H. Wirtschaftsintegration in der EU · 2016. 6. 16. · 3 Dieses Verbot von Zöllen und Abgaben...

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1 H. Wirtschaftsintegration in der EU I. Formen der Wirtschaftsintegrationen 1. Allgemeines Die ursprüngliche Idee hinter den Europäischen Ge- meinschaften war eine europäische Integration im wirtschaftlichen Bereich, zunächst beschränkt auf Kohle und Stahl (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS). Mit der Schaffung der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft (EWG, später: EG) durch die Römischen Verträge 1957 (Inkrafttreten zum 1. Januar 1958) wurde das Gebiet der europäischen Wirtschaftsintegration inhaltlich deutlich erweitert. Ziel war nunmehr, eine Zollunion und einen Gemein- samen Markt zu schaffen. Zollunion und Gemeinsamer Markt –welche zu den wichtigsten Politiken der Europäischen Union zählen– sind ganz allgemein dabei nur zwei mögliche Formen einer wirtschaftlichen Integration. Daneben existieren Modelle der Wirtschaftsintegration in Form der Frei- handelszone, des Binnenmarkts bis hin zur am weitest gehenden Ausprägung, der Wirtschaftsunion. Dabei bauen die verschiedenen Modelle aufeinander auf: Die Basis bildet die Freihandelszone, gefolgt von Zollunion, Gemeinsamen Markt, Binnenmarkt bis hin zur Wirtschafts- (und Währungs)union. Eine Zollunion beinhaltet also immer alle Elemente einer Freihan- delszone; eine Wirtschaftsunion die Elemente aller anderen ihr zugrundeliegenden wirtschaftlichen Integ- rationsmodelle. Eine Wirtschaftsunion, der keine Zoll- union zugrunde liegt oder in der es keinen Gemeinsa- men oder Binnenmarkt gibt, ist also ausgeschlossen. Eine Freihandelszone ist die schwächste Ausprägung einer wirtschaftlichen Integration: Mehrere Staaten schließen sich hierbei zu einem Wirtschaftsraum des freien Handels zusammen. In diesem sind Binnenzölle (also Zölle auf Waren, die zwischen den Mitgliedsstaa- ten der Freihandelszone gehandelt werden) und Han- delshemmnisse (z.B. Ein- und Ausfuhrverbote, Kontin- gente) abgeschafft sind. Jedoch existieren weiterhin Außenzölle für Waren aus Drittstaaten, wobei jeder Mitgliedsstaat der Freihandelszone seinen jeweiligen nationalen Zolltarif gegenüber Drittstaaten beibehält. Der Geldbetrag, der bezahlt werden muss, damit eine Ware aus einem Drittstaat über die Grenze in einen der Mitgliedsstaaten eingeführt werden darf, ist also von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat verschieden. Ein Unternehmen muss sich also überlegen, in welchen Staat der Freihandelszone es seine Waren einführt: So mag Staat A nur 15 % des Warenwertes als Zollsatz festlegen, Staat B hingegen 17 % und Staat C sogar 20 %. Lässt man alle anderen Faktoren außer Betracht, würde der Import in den Staat A also finanziell günsti- ger sein als in die anderen beiden Staaten der Frei- handelszone. Beachten muss das Unternehmen zu- sätzlich aber stets auch andere preisbildende Fakto- ren, z.B. geografische Lage des Staates (zentral oder am Rande der Freihandelszone) oder die jeweilige Infrastruktur (liegt ein Staat am Meer oder nicht, gibt es Flughäfen, Straßen-, Wasser- oder Eisenbahnwege etc.). Unter entsprechenden Umständen könnte es also wirtschaftlich sinnvoller sein, die Waren in die Staaten B oder C einzuführen, obwohl auf den ersten Blick die finanzielle Belastung durch die Zölle höher ist. Wichtige Beispiele für Freihandelszonen sind die EFTA (European Free Trade Association zwischen Norwegen, Island, der Schweiz und Liechtenstein) sowie die NAF- TA (North Atlantic Free Trade Agreement zwischen den USA, Kanada und Mexiko). Eine Stufe weitergehend als die Freihandelszone ist die Zollunion. Diese baut entsprechend den obigen Aus- führungen auf dem Fundament einer Freihandelszone auf (Binnenzölle sind also abgeschafft), im Vergleich zu dieser verfügt sie jedoch über einen einheitlichen gemeinsamen Außenzolltarif gegenüber Drittstaaten. Der für die Einfuhr einer Ware aus einem Drittstaat in einen der Mitgliedsstaaten der Zollunion zu zahlende Geldbetrag wird zentral festgelegt und ist also in je- dem Mitgliedsstaat gleich. In diesem Fall kann sich das Unternehmen also ausschließlich auf die anderen Kostenfaktoren (geografische Lage / Infrastruktur) konzentrieren, um den Staat zu ermitteln, der als Im- portstaat am geeignetsten ist. Der Zollsatz ist überall identisch, entsprechend dem obigen Beispiel also etwa 17 % in den Staaten A, B und C. Auf der nächsten Stufe folgt der Gemeinsame Markt. Im Unterschied zu einer reinen Zollunion bietet er zusätzlich innerhalb des Gemeinsamen Marktes den freien Verkehr von Kapital und Personen. Die Idee des freien Handels, also vor allem der Abschaffung von Kontingentierungen und Handelshemmnissen wird also von Waren auch auf die anderen relevanten Wirt-

