Glauben Versus Denken - 09.11.05 - Dr. Felix Ruther

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Glauben versus Denken "Je religiöser ein Mensch ist, desto mehr glaubt er; je mehr er glaubt, desto weniger denkt er; je weniger er denkt, desto dümmer ist er.“ So denkt nicht nur der Leserbriefschreiber (Tagesanzeiger). Viele Zeitgenossen meinen: Glauben ist etwas Widervernünftiges, Irrationales, und Denken allein sei vernunftgemäss. Sie nehmen an, dass nur die Vernunft zu sicherem Wissen führe, und dass Glauben ein blosses Vermuten sei. Diese Vorstellung ist mit dem Aufkommen des naturwissenschaftlichen Denkens entstanden. Mit dieser Veränderung im wissenschaftlichen Denken machte sich in den Köpfen der meisten Menschen die Meinung breit: Sicheres Wissen kann nur durch Beobachtung, Experiment und Berechnung gewonnen werden. Leider hat uns aber die scheinbare Befreiung vom Glauben keine vernünftigere Welt beschert. Einerseits erklären die Wissenschaften immer weniger und andererseits liefern sie schon gar keine Deutung oder Orientierungen, nach denen man seine Werte oder gar sein Leben und Lieben ausrichten könnte. Wie sollten sie auch, wenn ihr oberster Glaubenssatz lautet: Die Wissenschaften sind wertneutral. Die rein wissenschaftlich erklärte Welt hat in den Seelen der Menschen ein tiefes Sinnvakuum hinterlassen. Wenn man wissenschaftliches Denken und den Glauben untersucht, kann man feststellen, dass sie sich nicht wie zwei unvereinbare Gegensätze gegenüberstehen. Sie gehen einfach von je verschiedenen Fragestellungen aus. Dazu eine Geschichte von Hans-Peter Dürr (Direktor des Werner-Heisenberg-Institutes für Physik): Ein Physiker fischt. Ein Gläubiger fragt ihn: "Was kannst du über Fische aussagen?" Der Physiker meint: "Sie sind schuppig und grösser als 5 cm." Nun fragt der Gläubige: „Zeig mir mal dein Netz!" Und siehe da: Es hatte Maschen von 5 cm Durchmesser. "Könnte es also nicht sein, dass du gewisse Fische einfach nicht fängst?“ fragt der Gläubige. Das Geschichtchen will sagen, dass die Wissenschaft bestimmte Fragen hat - ein bestimmtes Netz und darauf gewisse Antworten erhält. Auf die Fragen: Was ist Schönheit, Liebe, Kunst oder Sinn? gibt sie keine Antworten. Für diese Bereiche fehlen der Naturwissenschaft einfach die Netze. So werden in den Naturwissenschaften Antworten gegeben auf die Frage, wie etwas funktioniert. Aber ebenso wichtige Fragen, wie die der Ethik oder der Transzendenz, können sie nicht beantworten. Die Naturwissenschaften und die davon abgeleitete Technik können uns unter Umständen sagen, wie wir etwas verwirklichen können. Die Antwort auf die ebenso wichtige Frage, was wir tun sollen, können uns die Naturwissenschaften aber nicht geben. Was das oberste Kriterium für unsere Entscheidungen ist, das müssen wir von woanders herbringen. So müssen wir uns gut überlegen, mit welchen Fragen wir uns den Problemen des Lebens stellen wollen. Denn wissenschaftliche Gewissheit reicht nicht für ein sinnerfülltes Leben. Die Wissenschaften sind methodisch eingeschränkt - auch wenn sie ihre Netze ständig verfeinern. Wissenschaftliches Denken und Glauben sind also keine Gegensätze, sie gehen einfach von ganz verschiedenen Fragestellungen aus. Die Wissenschaft kann mit ihren methodischen oder weltanschaulichen Voraussetzungen nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden, und es wäre völlig unwissenschaftlich zu behaupten, dass nur dieser Teil existiere. Gewisse Fragen entziehen sich einfach dem wissenschaftlichen Denksystem. Und es sind genau die Fragen, die ganz entscheidend darüber bestimmen, ob uns unser Leben lebenswert und sinnvoll erscheint oder nicht.

