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H. Tellenbach· Melancholie

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· Durer. Mclcncoiia I

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Hubertus Tellenbach

Melancholie Problemgeschichte Endogenitat Typologie

Pathogenese Klinik

Dritte, erweiterte Auflage

Mit einem Geleitwort von

Prof. Dr. Dr. Frhr. V. E. von Gebsattel

Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1976

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Professor Dr. med. Dr. phil. Hubertus Tellenbach

Arztlicher Direktor der Abteilung Klinische Psychopathologie

der Psychiatrischen Klinik der Universitat Heidelberg

ISBN-13: 978-3-642-96348-3 e-ISBN-13: 978-3-642-96347-6 DOl: 10.1007/978-3-642-96347-6

Library of Congress Cataloging in Publication Data Tellenbach, Hubert, 1914-Melancholie: Problemgeschichte, Endogenitiit, Typologie, Pathogenese, KIinik. Bibliography: p. Includes index. 1. Melancholia. 2. Depression, Mental. 3 . Manicdepression psychoses. I. Title. RC516.T441976 616.8'52 76-14468

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Softcover reprint of the hardcover 3rd edition

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DEM ANDENKEN

DES

FREIHERRN V. E. v. GEBSATTEL

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Vorwort zur dritten Auflage

Die rasche Neu-Auflage verdankt dies Buch einer Komplexion gliicklicher Umstiinde. Es hat Leser gefunden, die Bewunderung verdienen, weil sie sich durch seine Forderung nicht entmutigen lieBen. Seine Rezensenten, die intensivsten Leser, haben ihm eine Stellung zuerkannt, die jenseits trendhafter Einseitigkeiten liegt. Sein Ursprung: das Gespriich mit Forschern, brilliant im Reichturn des Einfalls und in der Kraft des Urteils, blieb ibm erhalten. Sein Ort blieb Heidelberg - und Heidelberg blieb Mittelpunkt dialogischer Bemiihung urn den Kosmos Anthropos und die Phiinomene seines Krankseins. Und so weiB sich der Verfasser Hominibus Heidelbergensibus verpflichtet: in der Frage der Tradition einer geistigen Medizin HEINRICH SCHIPPERGES - in dem Ringen um das Riitsel ~er endogenen Psychos en dem Werke WALTER v. BAEYERs und WOLFGANG BLANKENBURGs - im Wagnis eines neuenEntwurfs einer anthropologischen Psychologie und Psychopathologie DIETER WySS - in der wissenschaftlich strengen Verschriinkung von Phiinomen und Zahl DETLEV V. ZERSSEN - im Gespriich iiber Wert und Unwert, Wirklichkeit und Utopie dem kritischen Geist WERNER JANZARIKs.

Heidelberg, 1976 HUBERTusTELLENBACH

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Vorwort zur zweiten Auflage

Dieses Buch galt und gilt dem Versuch, die menschliche Wirklichkeit, die wir mit dem Wort Melancholie umgreifen, in einer ihrem Wesen entsprechenden Konzeptionzu erfassen. Eine konzeptionsgerechte Strukturierung dieser Wirklichkeit induziert auch die Methode ihrer ErschlieBung und ermoglicht damit Erfahrungen, die zu wissenschaftlich begriindeten und nachpriifbaren Ergebnissen fUhren. Der Leser, der sich der Auffassung der Melancholie als endo-kosmo-gener Psychose zu offnen bereit ist, mutet sich eine nachgehende philosophische Bemtihung zu, deren Notwendigkeit er in der ausfUhrlichen Studie tiber "Die Begrtindung psychiatrischer Erfahrung und psychiatrischer Methoden in philosophischen Konzeptionen yom Wesen des Menschen" (in: Neue Anthropologie. Hrsg. H. G. GADAMER und P. VOGLER. Bd. VI. Stuttgart: Thieme 1975) legitimiert finden wird. Diese Bemtihung ist nicht anspruchsvoller als z. B. jene, welche die Forschergruppe um BATESON, HALEY und JACKSON zur Begriindung ihrer Schizophrenie-Konzeption in der Kommunikations-Theorie von WHITEHEAD und RUSSEL dem Leser aufzuerlegen bereit ist. Zu Recht! Denn eine Psychiatrie, die sich jenseits der Barbarei der Aktualitaten weiB, kann auf die Explikation ihrer metaphysischen Voraussetzungen nicht verzichten.