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    H. Wirtschaftsintegration in der EU

    I. Formen der Wirtschaftsintegrationen

    1. Allgemeines

    Die ursprüngliche Idee hinter den Europäischen Ge-

    meinschaften war eine europäische Integration im

    wirtschaftlichen Bereich, zunächst beschränkt auf

    Kohle und Stahl (Europäische Gemeinschaft für Kohle

    und Stahl, EGKS). Mit der Schaffung der Europäischen

    (Wirtschafts-)Gemeinschaft (EWG, später: EG) durch

    die Römischen Verträge 1957 (Inkrafttreten zum 1.

    Januar 1958) wurde das Gebiet der europäischen

    Wirtschaftsintegration inhaltlich deutlich erweitert.

    Ziel war nunmehr, eine Zollunion und einen Gemein-

    samen Markt zu schaffen.

    Zollunion und Gemeinsamer Markt –welche zu den

    wichtigsten Politiken der Europäischen Union zählen–

    sind ganz allgemein dabei nur zwei mögliche Formen

    einer wirtschaftlichen Integration. Daneben existieren

    Modelle der Wirtschaftsintegration in Form der Frei-

    handelszone, des Binnenmarkts bis hin zur am weitest

    gehenden Ausprägung, der Wirtschaftsunion.

    Dabei bauen die verschiedenen Modelle aufeinander

    auf: Die Basis bildet die Freihandelszone, gefolgt von

    Zollunion, Gemeinsamen Markt, Binnenmarkt bis hin

    zur Wirtschafts- (und Währungs)union. Eine Zollunion

    beinhaltet also immer alle Elemente einer Freihan-

    delszone; eine Wirtschaftsunion die Elemente aller

    anderen ihr zugrundeliegenden wirtschaftlichen Integ-

    rationsmodelle. Eine Wirtschaftsunion, der keine Zoll-

    union zugrunde liegt oder in der es keinen Gemeinsa-

    men oder Binnenmarkt gibt, ist also ausgeschlossen.

    Eine Freihandelszone ist die schwächste Ausprägung

    einer wirtschaftlichen Integration: Mehrere Staaten

    schließen sich hierbei zu einem Wirtschaftsraum des

    freien Handels zusammen. In diesem sind Binnenzölle

    (also Zölle auf Waren, die zwischen den Mitgliedsstaa-

    ten der Freihandelszone gehandelt werden) und Han-

    delshemmnisse (z.B. Ein- und Ausfuhrverbote, Kontin-

    gente) abgeschafft sind. Jedoch existieren weiterhin

    Außenzölle für Waren aus Drittstaaten, wobei jeder

    Mitgliedsstaat der Freihandelszone seinen jeweiligen

    nationalen Zolltarif gegenüber Drittstaaten beibehält.

    Der Geldbetrag, der bezahlt werden muss, damit eine

    Ware aus einem Drittstaat über die Grenze in einen

    der Mitgliedsstaaten eingeführt werden darf, ist also

    von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat verschieden. Ein

    Unternehmen muss sich also überlegen, in welchen

    Staat der Freihandelszone es seine Waren einführt: So

    mag Staat A nur 15 % des Warenwertes als Zollsatz

    festlegen, Staat B hingegen 17 % und Staat C sogar 20

    %. Lässt man alle anderen Faktoren außer Betracht,

    würde der Import in den Staat A also finanziell günsti-

    ger sein als in die anderen beiden Staaten der Frei-

    handelszone. Beachten muss das Unternehmen zu-

    sätzlich aber stets auch andere preisbildende Fakto-

    ren, z.B. geografische Lage des Staates (zentral oder

    am Rande der Freihandelszone) oder die jeweilige

    Infrastruktur (liegt ein Staat am Meer oder nicht, gibt

    es Flughäfen, Straßen-, Wasser- oder Eisenbahnwege

    etc.). Unter entsprechenden Umständen könnte es

    also wirtschaftlich sinnvoller sein, die Waren in die

    Staaten B oder C einzuführen, obwohl auf den ersten

    Blick die finanzielle Belastung durch die Zölle höher ist.

    Wichtige Beispiele für Freihandelszonen sind die EFTA

    (European Free Trade Association zwischen Norwegen,

    Island, der Schweiz und Liechtenstein) sowie die NAF-

    TA (North Atlantic Free Trade Agreement zwischen

    den USA, Kanada und Mexiko).

    Eine Stufe weitergehend als die Freihandelszone ist die

    Zollunion. Diese baut entsprechend den obigen Aus-

    führungen auf dem Fundament einer Freihandelszone

    auf (Binnenzölle sind also abgeschafft), im Vergleich zu

    dieser verfügt sie jedoch über einen einheitlichen

    gemeinsamen Außenzolltarif gegenüber Drittstaaten.

