losen kann,z.B. mit Anfangsbedingung y (0) = −4. Einsetzen x = 0 und y = −4 in(1.12) ergibt eine Gleichung fur C:

2C

1− C= −4,

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woraus C = 2 folgt. Daher erhalten wir die folgende Losung:

y =4ex

2

1− 2ex2.

Beispiel.Betrachten wir die DGL

y′ =√|y|,

im Bereich R × R. Diese DGL ist trennbar mit Funktionen f (x) = 1 undg (y) =

√|y|. Die Funktion g (y) hat eine Nullstelle y = 0, so dass die

konstante Funktion y ≡ 0 eine Losung ist. In den Bereichen y > 0 und y < 0losen wir die DGL mit Hilfe von Trennung der Variablen. Im Bereich y > 0erhalten wir ∫

dy√y

=

∫dx,

2√y = x+ C,

und

y =1

4(x+ C)2 , x > −C, (1.14)

wobei die Beschrankung x > −C aus der vorherigen Gleichung kommt.Ebenso, im Bereich y < 0 erhalten wir∫

dy√−y

=

∫dx,

−2√−y = x+ C,

und

y = −1

4(x+ C)2 , x < −C. (1.15)

Wir sehen, dass die Integralkurven aus den Bereichen y > 0 and y < 0schneiden die Linie y = 0, die auch eine Losung ist. Das ermoglicht Erstellungvon mehreren Losungen wie folgt: fur jedes Paar von reellen Zahlen a < b,betrachten wir die Funktion

y (x) =

−1

4(x− a)2 , x < a,

0, a ≤ x ≤ b,14

(x− b)2 , x > b,

(1.16)

die durch Verkleben von drei anderen Losungen gewonnen wird und offen-sichtlich eine Losung fur alle x ∈ R ist. Es ist jetzt klar, dass durch jedenPunkt (x0, y0) ∈ R2 unendliche viele Integralkurven der DGL gehen, und dieEindeutigkeit im Anfangswertproblem gilt nicht.

11

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1.4 Lineare DGLen 1er Ordnung

Eine lineare DGL erster Ordnung hat die Form

y′ + a (x) y = b (x) , (1.17)

wobei a (x) und b (x) gegebene Funktionen sind, die auf einem Intervall Idefiniert sind. Die Gleichung ist “linear” genannt, weil sie von y und y′

linear abhangt.Jede lineare DGL kann gelost werden wie folgt.

Satz 1.4 (Variation der Konstanten) Seien a (x) und b (x) stetige Funktio-nen auf dem Intervall I. Dann hat die allgemeine Losung von (1.17) diefolgende Form:

y (x) = e−A(x)

∫b (x) eA(x)dx, (1.18)

wobei A (x) eine Stammfunktion von a (x) auf I ist.

Wir betonen, dass die Funktion y (x) auf dem ganzen Intervall I definiertist und auch eine Losung auf I ist.

Beweis. Betrachten wir eine neue unbekannte Funktion u (x) = y (x) eA(x),also

y (x) = u (x) e−A(x). (1.19)

Einsetzen (1.19) in die Gleichung (1.17) ergibt folgendes:(ue−A

)′+ aue−A = b,

u′e−A − ue−AA′ + aue−A = b.

Da A′ = a, fallen die zwei Terme auf der linken Seite weg, und wir erhalteneine sehr einfache Gleichung fur u (x):

u′e−A = b.

Daraus folgt, dass u′ = beA und

u =

∫beAdx,

das zusammen mit (1.19) ergibt (1.18).

Korollar 1.5 Unter der Bedingungen von Satz 1.4, fur jedes x0 ∈ I andy0 ∈ R, existiert genau eine Losung y (x) von (1.17), die auf dem Intervall Idefiniert ist und die Anfangsbedingung y (x0) = y0 erfullt (also, durch jedenPunkt (x0, y0) ∈ I × R geht genau eine Integralkurve der DGL).

12

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Beweis. Sei B (x) eine Stammfunktion von beA. Dann kann die Losung(1.18) in der folgenden Form umgeschrieben werden:

y = e−A(x) (B (x) + C) , (1.20)

wobei C eine beliebige reelle Konstante ist. Offensichtlich ist diese Losung aufI definiert. Einsetzen der Bedingung y (x0) = y0 in (1.20) ergibt eindeutigenWert der Konstante C wie folgt:

C = y0eA(x0) −B (x0) .

Offensichtlich, die Losung (1.20) mit diesem Wert von C erfullt die Anfangs-bedingung.

Erklaren wir jetzt die Motivation fur die Substitution (1.19) . Sei erstb (x) ≡ 0. In diesem Fall heißt die DGL (1.17) homogen:

y′ + a (x) y = 0.

Bemerken wir, dass die homogene Gleichung trennbar ist. In den Bereicheny > 0 und y < 0 erhalten wir

y′

y= −a (x)

und

ln |y| =∫dy

y= −

∫a (x) dx = −A (x) + C.

Daraus folgt, dassy (x) = Ce−A(x) (1.21)

wobei C alle reellen Werte annehmen kann (inklusive C = 0 das entsprichtder Losung y ≡ 0).

Fur die allgemeine lineare DGL (1.17), ersetz man die Konstante C in(1.21) durch eine neue unbekannte Funktion C (x), die im Beweis u (x) beze-ichnet wurde. Da die Konstante durch eine Variable ersetzt wurde, so wurdedieses Verfahren “Variation der Konstanten” genannt. Ahnliche Methodefunktioniert auch fur die linearen DGLen hoherer Ordnung.

Beispiel. Betrachten wir eine DGL

y′ +1

xy = ex

2

(1.22)

im Bereich x > 0. Berechnen von Stammfunktion von a (x) ergibt

A (x) =

∫a (x) dx =

∫dx

x= lnx

13

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(wir schreiben hier keine Konstante C, da wir nur eine Stammfunktion brauchen).Durch (1.18) erhalten wir die allgemeine Losung

y (x) =1

x

∫ex

2

xdx =1

2x

∫ex

2

dx2 =1

2x

(ex

2

+ C),

wobei C eine beliebige reelle Konstante ist.Alternativ kann man zunachst die homogene DGL

y′ +1

xy = 0

losen, z.B. im Bereich x > 0, y > 0. Trennung der Variablen ergibt

y′

y= −1

x

(ln y)′ = − (lnx)′

ln y = − lnx+ C1

y =C

x.

Dann sucht man die Losung von (1.22) in der Form y = C(x)x. Einsetzen in

(1.22) ergibt (C (x)

x

)′+

1

x

C

x= ex

2

,

C ′x− Cx2

+C

x2= ex

2

,

C ′

x= ex

2

, C ′ = ex2

x,

C (x) =

∫ex

2

xdx =1

2

(ex

2

+ C0

).

Somit erhalten wir

y =C (x)

x=

1

2x

(ex

2

+ C0

),

wobei C0 ist eine beliebige reelle Konstante.

1.5 Differentialformen

1.5.1 Exakte und geschlossene Differentialformen

Sei F (x, y) eine reelle Funktion, die auf einer offenen Teilmenge Ω ⊂ R2

definiert ist. Erinnern wir die Definition des Differentials der Funktion F .

14

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Die Funktion F ist differenzierbar an einer Stelle (x, y) ∈ Ω, wenn reelleZahlen a, b existieren, derart, dass

F (x+ dx, y + dy)− F (x, y) = adx+ bdy + o (|dx|+ |dy|) ,

fur dx, dy → 0. Die Inkremente dx und dy jeweils von x und y werden als dieneuen unabhangigen Variablen betrachtet und heißen die Differentiale derVariablen x bzw y. Die lineare Funktion

dx, dy 7→ adx+ bdy

heißt totales Differential von F an der Stelle (x, y) und ist mit dF oderdF (x, y) bezeichnet; also

dF = adx+ bdy. (1.23)

Im Allgemeinen sind a und b die Funktionen von (x, y).Die folgenden Beziehungen bestehen zwischen die Begriffe von Differential

und partielle Ableitungen.

1. Ist F differenzierbar an einer Stelle (x, y) und (1.23) gilt, so existierendie partiellen Ableitungen Fx = ∂F

∂xund Fy = ∂F

∂yan (x, y), und es gilt

Fx = a, Fy = b. (1.24)

2. Ist F stetig differenzierbar in Ω (also die partielle Ableitungen Fx undFy existieren an jeder Stelle in Ω und sind stetig in Ω), so ist F dif-ferenzierbar an jeder Stelle (x, y) ∈ Ω und

dF = Fxdx+ Fydy. (1.25)

Definition. Gegeben seien zwei Funktionen a (x, y) und b (x, y) auf Ω, eineDifferentialform ist die Funktion

a (x, y) dx+ b (x, y) dy

von den unabhangigen Variablen (x, y) ∈ Ω und dx, dy ∈ R. Die Differen-tialform heißt exakt in Ω falls es eine differenzierbare Funktion F auf Ω gibt,derart, dass

dF = adx+ bdy. (1.26)

Die Funktion F mit (1.26) heißt ein Integral (oder Potentialfunktion) derForm.

Die folgende Behauptung enthalt die allgemeinen Eigenschaften von In-tegrals und exakten Formen.

15

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Lemma 1.6 (a) Seien a, b stetige Funktionen auf Ω. Eine Funktion F aufΩ ist ein Integral von adx+ bdy genau dann, wenn Fx = a and Fy = b

(b) (Notwendige Bedingung fur Exaktheit) Seien a, b stetig differenzier-bare Funktionen auf Ω. Ist die Differentialform adx + bdy exakt, so gilt diefolgende Identitat in Ω:

ay = bx. (1.27)

Beweis. (a) Die Identitat dF = adx + bdy ergibt immer Fx = a undFy = b. Umgekehrt, gelten die Bedingungen Fx = a und Fy = b, dann istF stetig differenzierbar und deshalb dF = Fxdx + Fydy. Daraus folgt dassdF = adx+ bdy so dass F ein Intergal von adx+ bdy ist.

(b) Ist F ein Integral von adx + bdy, dann gilt Fx = a und Fy = b.Insbesondere sind die Ableitungen Fx und Fy stetig differenzierbar. Nachdem Satz von Schwarz, es gilt Fxy = Fyx woraus ay = bx folgt.

Definition. Die Differentialform adx + bdy mit stetig differenzierbarenFunktion a und b in Ω ⊂ R2 heißt geschlossen falls in Ω die Identitat ay = bxgilt.

Es folgt aus Lemma 1.6(b), dass jede exakte Form geschlossen ist, d.h.die Geschlossenheit eine notwendige Bedingung fur die Exaktheit ist.

Im Allgemeinen, die Geschlossenheit ist keine hinreichende Bedingungfur Exaktheit, d.h. eine Differentialform kann geschlossen aber nicht ex-akt sein, wie wir unterhalb sehen. Da die Geschlossenheit ist einfacher zuuberprufen als die Exaktheit, es ware sehr nutzlich zu wissen, unter welchenzusatzlichen Bedingungen die Geschlossenheit ergibt die Exaktheit. Wir wer-den eine solche Behauptung unterhalb beweisen, aber zuerst besprechen wirdie Motivation und betrachten die Beispiele.

1.5.2 Losen von DGLen mit Hilfe von exakten Differentialformen

Unsere Interesse an die Differentialformen liegt daran, dass die folgende DGL

a (x, y) + b (x, y) y′ = 0 (1.28)

sich mit Hilfe von dem Intergal der Differentialform adx + bdy losen lasst.Naturlich kann die DGL (1.28) in der allgemeinen Form y′ = f (x, y) umgeschriebenwerden, wobei f = −a/b, aber das hilft fur Losung nicht. Da y′ = dy

dx, so

schreiben wir die DGL (1.28) wie folgt um:

a (x, y) dx+ b (x, y) dy = 0. (1.29)

Man sieht in der linken Seite die Differentialform adx+ bdy. Die DGL (1.28)(und (1.29)) heißt exakt (bzw geschlossen) genau dann, wenn die Differen-tialform adx+ bdy exakt ist (bzw geschlossen).

16

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Satz 1.7 Seien a, b stetige Funktionen auf Ω, derart, dass die Differential-form adx+ bdy exakt ist, und sei F ein Integral dieser Form. Sei y (x) einedifferenzierbare Funktion, die auf einem Interval I ⊂ R definiert, derart,dass der Graph von y in Ω enthalten ist. Dann lost die Funktion y die DGL(1.28) genau dann, wenn

F (x, y (x)) = const auf I (1.30)

(d.h. wenn Funktion F eine Konstante auf dem Graph von y ist).

Die Identitat (1.30) kann als eine allgemeine Losung von (1.28) betrachtetwerden. Die Funktion F heißt auch erstes Integral der DGL (1.28).

Beweis. Da der Graph von y (x) in Ω enthalten wird, ist die VerkettungF (x, y (x)) auf I definiert. Nach der Kettenregel erhalten wir

d

dxF (x, y (x)) = Fx + Fyy

′ = a+ by′.

Daher ist die Gleichung a + by′ = 0 aquivalent zu ddxF (x, y (x)) = 0 auf I,

und letzteres aquivalent zu F (x, y (x)) = const auf I.

Beispiel. 1. Die Form ydx − xdy ist nicht geschlossen weil ay = 1 undbx = −1. Dann ist sie auch nicht exakt.

2. Die Formydx+ xdy

ist geschlossen da ay = 1 = bx. Sie ist auch exakt weil sie in R2 ein IntegralF (x, y) = xy hat, da Fx = y = a und Fy = x = b. Die entsprechende DGL

y + xy′ = 0

hat nach Satz 1.7 die allgemeine Losung xy = C, d.h. y = Cx

. In diesem Fallerhalt man das gleiche Ergebnis auch mit Hilfe von Trennung der Variablen.

3. Die Form2xydx+

(x2 + y2

)dy

ist geschlossen weil

ay = (2xy)y = 2x =(x2 + y2

)x

= bx.

Sie ist auch exakt, weil sie in R2 ein Integral

F (x, y) = x2y +y3

3

17

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besitzt. Wir erklaren es spater, wie man dieses Integral ermitteln kann. Aberwenn man F (x, y) schon weißt, kann man Lemma 1.6(a) benutzen, um zuuberprufen, dass F wirklich ein Integral ist. In diesem Beispiel haben wir

Fx = 2xy = a und Fy = x2 + y2 = b

so dass F ein Integral ist. Die entsprechende DGL

2xy +(x2 + y2

)y′ = 0 (1.31)

hat die allgemeine Losung x2y + y3

3= C.

1.5.3 Lemma von Poincare

Eine Teilmenge Ω ⊂ R2 heißt Rechteck wenn sie die Form I ×J hat, wobei Iund J zwei Intervalle sind. Das Rechteck ist offen, wenn die beiden IntervalleI und J offen sind. Der folgende Satz antwortet auf die Frage, wie dieExaktheit der Differentialform in einem Rechteck bestimmt werden kann.

Satz 1.8 (Lemma von Poincare – hinreichende Bedingung fur Exaktheit)Seien Ω ein offenes Rechteck und a, b stetig differenzierbare Funktionen aufΩ. Ist die Differentialform adx + bdy geschlossen in Ω (also ay ≡ bx giltin Ω), so ist sie auch exakt in Ω. Daruber hinaus kann ein Intergal F vonadx+ bdy durch die folgende Identitat bestimmt werden:

F (x, y) =

∫ x

x0

a (s, y0) ds+

∫ y

y0

b (x, t) dt, (1.32)

wobei (x0, y0) ∈ Ω ein beliebiger Punkt ist.

Nach Lemma 1.6, eine exakte Form ist immer geschlossen. Deshalb be-deutet Satz 1.8, dass die Form adx + bdy in einem Rechteck exakt genaudann ist, wenn sie geschlossen ist. In allgemeinen Teilmengen Ω gilt dieseAquivalenz nicht, wie wir es spater sehen werden.

Beweis. Da Ω ein Rechteck ist, so fur jeden Punkt (x, y) ∈ Ω liegtauch der Punkt (x, y0) in Ω. Daruber hinaus liegen die beiden Intervalle[(x0, y0) , (x, y0)] und [(x, y0) , (x, y)] in Ω, so dass das Integral in (1.32) wohldefiniertist.

Angenommen, dass die Differentialform adx+bdy geschlossen ist, mussenwir zeigen, dass die Funktion F ein Integral von adx + bdy ist. Da a undb stetig differenzierbar sind, so reicht es nach Lemma 1.6(b) zu uberprufen,dass

Fx = a und Fy = b.

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Ableiten der Identitat (1.32) in y ergibt

Fy =∂

∂y

∫ y

y0

b (x, t) dt = b (x, y) .

Ableiten (1.32) in x ergibt

Fx =∂

∂x

∫ x

x0

a (s, y0) ds+∂

∂x

∫ y

y0

b (x, t) dt

= a (x, y0) +

∫ y

y0

∂xb (x, t) dt, (1.33)

wobei in (1.33) das Integralzeichen und die Ableitung ∂∂x

vertauscht wurden.Dieser Vertausch wird unterhalb in Lemma 1.10 begrundet. Einsetzen bx =ay in (1.33) ergibt

Fx = a (x, y0) +

∫ y

y0

ay (x, t) dt

= a (x, y0) + (a (x, y)− a (x, y0))

= a (x, y) ,

was zu beweisen war.Obwohl es logisch nicht notwendig ist, zeigen wir jetzt, wie die Formel

(1.32) fur F ermittelt werden kann. Ohne Beschrankung der Allgemeinheitkonnen wir annehmen, dass F (x0, y0) = 0 (In der Tat, ist F ein Integral,ist auch F + C ein Integral, fur jede Konstante C; indem wir eine geeigneteKonstante wahlen, kann die Gleichung F (x0, y0) = 0 erfullt werden). DaFx = a und Fy = b gelten, erhalten wir nach dem Fundamentalsatz derAnalysis, dass

F (x, y0) = F (x, y0)− F (x0, y0) =

∫ x

x0

Fx (s, y0) ds =

∫ x

x0

a (s, y0) ds,

F (x, y)− F (x, y0) =

∫ y

y0

Fy (x, t) dt =

∫ y

y0

b (x, t) dt,

woraus (1.32) folgt.

Beispiel. Betrachten wir wieder die Differentialform

2xydx+(x2 + y2

)dy

in Ω = R2. Wie wissen schon, dass diese Form geschlossen ist. Da R2 einoffenes Rechteck ist, erhalten wir nach Satz 1.8, dass diese Form in R2 exakt

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ist. Das Integral F der Differentialform kann nach (1.32) berechnet werdenwie folgt: mit x0 = y0 = 0 erhalten wir

F (x, y) =

∫ x

0

2s0ds+

∫ y

0

(x2 + t2

)dt = x2y +

y3

3,

wie wir es oberhalb schon gesehen haben.

1.5.4 Wegintegrale und Exaktheit

Es kann passieren, dass eine Differentialform in einer Menge Ω geschlossenaber nicht exact ist.

Beispiel. Betrachten die Differentialform

adx+ bdy =−ydx+ xdy

x2 + y2(1.34)

in Ω = R2 \ 0 (das ist kein Rechteck). Diese Form ist geschlossen, weil

ay = −(

y

x2 + y2

)y

= −(x2 + y2)− 2y2

(x2 + y2)2 =y2 − x2

(x2 + y2)2

und

bx =

(x

x2 + y2

)x

=(x2 + y2)− 2x2

(x2 + y2)2 =y2 − x2

(x2 + y2)2 .

Nach Satz 1.8 ist diese Form exakt in jedem in Ω enthaltenen offenen Rechteckist.

Zum Beispiel, betrachten wir das Rechteck Ω′ = (0,+∞)×R (Halbebene)mit (x0, y0) = (1, 0) . Nach (1.32) erhalten wir in der Halbebene ein Intergalder Form (1.34):

F (x, y) =

∫ x

x0

−y0

s2 + y20

ds+

∫ y

y0

x

x2 + t2dt

= 0 +

∫ y

0

d (t/x)

1 + (t/x)2

=

∫ y/x

0

du

1 + u2= arctan

y

x.

Also, F (x, y) ist nicht anders als der Polarwinkel des Punktes (x, y).Da Ω kein Rechteck ist, so konnen wir nicht behaupten, dass die Differ-

entialform (1.34) in Ω exakt ist. Wie wir es unterhalb sehen, (1.34) ist in Ω

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nicht exakt. Aber dafur beweisen wir zunachst noch eine andere notwendigeBedingung fur Exaktheit.

Seien Ω ⊂ R2 eine offene Menge und adx+ bdy eine Differentialform in Ωmit stetigen Funktionen a, b.

Definition. Fur jede (stetig differenzierbare) parametrisierte Kurve γ :[α, β]→ Ω definieren wir das Wegintegral von adx+ bdy entlang γ∫

γ

adx+ bdx :=

∫ β

α

[a (γ (t)) γ′1 (t) + b (γ (t)) γ′2 (t)] dt, (1.35)

wobei γ1 und γ2 die Komponenten von γ sind.

Wenn man das Vektorfeld (a, b) mit v bezeichnet, so lasst sich (1.35) wiefolgt umschreiben: ∫

γ

adx+ bdy =

∫ β

α

v (γ (t)) · γ′ (t) dt,

wobei der Punkt · das Skalarprodukt von Vektoren bezeichnet. Bemerkenwir, dass γ′ (t) der Tangentialvektor von γ (t) ist.

Diese Definition ist unabhangig von der Wahl der Parametrisierung. Ist γ :[α, β

]→

Ω noch eine Parametrisierung so dass γ (s) = γ (t) fur eine stetig differenzierbare Funktion

s = s (t) mit s (α) = α und s (β) = β, so erhalten wir nach den Substitutionsregel undKettenregel ∫ β

α

v (γ (s)) · γ′ (s) ds =

∫ β

α

v (γ (s (t))) · γ′ (s (t))ds

dtdt

=

∫ β

α

v (γ (s (t))) · ddtγ (s (t)) dt

=

∫ β

α

v (γ (t)) · γ′ (t) dt,

was zu beweisen war.

Wie wir es schon wissen, die Geschlossenheit ist eine notwendige Bedin-gung fur die Exaktheit. Jetzt beweisen wir noch eine notwendige Bedingungfur die Exaktheit.

Satz 1.9 (Notwendige Bedingung fur Exaktheit). Sei adx+ bdy eine exakteDifferentialform in Ω ⊂ R2. Dann gilt fur jede geschlossene parametrisierteKurve γ in Ω die Identitat ∫

γ

adx+ bdy = 0.

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Beweis. Sei F ein Integral von adx+bdy, so dass Fx = a und Fy = b. Dadie Kurve γ : [α, β] → Ω geschlossen ist, so gilt γ (α) = γ (β). Wir erhaltennach der Kettenregel und Fundamentalsatz der Analysis:∫

γ

adx+ bdy =

∫ β

α

[Fx (γ (t)) γ′1 (t) + Fy (γ (t)) γ′2 (t)] dt

=

∫ β

α

d

dt[F (γ (t))] dt

= F (γ (β))− F (γ (α)) = 0,

was zu beweisen war.

Beispiel. Betrachten wir wieder die Differentialform (1.34), d.h.

adx+ bdy =−ydx+ xdy

x2 + y2

in Ω = R2 \ 0 und zeigen, dass diese Form in Ω nicht exact ist. Dafurbetrachten wir den parametrisierten Kreis

γ (t) = (cos t, sin t) , t ∈ [0, 2π] .

Es gilt∫γ

adx+ bdy =

∫ 2π

0

− sin t (cos t)′ + cos t (sin t)′

cos2 t+ sin2 tdt =

∫ 2π

0

dt = 2π.

Da das Wegintegral nicht verschwindet, so erhalten wir nach dem Satz 1.9,dass adx+ bdy nicht exakt ist.

Bemerken wir, dass das Vektorfeld v = (a, b) auf dem Einheitskreis wiefolgt aussieht: v = (−y, x), was in diesem Fall mit dem Tangentialvektorγ′ (t) = (− sin t, cos t) = (−y, x) ubereinstimmt.

Man kann beweisen, dass die notwendige Bedingung des Satzes 1.9 auch hinreichendfur die Exaktheit ist, d.h. die Differentialform ist in Ω exakt genau dann, wenn dasWegintegral entlang jede geschlossene Kurve verschwindet.

Es ist moglich zu beweisen, dass die Geschlossenheit genau dann die Exaktheit im-

pliziert, wenn die Menge Ω einfach zusammenhangend ist, d.h. wenn jede geschlossene

Kurve in Ω sich auf einen Punkt zusammenziehen lasst. Offensichtlich ist jedes Rechteck

einfach zusammenhangend, wahrend die Menge Ω = R2\0 nicht einfach zusammenhangend

ist.

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1.5.5 Integrierender Faktor

Betrachten wir wieder eine DGL

a (x, y) + b (x, y) y′ = 0 (1.36)

in einer offenen Teilmenge Ω und nehmen wir an, dass (1.36) nicht exaktist.

Ist M (x, y) eine Funktion auf Ω die in Ω nicht verschwindet, dann ist(1.36) aquivalent zu

Ma+Mby′ = 0. (1.37)

Andererseits die Gleichung (1.36) entspricht die Differentialform

adx+ bdy

wahrend die Gleichung (1.37) entspricht die Differentialform

Madx+Mbdy.

Diese zwei Formen sind nicht aquivalent im Sinn, dass eine davon exakt seinkann, wahrend die andere – nicht.

Definition. Eine Funktion M (x, y) auf Ω heißt integrierender Faktorfur die DGL (1.36) genau dann, wenn M (x, y) 6= 0 in Ω und die FormMadx+Mbdy exakt in Ω ist.

Findet man integrierenden Faktor, so kann man die Differentialgleichung(1.36)/(1.37) mittels Satzes 1.7 losen.

Beispiel. Betrachten wir die Differentialform

−ydx+ xdy

die nicht geschlossen ist. Aber nach Division mit x2 + y2 erhalten wir dieDifferentialform

−ydx+ xdy

x2 + y2

die geschlossen in Ω = Rn \ 0 ist und exakt in Ω′ = (0,∞) × R ist, mitdem Integral F (x, y) = θ, wobei θ der Polarwinkel von (x, y) ist. Somit ist

1x2+y2

integrierender Faktor in Ω′.Die beiden obigen Differentialformen entsprechen die Differentialgleichung

−y + xy′ = 0,

die somit die Losung θ = const hat, was aquivalent zu y = Cx ist. DieseLosung lasst sich auch mit Hilfe von Trennung der Variablen bestimmen.

23

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Beispiel. Betrachten wir eine DGL

y −(4x2y + x

)y′ = 0 (1.38)

und die entsprechende Differentialform

ydx−(4x2y + x

)dy,

die offensichtlich nicht geschlossen ist. Jedoch ergibt Dividieren durch x2 dieDifferentialform

y

x2dx−

(4y +

1

x

)dy, (1.39)

die geschlossen im Bereich x 6= 0 ist, da

ay =( yx2

)y

=1

x2= −

(4y +

1

x

)x

= bx.

Nach dem Satz 1.8 ist die Differentialform (1.39) exakt in jedem Rechteck,insbesondere in der Halbebene x > 0. Somit ist die Funktion 1

x2integri-

erender Faktor von (1.38) in x > 0. Nach (1.32) mit x0 = 1, y0 = 0 erhaltenwir ein Integral von (1.39):

F (x, y) =

∫ x

1

a (s, 0) ds+

∫ y

0

b (x, t) dt = 0−∫ y

1

(4t+

1

x

)dt = −2y2 − y

x.

Nach Satz 1.7 bestimmen wir die allgemeine Losung von (1.38) im Bereichx > 0 wie folgt:

2y2 +y

x= C.

Es gibt keine allgemeine Methode um einen integrierenden Faktor zufinden.

1.5.6 Parameter-abhangige Integrale

Jetzt beweisen wir eine Behauptung, die (1.33) begrundet.

Lemma 1.10 Sei g (x, t) eine stetige Funktion auf einem Rechteck I × Jwobei I und J zwei beschrankten geschlossenen Intervalle sind. Dann ist dieFunktion

G (x) :=

∫J

g (x, t) dt

24

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stetig auf I. Ist g zusatzlich stetig differenzierbar in x (d.h. die partielleAbleitung ∂g

∂xexistiert und ist stetig auf I × J), dann ist die Funktion G (x)

stetig differenzierbar auf I, und es gilt fur alle x ∈ I

d

dxG (x) =

∫J

∂g

∂x(x, t) dt. (1.40)

Da (1.40) aquivalent zu

d

dx

∫J

g (x, t) dt =

∫J

∂g

∂x(x, t) dt

ist, so sind die Integration bezuglich t und das Ableiten in x vertauschbar.Beweis. Wir benutzen den folgenden Satz aus Analysis: jede stetige

Funktion auf einer kompakten Teilmenge ist gleichmaßig stetig.Die Funktion g (x, t) ist deshalb auf I×J gleichmaßig stetig, woraus folgt,

dass

∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀x, y ∈ I mit |x− y| < δ ∀t ∈ J gilt |g (y, t)− g (x, t)| < ε.

Daraus folgt, dass

|G (y)−G (x)| =

∣∣∣∣∫J

(g (y, t)− g (x, t)) dt

∣∣∣∣≤

∫J

|g (y, t)− g (x, t)| dt

≤ εL,

wobei L die Lange von J ist, woraus die Stetigkeit von G folgt.Fur die Ableitung von G erhalten wir

d

dxG (x) = lim

y→x

G (y)−G (x)

y − x= lim

y→x

∫J

g (y, t)− g (x, t)

y − xdt. (1.41)

Wir beweisen unterhalb, dass

limy→x

∫J

g (y, t)− g (x, t)

y − xdt =

∫J

gx (x, t) dt, (1.42)

woraus (1.40) folgen wird. Nach dem Mittelwertsatz, fur alle x, y ∈ I undt ∈ J existiert ein ξ ∈ [x, y], derart, dass

g (y, t)− g (x, t)

y − x= gx (ξ, t) . (1.43)

25

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Da die Funktion gx (x, t) gleichmaßig stetig auf dem Rechteck I × J ist, sohaben wir

∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀x, x′ ∈ I mit |x− x′| < δ ∀t ∈ J gilt |gx (x′, t)− gx (x, t)| < ε.(1.44)

Gilt |x− y| < δ, so gilt auch |x− ξ| < δ, da ξ ∈ [x, y]. Somit erhalten wiraus (1.44) mit ξ = x′ dass

|gx (ξ, t)− gx (x, t)| < ε fur alle t ∈ J. (1.45)

Nach (1.43) und (1.45) erhalten wir, dass unter der Bedingung

|x− y| < δ

gilt ∣∣∣∣g (y, t)− g (x, t)

y − x− gx (x, t)

∣∣∣∣ ≤ ε fur alle t ∈ J,

woraus folgt ∣∣∣∣∫J

g (y, t)− g (x, t)

y − xdt−

∫J

gx (x, t) dt

∣∣∣∣ ≤ εL

und somit (1.42).

1.6 Die DGLen 2er Ordnung

Fur DGLen hoherer Ordnung benutzen wir die anderen Bezeichnungen: einunabhangige Variable wird mit t bezeichnet und die gesuchte Funktion mitx (t). Dann sieht eine explizite DGL 2er Ordnung wie folgt aus:

x′′ = f (t, x, x′) ,

wobei f eine gegebene Funktion von drei Variablen ist. Wir besprechen hiereinige Probleme, die sich auf DGLen 2er Ordnung zuruckfuhren lassen.

1.6.1 Zweites Newtonsches Gesetz (das Aktionsprinzip)

Wir betrachten eine 1-dimensionale Bewegung eines Teilchens entlang die x-Achse. Sei x (t) die Koordinate des Teilchens um Zeit t. Die Geschwindigkeitdes Teilchens ist v (t) = x′ (t) und die Beschleunigung ist a (t) = x′′ (t). DasAktionsprinzip besagt, dass

mx′′ = F, (1.46)

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wobei m die Masse von Teilchen ist und F die bewegende Kraft. Im All-gemeinen ist F ein Funktion von t, x, x′, also F = F (t, x, x′) so dass (1.46)eine DGL 2er Ordnung bezuglich x (t) ist. Ist die Kraft F als eine Funktionvon t, x, x′ bekannt, so kann man versuchen die DGL (1.46) bezuglich x (t)zu losen.

Die Kaft F heißt konservativ wenn F nur von der Koordinate x abhangt.Z.B., sind die folgenden Krafte konservativ: Gravitationskraft, elastischeKrafte, elektrostatische Kraft, u.a. Im Gegensatz sind die Reibung, Stromungswiderstand,und ahnliche Krafte nicht konservative, da sie von Geschwindigkeit x′ abhangen.

Ist F eine konservative Kraft, so lasst sich die DGL (1.46) zu einer DGL1er Ordnung reduzieren, wie folgt. Angenommen F = F (x), bezeichnenwir mit U (x) eine Stammfunktion von −F (x). Die Funktion U heißt einePotentialfunktion der Kraft F . Multiplizieren die DGL (1.46) mit x′ undintegrieren bezuglich t ergibt

m

∫x′′x′dt =

∫F (x)x′dt,

m

2

∫d

dt(x′)

2dt =

∫F (x) dx,

m (x′)2

2= −U (x) + C (1.47)

und somitmv2

2+ U (x) = C.

Die Summe mv2

2+U (x) heißt die gesamte mechanische Energie des Teilchens,

wobei mv2

2die kinetische Energie ist und U (x) potentielle Energie. Deshalb

haben wir den Energieerhaltungssatz bewiesen: unter konservativer Kraftbleibt die Gesamtenergie konstant.

Die Identitat (1.47) ist eine DGL 1er Ordnung. Ist x (t) eine Losungvon (1.47) und verschwindet x′ (t) nicht, so erfullt x (t) auch (1.46), da dasAbleiten von (1.47) ergibt

mx′′x′ = F (x)x′,

was aquivalent zu (1.46) ist. Wir sehen, dass unter der Bedingung x′ 6= 0 diebeiden DGLen (1.46) und (1.47) aquivalent sind. Die DGL (1.47) lasst sichmit Hilfe von Trennung der Variablen losen.

27

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1.6.2 Elektrische Schaltung

Betrachten wir einen so genannten RLC-Stromkreis, d.h. eine Reihenschal-tung mit folgenden Bauelementen: ein Widerstand mit dem WiderstandswertR, eine Spule mit der Induktivitat L, ein Kondensator mit der Kapazitat C,und eine Stromquelle mit der Spanning V (t), die von Zeit t abhangt.

Sei I (t) die Stromstarke im Stromkreis um Zeit t. Wir betrachten I (t)als eine gesuchte Funktion und mochten eine DGL fur I (t) gewinnen. Nachdem Ohmschen Gesetz ist der Spannungsabfall vR auf dem Widerstand gleich

vR = RI.

Nach dem Induktionsgesetzt von Faraday ist der Spannungsabfall vL auf derSpule gleich

vL = LI ′,

wobei I ′ = dIdt

. Letztlich ist der Spannungsabfall vC auf dem Kondensatorgleich

vC =Q

C,

wobei Q = Q (t) die Ladung des Kondensators ist; es gilt auch Q′ = I.Zweites Kirchhoffsches Gesetz ergibt

vR + vL + vC = V (t)

und somit

RI + LI ′ +Q

C= V (t) .

Ableiten nach t ergibt

LI ′′ +RI ′ +I

C= V ′, (1.48)

die eine DGL 2er Ordnung bezuglich unbekannte Funktion I (t) ist. Wirbetonen, dass die DGL (1.48) linear ist, weil die linke Seite von der FunktionI und ihren Ableitungen linear abhangt. Wir kehren zur diesen Gleichungzuruck, nachdem wir eine Theorie von linearen DGLen entwickelt haben.

1.7 Normalsystem

Betrachten wir eine Vektorfunktion x (t) einer reellen Variablen t, also x :I → Rn wobei I ein Intervall ist. Sei xk die Komponenten von x, so dass

x = (x1, ..., xn) .

28

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Die Ableitung x′ (t) definiert man durch

x′ = (x′1, ..., x′n) .

Die folgende Gleichung heißt Vektor-DGL 1er Ordnung:

x′ = f (t, x) , (1.49)

wobei f eine gegebene Funktion von n + 1 Variablen mit Werten in Rn ist.Namlich, f : Ω → Rn wobei Ω eine Teilmenge von Rn+1 ist, und das Paar(t, x) wird mit einem Punkt in Rn+1 identifiziert wie folgt:

(t, x) = (t, x1, ..., xn) .

Definition. Eine Losung von (1.49) ist eine Funktion x : I → Rn (wobei Iein Intervall ist) mit folgenden Eigenschaften:

1. x (t) ist differenzierbar an allen Stellen t ∈ I;2. (t, x (t)) ∈ Ω fur alle t ∈ I;3. x′ (t) = f (t, x (t)) fur alle t ∈ I.

Die Vektor-DGL (1.49) ist offensichtlich aquivalent zum folgenden Systemvon n skalaren Gleichungen:

x′1 = f1 (t, x1, ..., xn)...x′k = fk (t, x1, ..., xn)...x′n = fn (t, x1, ..., xn)

(1.50)

wobei fk die Komponenten von f sind.

Definition. Die Vektor-DGL (1.49) sowie das System (1.50) heißen Nor-malsystem.

Wie im Fall von DGLen 1er Ordnung, betrachten wir das Anfangswert-problem (AWP) fur das Normalsystem (1.49):

x′ = f (t, x) ,x (t0) = x0,

(1.51)

wobei (t0, x0) ∈ Ω ein gegebener Punkt ist. Der Vektor x0 ∈ Rn heißt An-fangswert von x (t) und t0 ∈ R heißt Anfangszeit. Wie wir spater sehen, unterbestimmten Bedingungen hat das Anfangswertproblem (1.51) eine eindeutigeLosung fur jedes (t0, x0).

29

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1.8 DGLen hoherer Ordnung

Betrachten wir jetzt eine allgemeine explizite DGL n-ter Ordnung

x(n) = F(t, x, ..., x(n−1)

), (1.52)

wobei t eine unabhangige Variable ist und x (t) eine gesuchte Funktion. Diegegebene Funktion F ist in einer Menge Ω ⊂ Rn+1 definiert. Die DGL (1.52)lasst sich immer auf ein Normalsystem zuruckfuhren. Jede skalare Funktionx (t) bestimmt eine Vektor-Funktion x (t) wie folgt:

x =(x, x′, ..., x(n−1)

). (1.53)

Die Funktion x (t) nimmt die Werte in Rn an. Man nennt die Werte vonx (t) Phasen (=Zustande) von (1.52) und den Raum Rn – Phasenraum derDifferentialgleichung (1.52).

Da x′ =(x′, x′′, ..., x(n)

), so ergibt (1.52) ein System von Gleichungen:

x′1 = x2

x′2 = x3

...x′n−1 = xnx′n = F (t,x1, ..,xn) .

(1.54)

Das System (1.54) lasst sich als eine Vektor-DGL umschreiben:

x′ = f (t,x) (1.55)

wobeif (t,x) = (x2,x3, ...,xn, F (t,x1, ...,xn)) . (1.56)

Umgekehrt, gilt (1.54) (oder (1.55)-(1.56)), so erhalten wir

x(n)1 = x′n = F (t,x1, ...xn) = F

(t,x1,x

′1, ..,x

(n−1)1

)so dass die Funktion x = x1 eine Losung von (1.52) ist. Somit erhalten wirdie Aquivalenz:

die skalare DGL (1.52) ⇔ Normalsystem (1.55)

unter (1.53) und (1.56).

Beispiel. Betrachten wir eine DGL 2er Ordnung

x′′ = F (t, x, x′) . (1.57)

30

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Mit Hilfe von Substitution x = (x, x′) erhalten wir x′ = (x′, x′′) undx′1 = x2

x′2 = F (t,x1,x2)

Deshalb ist (1.57) aquivalent zum Normalsystem (1.49) mit Funktion

f (t,x) = (x2, F (t,x1,x2)) .

Offensichtlich bedeutet die Anfangsbedingung x (t0) = x0 fur die DGL(1.52), dass

x (t0) = x0, x′ (t0) = x1, ..., x(n−1) (t0) = xn−1,

wobei x0, ..., xn−1 die Komponenten von x0 sind, also die gegebenen Werte.Deshalb formuliert man das AWP fur (1.52) wie folgt:

x(n) = F(t, x, x′, ..., x(n−1)

)x (t0) = x0

x′ (t0) = x1

...x(n−1) (t0) = xn−1.

Beispiel. Fur die DGL (1.57) 2er Ordnung ist das AWP wie folgt:x′′ = F (t, x, x′)x (t0) = x0

x′ (t0) = x1.

Ist (1.57) aus dem Aktionsprinzip gewonnen worden, so bedeuten die An-fangsbedingungen, dass die Position und die Geschwindigkeit um die An-fangszeit gegeben sind.

2 Lineare DGLen und Systeme von DGLen

2.1 Lineare Operatoren in Rn

Eine Abbildung A : Rn → Rm heißt (linearer) Operator wenn die folgendenEigenschaften erfullt sind:

1. A (x+ y) = Ax+ Ay fur alle x, y ∈ Rn (wir schreiben Ax = A (x)).

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2. A (λx) = λAx fur alle λ ∈ R und x ∈ Rn.

Die Menge von allen Operatoren von Rn nach Rm wird mit Rm×n oderL (Rn,Rm) bezeichnet. Jeder Operator A ∈ Rm×n kann mit Hilfe von einerm×n Matrix (aij) dargestellt werden, wobei i = 1, ...,m der Index von Zeilenist und j = 1, ..., n der Index von Spalten. Namlich, fur jeden Spaltenvektorx ∈ Rn gilt

Ax = (aij)x =

a11 . . . . . . . . . a1n

. . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . aij . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . .am1 . . . . . . . . . amn

x1

. . .xj. . .xn

.

Man kann auch schreiben, dass fur jedes i = 1, ...,m gilt

(Ax)i =n∑j=1

aijxj.

Man definiert die Addition von Operatoren aus Rm×n und die Multiplika-tion mit einer Konstante c ∈ R wie folgt

1. (A+B) (x) = Ax+Bx,

2. (cA) (x) = c (Ax) .

Offensichtlich ist Rm×n mit diesen Operationen ein Vektorraum uber R.Da jede m×n Matrix genau mn Komponenten hat, gilt es dimRm×n = mn.Insbesondere sind Rm×n und Rmn linear isomorph, also Rm×n ∼= Rmn.

Seien V ein Vektorraum und ‖·‖ eine Norm in V . Mit Hilfe von Normdefiniert man den Begriff von Konvergenz in V : eine Folge vk von Vektoren(Elementen von V ) konvergiert gegen v falls ‖vk − v‖ → 0. Ist V endlichdi-mensional, so ist die Konvergenz vk → v unabhangig von der Wahl der Norm,da alle Normen in endlichdimensionalen Vektorraumen aquivalent sind.

Fixieren wir die Normen in Rn und Rm.

Definition. Fur jeden Operator A ∈ Rm×n definieren wir die Operatornormvon A wie folgt:

‖A‖ = supx∈Rn\0

‖Ax‖‖x‖

, (2.1)

wobei ‖x‖ eine Norm in Rn ist und ‖Ax‖ eine Norm in Rm.

Behauptung. Es gilt immer ‖A‖ <∞.

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Beweis. Sei eini=1 die Standardbasis in Rn. Dann gilt

‖Ax‖ =

∥∥∥∥∥A(

n∑i=1

xiei

)∥∥∥∥∥ =

∥∥∥∥∥n∑i=1

xiAei

∥∥∥∥∥≤

n∑i=1

|xi| ‖Aei‖

≤ max1≤i≥n

‖Aei‖ ‖x‖1

≤ C max1≤i≥n

‖Aei‖ ‖x‖ ,

wobei wir die Vergleichbarkeit von den Normen ‖·‖1 und ‖·‖ benutzt haben.Daraus folgt

‖A‖ ≤ C max1≤i≤n

‖Aei‖ <∞, (2.2)

was zu beweisen war.Man sieht von (2.2), dass die Endlichkeit von ‖A‖ daran liegt, dass die

Raume Rn endlich-dimensional sind1. Es folgt aus Definition (2.1), dass

‖Ax‖ ≤ ‖A‖ ‖x‖ fur alle x ∈ Rn. (2.3)

Daruber hinaus ist ‖A‖ die minimale reelle Zahl die (2.3) erfullt.

Behauptung. Die Operatornorm ist eine Norm im Vektorraum Rm×n.Beweis. Nach (2.1) haben wir ‖A‖ ≥ 0; außerdem, wenn A 6= 0 dann

existiert x ∈ Rn mit Ax 6= 0, und wir erhalten ‖Ax‖ > 0 und

‖A‖ ≥ ‖Ax‖‖x‖

> 0.

Die Dreiecksungleichung und die Homogenitat folgen aus (2.1) wie folgt:

‖A+B‖ = supx

‖ (A+B)x‖‖x‖

≤ supx

‖Ax‖+ ‖Bx‖‖x‖

≤ supx

‖Ax‖‖x‖

+ supx

‖Bx‖‖x‖

= ‖A‖+ ‖B‖

und

‖λA‖ = supx

‖ (λA)x‖‖x‖

= supx

|λ| ‖Ax‖‖x‖

= |λ| ‖A‖.

1In der Theorie von unendlich dimensionalen Vektorraumen existieren Operatoren mitunendlichen Normen.

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Da Rm×n ∼= Rnm, die Konvergenz von Operatoren Ak → A wohldefiniertist und aquivalent zu ‖Ak − A‖ → 0, wobei ‖·‖ eine beliebige Norm in Rm×n

ist, insbesondere die Operatornorm.

Behauptung. Die Konvergenz Ak → A ist aquivalent zu Akx→ Ax fur allex ∈ Rn, wobei Ak, A ∈ Rm×n.

Beweis. Betrachten we noch eine Norm von Operatoren bezuglich derStandardbasis eini=1:

‖A‖e =n∑i=1

‖Aei‖ .

Die Konvergenz Akx → Ax fur alle x ist aquivalent zu Akei → Aei furalle Basisvektoren ei, und somit aquivalent zu ‖Ak − A‖e → 0. Da alleNormen in Rm×n aquivalent sind, erhalten wir die Aquivalenz der zwei obigenKonvergenzen.

Gilt Ak → A, dann sagt man, dass Ak gegen A in der Normtopologiekonvergiert. Gilt Akx→ Ax fur alle x ∈ Rn, dann sagt man, dass Ak gegenA punktweis oder in der starken Operatortopologie konvergiert. Die obigeBehauptung bedeutet, dass diese zwei Topologien in Rm×n aquivalent sind2.

Behauptung. Jeder lineare Operator A ∈ Rm×n ist eine (gleichmaßig)stetige Abbildung von Rn nach Rm.

Beweis. In der Tat haben wir nach (2.3)

‖Ay − Ax‖ = ‖A (y − x)‖ ≤ ‖A‖ ‖y − x‖ → 0 fur y → x.

In der Fall n = m kann man zusatzlich auch die Multiplikation von Op-eratoren definieren. Fur jede zwei Operatoren A,B ∈ Rn×n, definieren wirdas Produkt AB als die Verkettung von A und B, also

(AB)x := A (Bx) ∀x ∈ Rn.

Offensichtlich AB ∈ Rn×n.