Den Rezensenten der ersten Auflage m6chte ich, eine jede dieser BemOOungen vergegenwartigend, herzlich danken. Fordemd und -fordemd vor allem R. EBTINGER/ StraBburg (L'6volution psychiatrique), H. KUNz/Basel (Psyche), J. J. LOPEZ IBoR/Madrid (Acta Luso-Espanolas de Neurologia y Psiquiatria), W. JANZARIK/Heidelberg (Fortschr. Neurologie und Psychiatrie), H. MOLLER-SUURlGottingen (Nervenarzt), P. J. RErTER/ Kopeohaben (Ugeskrift for Laeger), J. WYRScH/Stans (Psychiatria et Neurologia/ Schweiz). GroB war die Freude tiber Aller Wiirdigung des generosen Geleitwortes des Freiherrn v. GEBSATIEL, dieser Chimborazohaften Freundesgabe. Danken m6chte ich BIN KIMURA/Nagoya und ALFRED KRAus/Heidelberg fiir Melancholie-Gesprache durch Jahre hindurch - danken MARGARETE NOBILING fUr unausgesetzte MOOen urn die Druck-Bereitung des Manuskriptes.

Heidelberg, 1974 HUBERTUS TELLENBACH

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Geleitwort

In bemerkenswerten Studien hat TELLENBACH den Weg vorbereitet zu dem neuen, weit angelegten und groB durchgefiihrten Werk iiber die Melancholie. Bedenkt man, von diesen Vorarbeiten kommend, in erster Linie seine Studie iiber "Gestalten der Melanchblie", und vergleicht seine Auslegung von "Daseinsgestalt" und "Wesensgestalt" der Schwermut in Analysen von Werther, Kierkegaard und Koheleth mit dem letzten, erstaunlich dichten Werk aus der Erfahrungswelt der klinischen Psychiatrie, so ist man versucht zu sagen, daB die Fiihigkeit, von Gestalten des Daseins sich ansprechen zu lassen, dieser kiinstlerische Zug, im ganzheitlichen UmreiBender Aufbauordnung und zuinnerst des Wesensbildes der endogenen Psychose hier die Stufe der Meisterschaft erreicht. Nicht darf verschwiegen werden, daB eine elementare Vertrautheit mit dem Phiinomen des Genialen TELLENBACH befiihigt, den immer wieder unbegreiflich anmutenden Absturz der menschlichen Natur in die Psychose bis an die Grenze des Aussagbaren zu verfolgen (vgl. S. 153).

Aus der Gesamtheit des Wissens urn Melancholie und Melancholiker, wie solches als das Ergebnis der Forschung von zwei Jahrtausenden vorliegt; aus der Fiille in historischer Treue gewiirdigter Formulierungen, insbesondere auch der neuesten Forschung, einer Treue, die sich gleicherweise freihiilt von blinder Kritik und blinder Zustimmung, ist im Zug einer neu erschlossenen Weite und Tiefe eigenster Forschung das Werk iiber die Melancholie zustande gekommen. In einer Mischung von diskreter Begeisterung und eigenwiichsiger Sprachgewalt; von gesammelter Energie des Unterscheidens und Bestim­mens; von phiinomenologischer Klarheit der Wesensschau in typologischen Fragen und Strukturanalysen; vor allem aber in der unvergleichlichen Subtilitiit der klinischen Beobachtungen und ihrer epikritischen Auslegung, ordnet sich das Werk den seltenen Erzeugnissen wissenschaftlichen Geistes ein, die von repriisentativer exemplarischer Bedeutung sind. Werke des angedeuteten Ranges iiberraschen durch die scheinbar miihelose Selbstverstiindlichkeit, mit der Tiiren aufgestoBen werden, hinter welchen das jeweilige Forschungsgebiet erhellende Sachverhalte sich verborgen hielten, so daB, unerwarteter Weise, naheliegende und doch die liingste Zeit dem Zugriff der Forschung entzogene Gegebenheiten mit einem Mal autleuchten, und dies mit dem Ergebnis, daB nunmehr grundlegende Ordnungszusammenhiinge zu scheinen beginnen, die einleuchten, deren langwiihrende Verdunkelung die Forschung aber teils in unlOsbare Scheinprobleme verstrickte, teils zu verstiegenen Konstruktionen veranlaBte. Es zeigt sich, daB eben auch im Gebiet der wissenschaftlichen Forschung das Wahre in der iiberzeugenden Gestalt des Schlichten und Einfachen auf tritt, dem man den miihevollen Weg, auf dem es erschlossen wurde, nicht mehr anmerkt.