    Der für die Einfuhr einer Ware aus einem Drittstaat in

    einen der Mitgliedsstaaten der Zollunion zu zahlende

    Geldbetrag wird zentral festgelegt und ist also in je-

    dem Mitgliedsstaat gleich. In diesem Fall kann sich das

    Unternehmen also ausschließlich auf die anderen

    Kostenfaktoren (geografische Lage / Infrastruktur)

    konzentrieren, um den Staat zu ermitteln, der als Im-

    portstaat am geeignetsten ist. Der Zollsatz ist überall

    identisch, entsprechend dem obigen Beispiel also etwa

    17 % in den Staaten A, B und C.

    Auf der nächsten Stufe folgt der Gemeinsame Markt.

    Im Unterschied zu einer reinen Zollunion bietet er

    zusätzlich innerhalb des Gemeinsamen Marktes den

    freien Verkehr von Kapital und Personen. Die Idee

    des freien Handels, also vor allem der Abschaffung von

    Kontingentierungen und Handelshemmnissen wird

    also von Waren auch auf die anderen relevanten Wirt-

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    schaftsfaktoren Kapital (Geldströme) und Personen

    (natürliche Personen = Menschen) (Arbeitskraft) über-

    tragen. Letzteres beinhaltet auch juristische Personen

    (= Unternehmen) sowie die Möglichkeit, Dienstleis-

    tungen frei anzubieten. In der EU spricht man in die-

    sem Rahmen von den Grundfreiheiten: den freien

    Warenverkehr (gesichert bereits durch das Freihandel-

    selement), den freien Personenverkehr (Arbeitneh-

    merfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit), die Dienst-

    leistungsfreiheit sowie den freien Kapital- und Zah-

    lungsverkehr.

    Einen Schritt weiter geht der Binnenmarkt. Oftmals

    wird er synonym für den Gemeinsamen Markt ver-

    wendet, da er wesentliche Bestandteile des Gemein-

    samen Marktes, vor allem die Grundfreiheiten, not-

    wendigerweise verwirklicht und garantiert. Die Gleich-

    setzung von Gemeinsamen Markt und Binnenmarkt ist

    allerdings nicht ganz korrekt: Zusätzlich verfügt der

    Binnenmarkt im Vergleich zum Gemeinsamen Markt

    über gemeinsame Wettbewerbsregeln. Außerdem

    bringt er die Möglichkeit einer Harmonisierung

    (Rechtsangleichung) im Gebiet des Rechts und der

    Verwaltungspolitik mit sich.

    Die stärkste Form wirtschaftlicher Integration schließ-

    lich ist die Wirtschaftsunion. Ihre Wirtschaftspolitik

    ist (völlig) harmonisiert und sie verfügt zwingend über

    eigene supranationale Institutionen und eine eigene

    supranationale Rechtsprechung. Eine tatsächliche

    Wirtschaftsunion setzt ebenfalls eine gemeinsame

    Sozial- und Steuerpolitik voraus (dies könnte als Grund

    angeführt werden, warum es sich bei der EU noch

    nicht um eine vollständige Wirtschaftsunion handelt,

    obwohl dies häufig behauptet wird). Eine noch tiefere

    Integration stellt lediglich die Währungsunion dar, bei

    der sich die teilnehmenden Staaten zu den oben ge-

    nannten Merkmalen zusätzlich noch eine gemeinsame

    Währung geschaffen haben. Dies ist der Fall bei den

    Mitgliedsstaaten des Euroraums. Dass eine Währungs-

    union nicht notwendigerweise auf einer tatsächlichen

    vollständigen Wirtschaftsunion beruhen muss, stellt

    die EU mit 19 ihrer Mitgliedstaaten als Beispiel ein-

    drucksvoll dar; auch wenn das System gegenwärtig

    von einer schweren Krise betroffen ist.

    2. Die Zollunion

    Als Grundlage der früheren Europäischen (Wirt-

    schafts-)Gemeinschaft gilt die Zollunion. Diese er-

    streckt sich auf den gesamten Warenverkehr. Der

    AEUV spricht insoweit vom „Warenaustausch“, womit

    Importe als auch Exporte von der Zollunion umfasst

    sind. Die Zollunion ist somit wesentlicher Bestandteil

    der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs.

    Ein Zoll ist der Geldbetrag, der bezahlt werden muss,

    damit eine Ware über die Grenzen eines Landes ge-

    handelt werden darf. Die Erhebung eines Zolls hat im

    Grundsatz zwei klassische Zwecke: zunächst sollen mit

    Zöllen Einnahmen für den Staat erzielt werden. Dane-

    ben dienen Zölle aber auch als künstliche Verteuerung

    eingeführter ausländischer Waren. Damit soll einhei-

    mischen Produzenten ein Wettbewerbsvorteil ver-

    schafft werden. Zölle haben häufig also einen protek-

    tionistischen Charakter. Obwohl die EU kein Staat ist,

    verfolgt sie mit ihrer Zollpolitik auch diese beiden

    Ziele.

    Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft war es den

    Mitgliedsstaaten bereits seit 1968 verboten, derartige

    Zölle (Binnenzölle) bei Ein- oder Ausfuhr von Produk-

    ten zu erheben (die Kontrolle an den Binnengrenzen

    fielen jedoch erst zum 1. Januar 1993 weg, entspre-

    chend dem früher in Art. 14 EGV vorgesehenen Da-

    tums der „Verwirklichung des Binnenmarktes“ zum

    31.12.1992).

    Daneben sind auch Abgaben gleicher Wirkung verbo-

    ten, also Geldzahlungen, die nicht als Zoll benannt

    sind, aber letztlich auch wegen der Ein- oder Ausfuhr

    einer Ware erhoben werden. Solche Abgaben könnten

    nämlich benutzt werden, um das Zollerhebungsverbot

    zu umgehen und werden oftmals als „Gebühren“ klas-

    sifiziert.

    Gebühren können nämlich legitim sein, zum Beispiel

    Abfertigungsgebühren oder Gebühren für veterinär-

    medizinische Untersuchungen. Sie sind aber nur zuläs-

    sig, wenn sie (1.) als Gegenleistung für eine Verwal-

    tungsleistung verlangt werden (also den tatsächlich

    entstandenen Kosten entsprechen und diese ausglei-

    chen sollen), (2.) sich inländische Waren dieser Ver-

    waltungsleistung zu gleichen Kosten ebenfalls unter-

    ziehen müssen und (3.) die Verwaltungsleistung für

    den Importeur einen tatsächlichen Wert darstellt

    (zum Beispiel bei veterinärmedizinischen Untersu-

    chungen, ohne welche lebende Tiere oder Fleischpro-

    dukte nicht eingeführt werden dürften). Liegt eine der

    drei Voraussetzungen nicht vor, darf die fragliche

    Gebühr nicht erhoben werden. Darüber hinaus sind

    auch solche Abgaben nicht erlaubt, welche zwar auf

    fremde und auf einheimische Produkte erhoben wer-

    den, letztendlich aber ausschließlich der Förderung

    einheimischer Produzenten dienen.

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    Dieses Verbot von Zöllen und Abgaben gleicher Wir-

    kung gilt freilich nur innerhalb der EU. Im Verhältnis

    zu Drittstaaten gilt der Gemeinsame Zolltarif, was die

    EU-Zollunion über den Rang einer bloßen Freihandels-

    zone hinaushebt. Demnach muss bei der Einfuhr einer

    Ware aus einem Drittstaat in einen der 27 Mitglied-

    staaten Zoll gezahlt werden. Es ist dabei völlig egal, in

    welchen Mitgliedsstaat die Ware eingeführt wird, wo

    also letztlich die Ware in die Union gelangt – der er-

    hobene Zoll ist überall gleich. Würde es sich bei der

    EU um eine bloße Freihandelszone handeln, könnte

    jeder Staat den Außenzolltarif selbst festlegen, und es

    wäre bei der Einfuhr zum Beispiel nach Spanien mög-

    licherweise ein völlig anderer Zoll zu zahlen als bei der

    Einfuhr in das benachbarte Portugal.

    Für die Festlegung, Änderung oder Aussetzung des

    Zollsatzes ist der Rat auf Vorschlag der Kommission

    zuständig. Die Festlegung des Zolls erfolgt dabei an-

    hand folgender Merkmale: (1.) Art der Ware (die so-

    genannte Tarifierung), (2.) der Ursprung der Ware,

    wobei die Ware als aus dem Land stammend gilt, in

    dem ihre letzte wesentliche Be- oder Verarbeitung

    erfolgte und (3.) Wert, Anzahl und Gewicht der Ware.

    Der Zollsatz wird in Prozenten des Wertes der jeweili-

    gen Ware festgelegt. Obwohl sämtliche Formalia be-

    züglich des Zolltarifs Sache der Union sind, obliegt der

    verwaltungsmäßige Vollzug des Abfertigungsverfah-

    rens den Behörden des Mitgliedsstaats, in welchem

    die Ware in die EU eingeführt wird. Die zuständigen

    Behörden wenden dabei Gemeinschaftsrecht an. Sie

    nehmen die Zölle ein und leiten sie an die EU weiter:

    dort zählen Zölle mit zuletzt etwa 12 Prozent zu den

    wichtigsten Eigeneinnahmen.