Behauptung. Die Operatornorm in Rn×n ist submultiplikativ, also

‖AB‖ ≤ ‖A‖ ‖B‖ . (2.4)

Beweis. In der Tat ergibt Anwendung von (2.3)

‖(AB)x‖ = ‖A (Bx)‖ ≤ ‖A‖ ‖Bx‖ ≤ ‖A‖ ‖B‖ ‖x‖ ,2In unendlich dimensionalen Raumen ist das nicht der Fall.

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woraus (2.4) folgt.So ist Rn×n nicht nur ein normierter Vektorraum, aber auch eine normierte

Algebra.Analog definiert man den Vektorraum Cm×n von linearen Operatoren

Cn → Cm und die Operatornorm in Cm×n. Alle Eigenschaften von Normenim Fall von komplexen Raumen konnen mit gleichen Argument bewiesenwerden, wie im Fall von reellen Raumen, oder direkt aus dem reellen Fallgewonnen werden mit Hilfe von Isomorphismus Cn ∼= R2n.

2.2 Existenz von Losungen linearer Normalsysteme

In diesem Kapitel betrachten wir ein lineares Normalsystem von DGLen, dasdie folgende Form hat:

x′ = A (t)x+B (t) , (2.5)

wobei x = x (t) eine unbekannte Funktion mit Werten in Rn und A (t) undB (t) gegebene Funktionen auf einem Intervall I ⊂ R mit Werten jeweils inRn×n und Rn sind.

Insbesondere ist A (t)x ein Vektor in Rn, wie die anderen Terme in (2.5).Koordinateweise lautet (2.5) wie folgt:

x′i =n∑l=1

Aij (t)xj +Bi (t) , i = 1, ..., n,

wobei Aij und Bi die Komponenten jeweils von A und B sind. Wir nehmenimmer an, dass die Abbildungen A : I → Rn×n und B : I → Rn stetig auf Isind, also alle Komponenten Aij (t) und Bi (t) stetige Funktionen von t ∈ Isind. Wir betonen, dass der Definitionsbereich von (2.5) ist I × Rn, so dassjede Losung von (2.5) muss auf einem Teilintervall von I definiert sein.

Der folgende Satz ist einer von den Hauptsatzen dieser Vorlesung.

Satz 2.1 (Hauptsatz) (Satz von Picard-Lindelof fur lineare Normalsyste-men) Seien A (t) und B (t) stetig auf einem Intervall I.

(a) (Existenz) Fur alle t0 ∈ I und x0 ∈ Rn existiert eine Losung x (t) desAnfangswertproblems

x′ = A (t)x+B (t) ,x (t0) = x0,

(2.6)

die auf dem ganzen Intervall I definiert ist.(b) (Eindeutigkeit) Ist y (t) eine andere Losung von (2.6) auf einem Teil-

intervall I ′ ⊂ I, so gilt x (t) ≡ y (t) auf I ′.

Beweis im Abschnitt 2.9.

35

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2.3 Existenz von Losung linearer DGLen n-ter Ord-nung

Wir betrachten jetzt eine skalare lineare DGL n-ter Ordnung

x(n) + a1 (t)x(n−1) + ....+ an (t)x = b (t) , (2.7)

wobei ak (t) , b (t) stetige Funktionen auf einem nicht-trivialen Intervall I ⊂ Rsind. Das entsprechende Anfangsbedingung ist wie folgt:

x (t0) = x0

x′ (t0) = x1

...x(n−1) (t0) = xn−1

(2.8)

wobei t0 ∈ I und (x0, ..., xn−1) ∈ Rn gegeben sind.

Satz 2.2 (Hauptsatz) Seien alle Funktionen ak (t) , b (t) in (2.7) stetig aufI.

(a) (Existenz) Fur jedes t0 ∈ I und fur jeden Vektor (x0, x1, ..., xn−1) ∈ Rn

existiert eine Losung x (t) des AWPs (2.7)-(2.8), die auf I definiert ist.(b) (Eindeutigkeit) Ist y (t) eine andere Losungen des AWPs (2.7)-(2.8)

auf einem Teilintervall I ′ ⊂ I, so gilt x (t) ≡ y (t) auf I ′.

Beweis. Bezeichnen wir mit x (t) (Fettdruck x) die Vektorfunktion

x (t) =(x (t) , x′ (t) , ..., x(n−1) (t)

)T, (2.9)

deren Werte immer als Spaltenvektoren betrachtet werden. Als wir es schongesehen haben, ist die DGL (2.7) aquivalent zum Normalsystem

x′1 = x2

x′2 = x3

...

x′n−1 = xn

x′n = −a1xn − a2xn−1 − ...− anx1 + b,

das auch in der Vektorform dargestellt werden kann:

x′ = A (t) x +B (t) , (2.10)

36

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wobei

A =

0 1 0 ... 00 0 1 ... 0... ... ... ... ...0 0 0 ... 1−an −an−1 −an−2 ... −a1

und B =

00...0b

. (2.11)

Das Anfangswertproblem (2.7)-(2.8) ist offensichtlich aquivalent zumx′ = Ax +Bx (t0) = x0

(2.12)

wobei x0 = (x0, x1, ..., xn−1). Anwendung des Satzes 2.1 zum Normalsystem(2.12) ergibt die Behauptungen (a) und (b).

2.4 Der Raum von Losungen linearer homogenen DGLen

Wir betrachten jetzt eine homogene lineare DGL

x(n) + a1 (t)x(n−1) + ....+ an (t)x = 0, (2.13)

wobei aj (t) sind wie zuvor.Sei L die Menge von allen Losungen von (2.13) auf I. Offensichtlich, fur

alle x, y ∈ L ist die Summe x + y ein Element von L, sowie cx ∈ L furjede Konstante c. Das bedeutet, dass L ein Vektorraum uber R ist. DasNullelement von L ist die konstante Funktion 0.

Satz 2.3 Es gilt dimL = n. Somit ist die allgemeine Losung von (2.13)durch die folgende Identitat gegeben

x (t) = C1x1 (t) + ...+ Cnxn (t) , (2.14)

wobei x1, ..., xn n linear unabhangige Losungen von (2.13) sind und C1, ..., Cnbeliebige Konstanten.

Beweis. Fixieren wir eine Stelle t0 ∈ I und betrachten eine AbbildungL→ Rn wie folgt:

L 3 x 7→(x (t0) , x′ (t0) , ..., x(n−1) (t0)

)∈ Rn.

Diese Abbildung ist offensichtlich linear. Nach Satz 2.2(a) ist diese Abbil-dung surjektiv, und nach (b) – injektiv. Somit ist die Abbildung ein linearerIsomorphismus zwischen L und Rn, woraus folgt dimL = dimRn = n.

37

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Seien x1, ..., xn unabhangige Losungen. Da die Anzahl von diesen Losungengleich dimL ist, so stellt die Folge x1, ..., xn eine Basis in L dar. Daraus folgt,dass alle Elementen von L die Form (2.14) haben.

Bemerkung. Bisher haben wir angenommen, dass alle gegebene undgesuchte Funktionen reellwertig sind. Das Gleiche gilt fur komplexwertigeFunktionen. Namlich, die Satze 2.1, 2.2, 2.3 gelten fur komplexwertige Ko-effizienten und Losungen, mit gleichen Beweisen (obwohl die Variable t im-mer reell bleibt). Sind die Koeffizienten aj (t) in (2.13) komplexwertig, sobetrachtet man die Menge L von allen komplexwertigen Losungen als einVektorraum uber C, und dimL = n gilt auch in diesem Fall.

2.5 Losungsmethoden fur homogene DGLen mit kon-stanten Koeffizienten

Jetzt betrachten wir die lineare DGL

x(n) + a1x(n−1) + ...+ anx = 0 (2.15)

mit konstanten Koeffizienten a1, ..., an, die reell oder komplex sind. Wirzeigen hier, wie man n linear unabhangige Losungen von (2.15) bestimmenkann, die folglich die allgemeine Losung liefern.

Wir bestimmen zunachst die komplexwertigen Losungen von (2.15) unddanach extrahieren daraus die reellwertigen Losungen, falls die Koeffizientena1, ..., an reell sind. Die Hauptidee ist sehr einfach. Wir benutzen folgendenExponentialansatz zur Losung:

x (t) = eλt

wobei λ eine komplexe Konstante ist, die noch bestimmt werden soll. Da(eλt)(k)

= λkeλt,

so erhalten wir nach Einsetzen von diesen Ansatz in (2.15) die folgende Gle-ichung fur λ:

λn + a1λn−1 + ....+ an = 0, (2.16)

wobei alle Terme eλt wegfallen. Die Gleichung (2.16) hangt nicht mehr von tab, und nur der Unbekannte λ bleibt. Die Gleichung (2.16) heißt die charak-teristische Gleichung von (2.15), und das entsprechende Polynom

P (λ) = λn + a1λn−1 + ....+ an

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heißt charakteristisches Polynom von (2.15). Also, wir haben die folgendeBehauptung bewiesen.

Behauptung. Die Funktion x (t) = eλt ist eine Losung von (2.15) genaudann, wenn λ eine Nullstelle des charakteristischen Polynoms ist.

Besitzt das charakteristische Polynom genugend Nullstellen, so bestimmtman die allgemeine Losung von (2.15) wie folgt.

Satz 2.4 Seien a1, .., an komplex. Hat das charakteristische Polynom P (λ)von (2.15) n verschiedene komplexe Nullstellen λ1, ..., λn, so stellen die fol-genden n Funktionen

eλ1t, ..., eλnt (2.17)

linear unabhangige, komplexwertige Losungen von (2.15) dar. Folglich ist dieallgemeine komplexe Losung von (2.15) durch die Identitat

x (t) = C1eλ1t + ...+ Cne

λnt (2.18)

gegeben, wobei Cj beliebige komplexe Konstanten sind.Seien a1, .., an reell. Fur jede nicht-reelle Nullstelle λ = α+ iβ von P ist

auch die konjugierte Zahl λ = α − iβ eine Nullstelle von P , und das Paarvon Funktionen

eλt, eλt

in der Folge (2.17) kann durch das Paar

eαt cos βt, eαt sin βt

von reellwertigen Funktionen ersetzt werden. Nach Ersetzung von allen Paareneλt, eλt mit nicht-reellen Nullstellen λ erhalt man n reellwertige, linear un-abhangige Losungen von (2.15). Folglich wird die allgemeine reelle Losungvon (2.15) durch die Linearkombination dieser Losungen mit reellen Koef-fizienten dargestellt.

Beweis im Abschnitt 2.8.

Bemerkung. Die Nullstellen von einem quadratischen Polynom P (λ) =λ2 + pλ+ q konnen immer mit Hilfe der Formel

λ =−p±

√p2 − 4q

2

bestimmt werden. Polynome hoheres Grades versucht man in ein Produktvon Polynomen 1er und 2er Grades zerlegen und somit alle Nullstellen zubestimmen.

39

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Beispiel. Betrachten wir eine DGL

x′′ − 3x′ + 2x = 0.

Das charakteristische Polynom ist P (λ) = λ2−3λ+2, und dessen Nullstellensind λ1 = 1 und λ2 = 2. Deshalb sind die unabhangigen Losungen x1 (t) = et

und x2 (t) = e2t, und die allgemeine Losung ist x (t) = C1et+C2e

2t. Namlich,fur reelle Konstanten C1, C2 erhalten wir die allgemeine reelle Losung, undfur komplexe C1, C2 – die komplexe Losung.

Beispiel. Die DGL x′′ + x = 0 hat das charakteristische Polynom P (λ) =λ2 + 1, dessen Nullstellen sind λ1 = i und λ2 = −i. Damit erhalten wirzwei komplexwertige unabhangige Losungen eit und e−it. Die allgemeinekomplexwertige Losung ist deshalb C1e

it + C2e−it. Da λ = 0 + 1i, erhalten

wir nach Satz 2.4 zwei unabhangige reellwertige Losungen cos t und sin t, unddie reellwertige allgemeine Losung ist C1 cos t+C2 sin t. Alternativ kann mandiese Losungen als Linearkombinationen von eit und e−it erhalten:

eit + e−it

2= cos t und

eit − e−it

2i= sin t,

und das entspricht einem Basiswechsel im Vektorraum der Losungen.

Beispiel. Die DGL x′′′ − x = 0 hat das charakteristische Polynom

P (λ) = λ3 − 1 = (λ− 1)(λ2 + λ+ 1

),

dessen Nullstellen sind λ1 = 1 und λ2,3 = −12± i√

32. Nach Satz 2.4 erhalten

wir drei linear unabhangige reellwertige Losungen

et, e−12t cos

√3

2t, e−

12t sin

√3

2t,

und damit die allgemeine reellwertige Losung

C1et + e−

12t

(C2 cos

√3

2t+ C3 sin

√3

2t

).

Betrachten wir jetzt den allgemeinen Fall, wenn das charakteristischePolynom P (λ) weniger als n verschiedene Nullstellen besitzt. In diesem Fallist Satz 2.4 nicht verwendbar. Nach Fundamentalsatz der Algebra, hat jedesPolynom P (λ) vom Grad n mit komplexen Koeffizienten genau n komplexeNullstellen, wenn sie mit der richtigen Vielfachheit gezahlt werden. Fur

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jedes λ0 ∈ C definiert man die Vielfachheit m von λ0 bezuglich P (λ) als dermaximale Wert ganzer Zahl m, derart, dass P (λ) durch (λ− λ0)m teilbar ist.Letzteres bedeutet, dass es ein Polynom Q (λ) gibt, derart, dass die folgendeIdentitat gilt:

P (λ) = (λ− λ0)mQ (λ)

fur alle λ ∈ C. Es ist klar, dass immer m ≥ 0 und m ≥ 1 genau dann, wennλ0 eine Nullstelle von P ist. Dass m maximal ist bedeutet, dass λ0 keineNullstelle von Q ist.

Seien λ1, ..., λr alle verschiedene komplexwertige Nullstellen von P (λ) ;sei mj die Vielfachheit von λj. Nach Fundamentalsatz der Algebra gilt

m1 + ...+mr = n.

Daraus folgt, dass sich charakteristisches Polynom P (λ) in ein Product

P (λ) = (λ− λ1)m1 ... (λ− λr)mr

zerlegen lasst.Um n unabhangige Losungen der DGL (2.15) erhalten zu konnen, muss

jede Nullstelle λj genau mj unabhangige Losungen ergeben. Der folgendeSatz zeigt, wie genau erhalt man diese Losungen.

Satz 2.5 Seien a1, ..., an komplex. Seien λ1, ..., λr alle verschiedene kom-plexwertige Nullstellen von charakteristischen Polynom P (λ). Sei mj dieVielfachheit von λj. Dann stellen die folgenden n Funktionen linear un-abhangige Losungen von (2.15) dar:

tkeλjt, j = 1, ..., r, k = 0, ...,mj − 1 (2.19)

(also jede Nullstelle λj liefert mj Losungen eλjt, teλjt, ..., tmj−1eλit). Folglichist die allgemeine Losung von (2.15) wie folgt

x (t) =r∑j=1

mj−1∑k=0

Ckjtkeλjt , (2.20)

wobei Ckj beliebige komplexe Konstanten sind.Seien a1, ..., an reell. Fur jede nicht-reelle Nullstelle λ = α+ iβ von P (λ)

mit der Vielfachheit m ist auch λ = α− iβ eine Nullstelle von P mit gleicherVielfachheit m, und das Paar von Funktionen

tkeλt, tkeλt

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in der Folge (2.19) kann durch das Paar

tkeαt cos βt, tkeαt sin βt

von reellwertigen Funktionen ersetzt werden, fur jedes k = 0, ...,m− 1. Fol-glich erhalt man n unabhangige reellwertige Losungen von (2.15) und dieallgemeine reellwertige Losung von (2.15).

Beweis im Abschnitt 2.8.

Bemerkung. Bezeichnen wir

Pj (t) =

mj−1∑k=1

Cjktk ,

und erhalten aus (2.20)

x (t) =r∑j=1

Pj (t) eλjt. (2.21)

D.h., die allgemeine Losung von (2.15) kann durch die Identitat (2.21) gegebenwerden, wobei Pj (t) ein beliebiges Polynom vom Grad ≤ mj − 1 ist.

Beispiel. Die DGL x′′ − 2x′ + x = 0 hat das charakteristische Polynom

P (λ) = λ2 − 2λ+ 1 = (λ− 1)2 ,

dass nur eine Nullstelle λ = 1 hat, mit der Vielfachheit m = 2. Nach Satz2.5 stellen die Funktionen et und tet zwei unabhangige Losungen dar, unddie allgemeine Losung ist durch die Identitat

x (t) = (C1 + C2t) et

gegeben.

Beispiel. Die DGL xV +xIV−2x′′′−2x′′+x′+x = 0 hat das charakteristischePolynom

P (λ) = λ5 + λ4 − 2λ3 − 2λ2 + λ+ 1 = (λ− 1)2 (λ+ 1)3 .

Die Nullstellen sind λ1 = 1 mit Vielfachheit m1 = 2 und λ2 = −1 mit m2 = 3.Nach Satz 2.5 erhalten wir 5 unabhangige Losungen

et, tet, e−t, te−t, t2e−t,

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und die allgemeine Losung

x (t) = (C1 + C2t) et +(C3 + C4t+ C5t

2)e−t.

Beispiel. Die DGL xV + 2x′′′ + x′ = 0 hat das charakteristische Polynom

P (λ) = λ5 + 2λ3 + λ = λ(λ2 + 1

)2= λ (λ+ i)2 (λ− i)2 .

Die Nullstellen sind λ1 = 0, λ2 = i und λ3 = −i, und die Vielfachheiten sindm1 = 1, m2 = m3 = 2. Die unabhangigen Losungen sind

1, eit, teit, e−it, te−it, (2.22)

und die allgemeine komplexe Losung ist

x (t) = C1 + (C2 + C3t) eit + (C4 + C5t) e

−it.

Ersetzen in der Folge (2.22) die Funktionen eit, e−it durch cos t, sin t und dieFunktionen teit, te−it durch t cos t, t sin t ergibt die folgenden unabhangigenreellen Losungen:

1, cos t, t cos t, sin t, t sin t.

Dann ist die allgemeine reelle Losung wie folgt:

x (t) = C1 + (C2 + C3t) cos t+ (C4 + C5t) sin t.

2.6 Losungsmethoden fur inhomogene DGLen mit kon-stanten Koeffizienten

Betrachten wir eine lineare DGL n-te Ordnung

x(n) + a1 (t)x(n−1) + ...+ an (t)x = f (t) (2.23)

wobei ak (t) und f (t) gegebene stetige Funktionen auf einem Intervall I sind.Wir nehmen immer an, dass die Losungen x (t) auch auf I definiert sind. DieFunktion f auf der rechten Seite heißt Storfunktion. Ist die Storfunktionnicht identisch 0, so nennt man die DGL (2.23) inhomogen.

Bezeichnen wir mit A den Differentialoperator auf der linken Seite von(2.23), also

A =

(d

dt

)n+ a1 (t)

(d

dt

)n−1

+ ...an−1 (t)d

dt+ an (t) ,

43

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wobei die Potenz(ddt

)kdie k-fache Selbstverkettung von der Ableitung be-

deutet, d.h. die k-te Ableitung. Die Differentialgleichung (2.23) lasst sichkurz in der Form

Ax = f

umschreiben. Wir betonen, dass A ein linear Operator ist, der auf die n-fachdifferenzierbaren Funktionen wirkt.

Im folgenden Lemma versammeln wir die Eigenschaften der Losungen,die von der Linearitat von A abhangen.

Lemma 2.6 (a) Seien x1 (t) und x2 (t) Losungen von (2.23) mit Storfunktionenf1 bzw f2, d.h.

Ax1 = f1 und Ax2 = f2. (2.24)

Seien c1, c2 zwei Konstanten. Dann ist die Funktion x (t) = c1x1 (t)+c2x2 (t)eine Losung von (2.23) mit der Storfunktion f = c1f1 + c2f2.

(b) Seien x0 (t) eine spezielle Losung der DGL (2.23) und xh (t) eineallgemeine Losung der entsprechenden homogenen DGL

x(n) + a1 (t)x(n−1) + ...+ an (t)x = 0. (2.25)

Dann ist die allgemeine Losung von (2.23) durch

x (t) = x0 (t) + xh (t) (2.26)

gegeben.

Bemerken wir, dass xh eine beliebige Linearkombination von n unabhangigenLosungen der homogenen DGL (2.25) ist.

Beweis. (a) Es folgt aus (2.24) und der Linearitat von A, dass

Ax = A (c1x1 + c2x2) = c1Ax1 + c2Ax2 = c1f1 + c2f2 = f.

(b) Fur jede n-fach differenzierbare Funktion x (t) betrachten wir auchdie Funktion y = x− x0. Dann ist die DGL (2.23) aquivalent zu

A (y + x0) = f

Ay +Ax0 = f

Ay = 0.

Deshalb ist x eine Losung von (2.23) genau dann, wenn y = x − x0 eineLosung von (2.25) ist. Somit erhalten wir x− x0 = xh und x = x0 + xh.

Teil (b) von Lemma 2.6 bedeutet folgendes:

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die allgemeine Losung der inhomogenen DGL (2.23) ist die Summe vonder allgemeinen Losung der homogenen DGL (2.25) und einer speziellenLosung von (2.23).

Wir benutzen diese Methode fur die linearen inhomogenen DGLen mitkonstanten Koeffizienten:

x(n) + a1x(n−1) + ...+ anx = f (t) . (2.27)

Wir haben schon gelernt, wie die entsprechende homogene DGL gelost werdenkann. In diesem Abschnitt entwickeln wir eine Methode fur Ermittlung einerspeziellen Losung von (2.27) fur eine bestimmte Klasse von Storfunktionenf .

Definition. Eine Funktion f : R→ C heißt Quasipolynom falls

f (t) =∑j

Rj (t) eµjt,

wobei Rj (t) Polynomen uber C sind, µj komplexe Konstanten, und dieSumme endlich ist.

Offensichtlich, die Summe und das Produkt von zwei Quasipolynomenist auch ein Quasipolynom. Insbesondere sind die folgenden FunktionenQuasipolynomen:

tkeαt cos βt und tkeαt sin βt, (2.28)

wobei k nicht-negative ganze Zahl ist und α, β ∈ R. In der Tat haben wirnach der Euler-Formel

eαt cos βt+ ieαt sin βt = eαteiβt = e(α+iβ)t

und somit

eαt cos βt = Ree(α+iβ)t =e(α+iβ)t + e(α−iβ)t

2

eαt sin βt = Ime(α+iβ)t =e(α+iβ)t − e(α−iβ)t

2i,

woraus folgt, dass die Funktionen (2.28) Quasipolynomen sind.Unser Ziel ist die DGL (2.27) zu losen, wenn die Storfunktion ein Quasipoly-

nom ist. Nach Lemma 2.6, es reicht eine spezielle Losung von (2.27) fur dieStorfunktion der Form

f (t) = R (t) eµt

ermitteln zu konnen. Erst erklaren wir die Idee der Methode fur den Fallf (t) = consteµt.

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Zu jedem Polynom

P (λ) = a0λn + a1λ

n−1 + ...+ an

mit komplexwertigen Koeffizienten entspricht ein Differentialoperator

P

(d

dt

)= a0

(d

dt

)n+ a1

(d

dt

)n−1

+ ...+ an,

so dass

P

(d

dt

)x = a0x

(n) + a1x(n−1) + ...+ anx.

Insbesondere mit dem charakteristischen Polynom

P (λ) = λn + a1λn−1 + ...+ an

von (2.27) lasst sich die DGL (2.27) kurz in der Form

P

(d

dt

)x = f

schreiben (in diesem Fall a0 = 1).Betrachten wir den speziellen Fall f (t) = αeµt, d.h. die DGL

P

(d

dt

)x = αeµt, (2.29)

wobei α, µ ∈ C. Zunachst betrachten wir den so-genannten nicht-resonantenFall, wenn µ keine Nullstelle von P ist.

Lemma 2.7 Ist µ keine Nullstelle von P , so hat die DGL (2.29) die spezielleLosung

x0 (t) = aeµt

mita =

α

P (µ). (2.30)

Beweis. Beweisen wir zunachst die Identitat

P

(d

dt

)eµt = P (µ) eµt. (2.31)

Es reicht diese Identitat fur das einfachste Polynom P (λ) = λk zu beweisen;dann gilt (2.31) fur alle Polynomen nach der Linearitat von den beiden Seiten.Fur P (λ) = λk haben wir

P

(d

dt

)eµt =

dk

dtkeµt = µkeµt = P (µ) eµt,

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was zu beweisen war.Es folgt aus (2.31), dass fur die Funktion x0 (t) = aeµt mit (2.30) gilt:

P

(d

dt

)x0 = P

(d

dt

)(aeµt

)= aP (µ) eµt = αeµt,

was zu beweisen war.

Beispiel. Bestimmen wir eine spezielle Losung der DGL

x′′ + 2x′ + x = et.

Das charakteristische Polynom ist

P (λ) = λ2 + 2λ+ 1 = (λ+ 1)2 .

Offensichtlich ist µ = 1 keine Nullstelle von P . Nach Lemma 2.7 erhaltenwir eine spezielle Losung x (t) = aet mit

a =1

P (µ)=

1

1 + 2 + 1=

1

4,

d.h.

x (t) =1

4et.

Alternativ kann man den Wert von a bestimmen, indem man den Ansatzx (t) = aet in die DGL einsetzt:

aet + 2aet + aet = et,

woraus folgt 4a = 1 und somit a = 14

wie erwartet.

Beispiel. Betrachten wir noch eine DGL:

x′′ + 2x′ + x = sin t. (2.32)

Da sin t = imeit, so bestimmen wir zunachst eine spezielle Losung der kom-plexifizierten DGL

x′′ + 2x′ + x = eit, (2.33)

und danach nehmen den Imaginarteil davon. Fur den Ansatz x (t) = aeit

erhalten wir nach (2.30)

a =1

P (µ)=

1

i2 + 2i + 1=

1

2i= − i

2.

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Somit ist eine spezielle Losung von (2.33)

x (t) = − i

2eit = − i

2(cos t+ i sin t) =

1

2sin t− i

2cos t,

und der Imaginarteil x (t) = −12

cos t ist eine spezielle Losung von (2.32).

Beispiel. Betrachten wir die DGL

x′′ + 2x′ + x = e−t cos t. (2.34)

Da e−t cos t = Reeµt mit µ = −1+i, so losen wir zunachst die komplexifizierteDGL

x′′ + 2x′ + x = eµt. (2.35)

Fur den Ansatz x (t) = aeµt erhalten wir

a =1

P (µ)=

1

(µ+ 1)2 = −1.

Deshalb hat (2.35) die spezielle Losung

x (t) = −e(−1+i)t = −e−t cos t− ie−t sin t,

und (2.34) hat die Losung x (t) = −e−t cos t.

Beispiel. Jetzt fugen wir drei obige Beispiele zusammen:

x′′ + 2x′ + x = 4et − 2 sin t+ e−t cos t, (2.36)

wobei die Storfunktion eine Linearkombination von den obigen Storfunktionenist. Nach Lemma 2.6 erhalten wir eine spezielle Losung von (2.36) als dieahnliche Linearkombination von den obigen speziellen Losungen:

x0 (t) = 4

(1

4et)− 2

(−1

2cos t

)+(−e−t cos t

)= et + cos t− e−t cos t.

Da die allgemeine Losung der homogenen DGL x′′ + 2x′ + x = 0 ist

xh (t) = (C1 + C2t) e−t,

so erhalten wir nach Lemma 2.6 die allgemeine Losung von (2.36)

x (t) = et + cos t− e−t cos t+ (C1 + C2t) e−t.

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Beispiel. Betrachten wir die DGL

x′′ + 2x′ + x = e−t.

Jetzt ist der Wert µ = −1 eine Nullstelle von P (λ) = λ2 + 2λ + 1 unddie Methode von Lemma 2.6 funktioniert nicht. In der Tat lost der Ansatzx = ae−t in diesem Fall die homogene DGL, und fur inhomogene DGL mussman einen anderen Ansatz finden, wie unterhalb.

Der Fall wenn µ eine Nullstelle von P (λ) ist, heißt resonanter Fall. Derfolgende Satz liefert die generelle Losungsmethode von (2.27) fur beliebigeQuasipolynomen f (t).

Satz 2.8 Sei µ eine Nullstelle von P mit der Vielfachheit m.(a) Fur jedes α ∈ C hat die DGL

P

(d

dt

)x = αeµt

eine spezielle Losungx0 (t) = atmeµt (2.37)

mita =

α

P (m) (µ). (2.38)

(b) Fur jedes Polynom R (t) von Grad k ≥ 0 hat die DGL

P

(d

dt

)x = R (t) eµt (2.39)

eine spezielle Losung der Form

x0 (t) = Q (t) tmeµt,

wobei Q (t) ein (gesuchtes) Polynom von Grad k ist.

Bemerkung. Wie wir spater sehen (vgl. Lemma 2.10), P (m) (µ) 6= 0 sodass die Konstante a in (2.38) wohldefiniert ist. Beweis von dem Satz 2.8wird im Abschnitt 2.8 durchgefuhrt.

Beispiel. Betrachten wir wieder die DGL

x′′ + 2x′ + x = e−t.

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Da µ = −1 eine 2-fache Nullstelle von P (λ) = λ2 + 2λ + 1 ist, so benutzenwir den folgenden Ansatz

x0 (t) = at2e−t,

wobei die Konstante a bestimmt werden soll. Aus (2.38) erhalten wir

a =1

P ′′ (−1)=

1

2.

Die spezielle Losung ist somit

x0 (t) =1

2t2e−t.

Alternativ ergibt das Einsetzen in die DGL

a((t2e−t

)′′+ 2

(t2e−t

)′+ t2e−t

)= e−t

a2e−t = e−t

woraus a = 12

wieder folgt.

Beispiel. Bestimmen wir eine spezielle Losung der DGL

x′′ + 2x′ + x = te−t. (2.40)

Wir haben R (t) = t und, wie zuvor, µ = −1 mit Vielfachheit m = 2. DadegR = 1, so suchen wir die Losung in der Form

x (t) = Q (t) t2e−t

wobei Q ein Polynom von Grad 1 ist, also Q (t) = at + b, mit unbekanntenKoeffizienten a und b. Einsetzen der Funktion

x (t) = (at+ b) t2e−t =(at3 + bt2

)e−t

in die DGL ergibt

x′′ + 2x′ + x =((at3 + bt2

)e−t)′′

+ 2((at3 + bt2

)e−t)′

+(at3 + bt2

)e−t

= (2b+ 6at) e−t.

Das Vergleich mit (2.40) ergibt die Gleichung fur a und b

2b+ 6at = t,

woraus folgt a = 16

und b = 0. Die spezielle Losung ist also

x0 (t) =t3

6e−t.

Somit ist die allgemeine Losung von (2.40)

x (t) =t3

6e−t + (C1 + C2t) e

−t.

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2.7 ∗ Die DGLen 2-ter Ordnung mit periodischer Storfunktion

Betrachten wir eine DGL 2-ter Ordnung

x′′ + px′ + qx = f (t) , (2.41)

die in vielen Anwendungen in Physik vorkommt.Z.B., wie wir es schon gesehen haben, beschreibt (2.41) die 1-dimensionale

Bewegung eines Teilchen, sowie die Stromschwingung in einemRLC-Stromkreis.Seien R der Widerstandswert, L die Induktivitat und C die Kapazitat im

Stromkreis. Seien V (t) die Spannung der Stromquelle und I (t) der Stromim Stromkreis um Zeit t. Wir haben schon gesehen (vgl. (1.48)), dass I (t)die folgende DGL erfullt:

LI ′′ +RI ′ +I

C= V ′, (2.42)

was aquivalent zu (2.41) mit p = R/L, q = 1/ (LC), und f = V ′/L ist.Wir benutzen den Satz 2.8 um die folgende DGL zu untersuchen

x′′ + px′ + qx = A sinωt, (2.43)

wobeiA, ω gegebene positive Konstanten sind. Physikalisch stellt die Storfunktionf (t) = A sinωt eine externe periodische Kraft dar. Die Zahl A heißt die Am-plitude von der Storfunktion und ω heißt die Frequenz order die Aussenfre-quenz. Im Fall von Stromkreis modelliert diese Storfunktion eine periodischeSpannung mit der Frequenz ω. Z.B., der Wechselstrom in den Steckdosenhat die Frequenz 50 Hz, die den Wert ω = 2π · 50 entspricht.

Wir nehmen an, dass p ≥ 0 und q > 0 und betonen, dass diese Voraus-setzungen in physikalischen Anwendungen erfullt sind. Bestimmen wir einespezielle Losung von (2.43). Da sinωt = Imeiωt, betrachten wir zuerst dieDGL mit komplexwertiger Storfunktion

x′′ + px′ + qx = Aeiωt. (2.44)

Sei P (λ) = λ2 + pλ+ q das charakteristische Polynom.

Nicht-resonanter Fall. Erst betrachten wir den nicht-resonanten Fall,wenn iω keine Nullstelle von P (λ) ist. Fur den Losungsansatz x (t) = ceiωt

erhalten wir nach Lemma 2.7 (oder Satz 2.8):

c =A

P (iω)=

A

−ω2 + piω + q=: a+ bi. (2.45)

51

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Somit ist die spezielle Losung von (2.44)

(a+ ib) eiωt = (a cosωt− b sinωt) + i (a sinωt+ b cosωt) .

Der Imaginarteil davon liefert die spezielle Losung von (2.43)

x0 (t) = a sinωt+ b cosωt. (2.46)

Diese Losung kann auch in der folgenden Form umgeschrieben werden:

x0 (t) = B cosϕ sinωt+B sinϕ cosωt = B sin (ωt+ ϕ) ,

wobei die Konstanten B und ϕ mit den Konstanten a und b gemaß derfolgenden Gleichungen verknupft sind:

B cosϕ = a, B sinϕ = b.

Die Konstante B heißt Amplitude und ϕ die Phase oder der Phasenwinkelder Losung. Quadrieren und Addieren der Gleichungen ergibt

B =√a2 + b2 = |c| = A√

(q − ω2)2 + ω2p2

. (2.47)

Dann bestimmt man eindeutig den Winkel ϕ ∈ [0, 2π) durch cosϕ = a/Bund sinϕ = b/B.

Um die allgemeine Losung von (2.43) zu bestimmen, mussen wir noch zu(2.46) die allgemeine Losung der homogenen DGL

x′′ + px′ + qx = 0 (2.48)

zu addieren. Seien λ1 und λ2 die Nullstelle von P (λ), also

λ1,2 = −p2±√p2

4− q.

Betrachten wir die verschiedenen Fallen.λ1 und λ2 sind reell.Da p ≥ 0 und q > 0, gilt λ1, λ2 < 0. Die allgemeine Losung der homoge-

nen DGL (2.48) ist nach Satz 2.5

xh (t) =

C1e

λ1t + C2eλ2t, λ1 6= λ2

(C1 + C2t) eλ1t, λ1 = λ2.

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In den beiden Fallen hat x (t) eine exponentielle Abnahme fur t→∞. Somithat die allgemeine Losung von (2.43) die Form

x (t) = B sin (ωt+ ϕ) +O(e−εt

)fur t→∞, (2.49)

mit einem ε > 0. We sehen, dass fur t→∞ stellt die Funktion B sin (ωt+ ϕ)den Hauptterm der Losung x (t) dar. Fur den Stromkreis bedeutet es, dassder Strom fur t→∞ mit der Aussenfrequenz ω oszilliert.

λ1 und λ2 sind nicht-reell. Seien λ1,2 = α± iβ wobei

α = −p/2 ≤ 0 und β =

√q − p2

4> 0.

Die allgemeine Losung der homogenen DGL ist

xh (t) = eαt (C1 cos βt+ C2 sin βt) = Ceαt sin (βt+ ψ) ,

wobei C und ψ beliebige reelle Konstanten sind. Die Zahl β heißt die Eigen-frequenz der DGL bzw des physikalischen Systems. Im Fall des Stromkreises,nennt man β auch Kreisfrequenz, da ohne Storfunktion oszilliert der Stromim Stromkreis mit der Frequenz β.

Somit erhalten wir die allgemeine Losung von (2.43)

x (t) = B sin (ωt+ ϕ) + Ceαt sin (βt+ ψ) .

Betrachten zwei weitere Unterfalle.Ist α < 0, so ist der Hauptterm B sin (ωt+ ϕ) und die allgemeine Losung

erfullt wieder (2.49) Ist α = 0, so gelten p = 0, q = β2, und die DGL (2.43)wird

x′′ + β2x = A sinωt. (2.50)

Da die Nullstellen des charakteristischen Polynoms gleich ±iβ sind, bedeutetdie Voraussetzung “iω keine Nullstelle ist”, dass ω 6= β. Da die allgemeineLosung der homogenen DGL x′′ + β2x = 0 durch xh (t) = C sin (βt+ ψ)gegeben ist, erhalten wir die allgemeine Losung von (2.50) wie folgt:

x (t) = B sin (ωt+ ϕ) + C sin (βt+ ψ) .

Diese Funktion ist offensichtlich eine Uberlagerung von zwei Sinuswellen mitverschiedenen Frequenzen – die Aussenfrequenz und Eigenfrequenz. Sind ωund β inkommensurabel, so ist x (t) nicht periodisch, vorausgesetzt C 6= 0.

In einem Stromkreis tritt sich der Vorgang α = 0 nur dann ein, wenn derWiderstandswert R verschwindet, weil p = R/L und p muss 0 sein. Naturlich

53

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in den praktischen Stromkreisen hat man immer R > 0 so dass der Vorgangnur ungefahr und nur fur beschrankte Werte von t eintreten kann.

Beispiel. Die DGLx′′ + 6x′ + 34x = sinωt,

hat die Eigenfrequenz β =√q − p2/4 = 5. Im Fall ω = 4 erhalten wir nach

(2.45)

c =A

−ω2 + piω + q=

1

−42 + 24i + 34=

1

50− 2

75i,

und die spezielle Losung (2.46) ist

x0 (t) =1

50sin 4t− 2

75cos 4t,

mit der Amplitude |c| = 1/30 = 0, 0333 . . . . Im Fall ω = 8 erhalten wir

c =1

−82 + 48i + 34= − 5

534− 4

267i,

und die spezielle Losung ist

x0 (t) = − 5

534sin 8t− 4

267cos 8t,

mit der Amplitude |c| ≈ 0, 0177.

Resonanter Fall. Betrachten wir jetzt den resonanten Fall, wenn iω eineNullstelle von P (λ) ist, also

(iω)2 + piω + q = 0.

Daraus folgt, dass p = 0 und q = ω2, und die DGL (2.43) wird

x′′ + ω2x = A sinωt. (2.51)

In diesem Fall haben wir α = 0 und ω = β =√q. Die DGL mit komplexw-

ertiger Storfunktionx′′ + ω2x = Aeiωt (2.52)

hat einen Losungsansatzx (t) = cteiωt,

wobei die Konstante c nach Satz 2.8 bestimmt werden kann:

c =A

P ′ (iω)=

A

2iω= −Ai

54

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Somit ist die spezielle Losung von (2.52)

x (t) = −Ai

2ωteiωt = −i

At

2ωcosωt+

At

2ωsinωt.

Der Imaginarteil liefert die spezielle Losung von (2.51)

x0 (t) = −At2ω

cosωt,

und die allgemeine Losung von (2.51) ist wie folgt:

x (t) = −At2ω

cosωt+ C sin (ωt+ ψ) , (2.53)

mit beliebigen Konstanten C und ψ.Wie man aus (2.53) sieht, wachst die Amplitude der Losung unbeschrankt

fur t→∞. Dieses Phanomen heißt der Resonanzfall. Da eine unbeschrankteSchwingung physikalisch unmoglich ist, so wird das System durch die großenSchwingungen schließlich zerstort (oder man findet, dass das mathematischeModell fur large Zeit nicht geeignet ist).

Betrachten wir wieder die DGL (2.42) fur den Strom I (t) in der Schaltungunter der externen Spannung V (t) = V0 cosωt. Es ist bequemer die komplex-ifizierte Spannung V = V0e

iωt und die entsprechende komplexifizierte LosungI (t) zu betrachten, die nach (2.42) die folgende DGL erfullt:

LI ′′ +RI ′ +1

CI = iωV0e

iωt.

Wir haben gesehen, dass im nicht-resonanten Fall die einzige Losung mit derAussenfrequenz ω ist

I (t) =1

P (iω)iωV0e

iωt =iω

(iω)2 L+ iωR + 1C

V (t)

d.h.

I (t) =V (t)

iωL+ 1iωC

+R.

Somit erfullen die komplexwertige Spannung und Strom das Ohmsche Gesetzmit dem komplexwertigen Widerstand

Z = iωL+1

iωC+R.

Der Wert Z heißt Impedanz (oder Wechselstromwiderstand) der Schaltung.Bemerken wir, dass Z = 0 genau dann der Fall ist, wenn R = 0 und ω =1/√LC, was mit dem resonanten Fall ubereinstimmt.

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2.8 Beweise von Satzen 2.4, 2.5, 2.8

Beweis von Satz 2.4. Wir wissen schon, dass jede Funktion eλkt eineLosung von

x(n) + a1x(n−1) + ...+ anx = 0 (2.54)

ist (es folgt auch aus Lemma 2.7). Hier werden wir beweisen, dass die Funk-tionen eλ1t, ..., eλnt linear unabhangig sind. Dann erhalten wir nach dem Satz2.3 die Darstellung

x (t) = C1eλ1t + ...+ Cne

λnt

fur die allgemeine Losung von (2.54).Wir beweisen jetzt per Induktion nach n, dass die Funktionen eλ1t, ..., eλnt

linear unabhangig sind, vorausgesetzt, dass λ1, ..., λn verschiedene komplexeZahlen sind. Der Induktionsanfang fur n = 1 ist trivial, da die Exponential-funktion eλ1t nicht identisch 0 ist.

Der Induktionsschritt von n− 1 zu n. Angenommen, dass die Identitat

C1eλ1t + ...+ Cne

λnt = 0 (2.55)

fur alle t ∈ R gilt, beweisen wir dass C1 = ... = Cn = 0. Dafur dividieren wir(2.55) durch eλnt, bezeichnen λj − λn =: µj und erhalten

C1eµ1t + ...+ Cn−1e

µn−1t + Cn = 0.

Ableiten von dieser Identitat in t ergibt

C1µ1eµ1t + ...+ Cn−1µn−1e

µn−1t = 0.

Nach Induktionsvoraussetzung beschließen wir, dass Cjµj = 0 und somitCj = 0, da µj 6= 0. Das gilt fur alle j = 1, ..., n−1. Einsetzen in (2.55) ergibtauch Cn = 0.

Jetzt betrachten wir den Fall wenn a1, .., an reell sind. Da die Kom-plexkonjugation mit Addition und Multiplikation vertauschbar ist, es gilt dieIdentitat

P (λ) = P(λ), (2.56)

wobei die Voraussetzung ak = ak benutzt wird. Ist λ eine Nullstelle von P ,es folgt aus (2.56), dass auch λ eine Nullstelle von P ist. Deshalb enthalt die

Folge (2.17) die beiden Funktionen eλt und eλt. Nach Eulerformel haben wir

eλt = eαt (cos βt+ i sin βt) und eλt = eαt (cos βt− sin βt) (2.57)

so dass eλt und eλt sind Linearkombinationen von eαt cos βt und eαt sin βt.Umgekehrt, es gilt auch

eαt cos βt =1

2

(eλt + eλt

)und eαt sin βt =

1

2i

(eλt − eλt

), (2.58)

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so dass eαt cos βt und eαt sin βt sind Linearkombinationen von eλt und eλt.Daraus folgt, dass die Funktionen eαt cos βt, eαt sin βt auch zum VektorraumL der Losungen gehoren und den gleichen Unterraum erzeugen, wie eλt, eλt.Somit sind diese zwei Paaren von Losungen austauschbar in jeder Basis.

Nachdem alle Paaren eλt und eλt in (2.17) durch die reellwertigen Funk-tionen ersetzt worden sind, erhalt man eine Basis in L von reellwertigenLosungen.

Fur den Beweis von Satz 2.5 machen wir erst eine Vorbereitung. Dasfolgende Lemma ist eine Verallgemeinerung der Identitat (2.31).

Lemma 2.9 Seien f (t) , g (t) n-fach differenzierbare Funktionen auf einemIntervall I. Dann gilt fur jedes Polynom P (λ) = a0λ

n+a1λn−1 + ...+an von

Grad ≤ n die folgende Identitat:

P

(d

dt

)(fg) =

n∑j=0

1

j!f (j)P (j)

(d

dt

)g. (2.59)

In der Tat kann man die Summe auf alle j ≥ 0 erweitern, da fur j > ndie Ableitung P (j) identisch 0 ist.

Beispiel. Fur das Polynom P (λ) = λ2 + λ+ 1 haben wir P ′ (λ) = 2λ+ 1,P ′′ = 2, und (2.59) ergibt

P

(d

dt

)(fg) = fP

(d

dt

)g + f ′P ′

(d

dt

)g +

1

2f ′′P ′′

(d

dt

)g

d.h.(fg)′′ + (fg)′ + fg = f (g′′ + g′ + g) + f ′ (2g′ + g) + f ′′g.

Diese Identitat lasst sich auch direkt mit Hilfe von der Produktregel beweisen,da

(fg)′ = f ′g + fg′

und(fg)′′ = f ′′g + 2f ′g′ + fg′′.

Beispiel. Im Fall f (t) = eλt und g (t) ≡ 1 erhalten wir aus (2.59) undTaylor-Formel fur Polynome

P

(d

dt

)eλt =

n∑j=0

1

j!

(eλt)(j)

P (j)

(d

dt

)1

=n∑j=0

1

j!λjeλtP (j) (0) = P (λ) eλt,

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woraus (2.31) folgt.

Beweis von Lemma 2.9. Da die beiden Seiten von (2.59) linear inP sind, reicht es die Identitat (2.59) fur den speziellen Fall P (λ) = λk zubeweisen. In diesem Fall haben wir

P (j) = k (k − 1) ... (k − j + 1)λk−j

fur j ≤ k, und P (j) ≡ 0 fur j > k. Somit erhalten wir

P (j)

(d

dt

)= k (k − 1) ... (k − j + 1)

(d

dt

)k−j, j ≤ k,

P (j)

(d

dt

)= 0, j > k,

und die Identitat (2.59) wird

(fg)(k) =k∑j=0

k (k − 1) ... (k − j + 1)

j!f (j)g(k−j) =

k∑j=0

(k

j

)f (j)g(k−j), (2.60)

wobei(kj

)Binomialkoeffizienten sind. Diese Identitat ist von Analysis bekannt

als Leibnizformel (Leibnizsche Regel)3.

Lemma 2.10 Eine komplexe Zahl λ ist eine Nullstelle mit Vielfachheit meines Polynoms P genau dann, wenn

P (k) (λ) = 0 fur alle k = 0, ...,m− 1 und P (m) (λ) 6= 0. (2.61)

D.h. m ist die minimale positive ganze Zahl derart, dass P (m) (λ) 6= 0.