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Glauben versus Denken

"Je religiöser ein Mensch ist, desto mehr glaubt er; je mehr er glaubt, desto weniger denkt er; je weniger er denkt, desto dümmer ist er.“ So denkt nicht nur der Leserbriefschreiber (Tagesanzeiger). Viele Zeitgenossen meinen: Glauben ist etwas Widervernünftiges, Irrationales, und Denken allein sei vernunftgemäss. Sie nehmen an, dass nur die Vernunft zu sicherem Wissen führe, und dass Glauben ein blosses Vermuten sei. Diese Vorstellung ist mit dem Aufkommen des naturwissenschaftlichen Denkens entstanden. Mit dieser Veränderung im wissenschaftlichen Denken machte sich in den Köpfen der meisten Menschen die Meinung breit: Sicheres Wissen kann nur durch Beobachtung, Experiment und Berechnung gewonnen werden.

Leider hat uns aber die scheinbare Befreiung vom Glauben keine vernünftigere Welt beschert. Einerseits erklären die Wissenschaften immer weniger und andererseits liefern sie schon gar keine Deutung oder Orientierungen, nach denen man seine Werte oder gar sein Leben und Lieben ausrichten könnte. Wie sollten sie auch, wenn ihr oberster Glaubenssatz lautet: Die Wissenschaften sind wertneutral. Die rein wissenschaftlich erklärte Welt hat in den Seelen der Menschen ein tiefes Sinnvakuum hinterlassen.

Wenn man wissenschaftliches Denken und den Glauben untersucht, kann man feststellen, dass sie sich nicht wie zwei unvereinbare Gegensätze gegenüberstehen. Sie gehen einfach von je verschiedenen Fragestellungen aus. Dazu eine Geschichte von Hans-Peter Dürr (Direktor des Werner-Heisenberg-Institutes für Physik): Ein Physiker fischt. Ein Gläubiger fragt ihn: "Was kannst du über Fische aussagen?" Der Physiker meint: "Sie sind schuppig und grösser als 5 cm." Nun fragt der Gläubige: „Zeig mir mal dein Netz!" Und siehe da: Es hatte Maschen von 5 cm Durchmesser. "Könnte es also nicht sein, dass du gewisse Fische einfach nicht fängst?“ fragt der Gläubige.

Das Geschichtchen will sagen, dass die Wissenschaft bestimmte Fragen hat - ein bestimmtes Netz und darauf gewisse Antworten erhält. Auf die Fragen: Was ist Schönheit, Liebe, Kunst oder Sinn? gibt sie keine Antworten. Für diese Bereiche fehlen der Naturwissenschaft einfach die Netze. So werden in den Naturwissenschaften Antworten gegeben auf die Frage, wie etwas funktioniert. Aber ebenso wichtige Fragen, wie die der Ethik oder der Transzendenz, können sie nicht beantworten. Die Naturwissenschaften und die davon abgeleitete Technik können uns unter Umständen sagen, wie wir etwas verwirklichen können. Die Antwort auf die ebenso wichtige Frage, was wir tun sollen, können uns die Naturwissenschaften aber nicht geben. Was das oberste Kriterium für unsere Entscheidungen ist, das müssen wir von woanders herbringen. So müssen wir uns gut überlegen, mit welchen Fragen wir uns den Problemen des Lebens stellen wollen. Denn wissenschaftliche Gewissheit reicht nicht für ein sinnerfülltes Leben. Die Wissenschaften sind methodisch eingeschränkt - auch wenn sie ihre Netze ständig verfeinern. Wissenschaftliches Denken und Glauben sind also keine Gegensätze, sie gehen einfach von ganz verschiedenen Fragestellungen aus. Die Wissenschaft kann mit ihren methodischen oder weltanschaulichen Voraussetzungen nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden, und es wäre völlig unwissenschaftlich zu behaupten, dass nur dieser Teil existiere. Gewisse Fragen entziehen sich einfach dem wissenschaftlichen Denksystem. Und es sind genau die Fragen, die ganz entscheidend darüber bestimmen, ob uns unser Leben lebenswert und sinnvoll erscheint oder nicht.