    3. Der „Gemeinsame Markt“ / Binnenmarkt

    Gemäß Artikel 2 des EG-Vertrages war es die Aufgabe

    der Europäischen Gemeinschaft, einen Gemeinsamen

    Markt (sowie eine Wirtschafts- und Währungsunion,

    vgl. heute Art. 3 Abs. 4 EUV) zu errichten. Heute

    spricht Art. 3 Abs. 3 EUV von einem zu errichtenden

    Binnenmarkt, in welchem „der freie Verkehr von

    Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital […]

    gewährleistet ist“. Die vier Grundfreiheiten (freier

    Warenverkehr, Freizügigkeit der Arbeitnehmer und

    Freiheit der Niederlassung, freier Dienstleistungsver-

    kehr sowie der freie Kapital- und Zahlungsverkehr)

    und damit der ungehinderte Austausch von Wirt-

    schaftsleistungen über die Binnengrenzen hinweg

    werden also – wie bereits auch schon durch den Ge-

    meinsamen Markt – durch den Binnenmarkt verwirk-

    licht und garantiert, auf der anderen Seite sind es die

    Grundfreiheiten, welche die Existenz des Binnenmark-

    tes sichern. Als Vorstufe dazu ist die Errichtung einer

    Zollunion gemäß dem oben Gesagten unerlässliche

    Voraussetzung.

    Gemäß dem „Fahrplan“, den die Einheitliche Europäi-

    sche Akte aufgestellt hat, sollte der Binnenmarkt zum

    31. Dezember 1992 verwirklicht sein. Obwohl die

    Grundfreiheiten weitgehend realisiert worden sind

    und in einigen Gebieten bereits die Wirtschafts-

    (wenngleich nicht mit all ihren Elementen) und Wäh-

    rungsunion besteht, ist der Binnenmarkt in der Praxis

    noch nicht vollendet (für diese Ansicht spricht auch

    die Formulierung in den Verträgen, nach denen die EU

    einen Binnenmarkt errichtet), da es noch immer Aus-

    nahmebereiche (zum Beispiel für die neuen Mitglied-

    staaten der 2004- und 2007-EU-Erweiterungen; die

    Übergangsvorschriften für die 2004-MS liefen spätes-

    tens zum 01.05.2011 aus) und praktische Behinderun-

    gen durch die Mitgliedsstaaten gibt. Angesichts der

    Größe der Union und der immensen Unterschiede

    zwischen den Mitgliedsstaaten ist es fraglich, ob der

    Binnenmarkt in der Realität überhaupt jemals tatsäch-

    lich verwirklicht werden kann.

    II. Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes

    1. Allgemeines

    Die Europäische Union kennt bereits seit den Römi-

    schen Verträgen von 1957 vier Grundfreiheiten, näm-

    lich

    den freien Warenverkehr;

    die Personenverkehrsfreiheit (Freizügigkeit

    der Arbeitnehmer und die Freiheit der Nie-

    derlassung);

    den freien Dienstleistungsverkehr sowie

    den freien Kapital- und Zahlungsverkehr.

    Teilweise ist von fünf Grundfreiheiten die Rede, da

    vereinzelt der freie Zahlungsverkehr als eigenständige

    Grundfreiheit angesehen wird. Dies ist aber zweifel-

    haft. Ohne die Möglichkeit, für frei handelbare Wirt-

    schaftsleistungen als Gegenleistung ungehindert Zah-

    lungen tätigen zu können, wäre die praktische Wirk-

    samkeit der Grundfreiheiten stark eingeschränkt. Es

    liegt daher nahe, den freien Zahlungsverkehr als Vo-

    raussetzung für die Wahrnehmung und Verwirkli-

    chung der Grundfreiheiten als bloße Annexgrundfrei-

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    heit zu betrachten. Sie ist eng mit dem freien Kapital-

    verkehr verbunden.

    Die Grundfreiheiten sichern die Existenz der wirt-

    schaftlichen Integration innerhalb der EU. Bereits

    ohne den freien und ungehinderten Warenverkehr

    kann weder eine Freihandelszone noch eine Zollunion

    Bestand haben. Zusätzlich zum freien Warenverkehr

    sind die anderen drei Grundfreiten konstituierende

    Voraussetzungen für einen Gemeinsamen Markt und

    damit auch für den Binnenmarkt bis hin zu einer Wirt-

    schaftsunion. Die Grundfreiheiten garantieren im

    Rahmen der wirtschaftlichen Integration den unge-

    hinderten Austausch von Wirtschaftsleistungen über

    die Grenzen der Mitgliedsstaaten hinweg. Rechtlich

    sind sie im Dritten Teil des AEU-Vertrages („Die inter-

    nen Politiken und Maßnahmen der Union“) verankert.

    Somit gehören die Grundfreiheiten zum Primärrecht.

    Sie sind dabei das Musterbeispiel für unmittelbar

    anwendbares Primärrecht: Unionsbürger können die

    Grundfreiheiten als subjektive Rechte vor Gericht

    geltend machen. Ohne dass eine weitere Umsetzung

    nötig ist, verleihen die Grundfreiheiten demnach je-

    dem Unionsbürger direkt Rechte. Die Grundfreiheiten

    richten sich dabei insbesondere gegen wirtschaftliche

    Diskriminierungen von EU-Ausländern (sie stellen in

    diesem Sinne eine Konkretisierung des allgemeinen

    Diskriminierungsverbotes des Artikels 18 AEUV dar).