Beweis. Ist λ eine Nullstelle von P mit Vielfachheit m, so gilt die Iden-titat

P (z) = (z − λ)mQ (z) fur alle z ∈ C,

wobei Q ein Polynom ist, so dass Q (λ) 6= 0. Fur jede naturliche Zahl khaben wir nach Leibnizformel

P (k) (z) =k∑j=0

(k

j

)((z − λ)m)

(j)Q(k−j) (z) .

3Fur k = 1 fuhrt (2.60) zuruck auf Produktregel

(fg)′

= f ′g + fg′.

Fur k > 1 beweist man (2.60) per Induktion nach k.

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Im Fall k < m gilt immer j < m und somit

((z − λ)m)(j)

= const (z − λ)m−j ,

und diese Funktion verschwindet an z = λ. Deshalb fur k < m erhalten wirP (k) (λ) = 0.

Im Fall k = m sehen wir wieder, dass alle Ableitungen ((z − λ)m)(j)

verschwinden an z = λ fur j < k, wahrend fur j = k erhalten wir

((z − λ)m)(k)

= ((z − λ)m)(m)

= m! 6= 0

und somitP (m) (λ) = m!Q (λ) 6= 0.

Damit ist (2.61) bewiesen.Umgekehrt, gilt (2.61), so ergibt die Taylorformel fur Polynomen mit

n = deg P

P (z) = P (λ) +P ′ (λ)

1!(z − λ) + ...+

P (n) (λ)

n!(z − λ)n

=P (m) (λ)

m!(z − λ)m + ...+

P (n) (λ)

n!(z − λ)n

= (z − λ)mQ (z)

wobei

Q (z) =P (m) (λ)

m!+P (m+1) (λ)

(m+ 1)!(z − λ) + ...+

P (n) (λ)

n!(z − λ)n−m .

Offensichtlich Q (λ) = P (m)(λ)m!

6= 0, woraus folgt, dass λ eine Nullstelle mitder Vielfachheit m ist.

Lemma 2.11 Seien λ1, ..., λr verschiedene komplexe Zahlen, wobei r ≥ 1.Gilt fur Polynomen Pj (t) uber C die Identitat

r∑j=1

Pj (t) eλjt = 0 fur alle t ∈ R, (2.62)

dann sind alle Polynomen Pj (t) identisch Null.

Beweis. Wir benutzen die Induktion nach r. Der Induktionsanfang r = 1ist trivial. Den Induktionsschritt von r−1 zu r fuhren wir wie im Beweis vonSatz 2.4 durch. In der Identitat (2.62) konnen wir auf alle Nullpolynomen

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Pj verzichten und somit voraussetzen, dass Pj kein Nullpolynom fur jedesj = 1, ..., r ist. Dividieren (2.62) durch eλrt und bezeichnen λj − λr =: µjergibt

r−1∑j=1

Pj (t) eµjt + Pr (t) = 0. (2.63)

Wahlen wir eine ganze Zahl k > degPr, wobei degP der Grad von P ist.Die k-fache Ableitung von (2.63) ergibt

r−1∑j=1

(Pj (t) eµjt

)(k)= 0. (2.64)

Behauptung. Seien P ein Polynom uber C und µ 6= 0 eine komplex Zahl.Dann gilt fur alle k = 0, 1, ....(

P (t) eµt)(k)

= Q (t) eµt (2.65)

wobei Q auch ein Polynom ist mit degQ = degP.Es reicht (2.65) fur k = 1 zu beweisen und danach die Induktion nach k

zu benutzen. Ist P ≡ 0 dann gilt auch Q ≡ 0. Sei P nicht-Null. Dann reichtes die Identitat (2.65) fur Monomen P (t) = tm beweisen, da fur allgemeinePolynomen (2.65) danach nach Linearitat folgt. Fur k = 1 und P (t) = tm

haben wir (tmeµt

)′= µtmeµt +mtm−1tµt = Q (t) eµt

wobei degQ = m = degP , was zu beweisen war.Nach der Behauptung haben wir(

Pj (t) eµjt)(k)

= Qj (t) eµjt,

wobei degQj = degPj und deshalb Qj 6≡ 0. Andererseits haben wir nach(2.64)

r−1∑j=1

Qj (t) eµjt = 0.

Die Induktionsvoraussetzung ergibtQj ≡ 0, und dieser Widerspruch beschließtden Beweis.

Beweis von Satz 2.5. Seien P das charakteristische Polynom von(2.54) und λ eine Nullstelle von P von Vielfachheitm. Wir beweisen zunachst,dass die Funktion x (t) = tkeλt die DGL (2.54) fur jedes k = 0, ...,m− 1 lost,also

P

(d

dt

)(tkeλt

)= 0.

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Nach Lemma 2.9 und (2.31) haben wir

P

(d

dt

)(tkeλt

)=

n∑j=0

1

j!

(tk)(j)

P (j)

(d

dt

)eλt

=n∑j=0

1

j!

(tk)(j)

P (j) (λ) eλt.

Falls j > k dann(tk)(j) ≡ 0. Falls j ≤ k dann j < m und somit nach

Voraussetzung und Lemma 2.10 P (j) (λ) = 0. Deshalb verschwinden alleTerme in der obigen Summe, was ergibt

P

(d

dt

)(tkeλt

)= 0,

also die Funktion x (t) = tkeλt lost (2.54).Jetzt zeigen wir, dass die n Funktionen in der Folge

tkeλjt, j = 1, ..., r, k = 0, ...,mj − 1, (2.66)

linear unabhangig sind. Betrachten wir eine Linearkombination von diesenFunktionen, die dargestellt werden kann wie folgt:

r∑j=1

mj−1∑k=0

Cjktkeλjt =

r∑j=1

Pj (t) eλjt (2.67)

wobei Pj (t) =∑mj−1

k=0 Cjktk Polynomen sind. Nach Lemma 2.11 kann die

Linearkombination (2.67) nur dann identisch Null sein, wenn Pj ≡ 0, worausfolgt dass alle Cjk = 0 und somit die Funktionen (2.66) linear unabhangigsind.

Seien a1, ..., an reell. Sei λ = α+iβ eine nicht-reelle Nullstelle der Vielfach-heit m. Nach Lemma 2.10 erfullt λ die Gleichungen (2.61). Konjugieren dieseGleichungen ergibt die ahnlichen Gleichungen fur λ, da P (λ) = P

(λ)

(vgl.

(2.56)). Daraus folgt, dass λ auch eine Nullstelle der Vielfachheit m ist.Die letzte Behauptung, dass jedes Paar

tkeλt, tkeλt

in (2.66) durch das Paar

tkeαt cos βt, tkeαt sin βt

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ersetzt werden kann, folgt aus der Beobachtung, dass diese Paare auseinanderdurch Lineartransformationen nach Eulerformel entstehen und somit gleichenUnterraum erzeugen, wie im Beweis von Satz 2.4.

Beweis von Satz 2.8. We mussen beweisen, dass die DGL

P

(d

dt

)x = R (t) eµt

eine Losung in der Formx (t) = tmQ (t) eµt

hat, wobei m die Vielfachheit von µ bezuglich P ist und Q ein Polynom mitdegQ = k := degR ist. Nach Lemma 2.9 erhalten wir

P

(d

dt

)x = P

(d

dt

)(tmQ (t) eµt

)=∑j≥0

1

j!(tmQ (t))(j) P (j)

(d

dt

)eµt

=∑j≥0

1

j!(tmQ (t))(j) P (j) (µ) eµt. (2.68)

Da nach Lemma 2.10 gilt P (j) (µ) = 0 fur alle j < m, kann der Laufindex jdurch j ≥ m beschrankt werden. Bezeichnen wir

y (t) = (tmQ (t))(m) (2.69)

so dass

P

(d

dt

)x =

∑j≥m

P (j) (µ)

j!y(j−m)eµt. (2.70)

Ist Q ein Polynom von Grad k, so ist tmQ ein Polynom von Grad m + kund somit ist y (t) = (tmQ (t))(m) ein Polynom von Grad (m+ k) −m = k.Umgekehrt, ist y ein Polynom von Grad k, so ergibt die m-fache Integrationvon (2.69) (ohne die Integrationskonstanten zu addieren) und Division durchtm ein Polynom von Grad k, das ist Q. Deshalb reicht es ein Polynom y vonGrad k zu bestimmen, derart, dass die rechte Seite von (2.70) gleich R (t) eµt

ist. Da eµt sich herauskurzen lasst, erhalten we die folgende DGL fur y∑j≥m

P (j) (µ)

j!y(j−m) = R (t) .

Durch den Wechsel l = j−m des Laufindex, schreiben wir diese DGL in derfolgenden Form um: ∑

l≥0

bly(l) = R (t) , (2.71)

62

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wobei bl = P (l+m)(µ)(l+m)!

, insbesondere

b0 =P (m) (µ)

m!6= 0. (2.72)

Es bleibt die folgende Behauptung zu beweisen.

Behauptung. Sei b0 6= 0. Ist R (t) ein Polynom von Grad k ≥ 0, so existiertein Polynom y (t) von Grad k, das (2.71) erfullt.

Beweis per Induktion nach k. Im Induktionsanfang fur k = 0 ist R (t)konstant, z.B., R (t) = α, und y (t) muss auch konstant sein, also y (t) = c.Dann fuhrt (2.71) zuruck auf die Gleichung b0c = α, woraus folgt c = α/b0.

Fur den Induktionsschritt von Werten < k nach k, stellen wir y in derForm

y = ctk + z (t) (2.73)

dar, wobei z ein Polynom von Grad < k ist. Einsetzen (2.73) in (2.71) ergibtdie DGL fur z ∑

l≥0

blz(l) = R (t)−

∑l≥0

bl(ctk)(l)

=: R (t) .

Bemerken wir, dass R immer ein Polynom von Grad ≤ k ist, als die Differenzvon zwei Polynomen von Grad k. Bezeichnen mit αtk den hochsten Term imPolynom R (t), also

R (t) = αtk + Terme von Grad < k.

Dann giltR (t) = (α− b0c) t

k + Terme von Grad < k.

Bestimmen c aus der Gleichung b0c = α, also c = α/b0, ergibt deg R < k.Nach der Induktionsvoraussetzung hat die DGL∑

l≥0

blz(l) = R (t)

eine Losung z (t), die ein Polynom von Grad < k ist. Somit ist die Funktiony = ctk + z ein Polynom von Grad k, und y lost die DGL (2.71).

Letztlich betrachten wir den Fall R (t) ≡ α. Im Induktionsanfang habenwir es schon gesehen, dass in diesem Fall y (t) eine Konstante ist wie folgt:

y (t) =α

b0

=m!α

P (m) (µ).

63

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Die DGL (2.69) wird

(tmQ (t))(m) =m!α

P (m) (µ),

woraus die m-fache Integration ergibt

tmQ (t) =α

P (m) (µ)tm.

Deshalb hat die DGL P(ddt

)x = αeµt eine spezielle Losung

x (t) = tmQ (t) eµt =α

P (m) (µ)tmeµt,

was zu beweisen war.

2.9 Beweis von dem Satz 2.1

Fur den Beweis von Satz 2.1 brauchen wir das folgende Lemma.

Lemma 2.12 (Gronwall-Lemma) Sei z (t) eine nicht-negative stetige Funk-tion auf einem Intervall [a, b] und t0 ∈ [a, b]. Gilt die folgende Ungleichungfur alle t ∈ [a, b]:

z (t) ≤ C + L

∣∣∣∣∫ t

t0

z (s) ds

∣∣∣∣ , (2.74)

mit beliebigen Konstanten C,L ≥ 0, dann gilt fur alle t ∈ [a, b] die Ungle-ichung

z (t) ≤ CeL|t−t0|. (2.75)

Bemerkung. Normalerweise formuliert man Gronwall-Lemma fur den Fallt0 = a. In diesem Fall entfallen die Betragzeichen in (2.74) und (2.75), weilt ≥ t0.

Beweis. Es reicht die Behauptung im Fall C > 0 zu beweisen, da derFall C = 0 daraus folgt indem man C → 0 lasst. In der Tat, ist (2.74) mitC = 0 erfullt, so ist (2.74) auch mit jedem C > 0 erfullt. Es folgt, dass (2.75)mit jedem C > 0 erfullt ist, und das ergibt (2.75) mit C = 0.

Also, nehmen wir an, dass C > 0 und definieren eine Funktion F auf demInterval [t0, b] wie folgt

F (t) = C + L

∫ t

t0

z (s) ds.

64

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Bemerken wir, dass die Funktion F echt positive und differenzierbar ist, undF ′ = Lz gilt. Die Bedingung (2.74) ergibt fur t ∈ [t0, b] dass z ≤ F undsomit

F ′ = Lz ≤ LF.

Diese Differentialungleichung kann gelost werden genau so, wie trennbareDGLen. Dividieren durch F ergibt

F ′

F≤ L,

und durch Integration uber [t0, t] erhalten wir, dass

lnF (t)

F (t0)=

∫ t

t0

F ′ (s)

F (s)ds ≤

∫ t

t0

Lds = L (t− t0) ,

fur alle t ∈ [t0, b]. Daraus folgt

F (t) ≤ F (t0) eL(t−t0) = CeL(t−t0).

Da z ≤ F , erhalten wir (2.75) fur alle t ∈ [t0, b].Auf dem Intervall [a, t0] betrachten wir analog die Funktion

F (t) = C + L

∫ t0

t

z (s) ds,

die positive und differenzierbar ist. Da F ′ = −Lz und nach (2.74) z ≤ F ,erhalten wir die Differentialungleichung

F ′ ≥ −LF,

die ergibt fur t ∈ [a, t0]

lnF (t0)

F (t)=

∫ t0

t

F ′ (s)

F (s)ds ≥ −

∫ t0

t

Lds = −L (t0 − t) = −L |t− t0|

undz (t) ≤ F (t) ≤ F (t0) eL|t−t0| = CeL|t−t0|.

Beweis von Satz 2.1. Wahlen wir ein beschranktes geschlossenesInterval [α, β] ⊂ I, derart, dass t0 ∈ [α, β]. Wir beweisen die folgenden zweiBehauptungen:

1. die Eindeutigkeit der Losung auf [α, β] , sowie auf jedem TeilintervallI ′ ⊂ I;

65

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2. die Existenz einer Losung auf [α, β], sowie auf dem ganzen Intervall I.

Bemerken wir, dass fur jede Losung x (t) von (2.6) auf [a, β] und fur allet ∈ [α, β] gilt

x (t) = x0 +

∫ t

t0

x′ (s) ds

= x0 +

∫ t

t0

(A (s)x (s) +B (s)) ds. (2.76)

Sei x (t) und y (t) zwei Losungen von (2.6) auf the interval [a, β], dann diebeiden Funktionen erfullen die Integralgleichung (2.76). Daraus folgt, dass

x (t)− y (t) =

∫ t

t0

A (s) (x (s)− y (s)) ds,

fur alle t ∈ [α, β]. Sei ‖·‖ eine Norm in Rn . Wir benutzen die Ungleichung∥∥∥∥∫ t

t0

f (s) ds

∥∥∥∥ ≤ ∣∣∣∣∫ t

t0

‖f (s)‖ ds∣∣∣∣ , (2.77)

die fur jede stetige Funktion f (s) mit Werten in Rn gilt. Mit Hilfe von (2.77)erhalten wir

‖x (t)− y (t)‖ ≤∣∣∣∣∫ t

t0

‖A (s) (x (s)− y (s))‖ ds∣∣∣∣

≤∣∣∣∣∫ t

t0

‖A (s)‖ ‖(x (s)− y (s))‖ ds∣∣∣∣

≤ L

∣∣∣∣∫ t

t0

‖(x (s)− y (s))‖ ds∣∣∣∣ , (2.78)

wobeiL = sup

s∈[α,β]

‖A (s)‖ . (2.79)

Da die Verkettung s 7→ A (s) 7→ ‖A (s)‖ stetig ist, ist die Funktion ‖A (s)‖beschrankt auf dem Intervall [α, β], so dass L <∞. Nach (2.78) gilt fur dieFunktion

z (t) = ‖x (t)− y (t)‖

die folgende Ungleichung:

z (t) ≤ L

∣∣∣∣∫ t

t0

z (s) ds

∣∣∣∣ .66

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Lemma 2.12 mit C = 0 ergibt z (t) ≤ 0 und somit z (t) = 0, x (t) ≡ y (t) auf[α, β].

Sei x (t) , y (t) zwei Losungen von (2.6) auf einem Intervall I ′ ⊂ I. Furjedes Intervall [α, β] ⊂ I ′ mit t0 ∈ [α, β] haben wir x (t) ≡ y (t) auf [α, β].Da jedes Intervall als eine Vereinigung von beschrankten geschlossenen Inter-vallen dargestellt werden kann, gewinnen wir die Identitat x (t) ≡ y (t) aufI ′.

Jetzt beweisen wir die Existenz einer Losung von (2.6) auf [α, β] mitHilfe von Annaherung durch eine Funktionenfolge xk (t)∞k=0 auf [α, β]. DieNaherungslosungen werden induktiv definiert wie folgt:

x0 (t) ≡ x0

und

xk (t) = x0 +

∫ t

t0

(A (s)xk−1 (s) +B (s)) ds, k ≥ 1. (2.80)

Es ist klar, dass alle Funktionen xk (t) stetig auf [α, β] sind. Wir beweisen,dass die Folge xk∞k=0 auf [α, β] gegen eine Losung von (2.6) konvergiert furk →∞. Mit Hilfe von (2.80) und

xk−1 (t) = x0 +

∫ t

t0

(A (s)xk−2 (s) +B (s)) ds

erhalten wir, fur jedes k ≥ 2 und t ∈ [α, β],

‖xk (t)− xk−1 (t)‖ ≤∣∣∣∣∫ t

t0

‖A (s)‖ ‖xk−1 (s)− xk−2 (s)‖ ds∣∣∣∣

≤ L

∣∣∣∣∫ t

t0

‖xk−1 (s)− xk−2 (s)‖ ds∣∣∣∣ , (2.81)

wobei L wie fruher nach (2.79) definiert ist. Bezeichnen wir

zk (t) = ‖xk (t)− xk−1 (t)‖ ,

und schreiben (2.81) in der folgenden Form um:

zk (t) ≤ L

∣∣∣∣∫ t

t0

zk−1 (s) ds

∣∣∣∣ . (2.82)

Zunachst schatzen wir die Funktion z1 (t) = ‖x1 (t)− x0 (t)‖ fur t ∈ [t0, β]ab, wie folgt:

z1 (t) =

∥∥∥∥∫ t

t0

(A (s)x0 +B (s)) ds

∥∥∥∥ ≤M (t− t0) ,

67

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wobeiM = sup

s∈[α,β]

‖A (s)x0 +B (s)‖ <∞.

Es folgt aus (2.82), dass fur t ∈ [t0, β]

z2 (t) ≤ LM

∫ t

t0

(s− t0) ds = LM(t− t0)2

2,

z3 (t) ≤ L2M

∫ t

t0

(s− t0)2

2ds = L2M

(t− t0)3

2 · 3,

...

zk (t) ≤ Lk−1M(t− t0)k

k!≤ (c (t− t0))k

k!,

wobei c = max (L,M).Mit dem gleichen Argument behandeln wir den Fall t ∈ [α, t0] und somit

erhalten die folgende Ungleichung fur alle t ∈ [α, β]:

‖xk (t)− xk−1 (t)‖ ≤ (c |t− t0|)k

k!. (2.83)

Die Exponentialreihe∞∑k=0

(c |t− t0|)k

k!

konvergiert fur alle t, und zwar gleichmassig auf jedem beschrankten Intervall.Daraus folgt, dass die Folge xk eine Cauchy-Folge in C ([α, β] ,Rn) ist, dafur alle n > m nach der Dreiecksungleichung und (2.83) gilt

supt∈[α,β]

‖xn (t)− xm (t)‖ ≤ supt∈[α,β]

n∑k=m+1

‖xk (t)− xk−1 (t)‖

≤ supt∈[α,β]

n∑k=m+1

(c |t− t0|)k

k!→ 0

fur n,m → ∞. Da C ([α, β] ,Rn) ein vollstandiger metrischer Raum ist, soerhalten wir, dass die Funktionenfolge xk (t) gleichmaßig auf [α, β] kon-vergiert. Setzen wir

x (t) = limk→∞

xk (t) .

Die Funktion x (t) ist stetig auf [α, β] als der Grenzwert von einer gleichmaßigkonvergierten Funktionenfolge von stetigen Funktionen. In der Identitat(2.80), also

xk (t) = x0 +

∫ t

t0

(A (s)xk−1 (s) +B (s)) ds,

68

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lassen wir k gegen ∞ streben und erhalten, dass der Grenzwert x (t) diefolgende Integralgleichung erfullt:

x (t) = x0 +

∫ t

t0

(A (s)x (s) +B (s)) ds (2.84)

(das Integralzeichen und der Limes sind vertauschbar auf jedem kompaktenIntervall). Wir behaupten, dass x (t) das Anfangswertproblem (2.6) auf [α, β]lost. Da die rechte Seite von (2.84) eine differenzierbare Funktion von t ist,so ist x (t) auch differenzierbar, und

x′ =d

dt

(x0 +

∫ t

t0

(A (s)x (s) +B (s)) ds.

)= A (t)x (t) +B (t) .

Schließlich, es ist klar von (2.84), dass x (t0) = x0. Deshalb lost x (t) dasAnfangswertproblem (2.6) auf [α, β].

Jetzt definieren wir eine Losung auf ganzem Intervall I. Es gibt eine wach-sende Folge von beschrankten geschlossenen Intervallen [αi, βi]∞i=1, derart,dass ihre Vereinigung gleich I ist; wir nehmen auch an, dass t0 ∈ [αi, βi]fur alle i. Bezeichnen mit xi (t) eine Losung von (2.6) auf [αi, βi]. Dann istxi+1 (t) auch eine Losung von (2.6) auf [αi, βi], und nach Eindeutigkeit des1. Teils gewinnen wir, dass xi+1 (t) = xi (t) auf [αi, βi]. Also, in der Folgexi (t) ist jede Funktion eine Fortsetzung der vorangehenden Funktion. Da-raus folgt, dass the Funktion

x (t) := xi (t) fur t ∈ [αi, βi]

wohldefiniert fur alle t ∈ I ist, und deshalb x (t) eine Losung von An-fangswertproblem (2.6) auf I ist.

Der Beweis von der Existenz der Losung fuhrt zur folgenden Methode furBestimmung der Losung x (t) des Anfangswertproblems (2.6). Man definierteine Folge von Naherungslosungen xk (t) nach den Regeln

x0 (t) ≡ x0, xk+1 (t) = x0 +

∫ t

t0

(A (s)xk (s) +B (s)) ds.

Diese Folge xk (t) heißt die Picarditeration. Nach dem Beweis von Satz 2.1konvergiert die Folge xk (t) gegen der Losung x (t) fur alle t ∈ I, und zwargleichmaßig auf jedem kompakten Teilintervall [α, β] ⊂ I.

Beispiel. Betrachten wir das Anfangswertproblemx′ = x,x (0) = 1.

69

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Die Picarditeration ist durch die Identitat

xk+1 (t) = 1 +

∫ t

0

xk (s) ds

gegeben. Da x0 (t) ≡ 1, so erhalten wir induktiv

x1 (t) = 1 +

∫ t

0

x0 (s) ds = 1 + t,

x2 (t) = 1 +

∫ t

0

x1 (s) ds = 1 + t+t2

2

x3 (t) = 1 +

∫ t

0

x2 (s) ds = 1 + t+t2

2!+t3

3!,

usw., so dass

xk (t) = 1 + t+t2

2!+t3

3!+ ...+

tk

k!.

Da xk (t) die partiellen Summen der Exponentialreihe sind, erhalten wir, dassxk (t)→ et fur k →∞ und somit die Funktion x (t) = et die Losung ist.

2.10 Der Raum von Losungen linearer Normalsysteme

Betrachten wir ein lineares Normalsystem

x′ = A (t)x+B (t) , (2.85)

wobei die Funktionen A : I → Rn×n und B : I → Rn stetig auf einemnicht-trivialen Intervall I ⊂ R sind, sowie auch das entsprechende homogeneNormalsystem:

x′ = A (t)x. (2.86)

Bezeichnen wir mit L die Menge von allen Losungen von (2.86) auf I (alsoL ist die allgemeine Losung von (2.86)).

Behauptung. L ein Vektorraum uber R.Beweis. Betrachten erst die Menge F von allen Funktionen I → Rn.

Es ist klar, dass F ein Vektorraum ist, mit Operationen Addition von Funk-tionen und Multiplikation mit einem Skalar. Das Nullelement von F istdie konstante Funktion 0. Offensichtlich ist die allgemeine Losung L eineTeilmenge von F . Wir mussen beweisen, dass L ein Unterraum von F ist,d.h.

(i) 0 ∈ L(ii) x, y ∈ L⇒ x+ y ∈ L (Abgeschlossenheit unter der Addition)

70

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(iii) x ∈ L, c ∈ R⇒ cx ∈ L (Abgeschlossenheit unter der Multiplikation)Die Bedingung (i) ist offensichtlich, weil die Funktion x (t) ≡ 0 eine

Losung von (2.86) ist.Die Bedingung (ii) folgt aus der Identitat

(x+ y)′ = x′ + y′ = Ax+ Ax = A (x+ y) ,

und (iii) folgt von (cx)′ = cx′ = A (cx). Deshalb ist L ein Unterraum.Der folgende Satz ist analog zum Satz 2.3 und Lemma 2.6.

Satz 2.13 (a) Es gilt dimL = n. Folglich ist die allgemeine Losung deshomogenen Normalsystems (2.86) durch die folgende Identitat gegeben

xh (t) = C1x1 (t) + ...+ Cnxn (t) , (2.87)

wobei x1, ..., xn n linear unabhangige Losungen von (2.86) sind und C1, ..., Cnbeliebige Konstanten.

(b) Sei x0 (t) eine spezielle Losung des inhomogenen Normalsystems (2.85).Dann ist die allgemeine Losung von (2.85) durch die folgende Identitat gegeben:

x (t) = x0 (t) + xh (t) , (2.88)

wobei xh wie im Punkt (a) ist.

Beweis. (a) Wahlen wir eine beliebige (aber feste) Stelle t0 ∈ I unddefinieren eine Abbildung Φ : L→ Rn wie folgt:

Φ (x) = x (t0) , (2.89)

d.h., Φ ist die Auswertung der Losung x (t) an der Stelle t0. Offensichtlichist Φ eine lineare Abbildung. Nach Satz 2.1 ist die Abbildung (2.89) bijektiv,da fur jeden Wert x0 ∈ Rn genau eine Losung x (t) existiert mit x (t0) = x0,d.h. mit Φ (x) = x0. Somit ist Φ ein linearer Isomorphismus zwischen L undRn. Daraus folgt, dass L und Rn linear isomorph sind und somit dimL =dimRn = n.

Seien x1, ..., xn linear unabhangige Losungen von (2.86), dann stellt dieFolge x1, ..., xn eine Basis in L dar. Folglich ist jede Funktion von L eineLinearkombination von x1, ..., xn, was zu beweisen war.

(b) Wir behaupten folgendes: eine Funktion x (t) : I → Rn lost (2.85)genau dann, wenn the Funktion y = x− x0 die DGL (2.86) lost. In der Tatist die DGL x′ = Ax+B aquivalent zu

(y + x0)′ = A (y + x0) +B,

y′ + x′0 = Ay + Ax0 +B,

y′ = Ay,

71

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wobei wir benutzt haben, dass x′0 = Ax0 +B. Nach dem Punkt (a) ist y dieallgemeine Losung von (2.86), woraus folgt x = x0 + y = x0 + xh.

Korollar 2.14 Sei t0 ∈ I eine beliebige Stelle. Eine Folge x1, ..., xk vonLosungen von (2.86) ist genau dann linear unabhangig, wenn die Folge vonVektoren x1 (t0) , ..., xk (t0) linear unabhangig ist.

Beweis. Das folgt aus der Bemerkung, dass die lineare Unabhangigkeitdurch den Isomorphismus Φ aus (2.89) bewahrt wird.

Wir betonen, dass fur allgemeine Funktionen Korollar 2.14 nicht gilt: eskann sein, dass die Funktionen x1, x2 unabhangig sind, wahrend die Vektorenx1 (t0) , x2 (t0) abhangig sind.

Beispiel. Betrachten wir den Fall n = 2 und das Normalsystem

x′ =

(0 −11 0

)x. (2.90)

Spater lernen wir, wie man solche Systeme losen kann, aber jetzt fuhren wirdas System auf eine skalare DGL 2-ter Ordnung zuruck. Bezeichnen wir mitX1, X2 die Komponenten von x so dass x =

(X1

X2

)und (2.90) wird

X ′1 = −X2

X ′2 = X1.

Daraus folgt X ′′1 = −X ′2 = −X1 und somit

X ′′1 +X1 = 0.

Nehmen wir zwei unabhangige Losungen:

1. X1 = cos t und X2 = −X ′1 = sin t

2. X1 = − sin t und X2 = cos t.

Daher erhalten wir zwei unabhangige Losungen von (2.90)

x1 (t) =

(cos t

sin t

)und x2 (t) =

(− sin t

cos t

).

Die allgemeine Losung von (2.90) ist somit gleich

x (t) = C1x1 (t) + C2x2 (t) =

(C1 cos t− C2 sin t

C1 sin t+ C2 cos t

).

72

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Nach Korollar 2.14 sind die Vektoren x1 (t) und x2 (t) unabhangig fur jedest. Das folgt auch aus der folgenden Identitat:

det (x1 | x2) = det

(cos t − sin tsin cos t

)= 1 6= 0,

wobei (x1 | x2) eine Matrix mit den Spaltenvektoren x1 und x2 bezeichnet.Betrachten wir jetzt zwei andere Vektorfunktionen

y1 (t) =

(cos t

sin t

)und y2 (t) =

(sin t

cos t

),

die offensichtlich auch linear unabhangig sind als Funktionen. Jedoch habenwir fur t = π/4

y1 (t) =

(√2/2√2/2

)= y2 (t)

so dass die Vektoren y1 (π/4) und y2 (π/4) abhangig sind. Folglich konnendie Funktionen y1 (t) und y2 (t) das gleiche System y′ = A (t) y nicht losen.

Bemerkung. Man kann genauso komplexwertige Normalsysteme betra-chten. In diesem Fall werden die Koeffizienten A (t) und B (t) definiert als diestetige Funktionen A : I → Cn×n und B : I → Cn, und x (t) ist eine gesuchteFunktion mit Werten in Cn. Dann gilt die folgende Verallgemeinerung vonSatz 2.1: fur alle t0 ∈ I und x0 ∈ Cn, hat das Anfangswertproblem

x′ = Ax+Bx (t0) = x0

(2.91)

eine Losung x : I → Cn; daruber hinaus ist die Losung von (2.91) eindeutigauf jedem Teilintervall I ′ ⊂ I, das t0 enthalt. Man kann diese Behauptungentweder direkt beweisen, genauso wie Satz 2.1, oder aus Satz 2.1 gewinnendurch Identifizierung von Cn mit R2n wie folgt. Stellen wir x (t) dar wirx (t) = X (t) + iY (t) wobei X (t) und Y (t) Rn-wertige Funktionen sind,und analog schreiben A (t) = A1 (t) + iA2 (t), B (t) = B1 (t) + iB2 (t) mitreellwertigen Aj, Bj. Dann ist die Gleichung x′ = Ax+B aquivalent zu

(X + iY )′ = (A1 + iA2) (X + iY ) + (B1 + iB2)

und somit zu X ′ = A1X − A2Y +B1

Y ′ = A2X + A1Y +B2(2.92)

73

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Bezeichnen wir mit B die R2n-wertige Funktion(B1

B2

), und mit A die R2n×2n-

wertige Funktion wie folgt:

A =

(A1 −A2

A2 A1

).

Dann ist (2.92) aquivalent zur DGL(X

Y

)′= A

(X

Y

)+ B. (2.93)

Da (2.93) ein lineares Normalsystem der Dimension 2n mit reellwertigenKoeffizienten ist, nach Satz 2.1 hat das Anfangswertproblem fur (2.93) eineeindeutige Losung, woraus gleiches fur (2.91) folgt.

Somit gelten auch Satz 2.13 und Korollar 2.14 fur die komplexwertigenSysteme, vorausgesetzt, dass die Raume von Losungen uber den Korper Cbetrachtet werden und die beliebigen Konstanten C1, ..., Cn komplexwertigsind.

2.11 Variation der Konstanten

Betrachten wir wieder das inhomogene Normalsystem

x′ = A (t)x+B (t) , (2.94)

mit stetigen Koeffizienten A (t) : I → Rn×n und B (t) : I → Rn. Wir fuhrenhier ein Verfahren zur Bestimmung die allgemeine Losung von (2.94) ein, vo-rausgesetzt, dass die allgemeine Losung des homogenen Systems x′ = A (t)xbekannt ist. Den speziellen Fall fur n = 1 haben wir schon im Abschnitt 1.4betrachtet (vgl. Satz 1.4).

Gegeben seien n linear unabhangige Losungen x1, ...., xn von x′ = A (t)x,betrachten wir die Fundamentalmatrix

X (t) =

x1 x2 . . . xn

, (2.95)

wobei die k-te Spalte durch den Spaltenvektor xk (t) gegeben ist, fur alle k =1, ..., n. Wie schreiben die n× n Matrix (2.95) kurz in der Form

X (t) = (x1 | x2 |...| xn) .

74

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Nach Korollar 2.14 sind die Spalten von X (t) linear unabhangig fur jedest ∈ I, woraus folgt, dass detX (t) 6= 0 und somit die inverse Matrix X−1 (t)fur alle t ∈ I definiert ist. Man benutzt X und X−1, um das inhomogeneNormalsystem (2.94) wie folgt zu losen.

Satz 2.15 Die allgemeine Losung des Systems (2.94) ist durch die Identitat

x (t) = X (t)

∫X−1 (t)B (t) dt (2.96)

gegeben.

Zunachst beweisen wir eine Behauptung.

Behauptung. Seien x1, ..., xm Vektoren aus Rn und C1, ..., Cm ∈ R. Danngilt die Identitat

C1x1 + ...+ Cmxm = XC, (2.97)

wobei X die n×m Matrix mit Spalten x1, ..., xm ist und C der Spaltenvektormit Komponenten C1, ..., Cm.

Beweis. Sei xik die i-te Komponente des Vektors xk. Dann hat dieMatrixX die Elemente xik wobei i der Zeilenindex ist und k der Spaltenindex.Nach Definition des Produktes von Matrizen erhalten wir

(XC)i =m∑k=1

xikCk =

(m∑k=1

Ckxk

)i

woraus (2.97) folgt.Man kann die Identitat (2.97) etwas ausfuhrlicher darstellen wie folgt: x1 x2 . . . xn

C1

C2...Cm

= C1x1 + ...+ Cmxn

Beweis von Satz 2.15. Da fur jedes t ∈ I die Vektoren x1 (t) , ..., xn (t)linear unabhangig sind, kann jeder Vektor aus Rn als eine Linearkombinationvon den Vektoren x1 (t) , ..., xn (t) dargestellt werden. Insbesondere gilt esfur den Vektor x (t), wobei x : I → Rn eine beliebige Funktion ist. Somitexistieren die reellwertigen Funktionen C1 (t) , ..., Cn (t) auf I, derart, dassdie folgende Identitat

x (t) = C1 (t)x1 (t) + ...+ Cn (t)xn (t) (2.98)

75

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fur alle t ∈ I gilt. Bezeichnen wir mit C (t) den Spaltenvektor mit denKomponenten C1 (t) , ..., Cn (t) und umschreiben die Identitat (2.98) nach(2.97):

x (t) = X (t)C (t) .

Daraus folgt, dassC (t) = X−1 (t)x (t)

gilt und die Funktion C (t) nach t differenzierbar ist, vorausgesetzt, dass x (t)differenzierbar ist4. Durch Ableitung von (2.98) erhalten wir

x′ = C1x′1 + C2x

′2 + ...+ Cnx

′n

+C ′1x1 + C ′2x2 + ...+ C ′nxn

= C1Ax1 + C2Ax2 + ...+ CnAxn (benutzt x′k = Axk)

+C ′1x1 + C ′2x2 + ...+ C ′nxn

= A(C1x1 + C2x2 + ...+ Cnxn)

+C ′1x1 + C ′2x2 + ...+ C ′nxn

= Ax+XC ′.

Deshalb ist die DGL x′ = Ax+B aquivalent zu

XC ′ = B. (2.99)

Durch Losung dieser Gleichung bezuglich C ′ erhalten wir

C ′ = X−1B,

und somit

C (t) =

∫X−1 (t)B (t) dt,

und

x (t) = XC = X (t)

∫X−1 (t)B (t) dt,

was zu beweisen war.

Bemerkung. Die Bezeichnung “Variation der Konstanten” kommt aus derIdentitat (2.98), wo man die Konstanten C1, ...., Cn aus dem Ausdruck

x (t) = C1x1 (t) + ...+ Cnxn (t)

fur die Losung der homogenen DGL variieren lasst, d.h. durch die Funktionenersetzt, und somit die Losung der inhomogenen DGL bestimmt.

4Die Funktion X−1 (t) ist immer nach t differenzierbar, da die Komponenten vonX−1 (t) rationale Funktionen der Komponenten von X (t) sind.

76

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Zweiter Beweis von Satz 2.15. Bemerken zunachst, dass die FundamentalmatrixX die folgende DGL

X ′ = AX (2.100)

erfullt, weil jeder Spaltenvektor xk von X die ahnliche Gleichung x′k = Axk erfullt. DurchAbleitung von (2.96) nach t und mit Hilfe von Produktregel erhalten wir

x′ = X ′ (t)

∫X−1 (t)B (t) dt+X (t)

(X−1 (t)B (t)

)= AX

∫X−1B (t) dt+B (t)

= Ax+B (t) .

Deshalb lost x (t) das Normalsystem (2.94). Jetzt zeigen wir, dass (2.96) alle Losungenliefert. Das Integral in (2.96) ist unbestimmt und somit kann in der Form∫

X−1 (t)B (t) dt = V (t) + C

dargestellt werden, wobei V (t) eine Stammfunktion und C = (C1, ..., Cn) ein konstanterVektor ist. Es folgt aus (2.96), dass

x (t) = X (t)V (t) +X (t)C

= x0 (t) + C1x1 (t) + ...+ Cnxn (t) ,

wobei x0 (t) = X (t)V (t) eine Losung von (2.94) ist. Nach Satz 2.13 erhalten wir, dass

x (t) die allgemeine Losung ist.

Beispiel. Betrachten wir das Normalsystem

x′ =

(0 −11 0

)x.

Dieses System hat zwei unabhangige Losungen

x1 (t) =

(cos t

sin t

)und x2 (t) =

(− sin t

cos t

),

wie es schon bemerkt wurde. Somit ist die Fundamentalmatrix

X =

(cos t − sin tsin t cos t

)und die inverse Matrix

X−1 =

(cos t sin t− sin t cos t

).

77

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Betrachten jetzt die inhomogene DGL

x′ = A (t)x+B (t)

wobei B (t) =(b1(t)b2(t)

). Nach (2.96) erhalten wir die allgemeine Losung

x (t) =

(cos t − sin tsin t cos t

)∫ (cos t sin t− sin t cos t

)(b1 (t)

b2 (t)

)dt

=

(cos t − sin tsin t cos t

)∫ (b1 (t) cos t+ b2 (t) sin t

−b1 (t) sin t+ b2 (t) cos t

)dt.

Z.B., nehmen wir B (t) =(

1−t

)an und berechnen das Integral wie folgt:∫ (

cos t− t sin t

− sin t− t cos t

)dt =

(t cos t+ C1

−t sin t+ C2

).

Daraus folgt

x (t) =

(cos t − sin tsin t cos t

)(t cos t+ C1

−t sin t+ C2

)=

(C1 cos t− C2 sin t+ t

C1 sin t+ C2 cos t

)=

(t

0

)+ C1

(cos t

sin t

)+ C2

(− sin t

cos t

).

Skalare DGLen n-ter Ordnung. Jetzt verwenden wir das VerfahrenVariation der Konstanten zur Losung der skalaren linearen ODE n-ter Ord-nung

x(n) + a1 (t)x(n−1) + ...+ an (t)x = f (t) , (2.101)

wobei ak (t) und f (t) stetige Funktionen auf einem Intervall I. Wir losen(2.101) indem wir die DGL (2.101) auf ein Normalsystem zuruckfuhren.

Wir wissen schon, dass (2.101) aquivalent zum Normalsystem

x′ = A (t) x +B (t) (2.102)

ist, wobei

x (t) =(x (t) , x′ (t) , ..., x(n−1) (t)

)T

78

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und

A =

0 1 0 ... 00 0 1 ... 0... ... ... ... ...0 0 0 ... 1−an −an−1 −an−2 ... −a1

, B =

00...0f

.

Seien x1, ..., xn n linear unabhangige Losungen der homogenen DGL

x(n) + a1x(n−1) + ...+ an (t)x = 0. (2.103)

Bezeichnen mit x1, ...,xn die entsprechenden Vektorfunktionen, die unabhangigeLosungen von x′ = A (t)x sind, und betrachten die Fundamentalmatrix

X = ( x1 | x2 | . . . | xn ) =

x1 x2 ... xnx′1 x′2 ... x′nx′′1 x′′2 ... x′′n... ... ... ...

x(n−1)1 x

(n−1)2 ... x

(n−1)n

. (2.104)

Diese Matrix X heißt auch die Fundamentalmatrix von der DGL (2.103).Nach Satz 2.15 ist die allgemeine Losung von (2.102) durch die Identitat

x (t) = X (t)

∫X−1 (t)B (t) dt (2.105)

gegeben. Bezeichnen wir mit yik die Elemente von Matrix X−1, also X−1 =(yik), wobei i der Zeilenindex und k der Spaltenindex sind. Sei yk die k-teSpalte von X−1. Nach (2.97) erhalten wir

X−1B = 0y1 + 0y2 + ...+ fyn = fyn,

und nach (2.105)

x = X (t)

∫f (t) yn (t) dt.

Bestimmen wir die Funktion x (t), die die erste Komponente von x ist. Manerhalt x (t) als das Produkt von der ersten Zeile vonX und dem Spaltenvektor∫f (t) yn (t) dt, also

x (t) =n∑j=1

xj (t)

∫f (t) yjn (t) dt.

Somit haben wir den folgenden Satz bewiesen.

79

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Satz 2.16 Seien x1, ..., xn n linear unabhangige Losungen von (2.103) undX die Fundamentalmatrix (2.104). Fur jede stetige Funktion f (t) auf I istdie allgemeine Losung von (2.101) durch die Identitat

x (t) =n∑j=1

xj (t)

∫f (t) yjn (t) dt (2.106)

gegeben, wobei yjk die Elemente der inversen Matrix X−1 sind.

Beispiel. Betrachten wir die DGL

x′′ + x = f (t) . (2.107)

Die unabhangige Losungen der homogenen DGL x′′+x = 0 sind x1 (t) = cos tund x2 (t) = sin t, und deshalb ist die Fundamentalmatrix

X =

(cos t sin t− sin t cos t

).

Die inverse Matrix ist

X−1 =

(cos t − sin tsin t cos t

).

Nach (2.106) erhalten wir die allgemeine Losung von (2.107):

x (t) = x1 (t)

∫f (t) y12 (t) dt+ x2 (t)

∫f (t) y22 (t) dt

= cos t

∫f (t) (− sin t) dt+ sin t

∫f (t) cos tdt. (2.108)

Z.B., fur f (t) = sin t erhalten wir

x (t) = cos t

∫sin t (− sin t) dt+ sin t

∫sin t cos tdt

= − cos t

∫sin2 tdt+

1

2sin t

∫sin 2tdt

= − cos t

(1

2t− 1

4sin 2t+ C1

)+

1

4sin t (− cos 2t+ C2)

= −1

2t cos t+

1

4(sin 2t cos t− sin t cos 2t) + c1 cos t+ c2 sin t

= −1

2t cos t+ c1 cos t+ c2 sin t.

80

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Die gleiche Antwort kann auch mit Hilfe von Satz 2.8 gewonnen werden, dadie Storfunktion sin t ein Quasipolynom ist.

Betrachten ein anderes Beispiel von Storfunktion f (t) = tan t, die keinQuasipolynom ist. In diesem Fall erhalten wir aus (2.108)5

x = cos t

∫tan t (− sin t) dt+ sin t

∫tan t cos tdt

= cos t

(1

2ln

(1− sin t

1 + sin t

)+ sin t

)− sin t cos t+ c1 cos t+ c2 sin t

=1

2cos t ln

(1− sin t

1 + sin t

)+ c1 cos t+ c2 sin t.

Jetzt zeigen wir, wie man die Methode von Variation der Konstantenfur DGL (2.107) direkt benutzen kann, ohne die Formel (2.106) zu erinnern.Zunachst bestimmt man die allgemeine Losung der homogenen DGL x′′+x =0 wie ublich:

x (t) = C1 cos +C2 sin t, (2.109)

wobei C1 und C2 sofern Konstanten sind. Man erhalt den Losungsansatz fur(2.107) indem man die Konstanten Ck durch die Funktionen Ck (t) ersetzt:

x (t) = C1 (t) cos t+ C2 (t) sin t. (2.110)

Um die unbekannten Funktionen C1 (t) und C2 (t) zu bestimmen, finden wirzwei Gleichungen fur C1 und C2. Durch Ableitung von (2.110) erhalten wir

x′ (t) = −C1 (t) sin t+ C2 (t) cos t (2.111)

+C ′1 (t) cos t+ C ′2 (t) sin t,

und wahlen die erste Gleichung wie folgt:

C ′1 cos t+ C ′2 sin t = 0. (2.112)

Die Motivation fur (2.112) ist folgende. Betrachten wir wieder das entsprechendeNormalsystem

x′ =

(0 1−1 0

)x+

(0

f (t)

)(2.113)

5Das Integral∫

tanx sin tdt kann wie folgt bestimmt werden:∫tanx sin tdt =

∫sin2 t

cos tdt =

∫1− cos2 t

cos tdt =

∫dt

cos t− sin t,

wobei ∫dt

cos t=

∫d sin t

cos2 t=

∫d sin t

1− sin2 t=

1

2ln

1− sin t

1 + sin t+ C.

81

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mit der unbekannten Vektorfunktion x = (x, x′) . Das homogene System hat zwei un-abhangige Losungen

(cos t

(cos t)′

)und

(sin t

(sin t)′

), die von den Losungen x1 (t) = cos t und x2 (t) =

sin t der DGL x′′ + x = 0 entstehen. Deshalb ist der Losungsansatz fur (2.113) wie folgt:

x (t) = C1 (t)

(cos t

(cos t)′

)+ C2 (t)

(sin t

(sin t)′

),

deren Komponenten somit sind

x (t) = C1 (t) cos t+ C2 (t) sin t

x′ (t) = C1 (t) (cos t)′+ C2 (t) (sin t)

′.

Ableiten die erste Zeile und Subtrahieren die zweite Zeile ergibt (2.112).