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x Geleitwort

"Oberblickt man das Ganze des vorgelegten Werkes, das den Stoff in fUnf Kapitel aufgliedert, so sind es die drei mittleren, in welchen die Forschung auf' neuen Anbaufliichen der alten Melancholielehre sich ansiedelt. Deren Einbeziehung gestattet dann, eine dem Sachgebiet gemiiBere Ordnung zu stiften und darzustellen.

Vor allem sind es die Grundbegriffe des "Endon" und des "Endogenen", die im zweiten Kapitel eine Kliirung erfahren, wodurch sofort die Fragestellung auf den sicheren Boden gestellt wird, nach welchem sich die Forschung seit etwa 60 J ahren vorgetastet hat, ohne je ihn wirklich betreten zu konnen. Eine scheinbar geringfiigige Unterscheidung, die niimlich des "Endon" und des "Endogenen", veriindert wie mit einem Zauberschlag, grundlegend die Problemlage, indem sie einen Tatbestand ordnet, dessen Aufweis die grundsiitzliche Orientierung der Melancholie-Forschung von ihrer Verhaftung an ein nebuloses und vages Ungefiihr befreit; diesem muBte sie auf dem Weg des Suchens, als das Opfer einer dualistischen Psychiatrie, anheimfallen. Auf 4 Seiten wird der ganzheitliche Aspekt des Endon entwickelt, in priignanten, luciden, einpriigsamen Wendungen, die einen ersten Hohepunkt des Werkes bedeuten. Indem solcherart das einheitliche Ursprungsfeld der endogenen Phiinomene vorgestellt wird, gelingt es, diese als Emissio­nen, als Abwandlungen, als particulare AuBerungsformen des Endon zu verstehen. So wird es moglich, vondiesem Ausgangsort her, bislang nicht einzuordnende depressive Erscheinungen in ihrer Herkunft zu erfassen, sie in ihre Ursprungstiefe hineinzusehen, kurz das "Spektrum des Endogenen" zu entwickeln; und das ohne sich zu beschriinken auf jene Varianten des Spektrums, die, als pathologische Abwandlungen der Endogenitiit, allein das Forschungsgebiet des Psychiaters ausmachen. Wo immer die Psychiatrie fortschreitet zu einem entscheidenden Verstiindnis pathologischer Erscheinungsweisen des Menschseins, setzt die jeweils neue Schau als ihre wesentliche Bedingung voraus ein Verstiindnis der anthropologischen Norm. Man denke hier an SPINOZAs These: Verum est index sui et falsi.

Sofort ist durch diesen erfolgreichen VorstoB in ein grundlegendes Aufbauelement des totum humanum mitgesetzt die Moglichkeit, in hellsichtiger Klarstellung die bis in das neueste Schrifttum hineinreichende Wirmis aufzuloseh, dIe ihren Ausgang nimmt von der Verkennung jenes weder auf Physisches noch Psychisches zuriickfUhrbaren, die N atur des Menschen durchwohnenden organismischen Eigenbereiches: des Endon niimlich und des Endogenen.

Erst nachdem systematisch die didaktische Auseinandersetzung geleistet worden ist, welche bald die Herkunft, bald den nosologischen, dann wieder den anthropologischen Sinn der Endogenitiit von Psychosen zum Gegenstand macht, ist schlieBlich der Grund gelegt fUr die Frage nach den besonderen typologischen Wesensziigen, den Situationen und Konstellationen, den spezifischen Bedrohungen, welche das Absinken des Daseins in den Schwerebereich der Melancholie vorbereiten. Dann erst wird es moglich, die Bedingungen fUr den psychologischen und den metapsychologischen Stufengang dieses Absinkens in Erscheinung treten zu lassen.

Es gelingt TELLENBACH, als Ergebnis der Katamnesen von 119 genesenen Melancho­lie-Kranken einen Typus melancholicus herauszupriiparieren. Darin und in brillianten Abschnitten zur Pathogenese der endogen-melancholischen Psychose gipfelt der an neuen Funden reiche, eigengeartete Hauptteil des Werkes. Fast zwei Drittel des Buches nehmen diese Themen fUr sich in Anspru~h.