    Die Grundfreiheiten dürfen allerdings nicht mit

    Grundrechten gleichgesetzt oder mit ihnen verwech-

    selt werden. Grundrechte haben nämlich eine primäre

    Schutz- und Abwehrfunktion für den Einzelnen. Die

    Grundfreiheiten hingegen dienen in erster Linie wirt-

    schaftspolitischen Zielen der EU. Ihr Zweck bezie-

    hungsweise ihre „Schutzrichtung“ ist also völlig an-

    ders.

    Obwohl die Grundfreiheiten dem Primärrecht angehö-

    ren und Primärrecht im Rang über Sekundärrecht

    steht, können die Grundfreiheiten durch Sekundär-

    recht verdrängt werden. Sofern nämlich Sekundär-

    recht einen bestimmten Sachverhalt abschließend

    regelt, ist die Anwendung der Grundfreiheiten auf den

    jeweiligen Sachverhalt ausgeschlossen. Das bedeutet

    aber nicht, dass der Wesensgehalt der jeweiligen

    Grundfreiheit in einem solchen Fall keine Bedeutung

    mehr hätte: Das Sekundärrecht darf nie gegen Primär-

    recht –und damit den AEUV sowie die dort kodifizier-

    ten Grundfreiheiten – verstoßen. Sekundärrecht, wel-

    ches also eine oder mehrere Grundfreiheiten außer

    Kraft setzen würde, wäre stets rechtswidrig. Der An-

    wendungsbereich der Grundfreiheiten kann durch

    Sekundärrecht allerdings ausgeweitet und inhaltlich

    vertieft werden. Regelmäßig wird derartiges Sekun-

    därrecht also ein Mehr zum eigentlichen Wesensgeh-

    alt der Grundfreiheit darstellen.

    Ein Problem, welches sich im Zusammenhang mit den

    Grundfreiheiten stellt, ist die sogenannte Inländerdis-

    kriminierung. Die Grundfreiheiten finden – anders als

    sie gegebenenfalls verdrängendes sekundäres Recht –

    nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwen-

    dung. Auf rein nationale Sachverhalte sind sie jedoch

    nicht anwendbar. Sie schließen also Diskriminierun-

    gen eines Staates gegenüber seinen eigenen Staats-

    angehörigen nicht aus! Aufgrund des Anwendungsvor-

    ranges des Unionsrechts bleibt nämlich eine unions-

    rechtswidrige mitgliedstaatliche Norm auf rein natio-

    nale Sachverhalte anwendbar, selbst wenn sie auf

    „europäischer“ Ebene nicht angewendet werden darf,

    weil sie Unionsrecht verletzt. Besteht also z.B. in ei-

    nem Mitgliedsstaat X eine Vorschrift, nachdem es

    Rechtsanwälten nicht erlaubt ist, mehr als ein Büro zu

    unterhalten, so wird diese Vorschrift im Verhältnis zu

    Anwälten aus den anderen Mitgliedsstaaten nicht

    angewendet, da deren Freiheit, im Staat X eine weite-

    re Niederlassung (neben ihrem Hauptbüro und even-

    tuell bestehenden weiteren Büros) zu gründen, einge-

    schränkt werden würde. Für Anwälte, die Bürger des

    Mitgliedsstaats X sind, findet das entsprechende Ge-

    setz aber weiter Anwendung, da ein rein innerstaatli-

    cher Sachverhalt vorliegt. Sie dürfen weiterhin in Staat

    X nur ein Büro unterhalten. Im Verhältnis zu ausländi-

    schen Rechtsanwälten, die aufgrund der Niederlas-

    sungsfreiheit theoretisch so viele Büros eröffnen kön-

    nen wie sie wollen, sind die einheimischen Anwälte

    also diskriminiert. Dies ist ein typischer Fall der Inlän-

    derdiskriminierung. Ein weiteres Beispiel ist der Fall

    „Französischer Käse“: eine italienische Vorschrift ver-

    bietet den Verkauf von Käse mit einem Fettgehalt von

    weniger als 45 Prozent. Während Französischer Käse

    mit nur 30 Prozent Fettgehalt dennoch weiterhin nach

    Italien eingeführt und dort verkauft werden darf, da

    sonst eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit vor-

    liegen würden, sind italienische Produzenten weiter-

    hin den italienischen Vorschriften unterworfen und

    müssen sich an diese halten. Sie sind im Verhältnis zu

    den französischen Herstellern diskriminiert.

    Obwohl die Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten

    gewährleistet werden müssen, können sie unter be-

    stimmten Voraussetzungen durch Maßnahmen der

    Mitgliedstaaten beschränkt werden, so dass sich der

    Einzelne nicht auf die ihm normalerweise zustehende

    Grundfreiheit berufen kann. Der EuGH hat die Voraus-

    setzungen für eine Beschränkung der Grundfreiheiten

    in seiner Gebhard-Formel definiert: Zunächst muss

    jede Beschränkung einem unionsrechtlich anerkann-

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    ten Allgemeininteresse entsprechen; hierbei spricht