Ableiten von der ersten Zeile von (2.111) ergibt

x′′ = −C1 cos t− C2 sin t

−C ′1 sin t+ C ′2 cos t,

woraus folgtx′′ + x = −C ′1 sin t+ C ′2 cos t.

Bemerken Sie, dass alle Terme mit C1 und C2 sich herauskurzen lassen. Somiterhalten wir die zweite Gleichung fur C ′1 und C ′2:

−C ′1 sin t+ C ′2 cos t = f (t) .

Die Losung des linearen GleichungsystemsC ′1 cos t+ C ′2 sin t = 0−C ′1 sin t+ C ′2 cos t = f (t)

ergibtC ′1 = −f (t) sin t, C ′2 = f (t) cos t

und somit

C1 = −∫f (t) sin tdt, C2 =

∫f (t) cos tdt.

Einsetzen in (2.110) ergibt (2.108).

2.12 Wronski-Determinante und Liouvillesche Formel

Sei I ein offenes Intervall in R.

Definition. Sei xk (t)nk=1 eine Folge von n Vektorfunktionen I → Rn.Man definiert die Wronski-Determinante W (t) von der Folge xk wie folgt:

W (t) = det (x1 (t) | x2 (t) |...| xn (t)) ,

82

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wobei die Matrix auf der rechten Seite aus den Spaltenvektoren x1, ..., xnbesteht.

Somit ist W (t) die Determinante von der n × n Matrix. Man schreibtauch Wx1,...,xn (t) wenn die Abhangigkeit von x1, ..., xn explizit gezeigt werdensoll.

Definition. Sei xknk=1 eine Folge von n Skalarfunktionen I → R, die(n− 1)-fach differenzierbar auf I sind. Man definiert die Wronski-DeterminanteW (t) von der Folge xk wie folgt:

W (t) = det

x1 x2 ... xnx′1 x′2 ... x′n... ... ... ...

x(n−1)1 x

(n−1)2 ... x

(n−1)n

.

Satz 2.17 (Liouvillesche Formel)(a) Sei x1, ..., xn eine Folge von n Losungen des Normalsystems x′ =

A (t)x, wobei A : I → Rn×n stetig auf einem Intervall I ist. Dann erfullt dieWronski-Determinante W (t) dieser Folge die Identitat

W (t) = W (t0) exp

(∫ t

t0

SpurA (τ) dτ

), (2.114)

fur alle t, t0 ∈ I.

Bemerkung. Wir erinnern uns daran, dass die Spur der Matrix A gleichdie Summe der Diagonalelementen dieser Matrix ist.

(b) Sei x1, ..., xn eine Folge von n Losungen der skalaren DGL

x(n) + a1 (t)x(n−1) + ...+ an (t)x = 0,

wobei ak (t) stetige Funktionen auf einem Intervall I sind. Dann erfullt dieWronski-Determinante W (t) dieser Folge die Identitat

W (t) = W (t0) exp

(−∫ t

t0

a1 (τ) dτ

). (2.115)

Beweis. (a) Bezeichnen wir mit xij die i-te Komponente von xj undbetrachten die Matrix

X = (x1| x2|...|xn) = (xij) ,

83

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wobei i der Zeilenindex und j der Spaltenindex ist. Bezeichnen wir mit zidie i-te Zeile von X, d.h.

zi = (xi1, xi2, ..., xin) ,

und mit zij die j-te Komponente von zi, d.h. zij = xij. Insbesondere habenwir

W (t) = detX = det

z1

z2

...zn

= det (zij) .

Behauptung. Die folgende Identitat gilt fur alle t ∈ I:

W ′ (t) = det

z′1z2...zn

+ det

z1

z′2...zn

+ ...+ det

z1

z2...z′n

. (2.116)

Fur den Beweis benutzen wir die folgende Verallgemeinerung der Produk-tregel: seien f1 (t) , ..., fn (t) differenzierbare Funktionen, dann gilt

(f1...fn)′ = f ′1f2...fn + f1f′2...fn + ...+ f1f2...f

′n, (2.117)

die man durch Induktion nach n beweist. Ferner benutzen wir die Leibniz-Formel fur Determinante:

W (t) = detX =∑π∈Sn

sgn (π) z1π(1)z2π(2) . . . znπ(n), (2.118)

wobei Sn die Menge von allen Permutationen von Elementen 1, ..., n istund sgn (π) das Signum der Permutation π bezeichnet, d.h. sgn (π) = 1 fallsπ gerade ist, und sgn (π) = −1 falls π ungerade ist. Ableiten von (2.118)mit Hilfe von (2.117) ergibt

W ′ (t) =∑π∈Sn

sgn (π) z′1π(1)z2π(2) . . . znπ(n) (2.119)

+∑π∈Sn

sgn (π) z1π(1)z′2π(2) . . . znπ(n)

+...+∑π∈Sn

sgn (π) z1π(1)z2π(2) . . . z′nπ(n).

84

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Die erste Summe in (2.119) sieht genauso aus, wie die Summe in (2.118),abgesehen davon, dass die Elemente x1j der ersten Zeile durch ihre Ableitun-gen ersetzt werden. Deshalb ist die erste Summe in (2.119) gleich

det

z′1z2...zn

,

und das Gleiche gilt fur alle andere Summen, woraus (2.116) folgt.Da xij = zij die j-te Komponente von zi und gleichzeitig die i-te Kom-

ponente von xj ist und x′j = Axj, so erhalten wir

(z′i)j = x′ij = (xj)′i = (Axj)i =

n∑k=1

Aikxkj =n∑k=1

Aikzkj =

(n∑k=1

Aikzk

)j

,

(2.120)wobei wir benutzt haben, dass die Koeffizienten Aik von j nicht abhangen.Offensichtlich ergibt (2.120) die Gleichung

z′i =n∑k=1

Aikzk.

Z.B., es giltz′1 = A11z1 + A12z2 + ...+ A1nzn,

woraus folgt durch die Linearitat der Determinante, dass

det

z′1z2...zn

= A11 det

z1

z2...zn

+ A12 det

z2

z2...zn

+ ...+ A1n det

znz2...zn

.

Bemerken wir, dass alle Determinanten auf der rechten Seite verschwinden,außer der ersten Determinante, da sie die gleichen Zeilen haben. Somit er-halten wir

det

z′1z2...zn

= A11 det

z1

z2...zn

= A11W (t) .

Analog berechnen wir die anderen Terme in (2.116) und erhalten

W ′ (t) = (A11 + A22 + ...+ Ann)W (t)

= (SpurA)W (t) , (2.121)

85

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d.h. W (t) lost eine lineare DGL 1er Ordnung. Gilt W (t) = 0 fur einenWert von t, dann gilt W (t) ≡ 0 fur alle t nach Eindeutigkeit von Losungenvon Satz 2.1. In diesem Fall ist die Identitat (2.114) trivial. Gilt W (t) 6= 0fur alle t, dann losen wir die trennbare DGL (2.121) indem wir durch W (t)dividieren und nach t integrieren. Es folgt, dass6

lnW (t)

W (t0)=

∫ t

t0

SpurA (τ) dτ,

was aquivalent zu (2.114) ist.(b) Die skalare DGL ist aquivalent zum Normalsystem x′ = Ax wobei

x =

xx′

...x(n−1)

und A =

0 1 0 ... 00 0 1 ... 0... ... ... ... ...0 0 0 ... 1−an −an−1 −an−2 ... −a1

.

Da Wx1,...,xn = Wx1,...,xn und SpurA = −a1, (2.115) folgt aus (2.114).Im Fall von skalaren DGLen 2-ter Ordnung

x′′ + a1 (t)x′ + a2 (t)x = 0

hilft die Liouvillesche Formel eine allgemeine Losung zu bestimmen, falls einespezielle Losung gegeben ist. In der Tat, seien x1 (t) eine spezielle Losung,die nie verschwindet, und x (t) eine andere Losung. Dann nach (2.115) habenwir

Wx1,x (t) = det

(x1 xx′1 x′

)= C exp

(−∫a1 (t) dt

),

und somit

x1x′ − xx′1 = C exp

(−∫a1 (t) dt

).

Dax1x

′ − xx′1x2

1

=

(x

x1

)′,

Dividieren durch x21 ergibt(

x

x1

)′=C exp

(−∫a1 (t) dt

)x2

1

. (2.122)

6Wir betonen, dass W (t) und W (t0) das gleiche Vorzeichen haben und somit ist ihrVerhaltnis positive.

86

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Somit kann die allgemeine Losung x (t) durch Integration bestimmt werden.

Beispiel. Betrachten wir die DGL

x′′ − 2(1 + tan2 t

)x = 0.

Diese DGL hat eine Losung x1 (t) = tan t, dass aus der Identitaten

d

dttan t =

1

cos2 t= tan2 t+ 1

undd2

dt2tan t = 2 tan t

(tan2 t+ 1

)folgt. Somit erhalten wir aus (2.122) mit a1 = 0( x

tan t

)′=

C

tan2 t,

woraus folgt7

x = C tan t

∫dt

tan2 t= C tan t (−t− cot t+ C1) .

Die Antwort kann auch in der Form

x = c1 tan t+ c2 (t tan t+ 1)

geschrieben werden, wobei c1 = CC1 und c2 = −C.

2.13 Losungsmethoden fur homogene Systeme mit kon-stanten Koeffizienten

Betrachten wir ein Normalsystem

x′ = Ax

wobei A ∈ Cn×n ein konstanter Operator (bzw eine n × n Matrix) ist undx : R → Cn eine unbekannte Funktion. Nach Satz 2.13 ist die allge-meine Losung dieses Systems durch Linearkombination von n unabhangigeLosungen gegeben. In diesem Abschnitt entwickeln wir die Methode fur Bes-timmung solcher Losungen.

7Wir haben ∫dt

tan2 t=

∫cos2 t

sin2 tdt =

∫1− sin2 t

sin2 tdt

=

∫dt

sin2 t−∫dt = − cot t− t+ C1.

87

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2.13.1 Spezieller Fall

Zunachst benutzen den Exponentialansatz fur Losung: x = eλtv wobei v einNicht-Null-Vektor aus Cn ist und λ ∈ C eine Konstante. Einsetzen diesenAnsatz in DGL x′ = Ax ergibt

λeλtv = eλtAv,

also Av = λv. Erinnern wir uns daran, dass ein Nicht-Null-Vektor v, derdie Gleichung Av = λv erfullt, als Eigenvektor von A bezeichnet wird. Derentsprechende Wert von λ heißt der Eigenwert. Somit gilt folgendes.

Behauptung. Die Funktion x (t) = eλtv ist eine Losung des Normalsystemsx′ = Ax genau dann, wenn v ein Eigenvektor von A mit dem Eigenwert λist.

Es ist bekannt, dass λ ∈ C ein Eigenwert von A genau dann ist, wenn

det (A− λid) = 0, (2.123)

wobei id den Identitatsoperator in Cn bezeichnet. Diese Gleichung heißt diecharakteristische Gleichung des Operators A. Sie kann benutzt werden, umdie Eigenwerte von A zu bestimmen. Die Funktion

P (λ) := det (A− λid)

ist ein Polynom von λ von Grad n, das charakteristisches Polynom von Aheißt. Deshalb sind die Eigenwerte von A genau die Nullstellen des charak-teristischen Polynoms P (λ).

Ist ein Eigenwert λ schon bekannt, so kann ein Eigenvektor aus der Gle-ichung

(A− λid) v = 0 (2.124)

bestimmt werden. Wir betonen, dass Eigenvektor auf jeden Fall nicht ein-deutig ist, da mit jedem Eigenvektor v auch alle seine Vielfachen Eigenvek-toren sind. Die Menge von allen Losungen von (2.124) ist ein Unterraum,der ein Eigenraum heißt; bezeichnen wir ihn mit Eλ. Ist λ ein Eigenwert,dann gilt dimEλ ≥ 1. Man erhalt genau k = dimEλ unabhangige Losungenin der Form x (t) = eλtv, indem man k unabhangige Vektoren v in Eλ wahlt.

Satz 2.18 Hat ein Operator A ∈ Cn×n n linear unabhangige Eigenvektorenv1, ..., vn mit den Eigenwerten λ1, ..., λn, so stellen die folgenden n Funktionen

eλ1tv1, eλ2tv2, ..., e

λntvn (2.125)

88

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n linear unabhangige Losungen von x′ = Ax dar. Somit ist die allgemeineLosung dieses Normalsystems durch die Identitat

x (t) =n∑k=1

Ckeλktvk (2.126)

gegeben, wobei C1, ..., Cn beliebige komplexe Konstanten sind.

Beweis. Wir haben schon gesehen, dass jede Funktion eλktvk eine Losungist. Da die Vektoren v1, ..., vn linear unabhangig sind, so sind auch the Funk-tionen

eλktvk

nk=1

linear unabhangig und somit stellen eine Basis im Raumvon Losungen dar, was zu beweisen war.

Bemerkung. Folgendes ist aus linearer Algebra bekannt: hat der OperatorA n verschiedenen Eigenwerte, so sind deren Eigenvektoren unbedingt un-abhangig. In diesem Fall ist Satz 2.18 verwendbar. Noch ein Fall, wenn dieVoraussetzungen von Satz 2.18 erfullt sind, ist wenn der Operator A durcheine symmetrische reelle Matrix dargestellt wird. In diesem Fall existiertimmer eine Orthogonalbasis von Eigenvektoren.

Korollar 2.19 Sei A ∈ Rn×n und nehmen wir an, dass A n verschiedeneEigenwerte hat. Ist λ ein nicht-reeller Eigenwert von A mit dem Eigenvektorv, so ist λ auch ein Eigenwert mit dem Eigenvektor v, und die Funktioneneλtv, eλtv in der Identitat (2.126) konnen durch die reellwertigen FunktionenRe(eλtv

), Im

(eλtv

)ersetzt werden. Nach Ersetzung in (2.126) von allen

Paaren eλt, eλt mit nicht-reellen Eigenwerten λ erhalt man die allgemeinereelle Losung mit beliebigen reellen Konstanten C1, ..., Cn.

Beweis. Gilt Av = λv, so gilt durch die komplexe Konjugation auch

Av = Av = λv = λv,

wobei benutzt man, dass die Koeffizienten der Matrix A reell sind. Somitist λ ein Eigenwert von A mit dem Eigenvektor v. Die Werte λ und λ sindverschiedene Elemente der Folge λ1, ..., λn , z.B. λ = λk und λ = λm. Daalle Eigenwerte einfach sind, es gilt v = constvk und v = constvm. Deshalbkonnen die Funktionen eλktvk und eλmvm in (2.126) durch die Funktionen

u (t) = eλtv und u (t) = eλtv ersetzt werden. Da

u = Reu+ iImu, u = Reu− iImu

und somit

Reu =u+ u

2, Imu =

u− u2i

,

89

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so entstehen die Paare u, u und Reu, Imu auseinander durch Lineartransfor-mationen. Daraus folgt, dass die linearen Hullen der beiden Paaren gleichsind, also

span (u, u) = span (Reu, Imu) ,

und deshalb sind diese Paare in jeder Basis austauschbar.

Beispiel. Betrachten wir das Systemx′ = yy′ = x

und schreiben es in der Vektorform um:

x′ = Ax

wobei

x =

(x

y

)und A =

(0 11 0

).

Das charakteristische Polynom ist

P (λ) = det

(−λ 11 −λ

)= λ2 − 1,

die charakteristische Gleichung is λ2−1 = 0, und die Eigenwerte sind λ1 = 1,λ2 = −1. Fur den Eigenwert λ1 = 1 erhalten wir aus (2.124) die folgendeGleichung fur den Eigenvektor v1 =

(ab

):(

−1 11 −1

)(a

b

)= 0,

was nur eine unabhangige Gleichung a − b = 0 liefert. Wahlen a = 1 ergibtb = 1 und somit den Eigenvektor

v1 =

(1

1

).

Analog fur den Eigenwert λ2 = −1 erhalten wir die folgende Gleichung furv2 =

(ab

): (

1 11 1

)(a

b

)= 0,

was aquivalent zu a+ b = 0 ist. Daraus folgt

v2 =

(1

−1

).

90

Page 92: Gew ohnliche Di erentialgleichungen - Universität Bielefeldkondrat/ODE/ODE.pdf · Literatur Otto Forster Analysis 2 Di erentialrechnung im Rn gewhnliche Di erentialgleichungen 8.,

Da v1 und v2 unabhangig sind, erhalten wir die allgemeine Losung in derForm

x (t) = C1et

(1

1

)+ C2e

−t(

1

−1

)=

(C1e

t + C2e−t

C1et − C2e−t

),

alsox (t) = C1e

t + C2e−t, y (t) = C1e

t − C2e−t.

Beispiel. Betrachten wir das Normalsystemx′ = −yy′ = x

.

Die Matrix des Systems ist A =

(0 −11 0

), und das charakteristische Poly-

nom ist

P (λ) = det

(−λ −11 −λ

)= λ2 + 1.

Die charakteristische Gleichung ist λ2 + 1 = 0, woraus folgt, dass die Eigen-werte λ1 = i und λ2 = −i sind. Fur den Eigenwert λ1 = i erhalten wir diefolgende Gleichung fur den Eigenvektor v1 =

(ab

):(

−i −11 −i

)(a

b

)= 0,

die ist aquivalent zu ia+ b = 0. Die Wahl a = i ergibt b = 1 und

v1 =

(i

1

).

Somit ist die entsprechende Losung

x1 (t) = eit

(i

1

)=

(− sin t+ i cos t

cos t+ i sin t

).

Die zweite komplexwertige Losung braucht nicht bestimmt werden, da wirmit Hilfe von Korollar 2.19 zwei unabhangige reelle Losungen erhalten:

Rex1 =

(− sin t

cos t

)und Imx1 =

(cos t

sin t

),

und somit auch die allgemeine reelle Losung

x (t) = C1Rex1+C2Imx1 = C1

(− sin t

cos t

)+C2

(cos t

sin t

)=

(−C1 sin t+ C2 cos t

C1 cos t+ C2 sin t

).

91

Page 93: Gew ohnliche Di erentialgleichungen - Universität Bielefeldkondrat/ODE/ODE.pdf · Literatur Otto Forster Analysis 2 Di erentialrechnung im Rn gewhnliche Di erentialgleichungen 8.,

Beispiel. Betrachten wir das Systemx′ = yy′ = 0.

Dieses System lasst sich sehr einfach losen wie folgt: y = C1 und x = C1t+C2,so dass (

x

y

)= C1

(t

1

)+ C2

(1

0

).

Allerdings kann diese Antwort mit Hilfe von Satz 2.18 nicht erhalten werden.In der Tat ist die Matrix des Systems

A =

(0 10 0

),

das charakteristische Polynom ist

P (λ) = det

(−λ 10 −λ

)= λ2,

und die charakteristische Gleichung P (λ) = 0 liefert nur einen Eigenwertλ = 0. Den Eigenvektor v =

(ab

)von λ = 0 wird aus der folgenden Gleichung

bestimmt (0 10 0

)(a

b

)= 0,

woraus folgt b = 0. Deshalb erhalten wir nur einen Eigenvektor v =(

10

)und

somit nur eine Losung(xy

)=(

10

). In diesem Fall existiert keine Basis aus

Eigenvektoren, und man braucht eine andere Methode.

2.13.2 Exponentialfunktion von Operatoren

Wir erinnern und daran, dass eine skalare DGL x′ = Ax, wobei A eineKonstante ist, hat die allgemeine Losung x (t) = CeAt. In diesem Abschnittdefinieren wir die Exponentialfunktion eA fur lineare Operatoren A ∈ Cn×n

und benutzen sie um das Normalsystem x′ = Ax zu losen.

Definition. Fur jeden Operator A ∈ Cn×n definieren wir einen OperatoreA ∈ Cn×n durch die Identitat

eA = id+ A+A2

2!+ ...+

Ak

k!+ ... =

∞∑k=0

Ak

k!. (2.127)

92

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Man schreibt auch exp (A) = eA.

Um diese Definition zu begrunden, mussen wir jedoch uberprufen, dassdie Exponentialreihe (2.127) konvergiert. Da alle Potenzen Ak Elementenvon Cn×n sind, versteht man die Konvergenz der Reihe (2.127) im Sinn vonder Normtopologie von Cn×n.

Satz 2.20 (a) Die Exponentialreihe konvergiert fur alle A ∈ Cn×n.(b) Die allgemeine Losung des Normalsystems x′ = Ax ist durch die

Identitat x = etAv gegeben, wobei v ∈ Cn ein beliebiger Vektor ist.

Beweis. (Vgl. Aufgabe 35). Betrachten wir das Anfangswertproblemx′ = Axx (0) = v,

(2.128)

wobei v ∈ C. Nach Satz 2.1 existiert eine eindeutige Losung x (t) auf R, und

x (t) = limk→∞

xk (t) ,

wobei die Folge xk (t) die Picarditeration ist, die durch die Regeln

x0 (t) ≡ v,

xk+1 (t) = v +

∫ t

0

Axk (s) ds

gegeben ist. Nach Induktion erhalten wir

x1 (t) = v + tAv

x2 (t) = v + tAv +t2

2A2v

...

xk (t) = v + tAv +t2

2A2v + ...+

tk

k!Akv

...

so dass

xk (t) =

(id+ tA+

(tA)2

2!+ ...

(tA)k

k!

)v. (2.129)

Da die linke Seite einen Grenzwert fur k →∞ hat, konvergiert auch die rechte

Seite. Daraus folgt die Konvergenz der Reihe∑∞

k=0(tA)k

k!(vgl. Abschnitt 2.1),

93

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insbesondere fur t = 1 die Konvergenz von (2.127), so dass eA wohldefiniertist. In der Identitat (2.129) lassen wir k →∞ und erhalten

x (t) =

(∞∑k=0

(tA)k

k!

)v = etAv. (2.130)

Somit ist die Funktion t 7→ etAv ein Losung von Anfangswertproblem (2.128).Da jede Losung x (t) durch den Anfangswert v = x (0) eindeutig definiert ist,stellt etAv die allgemeine Losung dar.

Korollar 2.21 Sei A ∈ Cn×n.(a) Die Matrix etA ist eine Fundamentalmatrix des Normalsystems x′ =

Ax.(b) Die Funktion X (t) = etA erfullt die DGL X ′ = AX fur alle t ∈ R.

Die Funktion x = x (t) nimmt die Werte wie ublich in Cn an, wahrendX (t) eine Funktion mit Werten in Cn×n ist. Da die Produkt AX von zweiOperatoren sich als ein linearer Operator X 7→ AX im Vektorraum Cn×n

betrachten lasst, so ist die Gleichung X ′ = AX eine lineare DGL fur Cn×n-wertige Funktion X.

Beweis. (a) Sei vknk=1 die Standardbasis in Cn. Betrachten wir dieLosungen x1 (t) = etAv1, ...., xn (t) = etAvn und bemerken folgendes:

1. Die Losungen x1, ...., xn sind unabhangig, da ihre Werte x1 (0) , ..., xn (0)unabhangig sind.

2. Der Spaltenvektor xk (t) = etAvk ist die k-te Spalte der Matrix etA inder Standardbasis, da vk = (0, ...1, ...0)T nur ein 1 auf Platz k hat.

Somit besteht die Matrix etA aus den Spalten xk (t), die n unabhangigeLosungen darstellen. Nach Definition ist etA eine Fundamentalmatrix desSystems x′ = Ax.

(b) Die Fundamentalmatrix X (t) erfullt immer die DGL X ′ = AX, weiljeder Spaltenvektor xk von X (t) die Gleichung x′k = Axk erfullt.

Bemerkung. Die Konvergenz von Exponentialreihe (2.127) kann auch direkt be-wiesen werden durch die Abschatzung∥∥∥∥Akk!

∥∥∥∥ ≤ ‖A‖kk!,

die ergibt∞∑k=0

∥∥∥∥Akk!

∥∥∥∥ ≤ ∞∑k=0

‖A‖k

k!= e‖A‖ <∞,

und woraus die Konvergenz von∑∞k=0

Ak

k! folgt. Dann kann man zeigen, dass die Funktiont 7→ etA differenzierbar ist und es gilt

(etA)′

=

∞∑k=0

((tA)

k

k!

)′=

∞∑k=1

tk−1Ak

(k − 1)!= AetA,

94

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indem man sorgfaltig die Konvergenz der entsprechenden Reihen uberpruft. Daraus folgen

alle andere Aussagen von Satz 2.20 und Korollar 2.21.

Beispiel. Sei A eine Diagonalmatrix

A = diag (λ1, ..., λn) :=

λ1 0

λ2

. . .

0 λn

.

Dann gilt fur jedes k = 0, 1, ...

Ak = diag(λk1, ..., λ

kn

)und

etA =∞∑k=0

diag(λk1, ..., λ

kn

)k!

= diag(eλ1t, ..., eλnt

).

Beispiel. Sei

A =

(0 10 0

).

Da A2 = 0 und somit Ak = 0 fur alle k ≥ 2, erhalten wir

etA = id+ tA =

(1 t0 1

).

Deshalb ist die allgemeine Losung von x′ = Ax wie folgt:

x (t) = etAv =

(1 t0 1

)(C1

C2

)=

(C1 + C2t

C2

),

wobei C1, C2 die Komponenten v und deswegen beliebige Konstanten sind.

Mit Hilfe von Satz 2.20 lasst sich die Losung von System x′ = Ax aufBestimmung von etA zuruckfuhren. Die Methoden fur Bestimmung von eA

fur A ∈ Cn×n besprechen wir in den nachsten Abschnitten.

2.13.3 Eine Eigenschaft der Exponentialfunktion

Definition. Man sagt, dass die Operatoren (Matrizen) A,B ∈ Cn×n kom-mutieren (vertauschen) wenn AB = BA gilt.

95

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Allgemeine kommutieren die Operatoren nicht. Sollen A und B kommu-tieren, dann gelten fur A und B verschiedene Identitaten, wie fur Zahlen,z.B., die binomische Formel

(A+B)2 = A2 + 2AB +B2. (2.131)

In der Tat gilt fur beliebige Operatoren A,B ∈ Cn×n

(A+B)2 = (A+B) (A+B) = A2 + AB +BA+B2,

woraus (2.131) folgt genau dann, wenn AB = BA.

Lemma 2.22 Kommutieren die Operatoren A und B, so gilt die Identitat

eA+B = eAeB. (2.132)

Beweis. Der Beweis besteht aus einer Folge von Behauptungen.

Behauptung 1. Kommutiert jeder von Operatoren A,C mit B, so kommu-tiert auch AC mit B.

In der Tat haben wir mit Hilfe des Assoziativgesetzes

(AC)B = A (CB) = A (BC) = (AB)C = (BA)C = B (AC) .

Daraus folgt, dass Ak und B fur jedes k = 0, 1, ... kommutieren, voraus-gesetzt, dass A und B kommutieren. Der Induktionsanfang fur k = 0 istklar. Der Induktionsschritt von k− 1 nach k geht wie folgt. Da A ,Ak−1 mitB kommutieren, so kommutiert auch AAk−1 = Ak mit B.

Behauptung 2. Kommutieren A und B, so kommutieren auch eA und B.Da Ak und B kommutieren, wir erhalten

eAB =

(∞∑k=0

Ak

k!

)B =

(∞∑k=0

AkB

k!

)

=

(∞∑k=0

BAk

k!

)= B

(∞∑k=0

Ak

k!

)= BeA.

Wir haben die folgenden Identitaten benutzt:(∞∑k=0

Ak

)B =

∞∑k=0

AkB

und

B

(∞∑k=0

Ak

)=∞∑k=0

BAk,

96

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die fur alle Operatoren B ∈ Cn×n und fur alle konvergenten Reihen∑

k Akvon Operatoren Ak ∈ Cn×n gelten. In der Tat ist die (linke bzw rechte)Multiplikation mit B ein linearer and somit stetiger (vgl. Abschnitt 2.1)Operator in Cn×n, woraus die beiden Identitaten folgen.

Behauptung 3. Sind A (t) und B (t) differenzierbare Funktionen von Rnach Cn×n, so gilt

(A (t)B (t))′ = A′ (t)B (t) + A (t)B′ (t) . (2.133)

In der Tat haben wir fur jede Komponente

((AB)ij

)′=

(∑k

AikBkj

)′=∑k

A′ikBkj +∑k

AikB′kj

= (A′B)ij + (AB′)ij = (A′B + AB′)ij ,

woraus (2.133) folgt.Jetzt konnen wir (2.132) beweisen. Betrachten wir die Funktion

F : R→ Cn×n

F (t) = etAetB

Ableiten die Funktion F mit Hilfe von (2.133) und Korollar 2.21 und An-wendung der Behauptungen 2 ergeben

F ′ (t) =(etA)′etB+etA

(etB)′

= AetAetB+etABetB = AetAetB+BetAetB = (A+B)F (t) .

Andererseits, nach Korollar 2.21 erfullt die Funktion

G (t) = et(A+B)

dieselbe GleichungG′ = (A+B)G.

Da G (0) = F (0) = id, so sehen wir, dass die beiden Funktionen F (t) undG (t) das gleiche Anfangswertproblem losen. Nach Eindeutigkeit der Losungvon Satz 2.1 beschließen wir, dass F (t) ≡ G (t) fur alle t ∈ R. Insbesonderegilt F (1) = G (1), also eAeB = eA+B, was zu beweisen war.

Alternativer Beweis. Hier reißen wir einen direkten algebraischen Beweis der Iden-titat eA+B = eAeB um. Zunachst beweist man durch Induktion nach n die binomischeFormel

(A+B)n

=

n∑k=0

n!

k! (n− k)!AkBn−k (2.134)

97

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(vorausgesetzt, dass A und B kommutieren) genauso, wie die klassische binomische Formelfur Zahlen. Dann erhalt man

eA+B =

∞∑n=0

(A+B)n

n!=

∞∑n=0

n∑k=0

AkBn−k

k! (n− k)!.

Andererseits benutzen wir die Cauchy-Produktformel (Cauchy-Faltung), die besagt, dassfur absolut konvergente Reihen (auch von Operatoren) die folgende Identitat gilt:( ∞∑

k=0

Ak

)( ∞∑l=0

Bl

)=

∞∑n=0

∑k+l=n

AkBl =

∞∑n=0

n∑k=0

AkBn−k.

Daraus folgt

eAeB =

∞∑k=0

Ak

k!

∞∑l=0

Bl

l!=

∞∑n=0

n∑k=0

AkBn−k

k! (n− k)!= eA+B ,

was zu beweisen war.

Bemerkung. Mit Hilfe von DGLen kann man auch andere interessanteEigenschaften der Exponentialfunktion beweisen, z.B. die Identitat

det eA = eSpurA

(vgl. die Ubungen).

2.13.4 Exponentialfunktion von einem Jordanblock

Hier bestimmen wir eA wenn A ein Jordanblock ist.

Definition. Eine n × n Matrix J heißt ein Jordanblock wenn sie eineBidiagonalmatrix mit der folgenden Form ist

J =

λ 1 0

λ. . .. . . . . .

λ 10 λ

, (2.135)

wobei eine komplexe Zahl λ auf der Hauptdiagonale steht, 1 auf der erstenoberen Nebendiagonale steht, und alle anderen Elementen 0 sind. Die Zahln heißt die Dimension von Jordanblock J und λ heißt der Eigenwert von J(offensichtlich, λ ist ein einziger Eigenwert von Matrix J).

98

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Wir bemerken, dass J = λid+N wobei

N =

0 1 0

0. . .. . . . . .

0 10 0

(2.136)

auch ein Jordanblock mit Eigenwert 0 ist. Ein Jordanblock mit Eigenwert 0heißt nilpotenter Jordanblock.

Da die Matrizen λid und N kommutieren (weil id mit allen Matrizenkommutiert), erhalten wir nach Lemma 2.22

etJ = etλidetN = etλetN . (2.137)

Um etN zu bestimmen, berechnen wir zunachst die Potenzen N2, N3, usw.Die Elementen von Matrix N sind folgende:

Nij =

1, fall j = i+ 1,0, sonst,

wobei i der Zeilenindex und j der Spaltenindex sind. Daraus folgt(N2)ij

=n∑k=1

NikNkj =∑k=i+1j=k+1

NikNkj =

1, falls j = i+ 2,0, sonst,

also

N2 =

0 0 1 0

. . . . . . . . .. . . . . . 1

. . . 00 0

,

wobei die Elementen mit dem Wert 1 die 2-te obere Nebendiagonale bilden.Durch Induktion erhalten wir, dass

k

Nk =

0. . . 1

. . . 0. . . . . . . . . . . .

. . . . . . 1. . . . . .

0 0

99

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wobei die Elementen mit dem Wert 1 die k-te obere Nebendiagonale bilden,vorausgesetzt k < n, und Nk = 0 falls k ≥ n.8 Daraus folgt

etN = id+t

1!N +

t2

2!N2 + ...+

tn−1

(n− 1)!Nn−1 =

1 t1!

t2

2!

. . . tn−1

(n−1)!

. . . . . . . . . . . .. . . . . . t2

2!. . . t

1!

0 1

,

(2.138)

wobei die Elementen mit dem Wert tk

k!die k-te obere Nebendiagonale bilden,

k ≥ 0. Kombinieren (2.138) und (2.137) ergibt folgendes.

Lemma 2.23 Sei J ein Jordanblock (2.135). Dann gilt fur jedes t ∈ R

etJ =

eλt t1!etλ t2

2!etλ

. . . tn−1

(n−1)!etλ

. . . . . . . . . . . .. . . . . . t2

2!etλ

. . . t1!etλ

0 etλ

, (2.139)

wobei die Elementen mit dem Wert tk

k!etλ die k-te obere Nebendiagonale bilden,

k = 0, ..., n− 1.

Nach Korollar 2.21 stellen die Spalten der Matrix etJ unabhangige Losungendes Normalsystems x′ = Jx dar. Somit erhalten wir die folgenden n un-abhangigen Losungen:

x1 (t) =

eλt

0. . .. . .0

, x2 (t) =

t1!eλt

eλt

0. . .0

, x3 (t) =

t2

2!eλt

t1!eλt

eλt

. . .0

, . . . , xn (t) =

tn−1

(n−1)!eλt

. . .t2

2!eλt

t1!eλt

eλt

.

8Jede Matrix A mit der Eigenschaft Ak = 0 mit einer naturlichen Zahl k heißt nilpotent.Deshalb ist N eine nilpotente Matrix, was mit dem Begriff “nilpotenter Jordanblock”ubereinstimmt.

100

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2.13.5 Blockdiagonalmatrizen

Definition. Eine Matrix A heißt blockdiagonal wenn A die folgende Formhat:

A =

A1 0

A2

. . .

Ar−1

0 Ar

wobei A1, ..., Ar die Blocke von A, also quadratische Matrizen, sind (alleElementen von A außerhalb der Blocke sind 0). In diesem Fall schreiben wirauch

A = diag (A1, ..., Ar) .

Lemma 2.24 Die folgende Identitat gilt:

ediag(A1,...,Ar) = diag(eA1 , ..., eAr

). (2.140)

Man kann die Identitat (2.140) ausfuhrlicher umschreiben wie folgt:

eA =

eA1 0

eA2

. . .

eAr−1

0 eAr

.

Beweis. Offensichtlich haben wir

Ak = diag(Ak1, ..., A

kr

),

woraus folgt

eA =∞∑k=0

1

k!diag

(Ak1, ..., A

kr

)= diag

(∞∑i=0

Ak1k!, ...,

∞∑i=0

Akrk!

)= diag

(eA1 , ..., eAr

).

101

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Definition. Eine Matrix A heißt Jordan-Normalform, wenn A eine Block-diagonalmatrix ist und alle Blocke von A Jordanblocke sind, also

A = diag (J1, ..., Jr) =

J1 0

J2

. . .

Jr−1

0 Jr

,

wobei Ji Jordanblocke sind.

Nach Lemma 2.24 haben wir fur eine Jordan-Normalform A

etA = diag(etJ1 , ..., etJr

),

wobei die Blocke etJk mit Hilfe von Lemma 2.23 bestimmt werden konnen.Mit Satz 2.20 (bzw Korollar 2.21) erhalten wir explizit die allgemeine Losungvon x′ = Ax.

Beispiel. Losen wir das Normalsystem x′ = Ax wobei

A =

1 1 0 00 1 0 00 0 2 10 0 0 2

.

Offensichtlich ist A eine Jordan-Normalform mit Jordanblocke

J1 =

(1 10 1

)und J2 =

(2 10 2

).

Nach Lemma 2.23 erhalten wir

etJ1 =

(et tet

0 et

)und etJ2 =

(e2t te2t

0 e2t

),

und nach Lemma 2.24,

etA = diag(etJ1 , etJ2

)=

et tet 0 00 et 0 00 0 e2t te2t

0 0 0 e2t

.

102

Page 104: Gew ohnliche Di erentialgleichungen - Universität Bielefeldkondrat/ODE/ODE.pdf · Literatur Otto Forster Analysis 2 Di erentialrechnung im Rn gewhnliche Di erentialgleichungen 8.,

Nach Korollar 2.21 liefern die Spalten der Matrix etA unabhangige Losungen,und die allgemeine Losung ist ihre Linearkombination:

x (t) = C1

et

000

+ C2

tet

et

00

+ C3

00e2t

0

+ C4

00te2t

e2t

=

C1e

t + C2tet

C2et

C3e2t + C4te

2t

C4e2t

.

2.13.6 Anwendung von Jordan-Normalform von Operatoren

Sei die Folge b = b1, b2, ..., bn eine Basis in Cn. Fur jeden Vector x ∈ Cn

bezeichnen wir mit xbj die Komponenten von x in der Basis b, also

x = xb1b1 + xb2b2 + ...+ xbnbn =n∑j=1

xbjbj.

Bezeichnen mit xb den Spaltenvektor(xb1, ..., x

bn

)T, der den Vektor x in der

Basis b darstellt. Ahnlich definiert man fur jeden Operator A ∈ Cn×n einen× n Matrix Ab, die den Operator A in der Basis b darstellt, also folgendesgilt fur jedes x ∈ Cn:

(Ax)b = Abxb, (2.141)

wobei der Ausdruck Abxb das Produkt von der n × n Matrix Ab und denSpaltenvektor xb ist.

Die Operationen von Addition und Multiplikation uber Operatoren stim-men mit dieselben Operatoren uber Matrizen uberein, d.h.

(A+B)b = Ab +Bb und (AB)b = AbBb.

Daraus folgt, dass auch (eA)b

= eAb

.

Man kann die Identitat (2.141) benutzen um die Elementen von Ab zu bes-timmen. Die j-te Spalte von Ab ist gleich

Ab

0...1...0

= Abbbj = (Abj)b

103

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wobei der Wert 1 an der Stelle j steht. Somit erhalten wir die Regel:

die j-te Spalte von Ab stimmt mit dem Spaltenvektor Abj in der Basisb1, ..., bn uberein.

Es folgt, dass

Ab =(

(Ab1)b | (Ab2)b | · · · | (Abn)b).

Beispiel. Sei A ein Operator in C2, der in der Standardbasis e = e1, e2durch die Matrix

Ae =

(0 11 0

)gegeben ist. Betrachten wir die Basis b = b1, b2 wobei

b1 = e1 − e2 und b2 = e1 + e2,

d.h.

be1 =

(1−1

)und be2 =

(11

).

Dann gilt

(Ab1)e =

(0 11 0

)(1−1

)=

(−11

)= −be1

und

(Ab2)e =

(0 11 0

)(11

)=

(11

)= be2.

Daraus folgtAb1 = −b1 und Ab2 = b2

und somit

(Ab1)b =

(−1

0

), (Ab2)b =

(0

1

)und

Ab =

(−1 00 1

).

Jetzt berechnen wir den Operator etA, zunachst in der basis b und danach inder Basis e. Da Ab eine Diagonalmatrix ist, erhalten wir

(etA)b

= etAb

= exp

(−t 00 t

)=

(e−t 00 et

).

104

Page 106: Gew ohnliche Di erentialgleichungen - Universität Bielefeldkondrat/ODE/ODE.pdf · Literatur Otto Forster Analysis 2 Di erentialrechnung im Rn gewhnliche Di erentialgleichungen 8.,

Jetzt berechnen wir(etA)e

. Da (e1)b =(

1/21/2

)so erhalten wir

(etAe1

)b=(etA)beb1 =

(e−t 00 et

)(1/212

)=

(12e−t12et

).

Daraus folgt, dass

etAe1 =e−t

2b1 +

et

2b2

=e−t

2(e1 − e2) +

et

2(e1 + e2)

= (cosh t) e1 + (sinh t) e2

und (etAe1

)e=

(cosh tsinh t

).

Analog erhalten wir (e2)b =(−1/2

1/2

),

(etAe2

)b=(etA)beb2 =

(e−t 00 et

)(−1/2

12

)=

(−1

2e−t

12et

).

und

etAe2 = −e−t

2b1 +

et

2b2

= (sinh t) e1 + (cosh t) e2,(etAe2

)e=

(sinh tcosh t

).

Deshalb erhalten wir(etA)e

=((etAe1

)e | (etAe2

)e )=

(cosh t sinh tsinh t cosh t

).

Folglich ist diese Matrix die Fundamentalmatrix des Normalsystemsx′ = yy′ = x

und die allgemeine Losung davon ist(xy

)= C1

(cosh tsinh t

)+ C2

(sinh tcosh t

)=

(C1 cosh t+ C2 sinh tC1 sinh t+ C2 cosh t

).

105

Page 107: Gew ohnliche Di erentialgleichungen - Universität Bielefeldkondrat/ODE/ODE.pdf · Literatur Otto Forster Analysis 2 Di erentialrechnung im Rn gewhnliche Di erentialgleichungen 8.,

Eine allgemeine Matrix lasst sich immer durch einen Basiswechsel aufeine Jordan-Normalform zuruckfuhren, und zwar nach dem folgenden Satzaus Linearer Algebra.

Satz von Jordan. Fur jeden Operator A ∈ Cn×n existiert eine Basis b inCn, derart, dass die Matrix Ab eine Jordan-Normalform ist.

Die Basis b heißt die Jordan-Basis von A, und die Matrix Ab heißt dieJordan-Normalform von A.

Sei J ein Jordanblock von Ab mit dem Eigenwert λ und der Dimensionp. Der Jordanblock J besitzt in der Matrix Ab p nacheinander stehendenSpalten (und Zeilen). Bezeichnen wir die Nummern von diesen Spalten mitj + 1, j + 2, ..., j + p und setzen

vk = bj+k fur k = 1, ..., p.

Die Teilfolge v1, ..., vp von Basisvektoren heißt die Jordankette von J . Wirbetonen, dass die ganze Basis b eine disjunkte Vereinigung von allen Jordan-ketten in Ab ist.

Offensichtlich haben wir

j+1

↓j+2

↓··· j+p

Ab =

. . .

. . . 0

λ 1 0. . . . . .

. . . 10 λ

0 . . .. . .

← j+1

···

···

← j+p

Die (j + 1)-te Spalte dieser Matrix ist offensichtlich gleich λbj+1 = λv1. Furk = 2, ..., p ist die (j + k)-te Spalte von Ab gleich

λbj+k + bj+k−1 = λvk + vk−1.

Andererseits stimmt die (j + k)-te Spalte von Ab mit dem Vektor Avk in der

106

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Basis b uberein. Somit erhalten wir die folgende GleichungenAv1 = λv1

Av2 = λv2 + v1

Av3 = λv3+ v2

. . .

Avp = λvp+ vp−1 .

(2.142)

Insbesondere ist v1 ein Eigenvektor von Amit dem Eigenwert λ. Die Vektorenv2, ..., vp, die die Gleichungen (2.142) erfullen, heißen die Hauptvektoren vonA: v2 ist Hauptvektor der Stufe 2, v3 ist Hauptvektor der Stufe 3, usw. Somitbesteht jede Jordankette von Dimension p aus einem Eigenvektor und p− 1Hauptvektoren.

Satz 2.25 Betrachten wir ein Normalsystem x′ = Ax wobei A ∈ Cn×n.Sei Ab die Jordan-Normalform von A in Jordan-Basis b. Dann liefert jederJordanblock J der Matrix Ab mit der Jordankette v1, ..., vp und mit demEigenwert λ genau p linear unabhangige Losungen von x′ = Ax wie folgt:

x1 (t) = eλtv1

x2 (t) = eλt(v2 + t

1!v1

)x3 (t) = eλt

(v3 + t

1!v2 + t2

2!v1

). . .

xp (t) = eλt(vp + t

1!vp−1 + ...+ tp−1

(p−1)!v1

) (2.143)

Die Menge von n Losungen, die von allen Jordanketten von Ab stammen, istlinear unabhangig und somit stellt eine Basis im Vektorraum der Losungendar.

Beweis. In der Basis b haben wir nach Lemmas 2.23 und 2.24

etAb

=

. . .

. . . 0

eλt t1!etλ · · · tp−1

(p−1)!etλ

eλt. . .

...

. . . t1!etλ

0 etλ

0 . . .. . .

107

Page 109: Gew ohnliche Di erentialgleichungen - Universität Bielefeldkondrat/ODE/ODE.pdf · Literatur Otto Forster Analysis 2 Di erentialrechnung im Rn gewhnliche Di erentialgleichungen 8.,

wobei der Block in der Mitte gleich etJ ist. Nach Satz 2.20 liefern die Spaltenvon etA

bn linear unabhangige Losungen der DGL x′ = Ax. Von den Spalten

von etAb

wahlen wir die p Spalten des Blocks etJ . Die erste Spalte des BlocksetJ ergibt uns die Losung

x1 (t) = eλtv1,

die zweite Spalte ergibt die Losung

x2 (t) = eλtv2 +t

1!eλtv1

usw., die k-te Spalte mit k = 2, ..., p ergibt die Losung

xk (t) = eλtvk +t

1!eλtvk−1 + ...+

tk−1

(k − 1)!eλtv1,

was zu beweisen war.Um Satz 2.25 anwenden zu konnen, muss man fur gegebene Matrix die

Jordan-Normalform und die Jordan-Basis bestimmen. Die Jordan-Normalformkann man haufig bestimmen, indem man die algebraischen und geometrischenVielfachheiten von Eigenwerten vergleicht. Sei λ ein Eigenwert des OperatorsA ∈ Cn×n. Bezeichnen wir mit m die algebraische Vielfachheit von λ, d.h.die Vielfachheit von λ als einer Nullstelle des charakteristischen Polynoms9

P (z) = det (A− zid).Sei b die Jordan-Basis von A. Kommt λ genaum′ mal auf der Hauptdiago-

nale von Ab vor, so hat das charakteristische Polynom P (z) = det(Ab − zId

)die Form P (z) = (z − λ)m

′Q (z) , wobei Q ein Polynom ohne Nullstelle λ

ist. Daraus folgt, dass die Vielfachheit von λ bezuglich P gleich m′ ist, undsomit

m′ = m.