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Alle glauben, auch die Wissenschaft

Im Gespräch mit Studierenden begegnet einem oft die Meinung: „Ich bin WissenschaftlerIn, daher glaube ich nicht.“ Doch schon ganz am Anfang jeder wissenschaftlichen Tätigkeit werden von den Studierenden Glaubensschritte verlangt. Dass z.B. die Wissenschaft wertfrei sein soll, ist eine Wertung, die nicht wissenschaftlich begründbar ist. Es ist ein Glaubenssatz. In jeder Wissenschaft werden bestimmte Wahrheiten einfach vorausgesetzt und oft auch unreflektiert übernommen.

So ist auch die Annahme, dass die Natur eine Einheit ist, nicht beweisbar und muss geglaubt werden. Die Annahme, dass die Natur eine Einheit sei, ist aber ein fundamentaler Basissatz der Naturwissenschaften - denn ohne diese Annahme macht es wenig Sinn, von Naturgesetzen zu reden. Diese Annahme ist aber letztlich ein Glaubenssatz, der nicht bewiesen werden kann, er muss geglaubt werden. So basiert jedes wissenschaftliche oder weltanschauliche System auf gewissen Basissätzen, die von einer Gruppe von Menschen geglaubt werden muss. Alle glauben! Noch allgemeiner: Jedes Denken fordert das Vertrauen auf die Tragfähigkeit des Denksystems. Oder wie Stegmüller meint: „Man muss nicht das Wissen beseitigen, um dem Glauben Platz zu machen. Vielmehr muss man bereits etwas glauben, um überhaupt von Wissen und Wissenschaft reden zu können.“

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Nicht nur das wissenschaftliche Denken, sondern auch das Leben überhaupt, ist nur möglich durch den Glauben. Im Deutschen gibt es die schöne Umschreibung für Glauben: Sich verlassen auf. Ohne, dass ich mich auf etwas oder jemanden verlassen kann, kann ich keinen Schritt mehr tun, keinen Entscheid mehr fällen, keine Beziehung mehr eingehen, keine Nahrung mehr zu mir nehmen. Ich weiss vorher nie, ob beim nächsten Schritt der Boden hält, ob das Brot nicht giftig ist, etc. Um vernünftig leben zu können, ist Vertrauen in die Zuverlässigkeit einer Sache oder einer Person - eben Glaube - die Voraussetzung.

Wenn man daher sauber denkt, dann stellt sich die Frage: Glauben oder Denken? gar nicht. Die entscheidende Frage lautet: Was glaube ich, worauf verlasse ich mich? Welche Basissätze bilden die Grundlage meines Denkens und Handelns, meines Lebens? Wer z.B. mit seinem Denken und Leben nicht bei Gottes Existenz anfängt, glaubt nicht nicht. Er oder sie glaubt auch und besitzt bewusst oder unbewusst Glaubenssätze, auf die er oder sie das Leben stellt. Die entscheidende Frage ist also: Was will ich glauben?

Die zwei Seiten des Glaubens

Um einigermassen vernünftig und auch erfüllt leben zu können, müssen wir uns der Frage stellen, was unserem Leben Sinn, Grund und Halt gibt. Woran sichere ich mich? Sich wie ein Kletterer mit einem Seil am Berg sichern, das ist die Bedeutung des hebräischen Wortes, das wir mit glauben übersetzen.

Dabei hat recht verstandener Glaube (Vertrauen in die Zuverlässigkeit einer Sache oder einer Person) zwei Seiten. Meine Seite ist das Vertrauen. Auf der anderen Seite muss Zuverlässigkeit oder Vertrauenswürdigkeit vorhanden sein.

Vernunftgemässer Glaube prüft, ob das, woran er glaubt, auch zuverlässig und vertrauenswürdig ist. Ich muss wissen ob das, woran ich mich sichern will, worauf ich mein Leben und Denken bauen will, auch sicher ist. Das ist Denkarbeit. Der Glaube wird dann zum dummen oder kopflosen Glauben, wenn er nur blind vertraut, ohne die Zuverlässigkeit der Sache oder Person, auf die er sich

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stützt, geprüft zu haben. Prüfen Sie daher die Fundamente Ihres Lebens, und denken Sie Ihre Glaubenssätze mal durch.