    man von den „zwingenden Gründen des Gemein-

    wohls“. Daneben darf eine Beschränkung keine Dis-

    kriminierung hinsichtlich der Staatsangehörigkeit

    oder Herkunft zwischen Inland und dem EU-Ausland

    darstellen. Derartige Diskriminierungen sind nach

    heute noch herrschender Meinung nur in besonderen

    Gründen, welche im AEU-Vertrag aufgezählt sind,

    zulässig. Außerdem darf eine beschränkende Maß-

    nahme nur durchgeführt werden, wenn sie tatsächlich

    erforderlich ist, um das Allgemeininteresse zu schüt-

    zen, und sie muss zur Erreichung des jeweils ange-

    strebten Zweckes geeignet sein. Die Möglichkeit für

    Mitgliedstaaten, die Grundfreiheiten zu beschränken,

    unterliegen also strengen und eng auszulegenden

    Voraussetzungen. Diskriminierungen sind dabei im

    Grundsatz nicht erlaubt.

    2. Die einzelnen Grundfreiheiten

    a) Die Warenverkehrsfreiheit, Artikel 28 bis 37 AEUV

    Der freie Warenverkehr (Dritter Teil, Titel II des AEUV)

    umfasst auf der einen Seite die bereits skizzierte Zoll-

    union (Artikel 30 bis 33 AEUV). Zweites wesentliches

    Element der Warenverkehrsfreiheit ist das Verbot von

    mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen

    zwischen den Mitgliedstaaten (Artikel 34 bis 37

    AEUV). Dieses Verbot erfasst auch Maßnahmen glei-

    cher Wirkung. Es sind also nicht nur Kontingentierun-

    gen untersagt sondern auch andere, den Handel be-

    hindernde Maßnahmen. Wie Maßnahmen gleicher

    Wirkung zu definieren sind, hat der EuGH in seinem

    Urteil Dassonville (Rs. 8/74) festgelegt (vgl. unten

    Dassonville-Formel).

    Von diesem Grundsatz des Verbotes mengenmäßiger

    Ein- und Ausfuhrbeschränkungen gibt es jedoch Aus-

    nahmen (Artikel 36 AEUV). (Diskriminierende) Be-

    schränkungen sind nämlich dort erlaubt, wo sie dem

    Schutz wichtiger nationaler Rechtsgüter dienen. Dazu

    zählen die öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Si-

    cherheit, das Leben und die Gesundheit von Men-

    schen, Tieren und Pflanzen, das nationale Kulturgut

    sowie gewerbliches und kommerzielles Eigentum. Um

    die Wirksamkeit der Warenverkehrsfreiheit zu ge-

    währleisten, müssen die Ausnahmen jedoch eng aus-

    gelegt werden. Vor allem muss die Gefahr von willkür-

    lichen Diskriminierungen und „versteckten“ Handels-

    beschränkungen ausgeschlossen sein. Letztlich muss

    eine Beschränkung stets verhältnismäßig sein.

    Die Warenverkehrsfreiheit findet Anwendung auf

    nationale Regeln über handelbare Waren. Waren sind

    grundsätzlich alle Erzeugnisse, die einen Geldwert

    haben und somit Gegenstand von Handelsgeschäften

    sein können. Waren müssen nicht notwendig körper-

    lich sein. Auch Strom und Gas sind beispielsweise

    erfasst, ebenso Müll. Von der Warenverkehrsfreiheit

    umfasst sind Unionswaren, also solche Waren, die aus

    den EU-Mitgliedsstaaten selbst stammen sowie sol-

    che aus dritten Staaten, welche sich in den Mitglieds-

    staaten im freien Handelsverkehr befinden, vgl. Art

    28 Absatz 2, 29 AEUV. Auf die Staatsangehörigkeit des

    Importeurs oder Exporteurs kommt es nicht an! Der

    russische Staatsbürger, der gebrauchte französische

    PKW durch die Union nach Russland transportiert,

    kann sich also auch auf die Freiheit des Warenverkehrs

    berufen. Relevant ist aber, dass ein grenzüberschrei-

    tender Sachverhalt gegeben ist: auf rein innerstaatli-

    che Vorgänge findet die Warenverkehrsfreiheit keine

    Anwendung. Sie kann jedoch wie jede der Grundfrei-

    heiten durch sekundärrechtliche Spezialvorschriften

    verdrängt werden, zum Beispiel durch Marktverord-

    nungen oder Vorschriften im Bereich der Landwirt-

    schaftspolitik. Die Gültigkeit und Anwendbarkeit von

    Sekundärrecht ist allerdings gerade nicht an einen

    grenzüberschreitenden Sachverhalt gebunden: Ver-

    ordnungen, Richtlinien oder Beschlüsse sind stets

    (auch) auf rein nationale Sachverhalte anwendbar.

    Während der Begriff der mengenmäßigen Beschrän-

    kung ganz eindeutig Kontingentierungen erfasst (Bei-

    spiel für eine Einfuhrbeschränkung: es dürfen im Jahr

    nur 10.000 französische PKW in Deutschland einge-

    führt werden; Beispiel für eine Ausfuhrbeschränkung:

    Frankreich darf nicht mehr als 10.000 Flaschen Cham-

    pagner im Jahr exportieren), ist der Begriff der Maß-

    nahme gleicher Wirkung nicht leicht auszulegen.