Andererseits ist m′ gleich die Summe von den Dimensionen von allen Jor-danblocken von Ab mit dem Eigenwert λ, woraus die folgende Regel folgt:

m = die Summe von Dimensionen aller Jordanblocke mit Eigenwert λ

9Um P (z) zu bestimmen, stellt man den Operator A in einer Basis b als eine Matrix Ab

dar, und danach berechnet P (z) = det(Ab − zid

). Wir betonen, dass das charakteristische

Polynom unabhangig von der Wahl der Basis b ist. In der Tat, ist b′ eine andere Basis, sowird die Beziehung zwischen die Matrizen Ab und Ab

′durch die Identitat Ab = CAb

′C−1

gegeben, wobei C die Transformationsmatrix des Basiswechsels ist. Daraus folgt, dass

Ab− zid = C(Ab

′ − zid)C−1 und somit det

(Ab − zid

)= detCdet

(Ab

′ − xid)detC−1 =

det(Ab

′ − zid).

108

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Bezeichnen mit g die geometrische Vielfachheit von λ, d.h. die Dimensiondes Eigenraums von λ:

g = dimker (A− λid) ,

wobei kerB bezeichnet den Kern (=Nullraum) des Operators B. Man kann gauch definieren als die maximale Anzahl von linear unabhangigen Eigenvek-toren von λ. Da jeder Jordanblock genau einen Eigenvektor aus der Jordan-Basis liefert, so erhalten wir, dass

g = die Anzahl von Jordanblocken mit Eigenwert λ.

Insbesondere gilt g ≤ m, und die Identitat g = m erfolgt genau dann, wennalle Jordanblocke mit dem Eigenwert λ Dimension 1 haben.

Betrachten wir einige Beispiele von Anwendungen des Satzes 2.25.

Beispiel. Losen wir das System

x′ =

(2 1−1 4

)x.

Das charakteristische Polynom ist

P (λ) = det (A− λid) = det

(2− λ 1−1 4− λ

)= λ2 − 6λ+ 9 = (λ− 3)2 ,

und der einzige Eigenwert ist λ1 = 3 mit der algebraischen Vielfachheitm1 = 2. Die Gleichung fur Eigenvektor v ist

(A− λid) v = 0

also fur v =(ab

) (−1 1−1 1

)(ab

)= 0,

was aquivalent zu −a + b = 0. Die Losung dieser Lineargleichung ist 1-dimensional, so dass g1 = 1. Wahlen a = 1 und b = 1 ergibt den Eigenvektor

v1 =

(11

),

und alle anderen Eigenvektoren von λ1 = 3 sind seine Vielfachen. Da nur einJordanblock mit dem Eigenwert λ1 = 3 existiert, ist die Jordan-Normalformwie folgt: (

3 10 3

).

109

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Nach Satz 2.25 erhalten wir zwei unabhangige Losungen

x1 (t) = e3tv1

x2 (t) = e3t (tv1 + v2) ,

wobei v2 die Hauptvektor der Stufe 2 ist, also erfullt v2 die Gleichung

(A− λid) v2 = v1.

Fur v2 =(ab

)erhalten wir(

−1 1−1 1

)(ab

)=

(11

),

was aquivalent zu −a+ b = 1 ist. Wahlen a = 0 und b = 1 ergibt

v2 =

(01

).

Somit erhalten wir zwei unabhangige Losungen

x1 (t) = e3t

(11

), x2 (t) = e3t

(t

t+ 1

)und die allgemeine Losung

x (t) = C1x1 + C2x2 = e3t

(C1 + C2tC1 + C2 (t+ 1)

).

Beispiel. Gegeben sei das System

x′ =

2 1 1−2 0 −12 1 2

x.

Das charakteristische Polynom ist

P (λ) = det (A− λid) = det

2− λ 1 1−2 −λ −12 1 2− λ

= −λ3 + 4λ2 − 5λ+ 2 = (2− λ) (λ− 1)2 .

Die Eigenwerte sind λ1 = 2 mit m1 = 1 und λ2 = 1 mit m2 = 2. DieEigenvektoren von λ1 erfullen die Gleichung

(A− λ1id) v = 0,

110

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also fur v = (a, b, c)T 0 1 1−2 −2 −12 1 0

abc

= 0,

und somit b+ c = 0−2a− 2b− c = 02a+ b = 0.

Die drei Gleichungen sind abhangig (wie man erwartet), aber jedes Paarvon Gleichungen ist unabhangig. Deshalb ist die Losung 1-dimensional, alsog1 = 1. Wahlen a = 1 und losen die Gleichungen ergibt b = −2, c = 2 undsomit den Eigenvektor

v =

1−22

.

Da g1 = m1 = 1, es gibt nur 1 Jordanblock von λ1 = 2, und er ist 1-dimensional. Deshalb erhalten wir aus (2.143) eine Losung

x1 (t) = e2t

1−22

.

Die Eigenvektoren von λ2 = 1 erfullen die Gleichung

(A− λ2id) v = 0,

also fur v = (a, b, c)T 1 1 1−2 −1 −12 1 1

abc

= 0,

und somit a+ b+ c = 0−2a− b− c = 02a+ b+ c = 0.

Dieses System hat nur eine unabhangige Losung a = 0, b = 1, c = −1, dieden Eigenvektor ergibt

v1 =

01−1

.

111

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Deshalb g2 = 1, und somit gibt es nur einen Jordanblock mit dem Eigenwert

λ2 = 1, der muss

(1 10 1

)sein. Nach Satz 2.25 ergibt dieser Jordanblock

zwei Losungen

x2 (t) = etv1 = et

01−1

und

x3 (t) = et (tv1 + v2) ,

wobei v2 der zweite Hauptvektor von λ2 ist, also v2 von der Gleichung

(A− λ2id) v2 = v1

bestimmt werden muss. Fur v2 = (a, b, c)T erhalten wir das Gleichungsystem 1 1 1−2 −1 −12 1 1

abc

=

01−1

,

also a+ b+ c = 0−2a− b− c = 12a+ b+ c = −1.

Das System hat die Losung a = −1, b = 0 , c = 1, die ergibt

v2 =

−101

und die dritte Losung der DGL

x3 (t) = et (tv1 + v2) = et

−1t

1− t

.

Somit erhalten wir die allgemeine Losung

x (t) = C1x1 + C2x2 + C3x3 =

C1e2t − C3e

t

−2C1e2t + (C2 + C3t) e

t

2C1e2t + (C3 − C2 − C3t) e

t

.

112

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Korollar 2.26 Sei λ ∈ C ein Eigenwert des Operators A ∈ Cn×n mit deralgebraischen Vielfachheit m und geometrischen Vielfachheit g. Dann liefertλ genau m linear unabhangige Losungen des Systems x′ = Ax in der Form

x (t) = eλt (u0 + u1t+ ...+ usts) , (2.144)

wobei s = m − g und uj die unbekannte Vektoren aus Cn sind, die durchEinsetzen von dem Ansatz (2.144) in die DGL x′ = Ax bestimmt werdenkonnen.

Die Menge von allen n Losungen, die man mit Hilfe von allen Eigen-werten in der Form (2.144) erhalt, ist unabhangig.

Bemerkung. In Anwendungen setzt man den Ansatz (2.144) in die DGLx′ = Ax und lost sie bezuglich der unbekannten Werte uij, die die Komponen-ten der Vektoren uj sind. Die Antwort enthalt m beliebige Konstanten, unddie Losung (2.144) erscheint als eine Linearkombination von m unabhangigenLosungen.

Beweis. Seien p1, .., pg die Dimensionen von den allen Jordanblocken mitdem Eigenwert λ. Wir wissen schon, dass

g∑j=1

pj = m.

Deshalb ist die gesamte Anzahl von linear unabhangigen Losungen, die vonSatz 2.25 fur den Eigenwert λ geliefert werden, gleich m. Wir zeigen jetzt,dass alle Losung von Satz 2.25 den Ansatz (2.144) erfullen. In der Tat hatjede Losung von Satz 2.25 die Form

x (t) = eλtPj (t)

wobei Pj (t) ein vektor-wertiges Polynom von Grad ≤ pj − 1 ist. Es bleibtnur zu zeigen, dass pj − 1 ≤ s, und das folgt aus der Identitat

g∑j=1

(pj − 1) =

(g∑j=1

pj

)− g = m− g = s.

Beispiel. Betrachten wir noch einmal das System

x′ =

(2 1−1 4

)x,

113

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das nur den Eigenwert λ = 3 hat und zwar mit m = 2 und g = 1. Dam − g = 1, ergibt Korollar 2.26 den folgenden Ansatz fur die allgemeineLosung:

x (t) = e3t (u+ tv)

wobei u und v unbekannte Vektoren sind. Dann gilt nach Produktregel

x′ = 3e3t (u+ tv) + e3tv = e3t (3u+ (3t+ 1) v) ,

und Einsetzen x (t) und x′ (t) in die Gleichung ergibt

3u+ (3t+ 1) v = A (u+ tv) .

Da diese Gleichung linear in t ist, es reicht sie fur zwei Werte von t zu erfullen.Wie nehmen t→∞ und t = 0, was ergibt

Av = 3vAu = 3u+ v

Deshalb ist v ein Eigenvektor und u ist zweiter Hauptvektor. Die beidenhaben wir schon berechnet:

v =

(1

1

), u =

(0

1

),

aber jetzt brauchen wir alle Werte von u und v, also

v = C1

(1

1

), u = C1

(0

1

)+ C2

(1

1

).

Daraus folgt, dass die allgemeine Losung ist

x (t) = e3t

(C1

(0

1

)+ C2

(1

1

)+ C1t

(1

1

))= e3t

(C1t+ C2

C1 (t+ 1) + C2

). (2.145)

Beispiel. Am Ende betrachten wir inhomogenes System

x′ =

(2 1−1 4

)x+

(e3t

−e3t

)(2.146)

und erinnern uns daran, dass nach Satz 2.15 die allgemeine Losung durch dieIdentitat

x (t) = X (t)

∫X (t)−1B (t) dt (2.147)

114

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gegeben ist, wobei X (t) die Fundamentalmatrix des homogenen Systems istund B (t) die Storfunktion ist. Die zwei unabhangige Losungen des homoge-nen Systems sind

x1 (t) = e3t

(1

1

), x2 (t) = e3t

(t

t+ 1

),

die aus (2.145) mit C1 = 0 bzw C2 = 0 folgen. Somit ist die Fundamental-matrix

X = e3t

(1 t1 t+ 1

)und die inverse Matrix

X−1 = e−3t

(t+ 1 −t−1 1

).

Nach (2.147) erhalten wir die allgemeine Losung von (2.146):

x (t) = e3t

(1 t1 t+ 1

)∫e−3t

(t+ 1 −t−1 1

)(e3t

−e3t

)dt

= e3t

(1 t1 t+ 1

)∫ (2t+ 1−2

)dt

= e3t

(1 t1 t+ 1

)(t2 + t+ C1

−2t+ C2

)= e3t

(t− t2 + C1 + tC2

−t− t2 + C1 + (t+ 1)C2

).

3 Das Anfangswertproblem fur allgemeine DGLen

In diesem Kapitel beweisen wir unter bestimmten Voraussetzungen die Ex-istenz und Eindeutigkeit der Losung des allgemeinen Anfangswertproblems

x′ = f (t, x) ,x (t0) = x0.

3.1 Lipschitz-stetige Funktionen

Wir brauchen den Begriff von Lipschitz-Funktionen. Sei Ω eine offene Teil-menge von Rn.

115

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Definition. Eine Funktion f : Ω→ Rm heißt Lipschitz-stetig , falls es eineKonstante L gibt, derart, dass fur alle x, y ∈ Ω

‖f (x)− f (y)‖ ≤ L ‖x− y‖ . (3.1)

Die Konstante L heißt Lipschitz-Konstante von f in Ω. Eine Lipschitz-stetigeFunktion heißt auch Lipschitz-Funktion.

Da alle Normen in Rn (bzw Rm) aquivalent sind, ist die Lipschitz-Bedingung(3.1) unabhangig von der Wahl der Normen in Rn und Rm, obwohl der Wertder Lipschitz-Konstante L jedoch von den Normen abhangt. Offensichtlichist jede Lipschitz-stetige Funktion stetig (sogar gleichmaßig stetig).

Beispiel. Die Funktion f (x) = ‖x‖ als eine Abbildung von Rn nach R istLipschitz-stetig weil nach der Dreiecksungleichung

|‖x‖ − ‖y‖| ≤ ‖x− y‖ .

Die Lipschitz-Konstante ist offensichtlich gleich 1. Bemerken Sie, dass dieFunktion f (x) nicht differenzierbar an x = 0 ist.

Definition. Funktion f : Ω → Rm heißt lokal Lipschitz-stetig , falls es furjedes x0 ∈ Ω ein ε > 0 gibt, derart, dass die Kugel B (x0, ε) eine Teilmengevon Ω ist und f |B(x0,ε) Lipschitz-stetig ist.

Wir betonen, dass der Wert der Lipschitz-Konstante in der KugelB (x0, ε)abhangig von der Kugel sein darf.

Folgendes Lemma liefert viele Beispiele von lokal Lipschitz-stetigen Funk-tionen. Bezeichnen wir mit fk wie ublich die Komponenten von f .

Lemma 3.1 (a) Seien B eine Kugel in Rn und f : B → Rm eine differen-zierbare Funktion. Gilt fur alle partielle Ableitungen ∂fk

∂xi

supB

∣∣∣∣∂fk∂xj

∣∣∣∣ ≤M (3.2)

mit einer Konstanten M , so ist die Funktion f Lipschitz-stetig mit einerLipschitz-Konstanten L = L (M).

(b) Seien Ω eine offene Teilmenge von Rn und f : Ω → Rm eine stetigdifferenzierbare Funktion. Dann ist f lokal Lipschitz-stetig.

Wir benutzen die folgende Eigenschaft von Funktionen in Rn.

Claim( Mittelwertsatz) Sei g eine differenzierbare Funktion von einer KugelB ⊂ Rn nach R. Dann fur jede x, y ∈ B existiert ξ ∈ [x, y], derart, dass

g (y)− g (x) =n∑j=1

∂g

∂xj(ξ) (yj − xj) . (3.3)

116

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Hier ist [x, y] das geschlossene Intervall (die Verbindungsstrecke) zwischenz und y in Rn, also

[x, y] = (1− t)x+ ty : t ∈ [0, 1] .

Sind x, y Elementen der Kugel B = B (z, r), so enthalt B auch ganzes Inter-vall [x, y], da fur jedes t ∈ [0, 1]

‖(1− t)x+ ty − z‖ = ‖(1− t) (x− z) + t (y − z)‖ (3.4)

≤ (1− t) ‖x− z‖+ t ‖x− z‖< (1− t) r + tr = r.

Deshalb ist fur jedes ξ ∈ [x, y] der Wert ∂g∂xj

(ξ) in (3.3) wohldefiniert.

Beweis. Im Fall n = 1 stimmt die obige Behauptung mit dem klassischenMittelwertsatz fur differenzierbare reellwertige Funktionen auf einem Inter-vall uberein. Um (3.3) fur n > 1 zu beweisen, betrachten wir die Funktion

h (t) = g (x+ t (y − x)) fur t ∈ [0, 1] .

Die Funktion h (t) ist auf [0, 1] differenzierbar und somit existiert nach demein-dimensionalen Mittelwertsatz ein τ ∈ (0, 1), derart, dass

g (y)− g (x) = h (1)− h (0) = h′ (τ) .

Da nach der Kettenregel

h′ (τ) =n∑j=1

∂g

∂xj(x+ τ (y − x)) (yj − xj) ,

so erhalten wir (3.3) mit ξ = x+ τ (y − x).Beweis von Lemma 3.1. (a) Nach (3.3) erhalten wir fur k-te Kom-

ponente fk von f und fur jede x, y ∈ B

fk (x)− fk (y) =n∑j=1

∂fk∂xj

(ξ) (xj − yj) , (3.5)

wobei ξ ∈ [x, y]. Abschatzung von partiellen Ableitungen nach (3.2) ergibt

|fk (x)− fk (y)| ≤Mn∑j=1

|xj − yj| = M‖x− y‖1,

117

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woraus folgt‖f (x)− f (y) ‖∞ ≤M‖x− y‖1.

Da alle Normen in Rn aquivalent sind, konnen die Normen ‖·‖∞ und ‖·‖1

durch eine gegebene Norm ersetzt werden, woraus die Lipschitz-Bedingungfolgt mit der Konstanten L = CM , wobei die Konstante C von der gegebenenNorm abhangt.

(b) Da Ω offen ist, so fur jedes x ∈ Ω existiert ε > 0, so dass die KugelB (x, ε) Teilmenge von Ω ist. Durch Reduzierung von ε konnen wir voraus-setzen, dass die abgeschlossene Kugel

B (x, ε) = y ∈ Rn : ‖x− y‖ ≤ ε

auch Teilmenge von Ω ist. Da die Komponenten fk stetig differenzierbar sind,so sind die partielle Ableitungen ∂fk

∂xjstetig und somit in B (x, ε) beschrankt.

Nach (a) erhalten wir, dass f Lipschitz-stetig in B (x, ε) ist, was zu beweisenwar.

Beispiel. 1. Die Funktion f (x) = x2 auf R ist lokal Lipschitz-stetig da siestetig differenzierbar ist. Aber diese Funktion ist nicht Lipschitz-stetig: dieDifferenz

|f (x)− f (y)| = |x− y| |x+ y|

kann durch L |x− y| nicht abgeschatzt werden, weil |x+ y| beliebig groß seinkann.

2. Die Funktion f (x) =√x2 + 1 auf R ist Lipschitz-stetig, weil ihre

Ableitung

f ′ (x) =x√x2 + 1

die folgende Ungleichung erfullt: |f ′ (x)| ≤ 1. Insbesondere ist 1 eine Lipschitz-Konstante von f (x).

3. Die Funktion f (x) = |x| ist Lipschitz-stetig auch mit der Lipschitz-Konstanten 1, aber nicht differenzierbar.

Wir brauchen eine Verallgemeinerung von Lipschitz-Stetigkeit wie folgt.Sei f (t, x) eine Abbildung von einer offenen Teilmenge Ω ⊂ Rn+1 nach Rm,wobei t ∈ R, x ∈ Rn, und (t, x) ∈ Ω.

Definition. Funktion f (t, x) heißt Lipschitz-stetig in x, wenn es eineKonstante L gibt, so dass fur alle (t, x) , (t, y) ∈ Ω

‖f (t, x)− f (t, y)‖ ≤ L ‖x− y‖ . (3.6)

D.h., fur jedes t ∈ R ist die Funktion f (t, ·) Lipschitz-stetig mit einer un-abhangigen von t Lipschitz-Konstanten L.

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Die gleiche Definition gilt wenn t eine Variable der hoheren Dimensionist, z.B. aus Rl.

Eine Teilmenge Z von Rn+1 heißt Zylinder , falls Z = I ×B, wobei I einIntervall in R und B eine (offene oder abgeschlossene) Kugel in Rn sind. DerZylinder ist abgeschlossen genau dann, wenn die beiden Mengen I und Babgeschlossen sind (und offen, wenn die beiden I und B offen sind).

Wir benutzen die folgenden Bezeichnungen fur Intervalle und Kugeln:

I (t, δ) := (t− δ, t+ δ) , I (t, δ) = [t− δ, t+ δ]

und

B (x, r) = y ∈ Rn : ‖x− y‖ < r , B (x, r) = y ∈ Rn : ‖x− y‖ ≤ r .

Definition. Funktion f (t, x) heißt lokal Lipschitz-stetig in x, falls es furjedes (t0, x0) ∈ Ω Konstanten ε, δ > 0 gibt, derart, dass der Zylinder

Z = I (t0, δ)×B (x0, ε)

Teilmenge von Ω ist und f auf Z Lipschitz-stetig in x ist.

Lemma 3.2 (a) Seien Z ein Zylinder in Rn+1 und f (t, x) : Z → Rm einedifferenzierbare in x Funktion. Sind alle partielle Ableitungen ∂fk

∂xibeschrankt

in Z, so ist die Funktion f Lipschitz-stetig in x.(b) Seien Ω eine offene Teilmenge von Rn+1 und f : Ω → Rn eine stetig

differenzierbare in x Funktion. Dann ist f lokal Lipschitz-stetig in x.

Beweis. (a) Sei Z = I × B. Fur jedes t ∈ I ist die Funktion f (t, ·) :B → Rm differenzierbar, und die partiellen Ableitungen ∂fk

∂xjsind beschrankt

in B mit einer unabhangigen von t Konstante M . Somit erhalten wir nachLemma 3.1, dass die Funktion f (t, ·) Lipschitz-stetig ist mit einer Lipschitz-Konstanten L = L (M), die auch unabhangig von t ist. Deshalb ist dieFunktion f : Z → Rm Lipschitz-stetig in x.

(b) Da Ω offen ist, existiert fur jedes (t0, x0) ∈ Ω ein Zylinder

Z = I (t0, δ)×B (x0, ε) ,

der eine Teilmenge von Ω ist, und auch der abgeschlossene Zylinder

Z = I (t0, δ)×B (x0, ε)

eine Teilmenge von Ω ist. Da die partielle Ableitungen ∂fk∂xj

stetig in Ω sind,

sind sie beschrankt in Z und deshalb in Z. Nach (a) ist die Funktion f aufZ Lipschitz-stetig in x, und somit ist f auf Ω lokal Lipschitz-stetig in x.

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3.2 Existenz und Eindeutigkeit fur Normalsysteme

Betrachten wir jetzt ein allgemeines (nicht-lineares) Normalsystem

x′ = f (t, x) , (3.7)

wobei f eine gegebene Funktion von n + 1 Variablen mit Werten in Rn ist.Also, f : Ω→ Rn wobei Ω eine offene Teilmenge von Rn+1 ist, und das Paar(t, x) mit einem Punkt in Rn+1 identifiziert wird wie folgt:

(t, x) = (t, x1, ..., xn) .

Erinnern wir uns daran, dass eine Losung von (3.7) eine Funktion x : I → Rn

(wobei I ein Intervall ist) mit folgenden Eigenschaften ist:1. x (t) ist differenzierbar fur jedes t ∈ I;2. (t, x (t)) ∈ Ω fur jedes t ∈ I;3. x′ (t) = f (t, x (t)) fur jedes t ∈ I.Betrachten wir auch das Anfangswertproblem

x′ = f (t, x) ,x (t0) = x0,

(3.8)

wobei (t0, x0) ein gegebener Punkt in Ω ist. Eine Funktion x : I → Rn isteine Losung von (3.8) falls x eine Losung von (3.7) auf Interval I ist, t0 ∈ Iund x (t0) = x0. Der Graph der Losung x (t) ist eine Integralkurve von (3.7),die durch den Punkt (t0, x0) geht.

Jetzt konnen wir einen Hauptsatz formulieren.

Satz 3.3 (Hauptsatz) (Satz von Picard-Lindelof) Sei die Funktion f (t, x)in Ω stetig und lokal Lipschitz-stetig in x.

(a) Das Anfangswertproblem (3.8) hat eine Losung fur jedes (t0, x0) ∈ Ω.(b) Sind x (t) und y (t) zwei Losungen von (3.8), dann gilt x (t) = y (t)

im gemeinsamen Definitionsbereich von x und y.

Bemerkung. Nach Lemma 3.2, kann die Voraussetzung von lokal Lipschitz-Stetigkeit von f in x durch die stetige Differenzierbarkeit von f in x ersetztwerden. Fur bestimmten Anwendungen ist es jedoch wichtig, dass die Funk-tion f nicht unbedingt differenzierbar sein muss.

Bemerkung. Alternativ kann man die Voraussetzungen von Satz 3.3 wiefolgt formulieren: sei die Funktion f (t, x) stetig in t und lokal Lipschitz-stetigin x. Da in einem Zylinder Z um x die Lipschitz-Konstante L unabhangig

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von t ist, ist Funktion f in Z stetig in x gleichmaßig bezuglich t. Zusammenmit der Stetigkeit in t ergibt dies die Stetigkeit in (t, x).

Bemerkung. Vergleichen wir Satz 3.3 mit Satz 2.1, wo man das An-fangswertproblem

x′ = A (t)x+B (t)x (t0) = x0

(3.9)

fur lineares Normalsystem betrachtete, wobei A : I → Rn×n und B : I → Rn

stetige Funktionen auf einem Interval I sind. Die lineare Gleichung hat dieForm x′ = f (t, x) fur

f (t, x) = A (t)x+B (t) .

Offensichtlich ist die Funktion f stetig im Definitionsbereich Ω = I×Rn. Sieist auch stetig differenzierbar in x da

∂fk∂xj

= Akj (t) .

Deshalb ist Satz 3.3 verwendbar und ergibt die Existenz und Eindeutigkeitder Losung von (3.9) in einem Teilintervall I ′ von I. Satz 2.1 besagt allerd-ings, dass die Losung von (3.9) auf ganzem Intervall I existiert, was offen-sichtlich starker ist, als die Behauptung von Satz 3.3.

Bemerkung. Ohne Lipschitz-Bedingung, aber doch unter der Vorausset-zung von Stetigkeit von f , gilt die Existenz der Losung von (3.8) (Satz vonPeano), aber nicht die Eindeutigkeit, was man unterhalb sehen kann.

Beispiel. Betrachten wir das Anfangswertproblemx′ =

√|x|

x (0) = 0(3.10)

(vgl. Abschnitt 1.3). Die Funktion x (t) ≡ 0 ist offensichtlich eine Losung,sowie auch die Funktion

x (t) =

14t2, t ≥ 0−1

4t2, t < 0.

Deshalb es gibt mindestens zwei Losungen von (3.10).Die Eindeutigkeit gilt nicht, weil die Funktion f (t, x) =

√|x| nicht

Lipschitz-stetig in der Nahe von 0 ist. Ahnlich hat das folgende Anfangswert-problem

x′ = |x|αx (0) = 0

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auch mehrere Losungen, vorausgesetzt α ∈ (0, 1) , und die Funktion f (t, x) =|x|α ist auch nicht lokal Lipschitz-stetig.

Beispiel. Betrachten wir jetzt das Anfangswertproblemx′ = |x|x (0) = x0

(3.11)

wo die Funktion f (t, x) = |x| Lipschitz-stetig in x ist. Die Eindeutigkeit giltfur (3.11) und die eindeutige Losung ist

x (t) =

etx0, x0 ≥ 0e−tx0, x0 < 0

Fur den Beweis von Satz 3.3 brauchen wir die folgende Behauptung.

Fixpunktsatz von Banach. Seien (X, d) ein vollstandiger metrischerRaum und T : X → X eine Kontraktionsabbildung, d.h. , es gilt

d (Tx, Ty) ≤ qd (x, y) (3.12)

fur eine Konstante q ∈ (0, 1) und fur alle x, y ∈ X. Dann besitzt T genaueinen Fixpunkt, also einen Punkt x ∈ X so dass Tx = x.

Beweis. Wahlen wir einen beliebigen Punkt x0 ∈ X und definieren nach Induktioneine Folge xn∞n=0 durch

xn+1 = Txn, n = 0, 1, 2, ....

Wir beweisen, dass die Folge xn konvergiert und der Grenzwert ein Fixpunkt von T ist.Bemerken wir, dass

d (xn+1, xn) = d (Txn, Txn−1) ≤ qd (xn, xn−1) .

Durch Induktion erhalten wir, dass

d (xn+1, xn) ≤ qnd (x1, x0) = Cqn, (3.13)

wobei C = d (x1, x0) . Daraus folgt, dass xn eine Cauchy-Folge ist. In der Tat, fur jedem > n erhalten wir nach Dreiecksungleichung und (3.13), dass

d (xm, xn) ≤ d (xn, xn+1) + d (xn+1, xn+2) + ...+ d (xm−1, xm)

≤ C(qn + qn+1 + ...+ qm−1

)≤ Cqn

∞∑k=0

qk

=Cqn

1− q.

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Insbesondere gilt d (xm, xn) → 0 fur n,m → ∞, was bedeutet, dass xn eine Cauchy-Folge ist. Nach der Vollstandigkeit von (X, d), konvergiert jede Cauchy-Folge. Somitkonvergiert die Folge xn gegen einen Punkt a ∈ X, also xn → a. Daraus folgt, dass

d (Txn, Ta) ≤ qd (xn, a)→ 0

und somit Txn → Ta. Andererseits Txn = xn+1 → a, was ergibt Ta = a. Also, a ist einFixpunkt.

Sind a, b zwei Fixpunkte, so gilt es nach (3.12)

d (a, b) = d (Ta, Tb) ≤ qd (a, b) ,

was nur dann moglich ist, wenn d (a, b) = 0 und somit a = b.

Bemerkung. Der Beweis des Fixpunktsatzes ergibt die folgende Methodeum den Fixpunkt zu bestimmen bzw anzunahern. Man fangt mit einembeliebigen Punkt x0 an und bildet induktiv die Folge von Naherungslosungenwie folgt:

xn+1 = Txn,

die gegen Fixpunkt konvergiert. Diese Methode wurde in Beweis von Satz2.1 benutzt aber ohne den Fixpunktsatz.

Wir fangen den Beweis von Satz 3.3 mit der folgenden Behauptung an.

Lemma 3.4 Sei die Funktion f : Ω → Rn in (3.8) stetig. Sei x : I → Rn

eine stetige Funktion auf einem Intervall I, so dass t0 ∈ I und (t, x (t)) ∈ Ωfur jedes t ∈ I. Dann lost die Funktion x (t) das Anfangswertproblem (3.8)genau dann, wenn x (t) die folgende Integralgleichung erfullt:

x (t) = x0 +

∫ t

t0

f (s, x (s)) ds. (3.14)

Beweis. Lost x (t) (3.8), so folgt es aus der Gleichung x′ = f (t, x (t)),dass x′ (t) stetig ist, so dass man kann diese Gleichung integrieren und somiterhalten ∫ t

t0

x′ (s) ds =

∫ t

t0

f (s, x (s)) ds

und

x (t)− x0 =

∫ t

t0

f (s, x (s)) ds,

woraus (3.14) folgt. Umgekehrt, sei x eine stetige Funktion, die (3.14) erfullt.Die rechte Seite von (3.14) ist in t differenzierbar; deshalb ist x (t) auch dif-ferenzierbar. Ableiten von (3.14) ergibt x′ = f (t, x), und die Anfangsbedin-gung x (t0) = x0 folgt offensichtlich aus (3.14).

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Beweis von dem Satz 3.3. (a) Wir bilden einen vollstandigenmetrischen Raum (X, d) und eine Selbstabbildung T von X, so dass dieGleichung Tx = x aquivalent zum AWP (3.8) ist. Ist T eine Kontraktion-sabbildung so erhalten wir die Existenz der Losung nach Fixpunktsatz vonBanach.

Um den Raum (X, d) zu definieren, benutzen wir die lokale Lipschitz-Bedingung. Seien ε, δ, L die Konstanten aus der lokalen Lipschitz-Bedingungan (t0, x0); also, der Zylinder

Z = [t0 − δ, t0 + δ]×B (x0, ε)

ist eine Teilmenge von Ω und die Funktion f (t, x) ist auf Z Lipschitz-stetigin x, d.h. f erfullt die Ungleichung

‖f (t, x)− f (t, y)‖ ≤ L ‖x− y‖ (3.15)

fur alle t ∈ [t0 − δ, t0 + δ] und x, y ∈ B (x0, ε). Wahlen wir ein r,

0 < r ≤ δ,

das spater angegeben wird, und bezeichnen

I = [t0 − r, t0 + r] und J = B (x0, ε) .

Sei X die Menge von allen stetigen Funktionen x : I → J, also

X = x : I → J : x ist stetig

Definieren wir einen Integraloperator T auf Funktionen x ∈ X durch dieIdentitat

Tx (t) = x0 +

∫ t

t0

f (s, x (s)) ds. (3.16)

Wir mochten es zu sichern, dass T eine Selbstabbildung von X ist, d.h.,x ∈ X impliziert Tx ∈ X. Bemerken wir, dass fur jede Funktion x ∈ X undfur alle s ∈ I der Punkt (s, x (s)) in Ω liegt, so dass das Integral in (3.16)fur jedes t ∈ I wohldefiniert ist. Somit ist die Funktion Tx (t) auf ganzemIntervall I definiert. Diese Funktion ist offensichtlich stetig. Es bleibt nur zuzeigen, dass die Werte von Tx (t) in J liegen, d.h.

‖Tx (t)− x0‖ ≤ ε fur alle t ∈ I. (3.17)

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Fur jedes t ∈ I, we haben nach (3.16)

‖Tx (t)− x0‖ =

∥∥∥∥∫ t

t0

f (s, x (s)) ds

∥∥∥∥≤

∣∣∣∣∫ t

t0

‖f (s, x (s))‖ ds∣∣∣∣

≤ sups∈I,x∈J

‖f (s, x)‖ |t− t0|

≤ Mr,

wobeiM := sup

(s,x)∈Z‖f (s, x)‖ <∞.

Wir betonen, dass M unabhangig von r definiert ist. Jetzt setzen wir voraus,dass r noch eine Bedingung erfullt:

r ≤ ε

M.

Dann ist (3.17) offensichtlich erfullt und somit erhalten wir, dass Tx ∈ X.Nach Lemma 3.4 lost eine Funktion x ∈ X das AWP (3.8) genau dann,

wenn Tx = x, also, wenn x ein Fixpunkt von T ist. Die Existenz voneinem Fixpunkt von T wird mit Hilfe von Fixpunktsatz von Banach bewiesen.Dafur mussen wir die Menge X in einen vollstandigen metrischen Raumumwandeln, so dass die Abbildung T eine Kontraktion ist.

Definieren wir die Funktion auf X ×X wie folgt:

d (x, y) = supt∈I‖x (t)− y (t)‖ ,

fur alle x, y ∈ X.

ClaimDie Funktion d ist eine Metrik (Abstandfunktion) auf X, und dermetrische Raum (X, d) ist vollstandig.

Uberprufen wir zunachst die Axiome von Metrik.1. d (x, y) ≥ 0 und d (x, x) = 0 genau dann, wenn x = y.2. d (x, y) = d (y, x)3. d (x, y) ≤ d (x, z) + d (z, y) .In der Tat, sind die 1. und 2. Axiome offensichtlich, und das 3.Axiom

folgt aus‖x (t)− y (t)‖ ≤ ‖x (t)− z (t)‖+ ‖z (t)− y (t)‖ .

Jetzt zeigen wir, dass der metrische Raum (X, d) vollstandig ist, d.h.jede Cauchy-Folge in (X, d) konvergiert. Sei xk eine Folge aus X. DieKonvergenz xk → x bezuglich d bedeutet, dass d (xk, x)→ 0, also

supt∈I‖xk (t)− x (t)‖ → 0,

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was genau mit der gleichmaßigen Konvergenz xk ⇒ x auf I ubereinstimmt.Sei xk∞k=1 eine Cauchy-Folge in (X, d), also

d (xk, xm) = supt∈I‖xk (t)− xm (t)‖ → 0 fur k,m→∞. (3.18)

Es folgt, dass fur jedes t ∈ I

‖xk (t)− xm (t)‖ → 0 fur k,m→∞,

also xk (t) eine Cauchy-Folge in Rn ist. Deshalb konvergiert diese Folgegegen einen Vektor aus Rn, den wir mit x (t) bezeichnen, so dass

xk (t)→ x (t) fur k →∞

fur jedes t ∈ I. Da xk (t) ∈ J und J abgeschlossen ist, erhalten wir auchx (t) ∈ J , so dass x eine Abbildung von I nach J ist.

Es bleibt noch zu beweisen, dass x stetig ist und

supt∈I‖xk (t)− x (t)‖ → 0 fur k →∞, (3.19)

was bedeutet wird, dass xk gegen x in (X, d) konvergiert. Umschreibenwir die Bedingung (3.18) wir folgt:

∀ε > 0 ∃N : ∀k,m > N ∀t ∈ I ‖xk (t)− xm (t)‖ ≤ ε.

Fur m→∞ (wahrend ε, k und t fixiert sind) erhalten wir

∀ε > 0 ∃N : ∀k > N ∀t ∈ I ‖xk (t)− x (t)‖ ≤ ε,

woraus (3.19) folgt. Insbesondere ist x (t) ein gleichmaßiger Grenzwert vonstetigen Funktionen xk (das heißt xk ⇒ x), woraus folgt, dass x (t) stetig ist.

Jetzt sichern wir, dass die Abbildung T : X → X eine Kontraktion ist.Fur beliebige Funktionen x, y ∈ X und fur jedes t ∈ I, gilt x (t) , y (t) ∈ J ,woraus folgt mit Hilfe von Lipschitz-Bedingung (3.15), dass

‖Tx (t)− Ty (t)‖ =

∥∥∥∥∫ t

t0

f (s, x (s)) ds−∫ t

t0

f (s, y (s)) ds

∥∥∥∥≤

∣∣∣∣∫ t

t0

‖f (s, x (s))− f (s, y (s))‖ ds∣∣∣∣

≤∣∣∣∣∫ t

t0

L ‖x (s)− y (s)‖ ds∣∣∣∣

≤ L |t− t0| sups∈I‖x (s)− y (s)‖

≤ Lrd (x, y) ,

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und somit

d (Tx, Ty) = supt∈I‖Tx (t)− Ty (t)‖ ≤ Lrd (x, y) .

Setzen wir voraus, dass

r <1

L,

und erhalten, dass T eine Kontraktion ist. Nach Fixpunktsatz von Banach,hat die Gleichung Tx = x eine Losung x ∈ X, die nach Lemma 3.4 auch dasAWP (3.8) lost.

Wir betonen, dass die gefundene Losung x (t) auf dem Intervall [t0 − r, t0 + r]definiert ist, vorausgesetzt, dass r die folgenden drei o.g. Bedingungen erfullt:

0 < r ≤ δ, r ≤ ε

M, r <

1

L,

wobei die Konstanten ε, δ, L aus der lokalen Lipschitz-Bedingung an (t0, x0)kommen, also, der Zylinder

Z = [t0 − δ, t0 + δ]×B (x0, ε)

ist eine Teilmenge von Ω, f ist in Z Lipschitz-stetig in x mit einer Lipschitz-Konstanten L, und M = supZ ‖f‖. Z.B., man kann immer nehmen

r = min

(δ,ε

M,

1

2L

). (3.20)

(b) Seien x (t) und y (t) zwei Losungen des Anfangswertproblems (3.8),die auf einem I ⊂ R definiert sind. Wir mussen beweisen, dass x = y auf I.Wir konnen annehmen, dass I offen ist, da aus der Identitat x (t) = y (t) imoffenen Intervall auch die gleiche Identitat an den Grenzpunkten folgt.

Seien ε und δ wir im Teil (a). Nach der Stetigkeit von x und y, es existiertρ ∈ (0, δ) so dass

I ′ := (t0 − ρ, t0 + ρ) ⊂ I

undx (I ′) ⊂ B (x0, ε) und y (I ′) ⊂ B (x0, ε) .

Die beiden Losungen x, y erfullen die Integralgleichung

x (t) = x0 +

∫ t

t0

f (s, x (s)) ds,

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fur alle t ∈ I ′. Deshalb erhalten wir fur die Differenz z (t) := ‖x (t)− y (t)‖die folgende Ungleichung

z (t) = ‖x (t)− y (t)‖ ≤∣∣∣∣∫ t

t0

‖f (s, x (s))− f (s, y (s))‖ ds∣∣∣∣ .

Da die beiden Punkte (s, x (s)) und (s, y (s)) Elementen von Z sind, ergibtdie Lipschitz-Bedingung

‖f (s, x (s))− f (s, y (s))‖ ≤ L ‖x (s)− y (s)‖ ,

woraus folgt

z (t) ≤ L

∣∣∣∣∫ t

t0

z (s) ds

∣∣∣∣ .Nach Gronwall-Lemma (Lemma 2.12) beschließen wir, dass z (t) ≡ 0, worausdie Gleichheit x ≡ y auf I ′ folgt.

Es bleibt noch zu beweisen, dass x (t) = y (t) fur alle t ∈ I. Betrachtenwir eine Teilmenge von I:

E = t ∈ I : x (t) = y (t) ,

und zeigen, dass die Menge E abgeschlossen sowie auch offen in I. DieAbgeschlossenheit ist offensichtlich: ist tk eine Folge aus E so dass tk →t ∈ I fur k →∞, dann gilt x (tk) = y (tk) fur alle k und somit nach Stetigkeitvon x und y auch x (t) = y (t), also t ∈ E.

Um die Offenheit zu beweisen, wahlen ein t1 ∈ E und zeigen, dass esein ρ > 0 gibt, so dass (t1 − ρ, t1 + ρ) ⊂ E. Bezeichnen wir mit x1 dengemeinsamen Wert x (t1) = y (t1) und bemerken, dass die beiden Funktionenx (t) und y (t) das gleiche Anfangswertproblem

x′ = f (t, x)x (t1) = x1

losen. Nach dem obigen Teil von Beweis, erhalten wir x (t) = y (t) auf einemIntervall (t1− ρ, t1 + ρ) ⊂ I mit ρ > 0. Daraus folgt (t1− ρ, t1 + ρ) ⊂ E, undsomit die Offenheit von E.

Letztlich benutzen wir das Faktum, dass jedes Intervall I zusammenhangendist, was genau bedeutet, dass die einzigen Teilmengen von I, die gleichzeitigoffen und abgeschlossen in I sind, sind die Leermenge ∅ und I. Da dieMenge E offen, abgeschlossen und nicht leer ist (weil t0 ∈ E), so beschließenwir, dass E = I, was zu beweisen war.

Die Zusammenhangendkeit eines Intervalls I beweist man wie folgt. Sei E ⊂ I offen

und abgeschlossen. Wir mussen zeigen, dass entweder E oder das Komplement Ec = I \E

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leer ist. Angenommen das Gegenteil gilt, d.h., die beiden Mengen E und Ec sind nicht

leer, und wahlen einige Punkte a0 ∈ E und b0 ∈ Ec. Setzen wir c0 = a0+b02 so dass c0 ∈ I.

Dann gehort c0 zum E oder zum Ec. Aus zwei Intervalle [a0, c0], [c0, b0] wahlen wir ein

Intervall, wessen Endpunkte zu verschiedenen Mengen E,Ec gehoren, und es mit [a1, b1]

bezeichnen, so dass a1 ∈ E und b1 ∈ Ec. Dann holen wir dieses Argument wieder, indem

wir ein Intervall [a2, b2] bilden, das eine Halfte von [a1, b1] ist, und a2 ∈ E, b2 ∈ Ec. Durch

Induktion erhalten wir eine Intervallschachtelung10 [ak, bk]∞k=0, wobei ak ∈ E, bk ∈ Ec

und |bk − ak| → 0. Nach Intervallschachtelungsprinzip existiert ein x ∈ [ak, bk] fur alle k.

Offensichtlich gilt x ∈ I. Da ak → x und E abgeschlossen ist, so gilt x ∈ E. Da bk → x

und Ec abgeschlossen ist, so gilt auch x ∈ Ec. Dieser Widerspruch beweist, dass entweder

E oder Ec leer ist, d.h., entweder E = ∅ oder E = I.

Bemerkung. Aus dem Beweis von Existenz der Losung gewinnt mandie folgende Methode fur Bestimmung der Losung x (t) von (3.8). Manfangt mit konstante Funktion x0 (t) ≡ x0 an und bildet eine Folge vonNaherungslosungen xk (t) nach der Regel xk+1 = Txk, d.h.

xk+1 = x0 +

∫ t

t0

f (s, xk (s)) ds.

Diese Folge xk heißt die Picarditeration, und sie konvergiert gleichmaßiggegen die Losung x (t) in einem hinreichend kleinen Intervall I = [t0 − r, t0 + r].

Beispiel. Betrachten wir eine nicht-lineare Anfangswertproblemx′ = x2 + 1x (0) = 0.

(3.21)

Die Picarditeration ist durch die Identitat

xk+1 (t) =

∫ t

0

(1 + x2

k (s))ds

10Das ist eine Folge von Intervallen, so dass jedes Intervall komplett in dem vorherigenIntervall liegt.

129

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gegeben, und wir erhalten

x1 (t) = t

x2 (t) =

∫ t

0

(1 + s2

)ds = t+

t3

3

x3 (t) =

∫ t

0

(1 +

(s+

s3

3

)2)ds = t+

1

3t3 +

2

15t5 +

1

63t7

x4 (t) =

∫ t

0

(1 +

(s+

1

3s3 +

2

15s5 +

1

63s7

)2)ds = t+

1

3t3 +

2

15t5 +

17

315t7 + ...

. . .

Da die DGL (3.21) trennbar ist, man lost sie mit Hilfe von Trennung derVariablen und erhalt

t =

∫ t

0

dt =

∫ x

0

dx

x2 + 1= arctanx,

woraus folgt x (t) = tan t im Definitionsbereich t ∈(−π

2, π

2

). In diesem

Beispiel ergibt die Picarditeration die Taylorentwicklung von tan t.

3.3 Existenz und Eindeutigkeit fur skalare DGLen

Betrachten wir jetzt eine skalare DGL n-ter Ordnung

x(n) = F(t, x, x′, ..., x(n−1)

),

wobei F : Ω → R eine Funktion auf einer offenen Teilmenge Ω ⊂ Rn+1 ist.Wir bezeichnen die unabhangigen Variablen in Rn+1 mit (t,x), wobei t ∈ Rund x ∈ Rn, und schreiben F = F (t,x) .

Korollar 3.5 (Satz von Picard-Lindelof fur skalare DGLen) Sei die Funk-tion F (t,x) in Ω stetig und lokal Lipschitz-stetig in x.

(a) Fur jeden Punkt (t0, x0, x1, ..., xn−1) ∈ Ω hat das Anfangswertproblemx(n) = F

(t, x, x′, ..., x(n−1)

)x (t0) = x0

x′ (t0) = x1

...x(n−1) (t0) = xn−1

(3.22)

eine Losung.(b) Sind x (t) und y (t) zwei Losungen von (3.22), dann gilt x (t) = y (t)

im gemeinsamen Definitionsbereich von x und y.

130

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Insbesondere erfullt die Funktion F die Voraussetzungen, falls F in Ωstetig und stetig differenzierbar in x ist.

Beweis. Betrachten wir die Vektorfunktion x (t) =(x (t) , x′ (t) , ..., x(n−1) (t)

)und erinnern uns daran, dass die DGL x(n) = f

(t, x, ..., x(n−1)

)aquivalent

zur Vektor-DGL x′ (t) = f (t,x) ist, wobei

f (t,x) = (x2,x3, ...xn, F (t,x1, ...,xn)) .

Die Funktion f : Ω → Rn ist offensichtlich stetig in Ω. Beweisen wir, dassf lokal Lipschitz-stetig in x ist. Wir benutzen die 1-Norm in Rn. Sei Z einZylinder in Ω, wo F Lipschitz-stetig in x ist mit einer Lipschitz-KonstantenL. Es reicht zu zeigen, dass auch f in Z Lipschitz-stetig in x ist. Fur(t,x) , (t,y) ∈ Z erhalten wir

‖f (t,x)− f (t,y)‖1 = |x2 − y2|+ ...+ |xn − yn|+ |F (t,x)− F (t,y)|≤ ‖x− y‖1 + L ‖x− y‖1

= (L+ 1) ‖x− y‖1 ,

also ist f Lipschitz-stetig mit einer Lipschitz-Konstanten L+ 1.Das Anfangswertproblem (3.22) ist aquivalent zu

x′ = f (t,x)x (t0) = x0,

(3.23)

wobei x0 = (x0, ..., xn−1). Nach Satz 3.3 (Satz von Picard-Lindelof furNormalsysteme), hat das Anfangswertproblem (3.23) eine Losung fur jedes(t0,x0) ∈ Ω, und zwei Losungen von (3.23) sind identisch auf dem gemein-samen Intervall. Deshalb gelten die gleichen Aussagen auch fur (3.22), waszu beweisen war.