Als gliicklicher Einfall erwies sich die Bemiihung, in systematischer Nachexploration von genesenen Kranken die priimorbide Wesensstruktur des Typus melancholicus zu

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Geleitwort XI

erarbeiten und sie zur Ausgangsstelle zu machen fUr die zentrale, pathogenetische Intention des Werkes. Wohl mag zuerst iiberraschen, wenn dieses Unternehmen das Ergebnis zeitigt, im Charaktermerkmal der "Ordentlichkeit" einen konstitutiven Wesens­grundzug des melancholischen Typus zu statuieren. Indessen kann nach den vorgelegten Untersuchungen nicht bezweifelt werden, daB die Selbstverwirklichung des Melancholi­schen sich ereignet in der Form eines pointierten Bedachtseins auf Ordnung im Sinne von "Ordentlichkeit". Allerdings, so horen wir, ist diese auch vielen Gesunden gemi:iBe Ausrichtung auf Ordnung bei Melancholikern zu verstehen als eine des MaBes entbehrende, programmatisch starre Festgelegtheit auf Ordnung in diesem oder jenem wesentlichen Daseinsbezug. Der Terminus "Festgelegtheit" involviert sofort die Vorstel­lung einer moglichen Bedrohung. UiBt sich doch das Lebensgeschehen nicht festlegen ohne die Elastizitiit seiner situationsgerechten Abwandelbarkeit einzubiiBen. Diese EinbuBe bedeutet unter Umstiinden einen bedrohlichen Freiheitsverlust. Hier geht TELLENBACH von den Ergebnissen iilterer Autoren aus, die sahen, daB im Angehaltenwer­den der basalen Lebensbewegung, in einer Storung des Sichereignen-Konnens der Selbstverwirklichung, die Grundstorung, die zwiefache, der endogenen Melancholie bestehe. Diese Anschauung riickt TELLENBACH ins helle Licht psychopathologischer BewuBtheit: beide eben genannte Aspekte der basalen "Werdenshemmung" sind nicht nur in meisterhaften psychopathologischen Analysen verdeutlicht, sie werden sofort auch mit dem Mittel einer sachgerechten Namengebung fixiert und zwar als die "Konstellation der Inkludenz und der Remanenz". Weit hinter die iilteren Untersuchungen wird auf diese Weise zuriickgegriffen in das Vorfeld der eigentlichen Psychose. Schon der naturgegebene Aufenthalt in diesem Vorfeld erweist sich beim Melancholiker als eine spezifische Situation von bedrohlichem Charakter.

Dies aber festzustellen geniigt TELLENBACH nicht: denn der Riickgriff auf das Vorfeld der Psychose bedeutet an seiner pathogenetischen Hauptintention nicht viel mehr als die unvermeidliche Riickwiirtsbewegung eines anlaufnehmenden Springers. Und so fort driingen sich der typologischen Untersuchung zwei neue Fragen auf, einmal: wie wandelt sich die, zuniichst nur bedrohliche, nun urn in die drohende pradeptessive Situation? Und dann: wie folgt auf diese depressive Situation die eigentliche Psychose? Wieder stehen dem geschulten Humanisten zwei neugepriigte Begriffe zur Verfiigung, mit denen er den Situationswandel und dessen spezifische Typizitiit in der gesetzlichen Aufeinanderfolge seiner Phase zu fassen weiB; sie lauten "Endotropie und Endokinesis". Mit den so bezeichneten sich gegenseitig fordernden Seinsweisen melancholischen Daseins am . Beginn der Psychose findet die endogen ausgerichtete pathogenetische Grundintention ihre ErfUllung.

Und dennoch bleibt ein Rest; eine Liicke tut sich auf in der Kontinuitiit des pathogenetischen Erfassens; im durchgiingigen Geschehen auf die Psychose hin ein Hiatus! Niemand ist sich klarer dariiber als der Forscher selbst, der im Erfassen der Kontinuitiit situativer Wandlungen die eigentliche Aufgabe seiner pathogenetischen Absicht erkannt hat. Unter dem Titel "Verzweiflung" ist die gleichsam erste Situation erfaBt, die auf den Hiatus folgt, der Anfang der eigentlich depressiven Phase. Die faszinierende Analyse der verzweifelnden Befangenheit im Hin und Her des Zweifels zeigt dem Leser, daB sich nunmehr eine Abwandlung vollzogen hat, und die "Verzweiflung" nicht mehr zwingend aus der Struktu,r der letzten Phase des Selbstverhiiltnisses hervorgeht. Mit Berufung auf die auch nicht auseinander ableitbaren AltersphasenliiBt TELLENBACH_sichtbar werden: den nichtzuverstehenden, nicht biographisch und nicht

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XII Geleitwort

genetisch abzuleitenden, und daium in seinem Geheimnisstand anzuerkennenden "Augenblick", in dem die Psychose ais endotrop bewirkte Endokinese faktisch in Gang kommt und sich durchsetzt. Das ist der ewig in Ietzter Unverstandlichkeit beharrende "Augenblick", auch wenn er ais Abwandiung des Endon, der organismischen Natur des Menschen, gewuBt ist; das ist die geheimnisvolle Stelle, wo die Phase der Selbstwiderspro­chenheit umschlagt in die radikaIe, die psychotische Entmachtigung des Selbst.