Man kann die Konsequenzen des Glaubens an die Wissenschaft mit den Konsequenzen vergleichen, die aus dem Glauben an den Gott der Bibel entstehen. Ich persönlich setze mein Leben und Denken auf den Glauben an Gott und seine Offenbarung in Jesus Christus und nicht allein auf den Glauben in die menschliche Weisheit, die ich dennoch äusserst schätze, und die ja nicht grundsätzlich Gottes Selbstoffenbarung widersprechen muss. Dennoch, das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie haben mir klar gemacht, dass wenn ich auf Menschenweisheit setze, ich dann eigentlich nur eines mit Sicherheit wissen kann, nämlich, dass ich nichts mit Sicherheit wissen kann. Wenn unser Denken beim Menschen anfängt und bei ihm aufhört, wird alles relativ und unsicher. Ohne den Bezug unseres Denkens auf das Absolute, wird uns auch auf die Frage nach dem Sinn keine heilsame Antwort zukommen. Denn wenn alles nur aus Materie besteht und durch Zufall entstanden ist, dann kann ich daraus eigentlich keinen Sinn ableiten. Auch die Würde des zufällig entstandenen Materieklumpens Mensch verdünnisiert sich. Anders, wenn unser Weltbild vom Glauben an Gott geprägt ist, dann wissen wir, dass der Mensch eben mehr als ein Zufallsprodukt ist. Er ist Abbild Gottes, mit Würde und Ziel. Aus der Offenbarung Gottes in Jesus kann ich wissen, dass ich ein geliebtes Wesen und kein Zufallsprodukt bin, und dass jedem Menschen der gleiche Wert zukommt: dem Kranken und Gesunden; Gelben und Schwarzen; Armen und Reichen... Man kann die verschiedenen Glaubenssätze noch weiter auf ihre Konsequenzen hin untersuchen und sich auch fragen ob man damit leben kann. Auch der biblisch-christliche Glaube muss sich diesen Fragen stellen. Aber ich fürchte keinen Vergleich: Der Glaube an Gott, den liebenden Vater, und an seine Offenbarung in Jesus Christus macht Sinn und gibt Sinn, Würde, Freude und Kraft zum leben.

Zur anderen Seite des Glaubens, zum Vertrauen: Der Glauben enthält auch das Wagnis eines Schrittes. Recht verstandener Glaube weiss, dass das Denken nie den Glaubensschritt ersetzen kann. Ich muss mich irgendwann mal loslassen und mich dem Gegenüber hingeben. Wie weiss ich z.B. dass mich jemand liebt? Das ist nicht wissenschaftlich feststellbar. Das weiss ich erst, wenn ich mich auf diese Person mal ganz verlasse. Erst dann weiss ich ob diese Liebe trägt - vorher nicht. Es gibt Menschen, die bleiben immer beim Denken stehen und kommen so nie zu einem sicheren Vertrauen, weil sie es nie wagen, sich loszulassen, sich im Glaubensschritt hinzugeben. Sie prüfen alle Wenn und Aber, das ist auch gut so, aber wenn sie dann nicht den Schritt ins Vertrauen wagen, bleiben sie bei sich. Viele Wahrheiten, und gerade eben jene, auf die wir in unseren Glaubenssystemen vertrauend bauen, erschliessen sich erst im existentiellen Vollzug. Wie dieser Gott und dieser Jesus ist, können wir nicht mit wissenschaftlichem Denken erfahren, dazu müssen wir den Vertrauensschritt wagen und müssen uns entsichern und uns auf diesen Gott verlassen. Viele Glaubende haben diesen Schritt gewagt und können nun mit ebenso grosser Gewissheit sagen: „Ich weiss, dass mein Erlöser lebt!“ wie auch: „Ich weiss, dass es Elektronen gibt!“ Ich habe diesen Schritt auch einmal bewusst vollzogen und „mich verlassen“. Und noch etwas: Der Vorwurf, dass man beim biblisch-christlichen Glauben den Kopf abgeben müsse, scheint mir überhaupt nicht gerechtfertigt zu sein.