3.4 Maximale Losungen

Betrachten wir wieder ein Normalsystem

x′ = f (t, x) , (3.24)

wobei f : Ω → Rn eine Abbildung von einer offenen Teilmenge Ω ⊂ Rn+1

nach Rn ist, die in Ω stetig und lokal Lipschitz-stetig in x ist. Nach Satz 3.3(Picard-Lindelof) sind zwei Losungen des Anfangswertproblems

x′ = f (t, x)x (t0) = x0

(3.25)

131

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identisch im gemeinsamen Definitionsbereich. Jedoch gibt es viele Losungenvon (3.25), die auf verschiedenen Intervallen definiert sind. In diesem Ab-schnitt bestimmen wir eine Losung von (3.25) mit maximalem Definitions-bereich.

Definition. Seien x und y zwei Losungen von (3.24), die jeweils auf denIntervallen Ix und Iy definiert sind. Die Losung y heißt eine Fortsetzung vonx, falls Ix ⊂ Iy. Die Fortsetzung y heißt echt, falls Ix 6= Iy.

In diesem Fall gilt automatisch x (t) ≡ y (t) auf Ix nach dem Satz 3.3(b).

Definition. Eine Losung x von (3.24) heißt maximal, falls x keine echteFortsetzung (als eine Losung) besitzt.

Satz 3.6 Sei die Funktion f (t, x) in Ω stetig und lokal Lipschitz-stetig in x.Dann gilt folgendes:

(a) Fur jedes (t0, x0) ∈ Ω hat das Anfangswertproblem (3.25) eine ein-deutige maximale Losung.

(b) Der Definitionsbereich von einer maximalen Losung x ist ein offenesIntervall (dieses Intervall heißt maximales Existenzintervall).

(c) Ist x (t) eine maximale Losung mit dem Definitionsbereich (a, b), soverlasst x (t) jede kompakte Menge K ⊂ Ω fur t→ a sowie auch fur t→ b.

Die Aussage “x (t) verlasst K fur t → b” bedeutet folgendes: es ex-istiert ein Wert c ∈ (a, b), dass fur jedes c < t < b der Punkt (t, x (t)) (desGraphen von x) nicht in K liegt (Fig. ??). Analog bedeutet die Aussage“x (t) verlasst K fur t → a”, dass ein c ∈ (a, b) existiert, so dass fur jedesa < t < c der Punkt (t, x (t)) nicht in K liegt.

Die folgende Behauptung folgt aus (a): sind zwei maximale Losungen xund y von (3.24) gleich fur einen Wert von t, dann sind die Funktionen xund y identisch, inklusive die Ubereinstimmung ihrer Definitionsbereiche, dasie gleiches Anfangswertproblem mit der Anfangsbedingung (t, x (t)) losen.

Beispiel. 1. Betrachten wir die DGL x′ = x2 im Definitionsbereich Ω =R2. Diese Gleichung lasst sich mit Hilfe von Trennung der Variablen losen.Offensichtlich ist x ≡ 0 eine konstante Losung. In den Bereichen x > 0und x < 0 erhalten wir ∫

x′dt

x2=

∫dt

und

−1

x=

∫dx

x2=

∫dt = t− C,

woraus folgt x (t) = 1C−t . Diese Funktion bestimmt zwei maximale Losungen

jeweils auf den Intervallen (C,+∞) und (−∞, C). Jede solche Losung verlasst

132

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jede kompakte Menge K ⊂ R2. Zum Beispiel, die Losung auf (C,+∞)verlasst K fur t → +∞ da K beschrankt ist, und auch fur t → C+ da indiesem Fall x (t)→ −∞.

2. Betrachten wir die DGL x′ = 1x

im Definitionsbereich Ω = R×(0,+∞)(d.h. t ∈ R und x > 0). Nach Trennung der Variablen erhalten wir

x2

2=

∫xdx =

∫xx′dt =

∫dt = t− C

und somitx (t) =

√2 (t− C) , t > C (3.26)

Die Funktion (3.26) ist eine maximale Losung mit dem Definitionsbereich(C,+∞). Die Losung verlasst jede kompakte Menge K ⊂ Ω fur t→ C+, da(t, x (t)) → (C, 0) und der Punkt (C, 0) auf dem Rand von Ω liegt, und furt→ +∞ offensichtlich.

3. Die DGL x′ = x2 + 1 im Definitionsbereich Ω = R2 hat die Losung

x (t) = tan (t− C) , t ∈(C − π

2, C +

π

2

),

die offensichtlich jede kompakte Teilmenge von R2 verlasst.

Fur den Beweis von Satz 3.6 brauchen wir das folgende Lemma.

Lemma 3.7 Sei xα (t)α∈A eine Menge von Losungen des AWPs (3.25),wobei A eine Indexmenge ist, und xα auf einem Intervall Iα definiert ist.Setzen wir

I =⋃α∈A

und definieren eine Funktion x (t) auf I wie folgt:

x (t) = xα (t) falls t ∈ Iα. (3.27)

Dann I ist ein Intervall, die Funktion x (t) ist wohldefiniert und lost (3.25)auf I.

Die durch (3.27) definierte Funktion x (t) heißt die Vereinigung der Losungenxα (t). Es ist klar, dass der Graph von x (t) die Vereinigung der Graphenaller Funktionen xα (t) ist.

Beweis von Lemma 3.7. Die Function x (t) ist wohldefiniert, wenndie rechte Seite der Identitat (3.27) unabhangig von α ist. Gehort t zu denzwei Intervallen Iα und Iβ, d.h. t ∈ Iα ∩ Iβ, so gilt xα (t) = xβ (t) nach demEindeutigkeit von Satz 3.3, woraus folgt, dass der Wert von x (t) unabhangigvon der Wahl des Indexes α ist.

133

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Jetzt beweisen wir, dass I ein Intervall ist, d.h. mit Punkten a < b enthaltI auch das ganze Intervall [a, b] . Es gibt die Indizes α, β ∈ A mit a ∈ Iα undb ∈ Iβ. Da die beiden Intervalle Iα, Iβ auch t0 enthalten, ist die VereinigungIα ∪ Iβ auch ein Intervall, das a und b enthalt, woraus [a, b] ⊂ Iα ∪ Iβ folgtund somit [a, b] ⊂ I. Um zu beweisen, dass x eine Losung von (3.25) ist,zeigen wir erst, dass x (t) stetig auf I ist. Es reicht zu zeigen, dass x (t)stetig auf jedem beschrankten abgeschlossenen Intervall [a, b] ⊂ I ist. Seienα, β ∈ A zwei Indizes, so dass a ∈ Iα, b ∈ Iβ und somit [a, b] ⊂ Iα∪Iβ. Da dieFunktion x (t) stetig auf Iα und Iβ ist und die Intervalle Iα, Iβ nicht-leerenDurchschnitt haben, ist x (t) stetig auch auf Iα ∪ Iβ und somit auf [a, b].

Die Funktion x (t) erfullt auf jedem Intervall Iα die Integralgleichung

x (t) = x0 +

∫ t

t0

f (s, x (s)) ds.

Daraus folgt, dass die Gleichung auch fur alle t ∈ I erfullt ist und somit x (t)eine Losung von (3.25) auf I ist.

Beweis von Satz 3.6. (a) Sei S die Menge aller Losungen des An-fangswertproblems (3.25). Definieren wir z (t) als die Vereinigung von allenLosungen aus S, insbesondere der Definitionsbereich Iz von z ist

Iz =⋃x∈S

Ix, (3.28)

wobei Ix der Definitionsbereich von x ist. Nach Lemma 3.7 ist die Funktionz auch eine Losung von (3.25). Es folgt aus (3.28), dass z (t) eine maximaleLosung ist, da Iz ⊃ Ix fur jede Losung x ∈ S und somit ist z nicht echtfortsetzbar.

Sei y noch eine maximale Losung von (3.25). Da y ∈ S, so gilt Iz ⊃ Iy.Da y maximal ist, so ist z keine echte Fortsetzung von y, woraus folgt Iz = Iy.Somit sind z und y identisch gleich.

(b) Sei I der Definitionsbereich einer maximalen Losung x (t). Dann ist Iein Intervall, und wir beweisen, dass I offen ist. Angenommen das Gegenteilgilt, I ist nicht offen, es gehort z.B. der Endpunkt a := inf I zu I. Dann liegtder Punkt (a, x (a)) in Ω, und nach Satz 3.3 hat das Anfangswertproblem

y′ = f (t, y)y (a) = x (a)

eine Losung auf einem Intervall (a− r, a+ r) mit r > 0.Dann ist die Vereinigung z (t) der Losungen x (t) und y (t) eine Losung,

die auch fur t < a definiert ist, was bedeutet, dass die Losung x (t) auf ein

134

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echt großeres Intervall fortsetzbar ist, was im Widerspruch zur Maximalitatvon x steht.

(c) Nehmen wir das Gegenteil an, dass also x (t) eine gewisse kompakteMenge K ⊂ Ω fur t→ a nicht verlasst. Dann existiert eine Folge tk ∈ (a, b),so dass tk → a und (tk, xk) ∈ K, wobei xk = x (tk). Da jede Folge inK eine konvergente Teilfolge mit dem Grenzwert in K besitzt, konnen wirvoraussetzen, dass die ganze Folge (tk, xk)∞k=1 gegen einen Punkt (a, q) ∈ Kfur k →∞ konvergiert. Wegen (a, q) ∈ Ω existiert ein Zylinder

Z := [a− δ, a+ δ]×B (q, ε) ⊂ Ω,

wo die Funktion f Lipschitz-stetig in x ist mit einer Lipschitz-KonstantenL.Betrachten wir fur ein k das Anfangswertproblem

y′ = f (t, y)y (tk) = xk

(3.29)

Setzen wir M = supZ ‖f‖ .Ist k hinreichend groß, so ist (tk, xk) hinreichend nahe bei (a, q), und dann

ist der Zylinder

Zk = [tk −δ

2, tk +

δ

2]×B(xk,

ε

2)

eine Teilmenge von Z. Insbesondere ist die Funktion f in Zk Lipschitz-stetigin x mit der Lipschitz-Konstanten L und

supZk

‖f‖ ≤ supZ‖f‖ = M.

Nach dem Satz 3.3) hat (3.29) eine Losung y (t) im Intervall (tk − r, tk + r),wobei nach (3.20)

r = min

2,ε

2M,

1

2L

)> 0.

Es ist wichtig zu betonen, dass r von k unabhangig ist, da alle Konstantenε, δ, L,M von k nicht abhangig sind. Ist k hinreichend groß, so gilt a ∈(tk − r, tk + r), insbesondere tk−r < a, so dass y (t) auch fur die Werte t < adefiniert ist. Da die Funktion x (t) auch das Anfangswertproblem (3.29) lost,ist die Vereinigung von x (t) und y (t) eine Losung, die im Widerspruch zurMaximalitat von x auch fur t < a definiert ist.

3.5 Stetigkeit von Losungen bezuglich f (t, x)

Seien Ω eine offene Menge in Rn+1 und f, g zwei Abbildungen von Ω nachRn, die stetig und bezuglich x lokal Lipschitz-stetig sind, wie im Satz von

135

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Picard-Lindelof. Betrachten wir zwei Anfangswertproblemex′ = f (t, x)x (t0) = x0

(3.30)

und y′ = g (t, y)y (t0) = x0

(3.31)

mit gleichem Anfangswert (t0, x0) ∈ Ω.Fixieren wir f und betrachten die Funktion g als variabel. Sei x (t) eine

Losung von (3.30). Unsere Absicht ist zu zeigen, dass y nahe bei x ist,vorausgesetzt, dass g nahe bei f ist. Dieses Resultat hat eine theoretischesowie auch praktische Bedeutung. Ist z.B. die Funktion f (t, x) nur ungefahrbekannt, so lost man statt des genauen AWPs (3.30) ein anderes AWP (3.31)mit g ≈ f . In diesem Fall ist es wichtig zu wissen, ob y (t) ≈ x (t) ist, undeine Abschatzung des Approximationsfehlers ‖x (t)− y (t)‖ zu bekommen.

Satz 3.8 (Hauptsatz) Sei x (t) eine Losung des AWPs (3.30), die auf einemabgeschlossenen beschrankten Intervall [α, β] definiert ist, wobei α < t0 < β.Dann fur jedes ε > 0 existiert ein η > 0 mit der folgenden Eigenschaft: istg : Ω→ Rn eine stetige und in x lokal Lipschitz-stetige Funktion mit

supΩ‖f − g‖ ≤ η, (3.32)

so existiert eine auf [α, β] definierte Losung y (t) des AWPs (3.31), und dieseLosung erfullt die folgende Ungleichung

supt∈[α,β]

‖x (t)− y (t)‖ ≤ ε. (3.33)

Bemerkung. Die Losung x (t) in diesem Satz soll auf kompaktem Intervall[α, β] definiert werden. Ist x (t) auf offenem Intervall (α, β) definiert, so kannman nicht sichern, dass y auch auf (α, β) definiert wird.

Beweis. Wir fangen mit der folgenden Abschatzung der Differenz ‖x (t)− y (t)‖an.

Behauptung 1. Seien x (t) und y (t) die Losungen von jeweils (3.30) und(3.31), die auf dem gleichen Intervall (a, b) definiert sind, wobei a < t0 < b.Angenommen, es gibt eine Teilmenge K von Ω mit den folgenden Eigen-schaften:

(A) die Graphen von x (t) und y (t) sind in K enthalten;(B) die Funktion f (t, x) ist in x Lipschitz-stetig auf K mit der Lipschitz-

Konstanten L.

136

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Dann gilt

supt∈(a,b)

‖x (t)− y (t)‖ ≤ eL(b−a) (b− a) supK‖f − g‖. (3.34)

Die beiden Funktionen x und y erfullen die Integralgleichungen

x (t) = x0 +

∫ t

t0

f (s, x (s)) ds und y (t) = x0 +

∫ t

t0

g (s, y (s)) ds.

Nach der Dreiecksungleichung erhalten wir fur jedes t ∈ (a, b)

‖x (t)− y (t)‖ ≤∣∣∣∣∫ t

t0

‖f (s, x (s))− g (s, y (s))‖ ds∣∣∣∣

≤∣∣∣∣∫ t

t0

‖f (s, x (s))− f (s, y (s))‖ ds∣∣∣∣+

∣∣∣∣∫ t

t0

‖f (s, y (s))− g (s, y (s))‖ ds∣∣∣∣ .

Da die Punkte (s, x (s)) und (s, y (s)) Elemente von K sind, kann der ersteIntegrand durch die Lipschitz-Bedingung in K abgeschatzt werden:

‖f (s, x (s))− f (s, y (s))‖ ≤ L ‖x (s)− y (s)‖ .

Der zweite Integral schatzen wir ab wie folgt:∣∣∣∣∫ t

t0

‖f (s, y (s))− g (s, y (s))‖ ds∣∣∣∣ ≤ sup

K‖f − g‖ |t− t0| ≤ sup

K‖f − g‖ (b− a) =: C,

woraus folgt

‖x (t)− y (t)‖ ≤ L

∣∣∣∣∫ t

t0

‖x (s)− y (s)‖ ds∣∣∣∣+ C. (3.35)

Anwendung von Gronwall-Lemma 2.12 zur Funktion ‖x (t)− y (t)‖ ergibt

‖x (t)− y (t)‖ ≤ CeL|t−t0| ≤ eL(b−a) (b− a) supK‖f − g‖,

was aquivalent zu (3.34) ist.Die Ungleichung (3.34) bedeutet insbesondere folgendes: ist supΩ ‖f − g‖

klein, dann ist auch die Differenz ‖x (t)− y (t)‖ klein, was im Grunde die Be-hauptung von Satz 3.8 ist. Aber bevor wir Behauptung 1 anwenden konnen,mussen wir auf die folgenden Fragen antworten:− warum ist die Losung y (t) auf dem ganzen Intervall [α, β] definiert?− warum existiert eine Teilmenge K ⊂ Ω mit den Eigenschaften (A) und

(B)?

137

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Zunachst bilden wir solche Mengen K. Fur jedes ε ≥ 0 betrachten wirdie Menge

Kε =

(t, x) ∈ Rn+1 : α ≤ t ≤ β, ‖x− x (t)‖ ≤ ε. (3.36)

Insbesondere ist K0 der Graph der Funktion x (t), und Kε fur ε > 0 ist eineabgeschlossene ε-Umgebung von K0 bezuglich der Variable x.

Die Menge K0 ist kompakt, weil K0 das Bild des Intervalls [α, β] unterder stetigen Abbildung t 7→ (t, x (t)) ist. Daraus folgt, dass Kε fur jedesε > 0 auch eine kompakte Teilmenge von Rn+1 ist.

Behauptung 2. Es existiert ε > 0, so dass Kε ⊂ Ω und f auf Kε Lipschitz-stetig in x ist.

Nach der Lipschitz-Bedingung, existieren fur jedes (t, x) ∈ Ω (insbeson-dere fur (t, x) ∈ K0) die Konstanten ε, δ > 0, so dass der Zylinder

Z = [t− δ, t+ δ]×B (x, ε)

ein Teilmenge von Ω ist und f auf Z Lipschitz-stetig in x ist.Betrachten wir auch den offenen Zylinder

U = (t− δ, t+ δ)×B(x, 12ε).

Variieren des Punktes (t, x) in K0 ergibt eine Uberdeckung von K0 mit den of-fenen Zylindern U . DaK0 kompakt ist, existiert eine endliche Teiluberdeckungvon K0 mit den offenen Zylindern, d.h. es existieren eine endliche Folge vonPunkte (ti, xi)mi=1 aus K0 und entsprechende Konstanten εi, δi > 0, so dassdie Zylinder

Ui = (ti − δi, ti + δi)×B(xi,12εi)

die Menge K0 uberdecken. Bezeichnen wir mit Zi den Zylinder

Zi = [ti − δi, ti + δi]×B (xi, εi)

und mit Li die Lipschitz-Konstante von f in Zi (wir erinnern uns daran, dassnach der Wahl von εi, δi in jedem Zylinder Zi die Funktion f Lipschitz-stetigin x ist).

Definieren ε und L durch

ε =1

2min

1≤i≤mεi, L = max

1≤i≤mLi, (3.37)

und zeigen, dass die Menge Kε die Eigenschaften (A) und (B) von Behaup-tung 1 erfullt, d.h. Kε ⊂ Ω und die Funktion f auf Kε Lipschitz-stetig in xist mit der Lipschitz-Konstanten L.

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Fur jeden Punkt (t, x) ∈ Kε haben wir nach Definition von Kε, dasst ∈ [α, β], (t, x (t)) ∈ K0 und

‖x− x (t)‖ ≤ ε.

Der Punkt (t, x (t)) gehort zu einem Zylinder Ui, also

t ∈ (ti − δi, ti + δi) und ‖x (t)− xi‖ < 12εi

Nach der Dreiecksungleichung haben wir

‖x− xi‖ ≤ ‖x− x (t)‖+ ‖x (t)− xi‖ < ε+ εi/2 ≤ εi,

wobei man benutzt, dass nach (3.37) ε ≤ εi/2 gilt. Daraus folgt, dass x ∈B (xi, εi) und somit (t, x) ∈ Zi. Insbesondere erhalten wir (t, x) ∈ Ω, wasbeweist, dass Kε ⊂ Ω.

Seien (t, x) , (t, y) zwei Punkte ausKε. Da (t, x (t)) in einem von ZylindernUi liegt, so erhalten wir nach dem obigen Argument, dass (t, x) ∈ Zi und auch(t, y) ∈ Zi. Da f Lipschitz-stetig auf Zi mit der Lipschitz-Konstanten Li ist,so erhalten wir

‖f (t, x)− f (t, y)‖ ≤ Li ‖x− y‖ ≤ L ‖x− y‖ ,

wobei man (3.37) benutzt. Somit ist f Lipschitz-stetig in x in Kε, was inBehauptung 2 zu beweisen war.

Jetzt beweisen wir die Existenz einer Losung y (t) von (3.31), die auf demIntervall [α, β] definiert ist. Es folgt aus Behauptung 2, dass fur hinreichendkleine Werte von ε > 0 die Menge Kε in Ω liegt und die Funktion f in Kε

Lipschitz stetig in x ist, mit einer Lipschitz-Konstante L. Sei y : I → Rn

die maximale Losung von (3.31). Nach Satz 3.6 ist I ein offenes Intervall,und t0 ∈ I. Wir bestimmen zunachst ein Intervall (a, b), wo die beidenFunktionen x (t) und y (t) definiert sind und ihre Graphen uber (a, b) in Kε

liegen. Wegen y (t0) = x0 gehort der Punkt (t0, y (t0)) des Graphen von y (t)zu Kε.

Nach dem Satz 3.6 verlasst der Graph von y (t) die Menge Kε fur t gegendie Endpunkte von I, also (t, y (t)) /∈ Kε, wenn t nahe bei den Endpunktenvon I ist. Setzen wir

a = sup t ∈ I, t < t0 : (t, y (t)) /∈ Kε ,b = inf t ∈ I, t > t0 : (t, y (t)) /∈ Kε ,

so dass a, b ∈ I und a < t0 < b. Wir betonen, dass y (t) auf dem Intervall[a, b] definiert ist. Fur jedes t ∈ (a, b) haben wir nach Definition von a und

139

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b, dass (t, y (t)) ∈ Kε und somit t ∈ [α, β], woraus [a, b] ⊂ [α, β] folgt. Mankann auch sagen, dass [a, b] maximales Intervall ist mit der Eigenschaft, dassder Graph von y (t) uber [a, b] in Kε enthalten ist.

Jetzt, im letzten Schritt des Beweises, zeigen wir, dass [a, b] = [α, β]. Da-raus wird es folgen, dass die Losung y (t) auf ganzem Intervall [α, β] definiertist und fur jedes t ∈ [α, β] gilt (t, y (t)) ∈ Kε, also

‖x (t)− y (t)‖ ≤ ε,

was zu beweisen war. Verwenden wir Behauptung 1 in K = Kε. Alle Voraus-setzungen von Behauptung 1 sind erfullt: die beiden Funktionen x, y sind auf(a, b) definiert, ihre Graphen liegen in Kε, die Funktion f ist in Kε Lipschitznach Behauptung 2. Somit erhalten wir nach (3.34), dass

supt∈(a,b)

‖x (t)− y (t)‖ ≤ eL(b−a) (b− a) supKε

‖f − g‖ . (3.38)

Angenommen, dass

supKε

‖f − g‖ ≤ η :=ε

2 (β − α)e−L(β−α),

so erhalten wir

supt∈(a,b)

‖x (t)− y (t)‖ ≤ eL(β−α) (β − α) η =ε

2.

Fur t→ a+ folgt es aus (3.38), dass

‖x (a)− y (a)‖ ≤ ε

2. (3.39)

Zeigen wir, dass a = α. In der Tat, gilt a > α, so sind die beiden Funktionenx (t) und y (t) in einem Intervall (a− r, a+ r) mit hinreichend kleinem r >0 definiert, und es gilt in diesem Intervall ‖x (t)− y (t)‖ < ε und somit(t, y (t)) ∈ Kε, insbesondere fur t ∈ (a − r, a], was im Widerspruch zurDefinition von a ist. Mit gleichem Argument zeigt man, dass b = β.

Aus dem Beweis ergibt sich die folgende Verfeinerung von dem Satz 3.8.

Korollar 3.9 Unter den Voraussetzungen von Satz 3.8 sei ε > 0 eine Kon-stante, so dass Kε ⊂ Ω und f (t, x) auf Kε Lipschitz-stetig in x mit einerLipschitz-Konstanten L ist (wobei Kε durch (3.36) definiert ist). Ist supKε

‖f − g‖hinreichend klein, so hat das AWP (3.31) eine Losung y (t) auf dem Intervall[α, β], die die folgende Ungleichung erfullt:

sup[α,β]

‖x (t)− y (t)‖ ≤ eL(β−α) (β − α) supKε

‖f − g‖ . (3.40)

Beweis. Nach dem Beweis von Satz 3.8 wissen wir, dass die Kleinheitvon supKε

‖f − g‖ die Identitat [a, b] = [α, β] ergibt. Dann folgt (3.40) aus(3.38).

140

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3.6 Stetigkeit von Losungen in Parameter

Betrachten wir das folgende Anfangswertproblem mit einem Parameter s:x′ = f (t, x, s)x (t0) = x0,

(3.41)

wobei f eine Abbildung von Ω nach Rn ist und Ω eine offene Teilmenge vonRn+m+1 ist. Hier sei t ∈ R, x ∈ Rn, s ∈ Rm, und das Tripel (t, x, s) wird wiefolgt mit einem Punkt in Rn+m+1 identifiziert:

(t, x, s) = (t, x1, .., xn, s1, ..., sm) .

Wie soll man das AWP (3.41) verstehen? Fur jedes s ∈ Rm betrachten wirdie offene Menge

Ωs =

(t, x) ∈ Rn+1 : (t, x, s) ∈ Ω.

Alternativ kann Ωs definiert werden als der Durchschnitt Ω∩Hs mit derHyperebene

Hs =

(t, x, s) ∈ Rn+m+1 : t ∈ R, x ∈ Rn,

die mit Rn+1 identifiziert wird. Wir betonen, dass Ωs eine offene Teilmengevon Rn+1 ist. Ist (t, x) ∈ Ωs, dann gilt (t, x, s) ∈ Ω und somit existiert eineKugel B in Rn+m+1 mit Zentrum an (t, x, s) , die in Ω enthalten ist. Dannist der Durchschnitt B ∩Hs eine Kugel in Hs mit Zentrum (t, x), die in Ωs

enthalten ist, woraus folgt, dass Ωs offen ist.Gegeben sei (t0, x0) ∈ Rn+1, bezeichnen wir mit S die Menge der Werte

von s mit (t0, x0) ∈ Ωs, also

S = s ∈ Rm : (t0, x0) ∈ Ωs = s ∈ Rm : (t0, x0, s) ∈ Ω .

Wir setzen immer voraus, dass S nicht leer ist, und betrachten fur jedes s ∈ Sdas Anfangswertproblem (3.41) im Definitionsbereich Ωs.

Angenommen, die Funktion f (t, x, s) ist stetig in (t, x, s) in Ω und furjedes s ∈ S lokal Lipschitz-stetig in x in Ωs. Nach Satz 3.6 existiert fur jedess ∈ S die maximale Losung von (3.41), die mit x (t, s) bezeichnet wird. Sei Isder Definitionsbereich der Funktion t 7→ x (t, s), also Is ein offenes Intervall.Der Definitionsbereich U der Funktion (t, s) 7→ x (t, s) ist wie folgt.

U =

(t, s) ∈ Rm+1 : s ∈ S, t ∈ Is.

141

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Satz 3.10 Unter den obigen Voraussetzungen ist die Menge U eine offeneTeilmenge von Rm+1, und die Funktion x : U → Rn ist stetig bezuglich (t, s).

Beweis. Fixieren wir einen Wert s0 ∈ S und betrachten die Losungx (t) = x (t, s0) , die auf dem Intervall Is0 definiert ist. Sei [α, β] ein Teil-intervall von Is0 mit α < t0 < β. Wir beweisen, dass es ein δ > 0 gibtmit

[α, β]×B (s0, δ) ⊂ U, (3.42)

was die Offenheit von U implizieren wird. Die Kugeln in allen Raumen Rk

werden bezuglich der ∞-Norm betrachtet, so dass das Produkt von zweiKugeln wieder eine Kugel ist.

Die Funktion x (t) lost das Anfangswertproblemx′ = f (t, x) ,x (t0) = x0,

wobei f (t, x) := f (t, x, s0) . Betrachten wir noch einen Wert von s ∈ B (s0, δ)und die Funktion y (t) = x (t, s), die das folgende Anfangswertproblem lost:

y′ = g (t, y) ,y (t0) = x0,

wobei g (t, y) = f (t, y, s). Um (3.42) zu beweisen, reicht es zu zeigen, dassdie Losung y (t) auf dem ganzen Intervall [α, β] definiert ist, vorausgesetzt,dass ‖s− s0‖ hinreichend klein ist, also dass δ hinreichend klein ist. Dafurbetrachten wir die Menge

Kε =

(t, x) ∈ Rn+1 : α ≤ t ≤ β, ‖x− x (t)‖ ≤ ε,

(vgl. der Beweis von Satz 3.8), die fur hinreichend kleines ε eine Teilmengevon Ωs0 ist, und die Funktion f (t, x) in Kε Lipschitz-stetig in x ist mit einerLipschitz-Konstanten L. Da Kε eine kompakte Teilmenge von Ωs0 ist, so giltfur hinreichend kleines δ > 0 die Inklusion

Kε ×B (s0, δ) ⊂ Ω,

was mit dem gleichen Argument bewiesen wird wie die Inklusion Kε ⊂ Ωs0 .Insbesondere gilt Kε ⊂ Ωs fur alle s ∈ B (s0, δ), und somit ist g (t, y) auch

auf Kε definiert. Da die Funktion f (t, x, s) stetig ist, so ist sie gleichmaßigstetig auf jeder kompakten Teilmenge von Ω, insbesondere auf Kε×B (s0, δ) .Daraus folgt, dass

sup(t,x)∈Kε

‖f (t, x)− g (t, x)‖ = sup(t,x)∈Kε

‖f (t, x, s0)− f (t, x, s)‖ → 0 fur s→ s0,

(3.43)

142

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also, es wird supKε‖f − g‖ fur s ∈ B (s0, δ) beliebig klein sein, vorausgesetzt

δ ist hinreichend klein. Angenommen dies, erhalten wir nach dem Korollar3.9, dass die Losung y (t) auf dem Intervall [α, β] definiert ist, woraus (3.42)folgt.

Daruber hinaus ergibt die Ungleichung (3.40) in Korollar 3.9 folgendes:

supt∈[α,β]

‖x (t, s)− x (t, s0)‖ = supt∈[α,β]

‖y (t)− x (t)‖ ≤ C sup(t,x)∈Kε

‖f (t, x)− g (t, x)‖ ,

(3.44)wobei C := eL(β−α) (β − α). Es folgt aus (3.43) und (3.44), dass

supt∈[α,β]

‖x (t, s)− x (t, s0)‖ → 0 fur s→ s0. (3.45)

Somit ist die Funktion s 7→ x (t, s) stetig in s = s0 ist, und zwar gleichmaßigbezuglich t ∈ [α, β]. Da x (t, s) fur jedes s stetig in t ist, es folgt daraus, dassx stetig in (t, s) ist.

In der Tat zeigen wir, dass fur jedes (t0, s0) ∈ U (wobei t0 ∈ (α, β) nicht unbedingtder Anfangswert ist) gilt x (t, s) → x (t0, s0) fur (t, s) → (t0, s0). Anwendung von (3.45)und die Stetigkeit der Funktion x (t, s0) in t ergeben

‖x (t, s)− x (t0, s0)‖ ≤ ‖x (t, s)− x (t, s0)‖+ ‖x (t, s0)− x (t0, s0)‖≤ sup

t∈[α,β]‖x (t, s)− x (t, s0)‖+ ‖x (t, s0)− x (t0, s0)‖

→ 0 fur s→ s0, t→ t0,

was zu beweisen war.

Als ein Beispiel von Anwendung von Satz 3.10, betrachten wir die Abhangigkeitder Losung von dem Anfangswert.

Korollar 3.11 Betrachten wir das Anfangswertproblemx′ = f (t, x)x (t0) = x0

(3.46)

wobei f : Ω → Rn eine Funktion in einer offenen Teilmenge Ω ⊂ Rn+1

ist. Sei f in Ω stetig und lokal Lipschitz-stetig in x. Fur jedes (t0, x0) ∈ Ωbezeichnen wir mit x (t, t0, x0) die maximale Losung von (3.46). Dann istdie Funktion x (t, t0, x0) auf einer offenen Teilmenge von Rn+2 definiert undstetig in (t, t0, x0).

Beweis. Betrachten wir eine neue Funktion y (t) = x (t+ t0) − x0, diedie folgende DGL erfullt:

y′ (t) = x′ (t+ t0) = f (t+ t0, x (t+ t0)) = f (t+ t0, y (t) + x0) .

143

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Betrachten wir die Variable s := (t0, x0) als einen Parameter der Dimensionn+ 1 und definieren eine Funktion F durch

F (t, y, s) = f (t+ t0, y + x0) .

Dann lost y (t) das Anfangswertproblemy′ = F (t, y, s)y (0) = 0.

Der Definitionsbereich der Funktion F enthalt den Punkt (t, y, t0, x0) ∈ R2n+2

genau dann, wenn(t+ t0, y + x0) ∈ Ω,

woraus folgt, dass der Definitionsbereich von F die offene Teilmenge vonR2n+2 ist, die das Urbild von Ω under der Abbildung (t, y, t0, x0) 7→ (t+ t0, y + x0)ist. Da die Funktion F (t, y, s) stetig in (t, y, s) und lokal Lipschitz-stetig iny ist, erhalten wir nach Satz 3.10, dass die maximale Losung y = y (t, s) aufeiner offenen Menge definiert und stetig in (t, s) ist. Somit ist die Funktionx (t, t0, x0) = y (t− t0, t0, x0) +x0 auch auf einer offenen Menge definiert undstetig in (t, t0, x0).

3.7 Differenzierbarkeit von Losungen in Parameter

3.7.1 Die Variationsgleichung

Betrachten wir wieder das Anfangswertproblem mit Parameter s ∈ Rmx′ = f(t, x, s),x (t0) = x0,

(3.47)

wobei f eine Abbildung von Ω nach Rn ist, Ω eine offene Teilmenge vonRn+m+1 ist, und

(t, x, s) = (t, x1, .., xn, s1, ..., sm) .

Wir benutzen die folgenden Bezeichnungen fur die Ableitung von f in x:

fx = ∂xf =∂f

∂x:=

(∂fi∂xk

),

wobei i = 1, ..., n der Zeilenindex und k = 1, ..., n der Spaltenindex sind, sodass fx eine n×n Matrix ist. Diese Matrix heißt auch die Jacobi-Matrix vonf in x. Analog definieren wir die Ableitung von f in s:

fs = ∂sf =∂f

∂s:=

(∂fi∂sl

),

144

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wobei i = 1, ..., n der Zeilenindex und l = 1, ...,m der Spaltenindex sind, sodass fs eine n×m Matrix ist. Wir betrachten die Ableitungen fx und fs alsFunktionen auf Ω mit Werten in jeweils Rn×n und Rn×m.

Nach Lemma 3.1, ist fx stetig in Ω, dann ist f lokal Lipschitz-stetig inx. In diesem Abschnitt setzen wir voraus, dass f , fx, fs stetig in Ω sind, sodass die obigen Ergebnisse verwendbar sind. Wir untersuchen die Existenzund die Eigenschaften der Ableitung y = ∂sx.

Sei x (t, s) die maximale Losung von (3.47). Nach Satz 3.10 ist der Defini-tionsbereich U von x (t, s) eine offene Teilmenge von Rm+1 und die Funktionx : U → Rn ist stetig.

Satz 3.12 (Hauptsatz) Angenommen, die Funktion f (t, x, s) ist in Ω stetigund stetig differenzierbar in x und s. Dann ist die Funktion x (t, s) stetigdifferenzierbar in (t, s) ∈ U und die Ableitung y = ∂sx lost das folgendeAnfangswertproblem

y′ = fx (t, x (t, s) , s) y + fs (t, x (t, s) , s) ,y (t0) = 0.

(3.48)

Wir beweisen diesen Satz spater. Die Ableitung ∂sx =(∂xk∂sl

)ist eine

n×m Jacobi-Matrix, wobei k = 1, .., n der Zeilenindex und l = 1, ...,m derSpaltenindex sind. Deshalb nimmt die Funktion y (t, s) = ∂sx die Werte inRn×m an. Die beiden Terme auf der rechten Seite von (3.48) sind auch n×mMatrizen: fs ist eine n×m Matrix nach Definition, und fxy ist das Produktvon der n × n Matrix fx und der n × m Matrix y, was wieder eine n × mMatrix ist.

Die Bezeichnung fx (t, x (t, s) , s) bedeutet, dass man erst die Ableitungfx (t, x, s) berechnet und danach den Wert von x = x (t, s) einsetzt. Diegleiche Erklarung gilt auch fur fs (t, x (t, s) , s).

Die DGL in (3.48) heißt die Variationsgleichung von der DGL x′ =f (t, x, s) entlang der Losung x (t, s).

Wir betonen, dass die Variationsgleichung linear ist. In der Tat fur jedess kann die Variationsgleichung in der Form

y′ = a (t) y + b (t)

geschrieben werden, wobei

a (t) = fx (t, x (t, s) , s) , b (t) = fs (t, x (t, s) , s) .

Die Funktionen a (t) und b (t) sind stetig, weil f und x (t, s) stetig sind. IstIs der Definitionsbereich der Losung t 7→ x (t, s), so ist Is × Rn×m der Def-initionsbereich der Variationsgleichung. Nach Satz 2.1 existiert die Losung

145

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y (t) von (3.48) auf dem ganzen Intervall Is. Deshalb kann den Satz 3.12 wiefolgt verstanden werden: sind x (t, s) die Losung von (3.47) auf Is und y (t)die Losung von (3.48) auf Is, dann gilt y (t) = ∂sx (t, s) fur alle t ∈ Is.

Somit liefert der Satz 3.12 die Methode fur Bestimmung der Ableitung∂sx (t, s) fur einen Wert von s, ohne die Losung x (t, s) fur alle s berechnenzu mussen.

Beispiel. Betrachten wir das Anfangswertproblem mit Parameterx′ = x2 + 2s/tx (1) = −1

im Bereich (0,+∞)×R×R (also, t > 0 und x, s sind beliebig reell). Berech-nen wir x (t, s) und ∂sx fur s = 0. Da die Funktion f (t, x, s) = x2 + 2s/tstetig differenzierbar in (x, s) ist, ist die Losung x (t, s) stetig differenzierbarin (t, s).

Fur s = 0 haben wir das AWPx′ = x2

x (1) = −1,

das man lost und erhalt x (t, 0) = −1t. Da fx = 2x und fs = 2/t, so erhalten

wir die Variationsgleichung entlang diese Losung

y′ =(fx (t, x, s)|x=− 1

t,s=0

)y +

(fs (t, s, x)|x=− 1

t,s=0

)= −2

ty +

2

t.

Das ist eine lineare Differentialgleichung der Form y′ = a (t) y + b (t) , dieman mit Hilfe der Identitat

y = eA(t)

∫e−A(t)b (t) dt

lost, wobei A (t) eine Stammfunktion von a (t) = −2/t ist (vgl. Satz 1.4).Setzen wir A (t) = −2 ln t ein und erhalten

y (t) = t−2

∫t2

2

tdt = t−2

(t2 + C

)= 1 + Ct−2.

Die Anfangsbedingung y (1) = 0 ist mit C = −1 erfullt, so dass y (t) = 1−t−2.Nach Satz 3.12 beschliessen wir, das ∂sx (t, 0) = 1− t−2.

Die Taylorentwicklung von x (t, s) erster Ordnung in s→ 0 ist wie folgt:

x (t, s) = x (t, 0) + ∂sx (t, 0) s+ o (s) fur s→ 0,

146

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also

x (t, s) = −1

t+

(1− 1

t2

)s+ o (s) fur s→ 0.

Deshalb erhalten wir fur kleine Werte von s eine Annaherung

x (t, s) ≈ −1

t+

(1− 1

t2

)s.

Spater werden wir die weiteren Terme in der Taylorentwicklung der Losungbestimmen.

Besprechen wir weiter die Variationsgleichung (3.48). Es ist einfach (3.48)zu gewinnen, vorausgesetzt, dass die gemischten Ableitungen ∂s∂tx und ∂t∂sxexistieren und sind gleich. Ableitung die Gleichung (3.47) in s mit Hilfe vonKettenregel ergibt

∂t∂sx = ∂s (∂tx) = ∂s [f (t, x (t, s) , s)] = fx (t, x (t, s) , s) ∂sx+fs (t, x (t, s) , s) ,

woraus (3.48) folgt nach Einsetzen ∂sx = y. Obwohl dieses Argument keinBeweis von Satz 3.12 ist, es hilft die Variationsgleichung zu erinnern.

Die Existenz und die Gleichheit der Ableitungen ∂t∂sx, ∂s∂tx gelten unterden Bedingungen von Satz 3.12, aber im Beweis erhalt man sie erst nach derVariationsgleichung11 (vgl. die Bemerkung nach dem Beweis).

Man kann die Variationsgleichung (3.48) auch durch die Linearisierung gewinnen,wie folgt. Fixieren wir den Wert s = s0 und setzen x (t) = x (t, s0). Da f (t, x, s) stetigdifferenzierbar in x und s ist und somit auch differenzierbar in (x, s), konnen wir fur jedest schreiben

f (t, x, s) = f (t, x (t) , s0) + fx (t, x (t) , s0) (x− x (t)) + fs (t, x (t) , s0) (s− s0) +R,

wobei R der Restterm ist, also

R = o (‖x− x (t)‖+ ‖s− s0‖) fur ‖x− x (t)‖+ ‖s− s0‖ → 0.

Ist s nahe bei s0, dann ist nach Satz 3.10 x (t, s) nahe bei x (t), und wir erhalten dieAnnaherung

f (t, x (t, s) , s) ≈ f (t, x (t) , s0) + a (t) (x (t, s)− x (t)) + b (t) (s− s0) ,

woraus folgt

x′ (t, s) ≈ f (t, x (t) , s0) + a (t) (x (t, s)− x (t)) + b (t) (s− s0) .

Die rechte Seite ist linear bezuglich x (t, s) , und diese Gleichung heißt die Linearisierungder DGL x′ = f (t, x, s) entlang die Losung x (t). Ersetzen f (t, x (t) , s0) mit x′ (t) und

11Man konnte die Identitat ∂t∂sx = ∂s∂tx mit Hilfe von Satz von Schwarz beschließen,indem man zunachst die Existenz und Stetigkeit der Ableitungen ∂t∂sx, ∂s∂tx zeigt, aberder Beweis von Stetigkeit liefert gleichzeitig auch die Identitat.

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dividieren durch s− s0 ergibt die folgende ungefahre Gleichung fur die Funktion z (t, s) =x(t,s)−x(t)

s−s0 :

z′ ≈ a (t) z + b (t) .

Die Ableitung y (t) = ∂sx|s=s0 = lims→s0 z (t, s) erfullt diese Gleichung exakt.

3.7.2 Hohere Ableitungen in s

Der folgende Satz erganzt den Satz 3.12 im Fall, wenn f die hoheren Ableitun-gen in s besitzt. Sei F eine Funktion von Variablen a, b, c,. . . . Wir schreiben

F ∈ Ck (a, b, ...) ,

wenn alle partiellen Ableitungen der Ordnung ≤ k von der Funktion F inVariablen a, b,... existieren und stetig im Definitionsbereich von F sind. Z.B.,den ersten Teil von Satz 3.12 schreibt man kurz in der Form

f (t, x, s) ∈ C1 (x, s)⇒ x (t, s) ∈ C1 (t, s) .

Satz 3.13 Angenommen, die Funktion f (t, x, s) ist stetig in Ω und f (t, x, s) ∈Ck (x, s) fur ein k ∈ N. Sei x (t, s) die maximale Losung von (3.47). Danngilt x (t, s) ∈ Ck (s). Außerdem gilt die folgende Identitat fur jeden Multiin-dex α = (α1, ..., αm) der Ordnung |α| ≤ k:

∂t∂αs x = ∂αs ∂tx. (3.49)

Ein Multiindex α ist eine Folge (α1, ..., αm) von m nicht-negativen ganzenZahlen αi, die Ordnung |α| von α ist durch |α| = α1 + ...+αm definiert, unddie Ableitung ∂αs ist durch

∂αs =∂|α|

∂sα11 ...∂s

αmm

definiert. Wir beweisen diesen Satz spater.Angenommen f ∈ C2 (x, s) und n = m = 1, bestimmen wir mit Hilfe von

Satz 3.13 die zweite Ableitung z = ∂ssx. Wir schreiben auch wie oberhalby = ∂sx. Die erste Ableitung der Gleichung ∂tx = f (t, x, s) in s ergibt

∂s∂tx = fx (t, x (t, s) , s) ∂sx+ fs (t, x (t, s) , s) ,

und nach der zweiten Ableitung erhalt man

∂2s∂tx = fx (t, x (t, s) , s) ∂ssx+fxx (t, x, s) (∂sx)2+fxs (t, x, s) ∂sx+fsx (t, x, s) ∂sx+fss (t, x, s) .

148

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Da nach (3.49) gilt ∂2s∂tx = ∂t∂

2sx = ∂tz, so erhalten wir fur z das An-

fangswertproblemz′ = fx (t, x, s) z + fxx (t, x, s) y2 + 2fxs (t, x, s) y + fss (t, x, s)z (t0) = 0.

(3.50)

Naturlich mussen uberall x und y jeweils durch x (t, s) und y (t, s) ersetztwerden.

Die Gleichung (3.50) heißt die zweite Variationsgleichung entlang dieLosung x (t, s). Sie ist eine lineare DGL und sie hat den gleichen Koeffizientfx (t, x (t, s) , s) vor der unbekannten Funktion, wie die erste Variationsgle-ichung. Analog bestimmt man die Variationsgleichungen hoherer Ordnungen.

Beispiel. Betrachten wir wieder das AWPx′ = x2 + 2s/tx (1) = −1.

Wir haben schon fur s = 0 die Losung und die Ableitung in s bestimmt:

x (t) := x (t, 0) = −1

tund y (t) := ∂sx (t, 0) = 1− 1

t2.

Jetzt bestimmen wir die zweite Ableitung z (t) = ∂ssx (t, 0). Da

fx = 2x, fxx = 2, fxs = 0, fss = 0,

ist die zweite Variationsgleichung wie folgt:

z′ =(fx|x=− 1

t,s=0

)z +

(fxx|x=− 1

t,s=0

)y2

= −2

tz + 2

(1− t−2

)2.

Die Losung der linearen Gleichung z′ = a (t) z + b (t) mit a (t) = −2t

und

b (t) = 2 (1− t−2)2

ist

z (t) = eA(t)

∫e−A(t)b (t) dt = t−2

∫2t2(1− t−2

)2dt

= t−2

(2

3t3 − 2

t− 4t+ C

)=

2

3t− 2

t3− 4

t+C

t2.

Die Anfangsbedingung z (1) = 0 ergibt C = 163

und somit

z (t) =2

3t− 4

t+

16

3t2− 2

t3.

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Dann ist die Taylorentwicklung von x (t, s) zweiter Ordnung in s → 0 wiefolgt:

x (t, s) = x (t) + y (t) s+1

2z (t) s2 + o

(s2)

= −1

t+(1− t−2

)s+

(1

3t− 2

t+

8

3t2− 1

t3

)s2 + o

(s2).