DaB mit einer solchen Bemiihung urn ein Totaiverstandnis der Meiancholie die Moglichkeit einer neuen Systematik der Meiancholie angebahnt ist, erweist deutlich das SchIuBkapitei des Werkes.

Zweck dieser Ausfiihrungen ist indessen nicht eine Inhaltsangabe. Wer sich an eine solche heranwagt, sabe sein Vorhaben nur dann adaquat erfiillt, wollte er den Text des Werkes Satz fiir Satz wiederholen. In dieser Hinsicht hat das Werk TELLENBACHs iiber seine wissenschaftliche Bedeutung hinaus den Rang eines nicht anders ais durch sich selbst wiederzugebenden Kunstwerkes. Von diesem Rang ein Zeugnis ablegen zu diirfen, ist dem Schreiber dieser Zeilen Ehre und Genugtuung.

V. E. Freiherr v. GEBSA TIEL

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Inhaltsverzeichnis

I. Geschichtliche Perspektiven der Prohlemlage. Ein Riickblick als Vorblick 1. Historiologische Bemerkungen zum Melancholieproblem . . . . . . 1 2. Typus melancholicus und Melancholie im Corpus Hippocraticum 4 3. PLA TONs Manialehre und die zirkulare Antinomik . . . . . . . . . . 6 4. Melancholie und Genialitat - eine epochale Konzeption des

ARISTOTELES. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 5. Melancholie als Bedingung der Genialitat bei W. SZILASI. . . . . .. 11 6. Der Kontext von imaginativer Genialitat und Melancholie bei

HEINRICHVONGENT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 7. Die Characteristica des griechischen Aspektes der Melancholie .., 13

H. Endogenitiit als Ursprung 1. Die U rsachenfelder der klinischen Psychiatrie . . . . . . . . 16 2. Methodologische Begriindung des Ganges der Untersuchung _. 17 3. SpektrumdesEndogenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

a) Das Rhythmische als Grundgestalt des Lebensgeschehens 18 b) Abwandlungen des Geschehensrhythmus. . . . 20 c) Abwandlung der Kinesis des Lebensgeschehens 22 d) Das Globale der Abwandlung 26 e) Bindung an Reifungsstufen . . . . . . . . . . . 27 f) Reversibilitat. . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 g) Der Aspekt der Erblichkeit: Gen-installierte Moglichkeit eines

spezifischen Phanotypus - spezifische kosmogene Verwirk-lichung - typogene "Situierung" pathogener Situationen . 31

4. Ganzheitlicher Aspekt der Endogenitat . . . . . . . . . . . . . .. 36 5. Versuch einer philosophischen Standortbestimmung der Endo­

genitat durch privative Interpretation von "Dasein" im Sinne HEIDEGGERs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 40

6. Die Korrelation von Geworfenheit und situativer (vitaler) Bedeut-samkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

7. Die regionale Bestimmung des 'Endon . . . .. . • . . . . 48 8. Endologie: Forschung in der Seins-Region der Endogenitat 50

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XIV Inhaltsverzeichnis

m. Der Typus melancholicus. Kinetische Typologie: Methode der Wesens­erschlie8ung des Typas melanchoHcus A. Vorlaufende Typologien in ihrem Bezug zum Problem der Pathogenese 53

1. Zur pramorbiden Charakterstruktur Manisch-Melancholischer bei K.ABRAHAMundS.FREUD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 53

2. Die cycIoiden Temperamente E. KRETSCHMER. . . . . . . . . . .. 58 3. Die pramorbiden Typen und die Typologie der Melancholien bei

F.MAUZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 59 4. Der sensitive Beziehungswahn (E. KRETSCHMER) - ein Modell

flir eine Typologie in pathogenetischer Absicht. . . . . . . . . . .. 60 5. "Shuchaku-Seikaku" ("Statothymie") - der pdimorbide Charakter

der Manisch-Melancholischen bei M. SHIMODA . . . . . . . . . .. 61

B. Zur Wesensstruktur des Typus melancholicus und ihrer konditionalen Bedeutung fiir die Entwicklung der priimelancholischen Situation. . . .. 63