Jetzt besprechen wir eine alternative Methode fur Bestimmung der Variationsgle-ichungen erster und zweiter Ordnung. Wie zuvor, seien x (t), y (t) , z (t) jeweils x (t, 0),∂sx (t, 0) und ∂ssx (t, 0). Nach Taylor-Formel haben wir fur s→ 0

x (t, s) = x (t) + y (t) s+1

2z (t) s2 + o

(s2). (3.51)

Bestimmen wir die ahnliche Entwicklung fur x′ = ∂tx:

x′ (t, s) = x′ (t, 0) + ∂sx′ (t, 0) +

1

2∂ssx

′ (t, s) s2 + o(s2)

und bemerken, dass nach Satz 3.13

∂sx′ = ∂s∂tx = ∂t∂sx = y′

und analog∂ssx

′ = ∂sy′ = ∂t∂sy = z′,

woraus folgt

x′ (t, s) = x′ (t) + y′ (t) s+1

2z′ (t) s2 + o

(s2). (3.52)

Einsetzen (3.51) und (3.52) in die DGL

x′ = x2 + 2s/t

ergibt

x′ (t) + y′ (t) s+1

2z′ (t) s2 + o

(s2)

=

(x (t) + y (t) s+

1

2z (t) s2 + o

(s2))2

+ 2s/t

und somit

x′ (t) + y′ (t) s+1

2z′ (t) s2 = x2 (t) + 2x (t) y (t) s+

(y (t)

2+ x (t) z (t)

)s2 + 2s/t+ o

(s2).

Gleichsetzen die Terme mit den gleichen Potenzen von s (was gilt nach der Eindeutigkeitvon Taylorentwicklung) ergibt die folgenden Gleichungen

x′ (t) = x2 (t)

y′ (t) = 2x (t) y (t) + 2s/t

z′ (t) = 2x (t) z (t) + 2y2 (t) .

Aus der Anfangsbedingung x (1, s) = −1 erhalten wir

−1 = x (1) + sy (1) +s2

2z (1) + o

(s2),

150

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woraus folgtx (t) = −1, y (1) = z (1) = 0.

Die Losung von den obigen DGLen mit diesen Anfangsbedingungen ergibt die gleichen

Funktionen x (t) , y (t) , z (t) wie oberhalb.

3.7.3 Konvexitat und Hadamard-Lemma

Fur den Beweis von Satzen 3.12 und 3.13 brauchen wir einige Hilfssatze ausAnalysis.

Definition. Eine Menge K ⊂ Rn heißt konvex, falls x, y ∈ K ⇒ [x, y] ⊂ K;d.h. x, y ∈ K ergibt (1− λ)x+ λy ∈ K fur jedes λ ∈ [0, 1].

Beispiel. Jede Kugel in Rn (bezuglich einer beliebigen Norm) ist konvex(siehe Berechnung (3.4) nach dem Lemma 3.1). Man kann auch leicht zeigen,dass das kartesische Produkt von konvexen Mengen ist wieder konvex.

Lemma 3.14 (Hadamard-Lemma) Seien U eine offene konvexe Teilmengevon Rn und f (x) : U → Rl eine stetig differenzierbare Funktion. Dannexistiert eine stetige Abbildung ϕ (x, y) : U × U → Rl×n, die die folgendeIdentitat erfullt:

f (y)− f (x) = ϕ (x, y) (y − x) , (3.53)

fur alle x, y ∈ U (wobei ϕ (x, y) (y − x) das Produkt der l × n Matrix unddes Spaltenvektors der Dimension n ist).

Außerdem gilt fur alle x ∈ U die folgende Identitat

ϕ (x, x) = fx (x) . (3.54)

Bemerken wir, dass nach der Differenzierbarkeit von f

f (y)− f (x) = fx (x) (y − x) + o (‖y − x‖) fur y → x.

Die Identitat (3.53) bedeutet, dass die Term o (‖x− y‖) geloscht werdenkann, vorausgesetzt, dass fx (x) durch eine stetige Funktion ϕ (x, y) ersetztwird.

Betrachten wir die einfachen Beispiele von Funktionen f (x) im Fall n =l = 1. Fur f (x) = x2 haben wir

f (y)− f (x) = (y + x) (y − x)

so dass (3.53) gilt mit ϕ (x, y) = y + x. Insbesondere gilt ϕ (x, x) = 2x =f ′ (x). Analog haben wir fur f (x) = xk mit k ∈ N:

f (y)− f (x) =(xk−1 + xk−2y + ...+ yk−1

)(y − x) ,

151

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so dass ϕ (x, y) = xk−1 + xk−2y + ...+ yk−1 und ϕ (x, x) = kxk−1 = f ′ (x) .Im Fall n = l = 1 ist der Beweis von Hadamard-Lemma einfach, weil man

die Funktion ϕ wie folgt definieren kann:

ϕ (x, y) =

f(y)−f(x)y−x , y 6= x,

f ′ (x) , y = x,

die offensichtlich die beiden Identitaten (3.53) und (3.54) erfullt. Es bleibtnur zu zeigen, dass ϕ stetig ist. Die Funktion ϕ is offensichtlich stetig injedem Punkt (x, y) mit x 6= y. Sie ist auch stetig in (x, x) weil fur jede Folge(xk, yk) mit (xk, yk)→ (x, x) fur k →∞ gilt

ϕ (xk, yk) =

f(yk)−f(xk)yk−xk

, xk 6= yk,

f ′ (xk) , xk = yk,= f ′ (ξk)→ f ′ (x) = ϕ (x, x) ,

wobei nach dem Mittelwertsatz ξk ∈ [xk, yk], also ξk → x und f ′ (ξk)→ f ′ (x)nach der Stetigkeit von f ′ (x).

Dieses Argument funktioniert fur n > 1 nicht, weil man im Fall n > 1durch y − x nicht dividieren kann. Im allgemeinen Fall benutzt man eineandere Methode. Daruber hinaus brauchen wir eine Verallgemeinerung vonHadamard-Lemma, wenn die Funktion f von (t, x) abhangt, nicht nur vonx.

Lemma 3.15 (Verallgemeinerung von Hadamard-Lemma) Sei Ω eine offeneTeilmenge von Rn+1 so dass fur jedes t ∈ R die Menge

Ωt = x ∈ Rn : (t, x) ∈ Ω

konvex ist (vgl. Fig. ??). Sei f : Ω → Rl eine stetige Funktion, die in xstetig differenzierbar ist. Setzen wir

Ω′ =

(t, x, y) ∈ R2n+1 : t ∈ R, x, y ∈ Ωt

=

(t, x, y) ∈ R2n+1 : (t, x) ∈ Ω, (t, y) ∈ Ω

.

Dann existiert eine stetige Abbildung ϕ (t, x, y) : Ω′ → Rl×n, die die folgendeIdentitat erfullt

f (t, y)− f (t, x) = ϕ (t, x, y) (y − x) (3.55)

fur alle (t, x, y) ∈ Ω′. Außerdem gilt fur alle (t, x) ∈ Ω die folgende Identitat

ϕ (t, x, x) = fx (t, x) . (3.56)

152

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Z.B., fur die Menge Ω = I × U , wobei I ein Intervall ist und U ⊂ Rn,erhalten wir

Ωt =

U, t ∈ I∅, t /∈ I

und Ω′ = I × U × U . Ist die Funktion f (t, x) unabhangig von t und somitin einer Menge Ω = R × U mit U ⊂ Rn definiert, so fuhrt sich Lemma 3.15auf Lemma 3.14 zuruck.

Beweis von Lemma 3.15. Die Identitat (3.55) ist aquivalent zu

fk (t, y)− fk (t, x) =n∑i=1

ϕki (t, x, y) (yi − xi) ,

fur alle k = 1, ..., l. Offensichtlich lasst sich jedes k unabhangig von an-deren Werten behandeln. Fixieren wir ein k und setzen fk ≡ f , ϕki ≡ ϕi.Aquivalent bedeutet es, dass wir weiter den Fall l = 1 betrachten (naturlichohne Beschrankung der Allgemeinheit).

Somit ist jetzt f eine reellwertige Funktion, und wir mussen beweisen,dass es n reellwertige stetige Funktionen ϕ1, ..., ϕn auf Ω′ gibt, die die folgendeIdentitat erfullen

f (t, y)− f (t, x) =n∑i=1

ϕi (t, x, y) (yi − xi) , (3.57)

fur alle (t, x, y) ∈ Ω′. Fixieren wir einen Punkt (t, x, y) ∈ Ω′ und betrachtendie Funktion

F (λ) = f (t, x+ λ (y − x))

fur λ ∈ [0, 1]. Da x, y ∈ Ωt und Ωt konvex ist, so liegt der Punkt x +λ (y − x) = (1− λ)x+ λy in Ωt. Dann gilt (t, x+ λ (y − x)) ∈ Ω und somitist die Funktion F (λ) wohldefiniert fur alle λ ∈ [0, 1].

Offensichtlich gilt F (0) = f (t, x), F (1) = f (t, y). Nach der Kettenregelist die Funktion F (λ) stetig differenzierbar und

F ′ (λ) =n∑i=1

fxi (t, x+ λ (y − x)) (yi − xi) .

153

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Nach Fundamentalsatz der Analysis erhalten wir

f (t, y)− f (t, x) = F (1)− F (0)

=

∫ 1

0

F ′ (λ) dλ

=n∑i=1

∫ 1

0

fxi (t, x+ λ (y − x)) (yi − xi) dλ

=n∑i=1

ϕi (t, x, y) (yi − xi) ,

wobei

ϕi (t, x, y) =

∫ 1

0

fxi (t, x+ λ (y − x)) dλ. (3.58)

Somit gilt die Identitat (3.57). Fur x = y erhalten wir

fxi (t, x+ λ (y − x)) = fxi (t, x) ,

woraus folgt

ϕi (t, x, x) =

∫ 1

0

fxi (t, x) dλ = fxi (t, x)

und somit ϕ (t, x, x) = fx (t, x), also (3.56).Um die Stetigkeit von ϕi zu beweisen, bemerken wir zunachst, dass Ω′

eine offene Teilmenge von R2n+1 ist, da Ω′ das Vorbild von Ω× Ω unter derstetigen Abbildung

(t, x, y) 7→ ((t, x) , (t, y))

ist. Offensichtlich ist fxi (t, x+ λ (y − x)) eine stetige Funktion von (t, x, y, λ) ∈Ω′ × [0, 1]. Nach Integration in λ (vgl. (3.58)) erhalt man eine stetige Funk-tion von (t, x, y), was zu beweisen war.

Der Vollstandigkeit halber beweisen wir die letzte Behauptung, die zu Analysis IIgehort (vgl. Lemma 1.10).

Lemma Sei f (v, λ) eine reellwertige stetige Funktion auf V × [a, b], wobei V eine offeneTeilmenge von Rk ist, v ∈ V und λ ∈ [a, b]. Dann ist die Funktion

ϕ (v) =

∫ b

a

f (v, λ) dλ

stetig in v ∈ V .Beweis. Sei vk∞k=1 eine Folge in V , die gegen einen Punkt v ∈ V konvergiert. Da

V offen ist, existiert ein ε > 0 so dass B (v, ε) ⊂ V . Es folgt aus vk → v, dass alle Punktevk mit genugend großen k in der Kugel B (v, ε) liegen. Da f stetig auf V × [a, b] ist,

154

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ist f gleichmaßig stetig auf jeder kompakten Teilmenge von V × [a, b], insbesondere aufB (v, ε)× [a, b] . Daraus folgt, dass

f (vk, λ) ⇒ f (v, λ) fur k →∞,

wobei das Zeichen ⇒ die gleichmaßige Konvergenz bezuglich λ ∈ [a, b] bezeichnet. Da dasIntegralzeichen und die gleichmaßige Konvergenz vertauschbar sind, erhalten wir

ϕ (vk) =

∫ b

a

f (vk, λ) dλ→∫ b

a

f (v, λ) dλ = ϕ (v) ,

also ϕ stetig ist, was zu beweisen war.

Bemerkung. Man kann auch zeigen, dass ϕ (x, y) in (x, y) k-fach stetigdifferenzierbar ist, vorausgesetzt, dass f (t, x) in x (k + 1)-fach stetig dif-ferenzierbar ist.

3.7.4 Beweise von Satzen 3.12 und 3.13

Beweis von Satz 3.12. Erinnern wir uns daran, dass x (t, s) die maximaleLosung des Anfangswertproblems (3.47) ist, die auf einer offenen Teilmengevon Rm+1 definiert und stetig ist (vgl. Satz 3.10). Im Hauptteil von Beweiszeigen wir, dass alle partielle Ableitungen ykj = ∂sjxk existieren und diefolgende DGL erfullen:

∂tykj =n∑i=1

∂xifk (t, x (t, s) , s) yij + ∂sjfk (t, x (t, s) , s) . (3.59)

Offensichtlich ist die Existenz von der Ableitung ∂sjx unabhangig fur ver-schiedene Werte von j. Auch die Gleichungen (3.59) sind unabhangig furverschiedene Werte von j. Somit konnen wir in diesem Teil von Beweise denIndex j fixieren und ohne Beschrankung der Allgemeinheit m = 1 setzen.Um die Stetigkeit von Ableitungen ∂sjxk in (t, s) zu beweisen, werden wiram Ende zu den allgemeinen Werten von m zuruckkehren.

Fixieren wir einen Wert s0 des Parameters s und beweisen zunachst, dassdie Ableitung ∂sx (t, s) existiert in s = s0. Dafur betrachten wir den Dif-ferenzenquotient

z (t, s) =x (t, s)− x (t, s0)

s− s0

und bemerken, dass

z′ =x′ (t, s)− x′ (t, s0)

s− s0

=f (t, x (t, s) , s)− f (t, x (t, s0) , s0)

s− s0

155

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Weiter verwenden wir das Hadamard-Lemma 3.15 um die Differenz im Zahlerbequem darzustellen. Damit werden wir eine DGL fur z ermitteln und mitHilfe von der DGL zeigen, dass lims→s0 z (t, s) existiert.

Um Lemma 3.15 verwenden zu konnen, brauchen wir eine offene Teil-menge W ⊂ Ω mit den Eigenschaften:

• die Schnittmenge Wt ist konvex fur alle t;

• (t, x (t, s) , s) ∈ W fur alle s in einer Umgebung von s0.

Wir bilden die Menge W mit diesen Eigenschaften wie folgt. Sei [α, β]ein beschranktes abgeschlossenes Teilintervall von Is0 , wobei Is0 der Defini-tionsbereich der Losung x (t, s0) ist. Es reicht zu beweisen, dass ∂sx (t, s)existiert in s = s0 fur jedes t ∈ (α, β). Wir nehmen immer an, dass (α, β)den Punkt t0 enthalt. Nach dem Beweis von Satz 3.10 existieren hinreichendkleine ε > 0 und δ > 0 mit den folgenden Eigenschaften: die Menge

V =

(t, x) ∈ Rn+1 : α < t < β, ‖x− x (t, s0)‖ < ε

=

(t, x) ∈ Rn+1 : α < t < β, x ∈ B (x (t, s0) , ε)

ist eine Teilmenge von Ωs0 , die Losung t 7→ x (t, s) ist fur jedes s ∈ (s0 − δ, s0 + δ)auf dem Intervall (α, β) definiert, und der Graph dieser Losung liegt in V .

Setzen wir jetztW := V × (s0 − δ, s0 + δ)

und bemerken, dass W offen ist und in Ω liegt fur hinreichend kleines δ. Esfolgt, dass fur t ∈ (α, β)

Wt = B (x (t, s0) , ε)× (s0 − δ, s0 + δ)

und Wt = ∅ fur t /∈ (α, β). Wir konnen die ∞-norm in allen Raumen Rk furdie Definition der Kugel benutzen. In diesem Fall ist das Produkt zweierKugel wieder eine Kugel. Dann ist die Menge Wt eine Kugel in Rn+1 undsomit konvex.

Da die Funktion f (t, x, s) stetig in (t, x, s) und stetig differenzierbar in(x, s) ist, so ist Lemma 3.15 verwendbar mit Funktion f (t, x, s) im Defini-tionsbereich W , mit dem Parameter t und Funktionsargument (x, s). Nachdem Lemma 3.15 erhalten wir die Identitat

f (t, y, s)− f (t, x, s0) = Φ (t, x, s0, y, s)

(y − xs− x0

)

156

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fur alle (t, y, s) , (t, x, s0) ∈ W , wobei Φ eine stetige Funktion12 ist. Der Wertvon Φ ist eine n× (n+ 1) Matrix. Stellen wir diese Matrix dar wie folgt:

Φ = (ϕ | ψ) ,

wobei ψ die letzte Spalte von Φ ist und ϕ die restliche n×n Matrix. Darausfolgt, dass

f (t, y, s)− f (t, x, s0) = ϕ (t, x, s0, y, s) (y − x) + ψ (t, x, s0, y, s) (s− s0) .

Insbesondere erhalten wir fur x = x (t, s0) und y = x (t, s):

f (t, x (t, s) , s)− f (t, x (t, s0) , s0) = ϕ (t, x (t, s0) , s0, x (t, s) , s) (x (t, s)− x (t, s0))

+ψ (t, x (t, s0) , s0, x (t, s) , s) (s− s0)

= a (t, s) (x (t, s)− x (t, s0)) + b (t, s) (s− s0) ,

wobei the Funktionen

a (t, s) = ϕ (t, x (t, s0) , s0, x (t, s) , s) und b (t, s) = ψ (t, x (t, s0) , s0, x (t, s) , s)(3.60)

stetig in (t, s) ∈ (α, β)× (s0 − δ, s0 + δ) sind (und s0 immer fixiert ist).Fur alle s ∈ (s0 − δ, s0 + δ) \ s0 und t ∈ (α, β) definieren wir die Funk-

tion

z (t, s) =x (t, s)− x (t, s0)

s− s0

(3.61)

und bemerken, dass nach (3.47) und (3.60),

z′ =x′ (t, s)− x′ (t, s0)

s− s0

=f (t, x (t, s) , s)− f (t, x (t) , s0)

s− s0

= a (t, s) z + b (t, s) .

Da auch z (t0, s) = 0 gilt (weil x (t0, s) = x (t0, s0) = x0), so lost die Funktionz (t, s) fur jedes s ∈ (s0 − δ, s0 + δ) \ s0 das Anfangswertproblem

z′ = a (t, s) z + b (t, s)z (t0, s) = 0.

(3.62)

12Der Definitionsbereich der Funktion Φ (t, x, r, y, s) ist die Menge

W ′ = (t, x, r, y, s) : (t, x, r) ∈W, (t, y, s) ∈W= (t, x, r, y, s) : α < t < β, ‖x− x (t, s0)‖ < ε, ‖y − x (t, s0)‖ < ε, |r − s0| < δ, |s− s0| < δ

157

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Da die DGL (3.62) linear ist und the Funktionen a und b stetig in

(t, s) ∈ (α, β)× (s0 − δ, s0 + δ) (3.63)

sind, so erhalten wir nach Satz 2.1 (Picard-Lindelof fur lineare Systeme),dass die Losung des AWPs (3.62) fur alle s ∈ (s0 − δ, s0 + δ) und t ∈ (α, β)existiert und eindeutig ist. Bezeichnen wir jetzt mit z (t, s) die Losung von(3.62), die als Funktion von (t, s) im Bereich (3.63) definiert ist, und be-merken, dass nach Satz 3.10 die Funktion z (t, s) stetig in diesem Bereich ist.Andererseits ist die Losung von (3.62) fur s 6= s0 durch (3.61) gegeben. Nachder Stetigkeit von z (t, s) in s erhalten wir

∂sx (t, s) |s=s0 = lims→s0

x (t, s)− x (t, s0)

s− s0

= lims→s0

z (t, s) = z (t, s0) .

Es folgt, dass die Ableitung y (t) = ∂sx (t, s) |s=s0 existiert und mit z (t, s0)ubereinstimmt, also y (t) erfullt das Anfangswertproblem (3.62) mit s = s0:

y′ = a (t, s0) y + b (t, s0) ,y (t0) = 0.

(3.64)

Nach (3.60) und Lemma 3.15 erhalten wir

(a (t, s0) | b (t, s0)) = (ϕ (t, x (t, s0) , s0, x (t, s0) , s0) | ψ (t, x (t, s0) , s0, x (t, s0) , s0))

= Φ (t, x (t, s0) , s0, x (t, s0) , s0)

= f(x,s) (t, x (t, s0) , s0)

= (fx (t, x (t, s0) , s0) | fs (t, x (t, s0) , s0))

und somita (t, s0) = fx (t, x (t, s0) , s0)

undb (t, s0) = fs (t, x (t, s0) , s0) .

Einsetzen in (3.64) ergibt die Variationsgleichung (3.48) fur y (t).Es bleibt noch zu zeigen, dass die Funktion x (t, s) stetig differenzierbar

in (t, s) ist, d.h. die Ableitungen ∂tx und ∂sx stetig sind. Dafur kehrenwir zum allgemeinen Fall s ∈ Rm zuruck, da die Stetigkeit bezuglich allerKomponenten von (t, s) bewiesen werden soll. Die Ableitung ∂sx = y erfulltdie Variationsgleichung (3.48), also

∂ty = fx (t, x (t, s) , s) y + fs (t, x (t, s) , s) (3.65)

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und ist somit stetig in (t, s) nach dem Satz 3.10. Die Ableitung ∂tx erfulltdie Identitat

∂tx = f (t, x (t, s) , s) , (3.66)

woraus die Stetigkeit von ∂tx in (t, s) folgt.Beweis von Satz 3.13. Induktion nach k. Fur dem Induktionsanfang

mit k = 1 haben wir x ∈ C1 (s) nach dem Satz 3.12. Es folgt aus der DGL(3.66), dass ∂tx differenzierbar in s ist, und wir erhalten nach der Kettenregel

∂s (∂tx) = ∂s [f (t, x (t, s) , s)] = fx (t, x (t, s) , s) ∂sx+ fs (t, x (t, s) , s) .(3.67)

Andererseits die Variationsgleichung (3.65) ergibt

∂t (∂sx) = ∂ty = fx (t, x (t, s) , s) ∂sx+ fs (t, x (t, s) , s) , (3.68)

und wir beschliessen nach dem Vergleich von (3.67) und (3.68), dass

∂s∂tx = ∂t∂sx. (3.69)

Induktionsschritt von k−1 nach k fur k ≥ 2. Angenommen f ∈ Ck (x, s) , wirhaben auch f ∈ Ck−1 (x, s) und erhalten nach der Induktionsvoraussetzung,dass x ∈ Ck−1 (s). Setzen wir y = ∂sx und benutzen die Variationsgleichungvon Satz 3.12:

y′ = fx (t, x, s) y + fs (t, x, s) ,y (t0) = 0,

(3.70)

wobei x = x (t, s). Da fx, fs ∈ Ck−1 (x, s) und x (t, s) ∈ Ck−1 (s), sobeschließen wir, das die Verkettungen fx (t, x (t, s) , s) und fs (t, x (t, s) , s)von der Klasse Ck−1 (s) sind. Deshalb ist die rechte Seite von (3.70) von derKlasse Ck−1 (y, s), und nach der Induktionsvoraussetzung erhalten wir, dassy ∈ Ck−1 (s). Daraus folgt, dass x ∈ Ck (s).

Jetzt beweisen wir die Identitat (3.49). Sei α = (α1, ..., αm) ein Multiin-dex mit 0 < |α| ≤ k. Wahlen wir einen Index i ∈ 1, ...,m mit αi ≥ 1 ausund bezeichnen mit β den Index

β = (α1, ..., αi−1, αi − 1, αi+1, ..., αm) ,

wobei 1 nur an der Stelle i subtrahiert wird. Dann gilt die Identitat ∂αs =∂βs ∂si von Differentialoperatoren auf alle Funktionen von Ck (s). Da

∂tx = f (t, x (t, s) , s) ∈ Ck (s) ,

erhalten wir nach (3.69)

∂αs ∂tx = ∂βs ∂si∂tx = ∂βs ∂t∂six = ∂βs ∂tyi,

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wobei yi = ∂six die i-te Spalte der Matrix y = ∂sx ist. Nach der Variations-gleichung (3.70) erfullt yi die folgende DGL

∂tyi = fx (t, x, s) yi + fsi (t, x, s) , (3.71)

wobei die rechte Seite zur Ck−1 (y, s) gehort. Da |β| ≤ k − 1, erhalten wirnach der Induktionsvoraussetzung fur die DGL (3.71), dass

∂βs ∂tyi = ∂t∂βs yi,

woraus folgt∂αs ∂tx = ∂t∂

βs yi = ∂t∂

βs ∂six = ∂t∂

αs x.

4 Autonome Systeme und Stabilitat von Losungen

4.1 Autonome DGLen

Eine autonome DGL ist die DGL der Form

x′ = f (x) (4.1)

wobei die Funktion keine explizite Abhangigkeit von t enthalt. Die Funktionf (x) ist auf einer offenen Menge Ω ⊂ Rn definiert und nimmt die Werte inRn an. Der Definitionsbereich der DGL (4.1) ist somit R× Ω. Wir nehmenimmer an, dass f lokal Lipschitz-stetig ist, so dass Satz 3.3 (Picard-Lindelof)gilt.

Die Menge Ω heißt der Phasenraum (oder Zustandraum) von (4.1). Jedemaximale Losung x : I → Ω (wobei I ein offenes Intervall ist) bestimmteine Phasenkurve oder eine Trajektorie von (4.1), die nach Definition dieMenge x (t) ∈ Ω : t ∈ I ist. Die Gesamtheit von allen Trajektorien heißtdas Phasendiagramm von (4.1).

Erinnern wir und daran, dass der Graph von jeder Losung, d.h. dieIntegralkurve (t, x (t)) : t ∈ I, eine Teilmenge des Definitionsbereiches R×Ω ist. Offensichtlich ist die Phasenkurve die Projektion der Integralkurve aufΩ.

Die Unabhangigkeit der Funktion f von t impliziert die folgenden Eigen-schaften der Losungen.

Lemma 4.1 Sei f : Ω→ Rn eine lokal Lipschitz-stetige Funktion.

1. Ist x (t) eine Losung von (4.1), so ist auch die Funktion t 7→ x (t+ a)eine Losung von (4.1) fur jedes a ∈ R.

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2. Fur jeden Punkt x0 ∈ Ω existiert genau eine Phasenkurve durch x0, biszur Zeitverschiebung.

3. Sei x0 ∈ Ω. Die konstante Funktion x (t) ≡ x0 ist eine Losung vonx′ = f (x) genau dann, wenn f (x0) = 0.

Beweis. Die Punkte 1 und 3 sind trivial. Beweisen wir den Punkt2. Die Existenz folgt aus Satz 3.3 (Picard-Lindelof). Angenommen, zweiPhasenkurven gehen durch einen Punkt. Seien x (t) und y (t) die entsprechen-den Losungen. Dann gilt x (t1) = y (t2) fur einige Werte t1, t2. Betrachten wirdie Losungen x (t) = x (t+ t1) und y (t) = y (t+ t2) . Dann gilt x (0) = y (0) ,woraus folgt die Gleichheit x (t) ≡ y (t) fur alle t nach Satz 3.3. Dahererhalten wir x (t) ≡ y (t+ t2 − t1), was zu beweisen war.

Definition. Jede Nullstelle von f heißt Ruhelage der DGL x′ = f (x).

Dann ist jede Ruhelage eine konstante Losung, was diese Bezeichnungerklart. Es ist haufig der Fall, dass die Ruhelagen eines Systems die Formdes Phasendiagramms bestimmen.

Beispiel. Betrachten wir das Normalsystemx′ = y + xyy′ = −x− xy (4.2)

die teilweise gelost werden kann, wie folgt. Dividieren die Gleichungen ergibtdie trennbare DGL fur y = y (x)

dy

dx= −x (1 + y)

y (1 + x),

woraus folgt ∫ydy

1 + y= −

∫xdx

1 + x

undy − ln |y + 1|+ x− ln |x+ 1| = C. (4.3)

Definition. Eine Ruhelage x0 des Systems x′ = f (x) heißt Ljapunow-stabilwenn fur jedes ε > 0 existiert δ > 0 derart, dass jede maximale Losung x (t)mit ‖x (0)− x0‖ < δ fur alle t ≥ 0 definiert ist und die folgende Ungleichungerfullt:

supt∈[0,+∞)

‖x (t)− x0‖ < ε. (4.4)

161

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Sonst heißt x0 instabil.

Also, die Ljapunow-Stabilitat bedeutet, dass

x (0) ∈ B (x0, δ) =⇒ x (t) ∈ B (x0, ε) fur alle t ≥ 0.

Fur ein beschranktes Intervall [0, T ] gilt es immer, dass

x (0) ∈ B (x0, δ) =⇒ x (t) ∈ B (x0, ε) fur alle t ∈ [0, T ] ,

was aus Korollar 3.11 folgt. Deshalb ist die Hauptfrage der Ljapunow-Stabilitat das Verhalten der Losung fur t→ +∞.

Definition. Eine Ruhelage x0 des Systems x′ = f (x) heißt asymptotischstabil wenn x0 Ljapunow-stabil ist und attraktiv, d.h.

x (t)→ x0 as t→ +∞,

vorausgesetzt ‖x (0)− x0‖ hinreichend klein ist.

Die Ljapunow-Stabilitat und die asymptotische Stabilitat sind unabhangigvon der Wahl der Norm, da alle Normen in Rn aquivalent sind.

Bemerkung. Der Begriff von Stabilitat lasst sich auch fur beliebige Losungx (t) des Systems x′ = f (t, x) definieren. Dann bedeutet die Ljapunow-Stabilitat von x (t), dass die kleinen Storungen des Anfangswerts x (0) zukleinen Storungen von x (t) fur alle t > 0 fuhren. Die asymptotische Stabilitatbedeutet zusatzlich, dass bei kleinen Storungen von x (0) die Losung x (t) furt→∞ praktisch unverandert bleibt.

Die Stabilitat der bestimmten physikalischen Systems hat die große Be-deutung fur die Menschheit, z.B. die Stabilitat des Sonnensystems. Diematematische Untersuchung der Stabilitat solches komplizierten Systems kannextrem schwierig sein. Die Stabilitat von bestimmten Modellen des Son-nensystems wurde von verschiedenen Mathematikern (Laplace, Lagrange,Gauss, Poincare, Kolmogorov, Vladimir Arnold and Jurgen Moser) bewiesen,aber die Modelle gelten fur hochstens 100 Millionen Jahre, und was passiertdanach ist unklar.

4.2 Stabilitat eines linearen Systems

Fur jedes lineares System x′ = Ax, wobei A ∈ Rn×n, ist offensichtlich x = 0eine Ruhelage.

Satz 4.2 Betrachten wir das System x′ = Ax mit A ∈ Rn×n und setzen

α = max Reλ : λ ist ein Eigenwert von A .

162

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• Gilt α < 0, so ist 0 asymptotisch stabil (und somit auch Ljapunow-stabil) fur das System x′ = Ax.

• Gilt α ≥ 0, so ist 0 nicht asymptotisch stabil.

• Gilt α > 0, so ist 0 instabil.

Im Fall α = 0 kann man die Ljapunow-Stabilitat nicht eindeutig bestim-men, wie die Beispiele zeigen.

Den Satz 4.2 beweisen wir spater. Jetzt betrachten wir den Fall n = 2,wenn die vollstandige Klassifikation der Fallen von Stabilitat moglich ist,sowohl auch die Beschreibung von den Phasendiagrammen.

Seien A ∈ R2×2, b = b1, b2 die Jordan-Basis von A, und Ab die Jordan-Normalform von A in dieser Basis. Betrachten wir zunachst den Fall, wenn

Ab = diag (λ1, λ2) .

Dann sind b1 und b2 die Eigenvektoren mit den Eigenwerten jeweils λ1 undλ2, und nach dem Satz 2.18 die allgemeine Losung ist

x (t) = C1eλ1tb1 + C2e

λ2tb2,

also in der Basis bx (t) =

(C1e

λ1t, C2eλ2t)

(4.5)

und x (0) = (C1, C2). Daraus folgt, dass

‖x (t)‖∞ = max(∣∣C1e

λ1t∣∣ , ∣∣C2e

λ2t∣∣) = max

(|C1| eReλ1t, |C2| eReλ2t

)≤ ‖x (0) ‖∞eαt,

(4.6)wobei

α = max (Reλ1, Reλ2) .

Ist α ≤ 0, so gilt‖x (t) ‖∞ ≤ ‖x (0) ‖

woraus die Ljapunow-Stabilitat folgt.Fur α < 0 gilt asymptotische Stabilitat nach dem Satz 4.2, aber man

sieht es auch aus (4.6), dass x (t)→ 0 fur t→ +∞.Ist α > 0, so ergibt der Satz 4.2 die Instabilitat (gleiches kann man auch

aus (4.5) bekommen).Zeichnen wir das Phasendiagramm des Systems x′ = Ax unter der obigen

Voraussetzungen in den verschiedenen Fallen.Fall λ1, λ2 sind reell.

163

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Fur die Komponenten x1 (t) und x2 (t) der Losung x (t) in der Basisb1, b2 haben wir

x1 = C1eλ1t und x2 = C2e

λ2t.

Im Fall λ1, λ2 6= 0 erhalten wir die folgende Beziehung zwischen x1 und x2:

x2 = C |x1|γ , (4.7)

wobei γ = λ2/λ1. Das Phasendiagramm besteht aus den Kurven (4.7) sowohlauch aus den Halbachen x1 > 0, x1 < 0, x2 > 0, x2 < 0, die den Nullwertenvon C2 und C1 entsprechen.

Ist γ > 0 (d.h. λ1 und λ2 haben gleiches Vorzeichen), so heißt der Typvon Ruhelage der Knoten. Man nennt das entsprechende Phasendiagrammauch der Knoten. Der Knoten ist (und heißt) stabil falls λ1, λ2 < 0, undinstabil falls λ1, λ2 > 0.

Ist γ < 0 (d.h. λ1 und λ2 haben verschiedene Vorzeichen), so heißt derTyp von Ruhelage der Sattel. Der Sattel ist immer instabil, da α > 0.

Ist einer (oder die beiden) von λ1, λ2 gleich 0, dann heißt der Typ vonRuhelage ausgeartet. Das Phasendiagramm besteht aus den parallelen Ger-aden oder einzelnen Punkten). Zum Beispiel, im Fall λ1 6= 0, λ2 = 0 erhaltenwir

x (t) =(C1e

λ1t, C2

)so dass die Phasenkurven die horizontalen Geraden sind. Im Fall λ1 = λ2 = 0erhalten wir x (t) = (C1, C2) so dass die Phasenkurven die einzelnen Punktesind.

Fall λ1 und λ2 sind imaginar, also λ1 = α − iβ und λ2 = α + iβ, wobeiα, β ∈ R, und β 6= 0.

Sei b1 = u + iv mit u, v ∈ R2. Nach dem Korollar 2.19 erhalten wir dieallgemeine reelle Losung

x (t) = C1Re(e(α−iβ)tb1

)+ C2Im

(e(α−iβ)tb1

)= C1e

αtRe (cos βt− i sin βt) (u+ iv) + C2eαtIm (cos βt− i sin βt) (u+ iv)

= eαt (C1 cos βt− C2 sin βt)u+ eαt (C1 sin βt+ C2 cos βt) v

= Ceαt cos (βt+ ψ)u+ Ceαt sin (βt+ ψ) v,

wobei C =√C2

1 + C22 und

cosψ =C1

C, sinψ =

C2

C.

Diese Losung hat die folgenden Polarkoordinaten in der Ebene mit der karte-sischen Basis (u, v):

r (t) = Ceαt und θ (t) = βt+ ψ.

164

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Ist α 6= 0 so bestimmen diese Gleichungen eine logarithmische Spirale, undder Typ von der Ruhelage 0 heißt auch Spirale. De Spirale ist stabil, fallsα < 0 und instabil falls α > 0. Ist α = 0 (d.h. λ1 = iβ und λ2 = −iβ), so istdie allgemeine Losung durch r (t) = C gegeben, was die konzentrischen Kreis-linien ergibt. In diesem Fall heißt der Typ von Ruhelage das Zentrum. DasZentrum ist Ljapunow-stabil aber nicht asymptotisch stabil. Jetzt betrachtenwir den Fall, wenn Ab keine Diagonalmatrix ist, d.h. Ab ein Jordanblock ist:

Ab =

(λ 10 λ

).

In diesem Fall ist λ unbedingt reell, weil sonst die Matrix A auch den Eigen-wert λ besitzen muss. Nach dem Satz 2.25 erhalten wir die allgemeine Losung

x (t) = C1eλtb1 + C2e

λt (b2 + tb1) .

In der Basis b hat x (t) die folgende Komponenten:

x (t) =((C1 + C2t) e

λt, C2eλt). (4.8)

Ist λ < 0 so ist die Ruhelage asymptotisch stabil nach Satz 4.2 (oder kanndirekt gesehen werden). Im Fall λ ≥ 0 ist die Ruhelage instabil, da fur C1 = 0und C2 > 0 erhalten wir

‖x (t) ‖∞ ≥ C2teλt,

so dass ‖x (t)‖∞ →∞ fur t→ +∞.Zeichen wir jetzt das Phasendiagramm. Im Fall λ 6= 0 erhalten wir aus

(4.8)

t =1

λlnx2

C2

,

woraus folgt

x1 = C1eλt + C2te

λt =C1

C2

x2 +1

λ

(lnx2

C2

)x2

= Cx2 +1

λ(ln |x2|)x2

mit C = C1

C2− 1

λln |C2|. In diesem Fall heißt der Typ von Ruhelage auch der

Knoten. Dieser Knoten ist asymptotisch stabil falls λ < 0 und instabil fallsλ > 0.

Im Fall λ = 0 erhalten wir

x (t) = (C1 + C2t, C2) ,

165

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was ein ausgeartetes Phasendiagramm ist – eine Menge von parallelen Ger-aden.

Anbei ist die Zusammenfassung von Typen der Ruhelagen in R2:

• Knoten: λ1, λ2 sind reell und λ1λ2 > 0 (inklusive zwei Falle fur Ab:Diagonalmatrix und Jordan-Block). Der Knoten ist asymptotisch stabilfalls λ1, λ2 < 0 und instabil falls λ1, λ2 > 0.

• Sattel : λ1, λ2 sind reell und λ1λ2 < 0 (immer instabil).

• Spirale : Imλ 6= 0 und Reλ 6= 0 (asymptotisch stabil falls Reλ < 0und instabil falls Reλ > 0).

• Zentrum: Imλ 6= 0 und Reλ = 0 (Ljapunow-stabil, aber nicht asymp-totisch).

• Ausgearteter Typ: λ1λ2 = 0, wenn das Phasendiagramm aus parallelenGeraden oder Punkten besteht (instabil im Fall von parallelen Geraden,und Ljapunow-stabil im Fall von Punkten, d.h. wenn λ1 = λ2 = 0).

Wir betonen, dass im Fall maxReλ = 0 die beiden Stabilitat und Insta-bilitat geschehen konnen abhangig von der Jordan-Normalform von A.

4.3 Ljapunow-Satze

Betrachten wir wieder eine allgemeine autonome DGL x′ = f (x) wobei f :Ω → Rn und Ω eine offene Teilmenge von Rn. Sei x0 eine Ruhelage, d.h.f (x0) = 0. Wir untersuchen die Stabilitat von x0.

Satz 4.3 (Hauptsatz) (1-er Ljapunow-Satz) Sei f ∈ C2 (Ω,Rn) und setzenwir A = fx (x0) (d.h. A ist die Jacobi-Matrix von f in x0) und

α = max Reλ : λ ist ein Eigenwert von A .

(a) Ist α < 0 so ist x0 asymptotisch stabil.(b) Ist α > 0 so ist x0 instabil.

Wir beweisen (a) unterhalb, aber (b) beweisen wir nicht, da der Beweiszu lang ist. Man darf trotzdem den Punkt (b) fur die Aufgaben benutzen.

Das lineare Normalsystem X ′ = AX heißt die Linearisierung von x′ =f (x) in der Nahe von x0. Es gilt fur x in der Nahe von x0

f (x) = f (x0) + fx (x0) (x− x0) + o (‖x− x0‖)= A (x− x0) + o (‖x− x0‖) , x→ x0

166

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Somit gilt fur X (t) = x (t)− x0

X ′ = AX + o (‖X‖) , X → 0

und die Linearisierung davon ist X ′ = AX. Der Vergleich von den Satzen 4.2und 4.3 zeigt, dass im Fall α < 0 die beiden Ruhelagen x0 von x′ = f (x)und 0 fur X ′ = AX asymptotisch stabil sind, und im Fall α > 0 – instabil.

Im Fall α = 0 gibt es keine eindeutige Antwort. Das linearisierte SystemX ′ = AX lasst sich mit Hilfe von Jordan-Normalform von A untersuchen,wie wir im Fall n = 2 gemacht haben. Fur das allgemeine System x′ = f (x)gibt es die Methoden, die fur bestimmten Typen von f funktionieren.

Beispiel. Betrachten wir das Normalsystemx′ = y + xyy′ = −x− xy . (4.9)

Die Losung der Gleichungen y + xy = 0x+ xy = 0

ergibt zwei Ruhelagen (0, 0) und (−1,−1). Die Funktion

f

(x

y

)=

(y + xy

−x− xy

)hat die Jacobi-Matrix

f ′ =

(y 1 + x

−1− y −x

).

In der Ruhelage (−1,−1) ist die Jacobi-Matrix

A = f

(−1

−1

)=

(−1 00 1

),

und das linearisierte System in diesem Punkt istX ′ = −XY ′ = Y.

Die Eigenwerte von A sind −1 und +1. Da α = 1 > 0, so ist die Ruhelageinstabil fur die beiden Systeme.

167

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In der Ruhelage (0, 0) erhalten wir

A = f ′(

0

0

)=

(0 1−1 0

),

und das linearisierte System X ′ = YY ′ = −X.

Die Eigenwerte von A sind ±i. Da α = 0 und der Typ der Ruhelage furdie Linearisierung das Zentrum ist, so ist die Linearisierung Ljapunow-stabil(aber nicht asymptotisch stabil). Im Fall α = 0 konnen wir die Stabilitat derRuhelage (0, 0) fur (4.9) aufgrund der Eigenwerte von A nicht entscheiden.Mit Hilfe von anderen Methoden kann man zeigen, dass diese Ruhelage fur(4.9) auch Ljapunow-stabil, aber nicht asymptotisch stabil ist.

Da die Losung von (4.9) kann explizit durch

x− ln |x+ 1|+ y − ln |y + 1| = C

gegeben werden (vgl. (4.3)), es folgt, dass die Phasenkurven in der Nahe von (0, 0)

geschlossen sind. ). Somit ist die Ruhelage (0, 0) fur (4.9) Ljapunow-stabil, aber nicht

asymptotisch stabil. Wir werden dies rigorous mit Hilfe von 2. Ljapunow-Satz unterhalb

beweisen.

Der Satz 4.3 wird mit Hilfe von dem zweiten Satz von Ljapunow bewiesen.In der Formulierung benutzen wir den Begriff von Richtungsableitung ∂uV (x)einer Funktion V : U → R (wobei U eine offene Teilmenge von Rn ist) in derRichtung u ∈ Rn im Punkt x ∈ U :

∂uV (x) = limt→0

V (x+ tu)− V (x)

t= V ′ (x)u =

n∑k=1

∂V

∂xk(x)uk. (4.10)

Satz 4.4 (Haputsatz) (2-ter Ljapunow-Satz) Sei x0 eine Ruhelage von x′ =f (x) wobei f ∈ C1 (Ω,Rn). Seien U eine offene Teilmenge von Ω mitx0 ∈ U , und V : U → R eine stetig differenzierbare Funktion mit V (x) > 0fur alle x ∈ U \ x0 und V (x0) = 0.

(a) Gilt fur alle x ∈ U∂f(x)V (x) ≤ 0, (4.11)

so ist die Ruhelage x0 Ljapunow-stabil.

168

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(b) Sei W : U → R eine stetige Funktion mit W (x) > 0 fur x ∈ U \ x0.Gilt fur alle x ∈ U

∂f(x)V (x) ≤ −W (x) , (4.12)

so ist die Ruhelage x0 asymptotisch stabil.

(c) Gilt fur alle x ∈ U∂f(x)V (x) ≥ W (x) , (4.13)

wobei W ist wie im Punkt (b), so ist die Ruhelage x0 instabil.

Definition. Eine Funktion V , wie in den Punkten (a) , (b) , oder (c), heißtdie Ljapunow-Funktion.

Bemerken wir, dass nach (4.10) mit u = f (x) gilt

∂f(x)V (x) =n∑k=1

∂V

∂xk(x) fk (x) . (4.14)

Wir betonen, dass der Vektor f (x) in der Ableitung ∂f(x)V (x) auch vonx abhangt. Die Ableitung ∂f(x)V (x) heißt die orbitale Ableitung von Vbezuglich der DGL x′ = f (x). Die geometrische Bedeutung der orbitalenAbleitung wird aus dem Beweis klar sein.

4.4 Beispiele von Ljapunow-Funktionen

Hier zeigen wir einige Beispiele von Ljapunow-Funktionen.

Beispiel. Betrachten wir eine skalare DGL 2-ter Ordnung ODE

x′′ + kx′ = F (x) ,

die 1-dimensionale Bewegung eines Teilchens von Masse 1 unter einer konser-vativen Kraft F (x) beschreibt, und zwar mit der Reibungskoeffizient k ≥ 0.Das entsprechende Normalsystem ist

x′ = yy′ = −ky + F (x) .

(4.15)

Sei F fur alle x ∈ R definiert, so dass der Phasenraum des Systems (4.15)gleich R2 ist. Jeder Punkt (x, y) im Phasenraum stellt das Paar Koordinate-Geschwindigkeit dar.

169

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Angenommen F (0) = 0, so dass (0, 0) eine Ruhelage ist. Wir versuchenherauszufinden, unter welchen Bedingungen die Ruhelage (0, 0) stabil ist.Wir konstruieren die Ljapunow Funktion als die gesamte Energie:

V (x, y) = P (x) +y2

2,

wobei

P (x) = −∫F (x) dx

die potentielle Energie ist und y2

2die kinetische Energie. Setzen wir weiter

voraus, dass in einem Intervall (−ε, ε) in der Nahe von 0 gilt

F (x) < 0 fur x > 0, F (x) > 0 fur x < 0, (4.16)

und wahlen die folgende Version der Potentialfunktion

P (x) = −∫ x

0

F (s) ds,

so dass P (0) = 0 und P (x) > 0 fur x ∈ (−ε, ε) \ 0. Die Funktion V (x, y)verschwindet im (0, 0) und ist sonst positiv in U = (−ε, ε)× R.

Fur die Vektorfunktion

f (x, y) = (y,−ky + F (x)) ,

die die rechte Seite von (4.15) darstellt, berechnen wir die orbitale Ableitung∂fV wie folgt:

∂fV = Vxf1 + Vyf2

= Vxy + Vy (−ky + F (x))

= P ′ (x) y + y (−ky + F (x))

= −F (x) y − ky2 + yF (x)

= −ky2 ≤ 0.