1. Das Festgelegtsein auf Drdentlichkeit - ein konstitutiver Wesens-grundzugdes melancholischen Typus. . . . . . . . . . . . . . . .. 65

2. Die Drdnung der Arbeitswelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 69 3. Die Bedrohung durch einen perniziosen Zirkel von Umfang und Ge-

nauigkeit des Leistens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 71 4. Die Drdnung der mitmenschlichen Beziige . . . . . . . . . . . . .. 73 5. Die Bedrohung des melancholischen Typus durch Storungen der

Drdnung mitmenschlicher Beziige . . . . . . . . . . . . . . . . .. 75 6. Die Gewissenhaftigkeit des melancholischen Typus . . . . . . . .. 81 7. Die Bedrohung durch Gewissensbelastung und Gewissenskollision 84 8. Das Bedrohliche des eigenen Krankseins. . . . . . . . . . . . . .. 88

Exkurs iiber die Bedeutung des Schlafentzugs fiir das Hineingeraten wie fUr das Herausgeraten aus einer Melancholie . . . . . . . . . . . . . .. 92

9. Bedrohliche Situationen bei Generationsvorgangen . . . . . . . .. 97 10. Die Verfassung der Drdnung des Typusmelancholicus . . . . . . .. 107 11. Dbjektivierende Untersuchungen zur pramorbiden Personlichkeit

endogen Melancholischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 112 12. Die Verwirklichung Manisch-Melancholischer in den Medien von

Rolle und Identitat bei A. KRAUS .................. 115

IV. Zur Pathogenese der endogen-melanchoHschen Abwandlung 1. Bemerkungen zu einer Situationspsychologie 2. Die Konstellation "Inkludenz". . . . . . . . . 3. Die Konstellation "Remanenz" ....... .

119 124 133

Exkurs iiber die "Entiastungsdepressionen" (W. SCHULTE) und die "Entwurzelungsdepression" (H. BORGER-PRINZ) . . . . . . . . . . . .. 145

4. Kinetische Typologie: Der Typus melancholicus "situiert" die Um-welt zu "seiner" Situation ...... . . . . . . . . . . . . . . .. 146

5. "Verzweiflung" - Nenner der melancholisch-psychotischen Initial­situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 148

6. Der "Augenblick" der Abwandlung: endotrope (pramelancholische) Situation - Endokinese -endogene (melancholische) Situation .. 153

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InhaltsveIZeichnis XV

v. Klinische Erorterungen A. Zur Klinik und Psychopathologie der Schuldmelancholien: Die Defor­

mation des Schulderlebens in der endogenen Melancholie. . . . . . . .. 158 1. Intrapsychotisches Nichtkonnen als Thema endogen deformierten

Schulderlebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 158 2. Eooogen deformiertes Schulderleben und seine Relation zu extra-

psychotischen Schuldgehalten 159 3. Ober "petites fautes". . . . . . . . . . . . 162

B. Zur Nosologie und Systematik der Melancholien . . . . . . . . . . . .. 166 1. "Melancholie" als Kennzeichnung psychotischer Depressivitiit 166 2. Psychogene und endogene "Depressivitiit": depressive Reaktion

und endogene Melancholie nach Erlebnisreaktionen - depressive Neurose und endogene Melancholie nachNeurosen . . . . . . . .. 167

3. Somatogene und endogene "Depressivitiit": "somatogene Depres­sionen" - oder "endogene Melancholien" bei/nach somatischen Storungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 170

4. Nachweisbar situationsgebundene (situationsspezifische) und nicht nachweisbar situationsgebundene (sog. autochthone) Melancholien 174

C. Grundfragen der Therapie Melancholischer. . . . . . . . . . . . . . .. 177 1. Die thymoleptische Strecke der anti-melancholischen Behandlung 180 2. Die nicht-thymoleptische Strecke der anti-melancholischen Behand-

lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183 3. Anti-melancholische Therapie als Versuch einer psychoanalytischen

VeriinderungderpramorbidenStruktur . . . . . . . . . . . . . .. 187

Nachwort . . . . . . . . . . 190 HinweiseundBemerkungen. 193 Literamrverzeichnis. 202 Sachverzeichnis . . . . . . . 215