Somit ist V eine Ljapunow Funktion, und nach dem Satz 4.4 ist die Ruhelage(0, 0)fur (4.15) Ljapunow-stabil.

Physikalisch bedeutet die Bedingung (4.16), dass die Kraft immer in dieRichtung zu 0 wirkt und somit wird das Teilchen gezwungen, immer wiederzur 0 zu bewegen, was die Stabilitat ergibt.

Betrachten wir, z.B., die folgende Funktion F , die (4.16) erfullt:

F (x) = −2x

170

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Die entsprechende Ljapunow-Funktion ist

V (x, y) = x2 +y2

2.

Beispiel. Betrachten wir wieder das System (4.9), alsox′ = y + xyy′ = −x− xy

und die Ruhelage (0, 0). Wie wir es schon gesehen haben, erfullen diePhasenkurven des System die Gleichung

x− ln |x+ 1|+ y − ln |y + 1| = C.

Deshalb ist es sinnvoll die folgende Funktion

V (x, y) = x− ln |x+ 1|+ y − ln |y + 1|

in der Nahe von (0, 0) zu betrachten. Da

x > ln |x+ 1|

fur alle x > −1, x 6= 0, so ist die Funktion V echt positiv fur alle x > −1, y >−1 außer (0, 0). Die orbitale Ableitung ist

∂fV = Vxf1 + Vyf2

=

(1− 1

x+ 1

)(y + xy) +

(1− 1

y + 1

)(−x− xy)

= xy − xy = 0.

Nach Satz 4.4(a) ist die Ruhelage (0, 0) Ljapunow-stabil, wie wir es auf demBild ?? schon gesehen haben.

4.5 ∗ Weitere Beispiele

Beispiel. Betrachten wir das Systemx′ =

√4 + 4y − 2ex+y

y′ = sin 3x+ ln (1− 4y) .(4.17)

Der Punkt (0, 0) ist offensichtlich eine Ruhelage. Fur die Funktion

f (x, y) =

( √4 + 4y − 2ex+y

sin 3x+ ln (1− 4y)

)171

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erhalten wir die Jacobi-Matrix

A = fx (0, 0) =

(∂xf1 ∂yf1

∂xf2 ∂yf2

)=

(−2 −13 −4

).

Alternativ kann man alle Komponenten von f (x, y) nach Taylor-Formel entwickelnwie folgt:

f1 (x, y) = 2√

1 + y − 2ex+y = 2(

1 +y

2+ o (x)

)− 2 (1 + (x+ y) + o (|x|+ |y|))

= −2x− y + o (|x|+ |y|)

und

f2 (x, y) = sin 3x+ ln (1− 4y) = 3x+ o (x)− 4y + o (y)

= 3x− 4y + o (|x|+ |y|) ,

woraus folgt

f (x, y) =

(−2 −13 −4

)(x

y

)+ o (|x|+ |y|) = A

(x

y

)+ o (|x|+ |y|)

mit gleicher Matrix A.

Das charakteristische Polynom von A ist

det

(−2− λ −1

3 −4− λ

)= λ2 + 6λ+ 11,

und die Eigenwerte sind λ1,2 = −3 ± i√

2. Deshalb α := maxReλ < 0 undsomit ist die Ruhelage (0, 0) fur das System 4.17 asymptotisch stabil.

Beispiel. Betrachten wir ein lineares Normalsystem x′ = Ax wobei A ∈Rn×n. Um die Stabilitat der Ruhelage 0 zu untersuchen, betrachten wir dieFunktion

V (x) = ‖x‖22 =

n∑k=1

x2k,

die offensichtlich stetig differenzierbar in Rn ist, V (0) = 0 und V (x) > 0 furx ∈ Rn \ 0. Setzen wir f (x) = Ax und A = (Akj) und bemerken, dass

fk (x) =n∑j=1

Akjxj.

Da ∂V∂xk

= 2xk, es folgt aus (4.14), dass

∂fV =n∑k=1

∂V

∂xkfk = 2

n∑j,k=1

Akjxjxk.

172

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Die Matrix A heißt negativ semidefinit, falls

n∑j,k=1

Akjxjxk ≤ 0 fur alle x ∈ Rn.

Also, ist A negativ semidefinit so gilt ∂fV ≤ 0, und nach Satz 4.4(a) ist dieRuhelage 0 Ljapunow-stabil.

Die Matrix A heißt negativ definit, falls

n∑j,k=1

Akjxjxk < 0 fur alle x ∈ Rn \ 0 .

Ist A negativ definit, dann haben wir

∂fV = −W mit W = −2n∑

j,k=1

Akjxjxk,

und nach Satz 4.4(b) ist 0 asymptotisch stabil. Analog, ist die matrix Apositiv definit so ist 0 instabil nach Satz 4.4(c).

Z.B., sei A = diag (λ1, ..., λn) wobei λk ∈ R. Gilt λk ≤ 0 fur alle k, dannist A negativ semidefinit und somit ist 0 Ljapunow-stabil. Gilt λk < 0 furalle k, dann ist A negativ definit und somit ist 0 asymptotisch stabil. Giltλk > 0 fur alle k, so ist A positiv definit und somit ist 0 instabil. Eigentlich,0 ist instabil schon im Fall, wenn λk > 0 fur ein k, wie aus dem Satz 4.2folgt.

Beispiel. Betrachten wir ein Systemx′ = y − xy′ = −x3,

(4.18)

mit der Ruhelage (0, 0). Die Funktion V (x, y) = x2

2+ y2

2ist echt positive in

R2 \ 0, aber ihre orbitale Ableitung

∂fV = Vxf1 + Vyf2

= x (y − x)− yx3

= xy − x2 − yx3

nimmt in der Nahe von (0, 0) sowohl positive als auch negative Werte an.Deshalb kann diese Funktion als Ljapunow-Funktion nicht benutzt werden.

Die Funktion

V (x, y) =x4

4+y2

2

173

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ist echt positiv in R2 \ 0, und die orbitale Ableitung dieser Funktionbezuglich der DGL (4.18) ist

∂fV = Vxf1 + Vyf2

= x3 (y − x)− yx3

= −x4 ≤ 0.

Nach Satz 4.4(a) ist (0, 0) Ljapunow-stabil.Mit Hilfe von einer anderen Ljapunow-Funktion kann man zeigen, dass

die Ruhelage (0, 0) tatsachlich asymptotisch stabil ist. Fur die Funktion

V (x, y) = (x− y)2 + y2

haben wir

∂fV = Vxf1 + Vyf2

= 2 (x− y) (y − x)− (−2 (x− y) + 2y)x3

= −2 (x− y)2 − (4y − 2x)x3

= −2 (x− y)2 − (4y − 4x+ 2x)x3

= −2((x− y)2 + 2 (y − x)x3 + x4

)= −2

((x− y + x3

)2+ x4 − x6

)= −2W,

wobeiW (x, y) :=

(x− y + x3

)2+ x4 − x6 > 0

fur alle −1 < x < 1 und y ∈ R außer (x, y) = (0, 0). Nach Satz 4.4 ist (0, 0)asymptotisch stabil fur (4.18), was zu beweisen war. Auf dem Bild ?? wirdeine Trajektorie des Systems (4.18) in der Nahe von (0, 0) gezeichnet.

Betrachten wir auch das linearisierte System von (4.18) in der Nahe von(0, 0):

X ′ = −X + YY ′ = 0

. (4.19)

Die Matrix ist A =

(−1 10 0

)dieses Systems hat die Eigenwerte 0 und −1.

Nach Satz 4.2 ist die Ruhelage (0, 0) fur (4.19) nicht asymptotisch stabil.Trotzdem ist (0, 0) Ljapunow-stabil, da A diagonalisierbar ist (vgl. Abschnitt4.2).

Das linearisierte System (4.19) lasst sich explizit losen wie folgt:X (t) = C2e

−t + C1

Y (t) = C1,

woraus folgt, dass die Phasenkurven die horizontalen Geraden sind.

174

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4.6 Beweise von Satzen 4.2, 4.4 und 4.3

Beweis von Satz 4.2. Wir untersuchen die Stabilitat der Ruhelage 0 deslinearen Normalsystems x′ = Ax mit A ∈ Rn×n. Nach Korollar 2.26 ist dieallgemeine komplexwertige Losung des Systems x′ = Ax durch die Identitat

x (t) =n∑k=1

CkeλktPk (t) (4.20)

gegeben, wobei Ck beliebige komplexe Konstanten sind, λ1, ..., λn alle Eigen-werte von A mit den algebraischen Vielfachheiten, und Pk (t) Vektor-wertigePolynome, also jedes Pk hat die Form

Pk (t) = u0 + u1t+ ...+ uN tN (4.21)

mit einem N = 0, 1, ... und mit Vektoren u0, ..., uN ∈ Rn.(a) Angenommen α := max1≤k≤nReλk < 0, beweisen wir, dass die Ruhe-

lage 0 asymptotisch stabil ist. Es folgt aus (4.20), dass fur alle t ≥ 0,

‖x (t)‖ ≤n∑k=1

∣∣Ckeλkt∣∣ ‖Pk (t)‖

≤ maxk|Ck| e(Reλk)t

n∑k=1

‖Pk (t)‖

≤ maxk|Ck| eαt

n∑k=1

‖Pk (t)‖ . (4.22)

Die Norm des Polynoms (4.21) lasst sich wie folgt abschatzen:

‖Pk (t)‖ ≤ ‖u0‖+ ‖u1‖ t+ ...+ ‖uN‖ tN

≤ max0≤j≤N

‖uj‖(1 + t+ ...+ tN

)≤ max

0≤j≤N‖uj‖N

(1 + tN

)weil tj ≤ 1+tN fur alle j = 1, ..., N−1. Daraus folgt, dass fur alle k = 1, ..., n

‖Pk (t)‖ ≤ c(1 + tN

)(4.23)

vorausgesetzt, dass c und N hinreichend groß sind.Andererseits (4.20) ergibt

x (0) =n∑k=1

CkPk (0) ,

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so dass die Koeffizienten Ck die Koordinaten des Anfangsvektors x (0) inder Basis Pk (0)nk=1 sind (was eine Jordan-Basis ist). Daraus folgt, dass indieser Basis

maxk|Ck| = ‖x (0)‖∞ . (4.24)

Weiter nehmen wir an, dass ‖·‖ = ‖·‖∞. Es folgt aus (4.22), (4.23) und(4.24), dass

‖x (t)‖ ≤ c ‖x (0)‖ eαt(1 + tN

). (4.25)

Gilt α < 0, so ist die Funktion eαt(1 + tN

)auf [0,+∞) beschrankt, und

wir erhalten, dass fur alle t ≥ 0

‖x (t)‖ ≤ K ‖x (0)‖ ,

wobeiK = c sup

t≥0eαt(1 + tN

)<∞.

Daraus folgt die Ljapunow-Stabilitat von 0. Außerdem, da

eαt(1 + tN

)→ 0 fur t→ +∞,

erhalten wir aus (4.25) dass auch ‖x (t) ‖ → 0 fur t → ∞, so dass 0 asymp-totisch stabil ist.

(b) Angenommen α ≥ 0, beweisen wir, dass die Ruhelage 0 nicht asymp-totisch stabil ist. Dann existiert ein Eigenwert λ mit Reλ ≥ 0. Sei v einEigenvektor mit dem Eigenwert λ. Die Losung

x (t) = eλtv (4.26)

lasst sich wir folgt abschatzen:

‖x (t) ‖ =∣∣eλt∣∣ ‖v‖ = etReλ ‖v‖ ≥ ‖v‖ , (4.27)

woraus folgt x (t) 6→ 0 fur t→∞. Ist x (t) reellwertig, so folgt es daraus, dass0 nicht asymptotisch stabil ist, da auch εx (t) 6→ 0 fur jedes ε > 0, obwohlder Anfangswert εx (0) beliebig klein sein kann. Ist x (t) komplexwertig, sosind Rex (t) und Imx (t) reellwertige Losungen, und mindestens eine davonkonvergiert gegen 0 nicht. Wie im ersten Fall beschließen wir, dass 0 nichtasymptotisch stabil ist.

(c) Angenommen α > 0, beweisen wir, dass die Ruhelage 0 instabil ist.Fur den Eigenwert λ mit Reλ > 0 betrachten wieder die Losung (4.26).Es folgt aus (4.27), dass ‖x (t)‖ → ∞ fur t → +∞. Dann ist einer vonden reellwertigen Losungen εRex (t) und εImx (t) unbeschrankt, obwohl derAnfangswert εx (0) beliebig klein sein kann, woraus die Behauptung folgt.

176

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Beweis von Satz 4.4. (a) Wir beweisen die asymptotische Stabilitatder Ruhelage x0 des Normalsystems x′ = f (x) under der Voraussetzung,dass es in einer Umgebung U von x0 eine Ljapunow-Funktion gibt, d.h. einestetig differenzierbare Funktion V : U → R mit den Eigenschaft

• V (x) > 0 ∀x ∈ U \ x0 und V (x0) = 0

• ∂f(x)V (x) ≤ 0 ∀x ∈ U .

Die Hauptidee von Beweis ist wie folgt. Sei x (t) eine Losung mit denAnfangswert x (0) in der Nahe von x0, insbesondere in U . Dann gilt auchx (t) ∈ U fur t ∈ [0, T ) mit einem T > 0, und wir erhalten nach der Ketten-regel fur alle t ∈ [0, T )

d

dtV (x (t)) = V ′ (x)x′ (t) = V ′ (x) f (x) = ∂f(x)V (x) . (4.28)

Insbesondere erklart die Identitat (4.28), warum ∂f(x)V (x) die orbitale Ableitungheißt: da sie gleich die Ableitung von V entlang die Phasenkurve ist. Nach(4.28) und die Voraussetzung (4.11) erhalten wir, dass

d

dtV (x (t)) ≤ 0,

woraus folgt, dass die Funktion V monoton fallend entlang die Losung x (t)ist, insbesondere gilt

V (x (t)) ≤ V (x (0)) .

Weitere Idee ist wie folgt: ist x (0) in der Nahe von x0, so gilt V (x (0)) ≈ 0woraus folgt V (x (t)) ≈ 0 und somit muss der Punkt x (t) in der Nahe vonx0 immer bleiben. Die Funktion V spielt die Rolle von einer Barriere, die dieLosung in der Nahe von x (0) halt.

Um diese Idee zu verwirklichen, verkleinern wir zunachst die Menge U ,so dass U beschrankt ist und V (x) im Abschluss U definiert ist. Bezeichnenwir

Bε = B (x0, ε) = x ∈ Rn : ‖x− x0‖ < ε .Sei ε > 0 so klein, dass Bε ⊂ U . Fur solches ε setzen wir

mε := infx∈U\Bε

V (x) .

Da U \Bε kompakt ist und V stetig und echt positiv auf U \Bε ist, erhaltenwir, dass auch mε > 0 (nach dem Extremwertsatz). Also, nach Definitionvon mε haben wir

V (x) ≥ mε fur alle x ∈ U \Bε. (4.29)

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Da V (x0) = 0 und mε > 0, so existiert δ = δ (ε) > 0 so klein, dass

V (x) < mε fur alle x ∈ Bδ. (4.30)

Sei x (t) eine maximale Losung der DGL x′ = f (x) im Bereich R × Umit x (0) ∈ Bδ. Wir beweisen, dass x (t) fur alle t ≥ 0 definiert ist undx (t) ∈ Bε fur alle t ≥ 0, woraus die Ljapunow-Stabilitat von 0 folgen wird.Da x (0) ∈ Bδ, so erhalten wir nach (4.30), dass

V (x (0)) < mε.

Da die Funktion V (x (t)) monoton fallend ist, erhalten wir auch

V (x (t)) < mε fur alle t > 0,

sofern x (t) definiert ist13. Es folgt aus (4.29) dass x (t) ∈ Bε.Es bleibt noch zu zeigen, dass x (t) fur alle t > 0 definiert ist. Angenom-

men das Gegenteil, also der Definitionsbereich von x sei ein Intervall (a, b)mit b <∞. Dann liegt der Graph der Losung x (t) fur t ≥ 0 in der kompak-ten Menge [0, b]×Bε, wahrend nach dem Satz 3.6 die maximale Losung jedekompakte Teilmenge von R × U fur t → b− verlasst. Dieser Widerspruchbeendet den Beweis.

(b) Es folgt aus (4.12) und (4.28), dass

d

dtV (x (t)) ≤ −W (x (t)) .

Es reicht zu zeigen, dass

V (x (t))→ 0 fur t→∞,

da das die Konvergenz x (t)→ x0 ergibt (erinnern wir uns daran, dass x0 dieeinzige Nullstelle von V ist). Da V (x (t)) monoton fallend ist, so existiertder Grenzwert

c = limt→+∞

V (x (t)) .

Nehmen wir das Gegenteil an, dass c > 0. Nach der Stetigkeit von V existiertein r > 0 mit

V (x) < c fur alle x ∈ Br.

Da V (x (t)) ≥ c fur alle t > 0, es folgt, dass x (t) /∈ Br fur alle t > 0.Bezeichnen

m := infz∈U\Br

W (z) > 0.

13Da x (t) als eine Losung bezuglich des Definitionsbereiches R × U der DGL definiertist, ist der Punkt x (t) immer in U enthalten, sofern x (t) definiert ist.

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Da x (t) ∈ U \Br, es folgt, dass W (x (t)) ≥ m fur alle t > 0 und somit

d

dtV (x (t)) ≤ −W (x (t)) ≤ −m.

Integration in t ergibt

V (x (t)) ≤ V (x (0))−mt,

woraus folgt, dass V (x (t)) < 0 fur hinreichend große Werte von t. DieserWiderspruch beendet den Beweis.

(c) Nehmen wir das Gegenteil an, dass die Ruhelage x0 stabil ist, also,fur jedes ε > 0 existiert δ > 0 mit der Eigenschaft

x (0) ∈ Bδ ⇒ x (t) ∈ Bε fur alle t ≥ 0.

Wahlen wir ε so dass Bε ⊂ U . Sei x (0) ein Punkt in Bδ \ x0. Dannx (t) ∈ Bε fur alle t > 0; insbesondere haben wir x (t) ∈ U fur alle t > 0. Esfolgt aus der Voraussetzung (4.13), dass

d

dtV (x (t)) ≥ W (x (t)) ≥ 0 (4.31)

so dass die Funktion V (x (t)) monoton wachsend ist und somit

V (x (t)) ≥ V (x (0)) =: c > 0

fur alle t ≥ 0. Es existiert r > 0 so dass V (x) < c fur alle x ∈ Br.Daraus folgt, dass x (t) /∈ Br fur alle t > 0. Bezeichnen

m := infz∈U\Br

W (z) > 0,

und erhalten W (x (t)) ≥ m, was zusammen mit (4.31) ergibt

d

dtV (x (t)) ≥ m fur alle t > 0.

Es folgt nach Integration, dass V (x (t)) ≥ mt → +∞ fur t → +∞, was imWiderspruch zur Beschranktheit von V auf U ist.

Beweis von Satz 4.3. (a) Wir untersuchen die Stabilitat der Ruhelagex0 des Normalsystems x′ = f (x) mit Hilfe von der Jacobi-Matrix A = f ′ (x0).Ohne Beschrankung der Allgemeinheit setzen wir x0 = 0, so dass f (0) = 0.Setzen wir

α = max Reλ : λ ist ein Eigenwert von A

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and beweisen, dass unter der Voraussetzung α < 0 die folgende Funktion

V (x) =

∫ ∞0

∥∥esAx∥∥2

2ds (4.32)

eine Ljapunow-Funktion fur x′ = f (x) ist. Dann folgt die Ljapunow-Stabilitatder Ruhelage aus dem Satz 4.4(a).

Zunachst uberprufen wir, dass V (x) < ∞ fur jedes x ∈ Rn, also dasIntegral in (4.32) konvergiert. Im Beweis von Satz 4.2 haben wir die folgendeUngleichung bewiesen: ∥∥etAx∥∥ ≤ ceαt

(tN + 1

)‖x‖ (4.33)

(vgl. (4.25)), wobei c,N positive Konstanten sind. Da α < 0, es folgt aus(4.33), dass die Funktion s 7→

∥∥esAx∥∥ exponentiell fallend fur s → +∞ ist,woraus die Konvergenz des Integrals (4.32) folgt.

Jetzt zeigen wir, dass V (x) ∈ C1 (Rn) (tatsachlich gilt V ∈ C∞ (Rn)).Stellen wir den Vektor x in der Standardbasis v1, ..., vn von Rn wie folgt dar:

x =n∑i=1

xivi.

Da

‖x‖22 =

n∑i=1

|xi|2 = x · x

und

esAx =n∑i=1

xiesAvi,

so erhalten wir∥∥esAx∥∥2

2= esAx · esAx =

(n∑i=1

xi(esAvi

))·

(n∑j=1

xj(esAvj

))

=n∑

i,j=1

xixj(esAvi · esAvj

).

Integration in s ergibt

V (x) =n∑

i,j=1

bijxixj,

wobei

bij =

∫ ∞0

(esAvi · esAvj

)ds

180

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Konstanten sind. Deshalb ist V (x) eine quadratische Funktion von x1, ..., xn,woraus folgt, dass V ∞-fach differenzierbar ist.

Bemerkung. Normalerweise benutzen wir eine beliebige Norm in Rn. ImGegensatz benutzen wir in der Definition (4.32) von V (x) ausdrucklich die2-Norm, um die Differenzierbarkeit von V (x) zu sichern.

Die Funktion V (x) ist offensichtlich nicht-negativ und V (x) = 0 giltgenau dann, wenn x = 0. Es bleibt noch zu zeigen, dass ∂f(x)V (x) ≤ 0.Nach der Differenzierbarkeit von f (x) in 0 haben wir

f (x) = Ax+ h (x) , (4.34)

wobeih (x) = o (‖x‖) fur x→ 0.

Fur f ∈ C2 gilt sogar, dass

‖h (x)‖ ≤ C ‖x‖2 , (4.35)

fur klein genug ‖x‖ und eine Konstante C (siehe Behauptung unterhalb).Nach (4.34) haben wir

∂f(x)V (x) = ∂AxV (x) + ∂h(x)V (x) . (4.36)

Die Funktion y (t) = etAx lost nach dem Satz 2.20 die DGL y′ = Ay. Nach(4.28) erhalten wir fur alle t ≥ 0

∂AyV (y) =d

dtV (y (t)) ,

d.h.

∂AetAxV(etAx

)=

d

dtV(etAx

)woraus folgt fur t = 0

∂AxV (x) =d

dtV(etAx

)∣∣∣∣t=0

. (4.37)

Andererseits nach Definition (4.32) von V erhalten wir

V(etAx

)=

∫ ∞0

∥∥esA (etAx)∥∥2

2ds =

∫ ∞0

∥∥e(s+t)Ax∥∥2

2ds =

∫ ∞t

∥∥eτAx∥∥2

2dτ,

wobei wir die Substitution τ = s+ t benutzt haben. Ableiten dieser Identitatin t ergibt

d

dtV(etAx

)= −

∥∥etAx∥∥2

2.

181

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Nach dem Einsetzen in (4.37) erhalten wir

∂AxV (x) = −‖x‖22 . (4.38)

Die zweite Term (4.36) lasst sich mit Hilfe von Cauchy-Schwarz-Ungleichungabschatzen:

∂h(x)V (x) = V ′ (x) · h (x) ≤ ‖V ′ (x)‖2 ‖h (x)‖2 . (4.39)

Es folgt aus (4.36), (4.38), (4.39) und (4.35), dass

∂f(x)V (x) = ∂AxV (x) + ∂h(x)V (x)

≤ −‖x‖22 + ‖V ′ (x)‖2 ‖h (x)‖2

−‖x‖22 + C ‖V ′ (x)‖2 ‖x‖

22 ,

vorausgesetzt, dass ‖x‖2 hinreichend klein ist.Da die Funktion V (x) ein Minimum in 0 annimmt, so erhalten wir

V ′ (0) = 0. Dann gilt fur jedes ε > 0

‖V ′ (x)‖2 ≤ ε,

vorausgesetzt ‖x‖ hinreichend klein ist. Setzen wir ε = 12C−1 und erhalten

die folgende Ungleichung

∂f(x)V (x) ≤ −‖x‖22 +

1

2‖x‖2

2 = −1

2‖x‖2

2 ,

die in einer kleinen Umgebung U von 0 gilt. Nach dem Satz 4.4(b) mitW (x) = 1

2‖x‖2

2 erhalten wir, dass die Ruhelage 0 asymptotisch stabil its.Behauptung. Wir beweisen jetzt (4.35). Nach der Taylor-Formel erhal-

ten wir fur jedes k = 1, ..., n

fk (x) =n∑i=1

∂ifk (0)xi +1

2

n∑i,j=1

∂ijfk (0)xixj + o(‖x‖2) fur x→ 0.

Der erste Glied auf der rechten Seite ist die k-te Komponente von Ax, undder Rest ist die k-te Komponente von h (x), also

hk (x) =1

2

n∑i,j=1

∂ijfk (0)xixj + o(‖x‖2) ,

woraus folgt

|hk (x)| ≤ Bn∑

i,j=1

|xixj|+ o(‖x‖2) = B ‖x‖2

1 + o(‖x‖2) ,

wobei B = maxi,j,k |∂ijfk (0)|. Da die Normen ‖x‖1 und ‖x‖ aquivalent sind,so erhalten wir (4.35).

Den Punkt (b) des Satzes 4.3 beweisen wir hier nicht.

182

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4.7 ∗ Periodische Losungen

Eine Funktion f : R→ Rn heißt T -periodisch, fur ein T > 0, wenn

f (t+ T ) = f (t) fur alle t ∈ R.

Der Wert T heißt eine Periode von f . Ist f auch von anderen Variablenabhangig, z.B. f = f (t, x) , dann heißt f T -periodisch in t, wenn die Funktiont 7→ f (t, x) T -periodisch fur jedes x ist.

In diesem Abschnitt betrachten wir periodische Losungen von DGLen.

Lemma 4.5 Sei f (t, x) eine Funktion mit Definitionsbereich R×Ω und mitWerten in Rn, wobei Ω eine offene Teilmenge von Rn ist. Angenommen, fist T -periodisch in t. Sei x (t) eine Losung der DGL x′ = f (t, x) auf demIntervall [0, T ] mit x (0) = x (T ) . Dann ist die Funktion x (t) fortsetzbar auf(−∞,∞) als eine T -periodische Losung.

Beweis. Fur jedes t ∈ R definieren wir x (t) wie folgt: x (t) = x (τ) wobeiτ der einzige Wert auch [0, T ) ist, so dass T durch t−τ teilbar ist. Aquivalent,fur jedes t existiert einzige ganze Zahl k mit t+kT ∈ [0, T ). Dann setzen wirx (t) = x (t+ kT ).

Wegen x (0) = x (T ) ist die fortgesetzte Funktion x (t) stetig in R. Auf[0, T ] ist x (t) differenzierbar als eine Losung von DGL. Dann ist x (t) offen-sichtlich differenzierbar auch fur alle Werte von t, die kein Vielfaches von Tsind. Zeigen wir, dass x (t) differenzierbar auch fur t = kT mit k ∈ Z ist.Wegen der T -Periodizitat reicht es zu zeigen, dass x differenzierbar in t = 0ist. Die Funktion x hat auf [0, T ] die rechte Ableitung x′R (t) in t = 0 unddie linke Ableitung x′L (t) in t = T , und zwar

x′R (0) = f (0, x (0)) und x′L (T ) = f (T, x (T )) .

Nach T -Periodizitat von f (t, x) und x (t) erhalten wir x′L (T ) = x′L (0) und

f (T, x (T )) = f (0, x (0)) ,

woraus folgtx′L (0) = f (0, x (0)) = x′R (0)

und somit x (t) in t = 0 differenzierbar ist. Die Gleichung x′ (t) = f (t, x (t))fur alle t ∈ [0, T ] ergibt dann dieselbe Gleichung fur alle t ∈ R.

Satz 4.6 (Periodische Losungen lineares Systems) Betrachten wir das Nor-malsystem

x′ = Ax+ f (t) , (4.40)

183

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wobei A ∈ Rn×n und f : R → Rn eine stetige T -periodische Funktion ist.Angenommen, alle Eigenwerte λ von A erfullen die Bedingung

λ 6= 2πi

Tk, k ∈ Z. (4.41)

Dann hat das System genau eine T -periodische Losung.

Ist die Bedingung (4.41) erfullt, so heißt die Periode T nicht-resonant furdie Gleichung (4.40).

Beweis. Sei x0 (t) eine spezielle Losung von (4.40) auf (−∞,∞) mitx0 (0) = 0. Dann ist die allgemeine Losung durch die folgende Identitatgegeben:

x (t) = etAv + x0 (t)

mit beliebigen Vektor v ∈ Rn. In der Tat, wir haben x (0) = v. Nach Lemma4.5 ist die Losung x (t) T -periodisch genau dann, wenn x (0) = x (T ), wasaquivalent zu

v = eTAv + x0 (T )

ist, d.h. (eTA − id

)v = −x0 (T ) . (4.42)

Das ist ein lineares algebraisches System bezuglich v, das genau dann losbarist, wenn (4.40) eine T -periodische Losung hat. Andererseits ist (4.42) ein-deutig losbar, vorausgesetzt

det(eTA − id

)6= 0.

Die Eigenwerte von eTA− id sind gleich eTλ−1, wobei λ ein Eigenwert von Aist. Die Bedingung (4.41) ergibt, dass Tλ 6= 2πki und somit eTλ 6= 1. Deshalbverschwinden die Eigenwerte von eTA− id nicht, und somit det

(eTA − id

)6=

0. Die Gleichung (4.42) hat genau eine Losung v, die die T -periodischeLosung von (4.40) bestimmt.

Beispiel. Wir zeigen in diesem Beispiel, dass die Voraussetzung (4.41)wesentlich ist. Betrachten wir die DGL

x′′ + px′ + qx = F (t) (4.43)

wobei p, q ∈ R und F (t) eine 2π-periodische Funktion ist. Diese Gleichungist aquivalent zum System

x′ = yy′ = −py − qx+ F (t)

184

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d.h. (x

y

)′= A

(x

y

)+

(0

F (t)

)mit A =

(0 1−q −p

). Das charakteristische Polynom von A ist

P (λ) = det

(−λ 1−q −p− λ

)= λ2 + pλ+ q,

und die Eigenwerte sind

λ1,2 = −p2±√p2

4− q.

Betrachten wir die Werte λ = 2πkTi = ki mit k ∈ Z. Ist λ = ki ein Eigenwert,

so gilt Reλ = 0, woraus folgt

p = 0 und q = −λ2 = k2. (4.44)

Somit haben wir folgendes bewiesen: ist p 6= 0 oder q 6= k2 fur alle k ∈ Z,dann hat die Gleichung (4.43) genau eine 2π-periodische Losung.

Im Fall (4.44) ist die DGL (4.43) aquivalent zu

x′′ + k2x = F (t) . (4.45)

Zeigen wir, dass diese Gleichung mit F (t) = cos kt keine periodische Losunghat. In der Tat, da ik eine Nullstelle des charakteristischen Polynoms ist,hat die DGL

x′′ + k2x = eikt

eine spezielle Losung der Form x (t) = ateikt mit a = 1P ′(ik)

= 12ik

(angenom-

men k 6= 0). Daraus folgt, dass (4.45) eine spezielle Losung

x (t) = Re

(1

2ikteikt

)=

1

2kt sin t,

hat. Somit ist die allgemeine Losung von (4.45)

x (t) =t

2ksin kt+ C1 cos kt+ C2 sin kt.

Da diese Losung unbeschrankt ist, ist sie nie periodisch.Im Fall k = 0 hat die Gleichung x′′ = 1 die allgemeine Losung

x (t) =t2

2+ C1t+ C2,

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die auch nie periodisch ist.Betrachten wir ein numerisches Beispiel

x′′ + 3x = 2 sin t

mit 2π-periodischer Storfunktion F (t) = 2 sin t. Da 3 keine Quadratzahlist, das ist nichtresonanter Fall, so dass es genau eine 2π-periodische Losunggibt. Die allgemeine Losung ist

x (t) = sin t+ C1 cos√

3t+ C2 sin√

3t,

und die 2π-periodische Losung ist x (t) = sin t.

Satz 4.7 (Periodische Losungen fur kleine Storungen von linearen Syste-men) Under den Bedingungen von Satz 4.6, sei g (t, x, s) eine Funktion mitDefinitionsbereich R × Rn × S und mit Werten in Rn, wobei S eine of-fene Umgebung von 0 in Rm ist. Angenommen, g ist T -periodisch in t,g ∈ Ck (x, s) mit k ≥ 1 und g (t, x, 0) ≡ 0. Betrachten wir das Normalsystem

x′ = Ax+ f (t) + g (t, x, s) . (4.46)

Dann hat das System (4.46) fur alle s mit hinreichend klein ‖s‖ genau eineT -periodische Losung x (t, s). Daruber hinaus gilt x ∈ Ck (s).

Bemerkung. Fur s = 0 nimmt die Gleichung (4.46) die Form

x′ = Ax+ f (t) (4.47)

an. Insbesondere ist x (t, 0) die T -periodische Losung von (4.47), die auchnach Satz 4.6 existiert. Die DGL (4.46) kann als eine Storung von (4.40)betrachtet werden.

Beweis. Bezeichnen wir mit x (t, s, v) die maximale Losung von (4.46)mit der Anfangsbedingung x|t=0 = v, fur alle v ∈ Rn und s ∈ S. Nach Satz4.6 existiert ein eindeutiger Wert v0 ∈ Ω, derart, dass x (t, 0, v0) T -periodischist. Ohne Beschrankung der Allgemeinheit nehmen wir an, dass v0 = 0, sodass x (t, 0, 0) eine T -periodische Losung ist.

Nach Satz 3.10 ist der Definitionsbereich der Losung x (t, s, v) eine offeneTeilmenge von R×Rm×Rn. Da die Losung x (t, 0, 0) fur alle t ∈ R definiertist, ist die Losung x (t, s, v) mindestens fur alle t ∈ [0, T ] definiert ist, voraus-gesetzt ‖s‖ und ‖v‖ hinreichend klein sind. Wir mochten den Anfangswertv abhangig von s wahlen, derart, dass die folgende Gleichung erfullt ist:

x (T, s, v) = v. (4.48)

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Ist v = v (s) eine Losung von (4.48), so ist die Funktion x (t, s, v (s)) T -periodisch nach Lemma 4.514.

Wir brauchen jetzt zu beweisen, dass die Gleichung (4.48) fur hinreichendklein ‖s‖ genau eine Losung v hat. Dafur benutzen wir der Satz von derimpliziten Funktion.

Satz von der impliziten Funktion. Sei F (u, v) eine Rn-wertige Funktion,die auf einer offenen Umgebung von (0, 0) in Rm × Rn definiert ist (mitu ∈ Rm und v ∈ Rn). Sei F ∈ Ck (u, v) mit k ≥ 1, F (0, 0) = 0 unddet ∂vF (0, 0) 6= 0. Dann hat die Gleichung F (u, v) = 0 fur hinreichendklein ‖u‖ genau eine Losung v = v (u), und es gilt v ∈ Ck (u) .

Wir benutzen diesen Satz fur die Funktion

F (s, v) = x (T, s, v)− v,

so dass die Gleichung (4.48) aquivalent zu F (s, v) = 0 ist. Nach Satz 3.13 giltx ∈ Ck (s, v), so dass auch F ∈ Ck (s, v). Bei s = 0, v = 0 ist die Gleichung(4.48) erfullt, so dass F (0, 0) = 0. Berechnen wir ∂vF = ∂vx− id bei s = 0,v = 0. Fur s = 0 ist x (t, 0, v) die Losung von (4.47) mit Anfangsbedingungx|t=0 = v. Wie im Beweis von Satz 4.6 haben wir

x (T, 0, v) = eTAv + x0 (T ) ,

woraus folgt ∂vx (T, 0, v) = eTA und somit

∂vF (0, 0) = eTA − id.

Im Beweis von Satz 4.6 haben wir schon gezeigt, dass det(eTA − id

)6= 0,

vorausgesetzt, dass T nicht-resonant fur A ist. Somit hat die GleichungF (s, v) = 0 genau eine Losung v = v (s) fur hinreichend klein ‖s‖. Dann lostv (s) auch die Gleichung (4.48), und wir erhalten die T -periodische Losungt 7→ x (t, s, v (s)). Wegen v (s) ∈ Ck (s) ist die Losung x (t, s, v (s)) auch vonder Klasse Ck (s).

Korollar 4.8 Under den Bedingungen von Satz 4.7 es gilt fur die T -periodischeLosung x (t, s) von (4.46) die folgende asymptotische Entwicklung

x (t, s) = x0 (t)+x1 (t) s+x2 (t) s2 + ...+xk (t) sk+o(sk)

fur s→ 0, (4.49)

wobei alle Funktionen xj (t) T -periodisch sind.

14Da die Losung t 7→ x (t, s, v) schon maximal ist, man braucht diese Losung nichtfortzusetzen.

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Beweis. Die Entwicklung (4.49) gilt nach Taylorformel, da x (t, s) ∈Ck (s). Wir brauchen nur zu zeigen, dass die Funktionen xj (t) T -periodischsind. Wir haben

x (t+ T, s)− x (t, s) =k∑j=0

(xj (t+ T )− xj (t)) sj + o(sk).

Da die linke Seite identisch Null ist, so erhalten wir nach Eindeutigkeit vonTaylorentwicklung, dass xj (t+ T )− xj (t) ≡ 0, d.h. xj T -periodisch ist.

Gegeben sei eine skalare DGL

x(n) + a1x(n−1) + ...+ anx = F (t) +G (t, x, s) (4.50)

mit Parameter s ∈ Rm, man erhalt das aquivalente Normalsystem

x′ = Ax+f (t) + g (t,x, s)

mit x =(x, x′, ..., x(n−1)

)Tund

A =

0 1 0 ... 00 0 1 ... 0... ... ... ... ...0 0 0 ... 1−an −an−1 −an−2 ... −a1

,

f (t) =

0...0

F (t)

, g (t,x, s) =

0...0

G (t,x1, s)

Sei P (λ) das charakteristische Polynom von (4.50), also

P (λ) = λn + a1λn−1 + ...+ an.

Behauptung. Die folgende Identitat gilt:

det (A− λid) = (−1)n P (λ) ,

d.h. (−1)n P (λ) ist das charakteristische Polynom von A.Beweis. Induktionsanfang: fur n = 1 gilt A = (−a1) und det (A− λ) =

− (λ+ a1) = −P (λ). Fur den Induktionsschritt von n−1 nach n entwickeln

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wir die Determinante nach der ersten Spalte und benutzen die Induktionsvo-raussetzung:

det (A− λid) = det

−λ 1 0 ... 00 −λ 1 ... 0... ... ... ... ...0 0 0 ... 1−an −an−1 −an−2 ... −λ− a1

= −λ det

−λ 1 ... 0... ... ... ...0 0 ... 1

−an−1 −an−2 ... −λ− a1

+ (−1)n an det

1 0 ... 0−λ 1 ... 0... ... ... ...0 0 ... 1

= − (−1)n−1 λ

(λn−1 + a1λ

n−2 + ...+ an−1

)+ (−1)n an

= (−1)n P (λ) .

Nach Satz 4.7 erhalten wir folgendes.

Korollar 4.9 Angenommen, die Funktionen F (t) und G (t, x, s) sind stetigund T -periodisch in t, G ∈ Ck (x, s) mit k ≥ 1 und G (t, x, 0) ≡ 0. Ist Tnicht-resonant fur das Polynom P (λ) (d.h. die Nullstellen von P (λ) erfullendie Bedingung (4.41)), so existiert fur alle s mit hinreichend klein ‖s‖ genaueine T -periodische Losung x (t, s) von (4.50). Diese Losung hat eine Tay-lorentwicklung

x (t, s) = x0 (t)+x1 (t) s+x2 (t) s2 + ...+xk (t) sk+o(sk)

fur s→ 0, (4.51)

wobei alle Funktionen xj (t) T -periodisch sind.

Beispiel. Betrachten wir die DGL mit Parameter

x′′ + 3x = 2 sin t+ sx2. (4.52)

Die Funktion f (t) = 2 sin t ist 2π-periodisch, und die Funktion g (t, x, s) =sx2 gehort zu alle Ck (x, s) und ist trivial 2π-periodisch in t. Das charakter-istische Polynom P (λ) = λ2 + 3 hat die Nullstellen λ = ±i

√3. Offensichtlich

ist 2π nicht-resonant, und nach Korollar 4.9 erhalten wir fur kleine s die Ex-istenz von einer T -periodischen Losung x (t, s) mit der Entwicklung (4.51).

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Bestimmen wir die Koeffizienten xj (t) bis zum j = 2. Dafur setzen wirdie Entwicklung

x (t, s) = x0 (t) + x1 (t) s+ x2 (t) s2 + o(s2)

in die Gleichung (4.52) ein und somit erhalten

(x′′0 + 3x0) + (x′′1 + 3x1) s+ (x′′2 + 3x2) s2 + o(s2)

= 2 sin t+ s(x2

0 + 2x0x1s+ o (s))

= 2 sin t+ x20s+ 2x0x1s

2 + o(s2).

Das Vergleich von Koeffizienten bei sj ergibt, dass xj (t) die folgende Gle-ichungen erfullen:

x′′0 + 3x0 = 2 sin t

x′′1 + 3x1 = x20

x′′2 + 3x2 = 2x0x1.

Die erste Gleichung has die einzige 2π-periodische Losung x0 (t) = sin t. Diezweite Gleichung nimmt die Form

x′′1 + 3x1 = sin2 t =1− cos 2t

2

an, woraus wir die folgende 2π-periodische Losung bestimmen:

x1 =1

2cos 2t+

1

6.

Die 2π-periodische Losung der dritten Gleichung

x′′2 + 3x2 = sin t

(cos 2t+

1

3

)= −1

6sin t+

1

2sin 3t

ist

x2 = − 1

12sin t− 1

12sin 3t.

Betrachten wir jetzt ein Normalsystem

x′ = F (x) + sf (t) , (4.53)

wobei F : Rn → Rn eine Funktion der Klasse Ck+1 mit k ≥ 1, f : R → Rn

eine stetige T -periodische Funktion, und s ∈ R ein Parameter. Sei x0 eineRuhelage von x′ = F (x), d.h. eine Nullstelle von F . Fur s = 0 hat dasSystem (4.53) die konstante Losung x (t) ≡ x0, die trivial periodisch. Wir

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besprechen die Frage, ob das System (4.53) eine T -periodische Losung hatauch fur s 6= 0, mindestens fur die kleine Werte von s . Dafur betrachten wireine neue unbekannte Funktion z wie folgt:

z =x− x0

s⇔ x = x0 + sz.

Die Ableitung in t ergibt

z′ =1

s(F (x) + sf (t)) =

1

sF (x0 + sz) + f (t) .

Nach Lemma 3.14 (Hadamard-Lemma) haben wir die Identitat

F (u)− F (v) = ϕ (u, v) (u− v) (4.54)

fur alle u, v ∈ Rn, wobei ϕ eine stetige Funktion mit Werten in Rn×n ist und

ϕ (u, u) = F ′ (u) .

Es folgt aus dem Beweis von Lemma 3.14, dass F ∈ Ck+1 ergibt ϕ ∈ Ck (u, v).Es folgt aus (4.54), dass

F (x0 + sz)− F (x0) = ϕ (x0 + sz, x0) sz.

Wegen F (x0) = 0 erhalten wir

1

sF (x0 + sz) = ϕ (x0 + sz, x0) z = Az + g (z, s) ,

wobeiA := F ′ (x0) und g (z, s) := ϕ (x0 + sz, x0) z − Az.

Es folgt daraus, dass

g (z, 0) = ϕ (x0, x0) z − Az = F ′ (x0) z − F ′ (x0) z = 0.

Somit erfullt z die Gleichung

z′ = Az + f (t) + g (z, s) ,

wobei f (t) T -periodisch ist, g (z, s) ∈ Ck (z, s) , g (z, 0) = 0 und g trivialT -periodisch in t. Nach Satz 4.7, fur hinreichend kleine Werte von s existiertgenau eine T -periodische Losung z (t, s) , und zwar z ∈ Ck (s) . Fur die DGL(4.53) erhalten wir folgendes.

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Korollar 4.10 Unter den o.g. Bedingungen setzen wir noch voraus, dass Tnicht-resonant fur die Matrix A = F ′ (x0) ist. Dann, fur hinreichend kleins, hat die DGL (4.53) genau eine T -periodische Losung x (t, s), die stetig in(t, s) ist und x (t, 0) = x0. Daruber hinaus gilt x (t, s) ∈ Ck (s).

Bemerkung. Wie im Satz 4.3 setzen wir

α = max Reλ : λ ein Eigenwert von A .

Ist die Bedingung α < 0 von Satz 4.3(a) erfullt, dann ist jedes T nicht-resonant fur A. In der Tat, fur jeden Eigenwert λ von A gilt Reλ ≤ α < 0,wahrend im Resonanzfall gilt λ = 2πi

Tk und somit Reλ = 0. Deshalb ergibt

die Bedingung α < 0 sowohl die asymptotische Stabilitat der Ruhelage x0

der DGL x′ = F (x) als auch die Existenz der periodischen Losung von (4.53)fur hinreichend klein s.

Beispiel. Betrachten wir die DGL mit Parameter

x′′ + 5x− x2 − 4 = 2s sin t. (4.55)

Das entsprechende Normalsystem istx′ = yy′ = x2 − 5x+ 4 + 2s sin t

Fur s = 0 hat das System zwei Ruhelagen (x1, 0) und (x2, 0) wobei x1, x2 dieNullstellen von x2− 5x+ 4 = 0 sind, d.h. x1 = 1 und x2 = 4. Betrachten wirdas System in der Nahe der Ruhelage (1, 0). Es ist bequemer direkt mit derGleichung (4.55) zu arbeiten, indem wir die unbekannte Funktion wechselnwie folgt:

z =x− 1

s⇔ x = 1 + sz.

Dann erhalten wir aus (4.55), dass

sz′′ + 5 (1 + sz)− (1 + sz)2 − 4 = 2s sin t

und nach Vereinfachen

z′′ + 3z = 2 sin t+ sz2.

Das ist genau die DGL (4.52), und wir wissen schon, dass die 2π-periodischeLosung x (t, s) fur klein s existiert und die folgende Taylorentwicklung in sbesitzt:

z (t, s) = sin t+

(1

2cos 2t+

1

6

)s− 1

12(sin t+ sin 3t) s2 + o

(s2)

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fur s → 0. Daraus erhalten wir die 2π-periodische Losung von (4.55) in derNahe der Ruhelage (1, 0):

x (t, s) = 1 + (sin t) s+

(1

2cos 2t+

1

6

)s2 − 1

12(sin t+ sin 3t) s3 + o

(s3)

). Fur s → 0 konvergiert die geschlossene Phasenkurve der periodischenLosung x (t, s) gegen die Ruhelage (1, 0).

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