    Vielmehr musste der EuGH den Begriff in seinem Urteil

    Dassonville (Rs. 8/74) durch die sogenannte Dasson-

    ville-Formel definieren:

    Maßnahmen gleicher Wirkung sind sämtliche

    Maßnahmen, die geeignet sind, den innergemein-

    schaftlichen Handel [also den Handel innerhalb der

    EU] mittelbar oder unmittelbar, tatsächlich oder

    potentiell zu behindern.

    Ein Beispiel einer Maßnahme gleicher Wirkung zeigt

    sich in der EuGH-Rechtssache C-265/95: dort hatten

    im Ausgangsfall französische Landwirte spanische

    Lastkraftwagen mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen

    behindert, angegriffen und teilweise die Ware zer-

    stört, ohne dass der französische Staat durch die Poli-

    zei eingriff. Ein solches Unterlassen des Staates bei

  • 6

    Handelsbeeinträchtigungen durch Privatpersonen ist

    eine Maßnahme gleicher Wirkung.

    Im Grundsatz verbietet die Warenverkehrsfreiheit

    diskriminierende Beschränkungen, also solche Be-

    schränkungen, die zwischen inländischen und (EU-

    )ausländischen Waren direkt oder indirekt unter-

    scheiden. Diese können nur durch die in Artikel 36

    AEUV genannten Ausnahmen gerechtfertigt werden.

    Gerade durch die extrem weit gefasste Dassonville-

    Formel sind aber auch nichtdiskriminierende Han-

    delsbeschränkungen vom Verbot der Artikel 34 (men-

    genmäßige Einfuhrbeschränkungen) und 35 (men-

    genmäßige Ausfuhrbeschränkungen) AEUV umfasst.

    Da solche nichtdiskriminierenden Beschränkungen

    aber „milderer“ Art sind als Diskriminierungen, da sie

    nämlich in- und ausländische Waren gleichermaßen

    betreffen, erscheint es ungerechtfertigt, auch diese

    Beschränkungen nur nach den strengen und limitiert

    anwendbaren Ausnahmen des Artikels 36 AEUV zu

    rechtfertigen. Der EuGH hat in seinem Cassis-de-Dijon-

    Urteil (Rs. 120/78) auf die Problematik reagiert und

    die Cassis-de-Dijon-Formel aufgestellt:

    Mit seinem Cassis-de-Dijon-Urteil privilegierte der

    Gerichtshof nichtdiskriminierende Beschränkungen

    (als „Hemmnisse für den Binnenhandel“) gegenüber

    solchen mit diskriminierendem Charakter. Er stellte

    nämlich klar, dass nichtdiskriminierende Beschränkun-

    gen nicht nur durch die Ausnahmen des Artikels 36

    AEUV gerechtfertigt sein können sondern zusätzlich

    durch sogenannte immanente Schranken zugunsten

    zum Beispiel des Umwelt- oder Verbraucherschutzes.

    Angesichts unterschiedlicher Schutzniveaus in den

    verschiedenen Mitgliedsstaaten ist das nicht ganz

    unproblematisch, da diese die Produktionskosten

    beeinflussen und somit zu Wettbewerbsverzerrungen

    führen können. Beispiel: ein Unternehmen, welches

    Autos produziert und dabei strenge nationale Umwelt-

    schutzbestimmungen beachten muss (was entspre-

    chend der Cassis-Formel „hingenommen“ werden

    muss), hat höhere Produktionskosten als ein Konkur-

    renzunternehmen in einem Mitgliedsstaat, in welchem

    Umweltschutzvorschriften nicht existieren und ent-

    sprechende teure Maßnahmen (z.B. Einbau von Fil-

    tern) nicht ergriffen werden müssen. Eine Lösung

    dieses Problems soll durch Rechtsangleichung in den

    entsprechenden Bereichen erzielt werden (Harmoni-

    sierung durch Artikel 114 ff. AEUV), wobei ein generell

    hohes Schutzniveau in allen Mitgliedsstaaten ange-

    strebt wird.

    Die Konsequenz der Entscheidung des EuGH im Fall

    Cassis de Dijon ist, dass, wenn ein Produkt in einem

    Mitgliedsstaat rechtmäßig hergestellt und in Verkehr

    gebracht worden ist, die Einfuhr in einen anderen

    Mitgliedsstaat nur bei zwingenden Erfordernissen des

    Allgemeinwohls beschränkt werden kann. Diese Be-

    schränkung muss stets verhältnismäßig sein.

    Eine weitere Einschränkung fand die Dassonville-

    Formel durch die ebenfalls vom EuGH aufgestellte

    Keck-Formel (Keck et Mithouard, Rs. C-267/91 und

    268/91):

    Diesbezüglich wird zwischen produktbezogenen und

    vertriebsbezogenen Modalitäten unterschieden.

    Demnach sind produktbezogene Regelungen (zum

    Beispiel Vorschriften, welche die Änderung einer im

    Herstellungs-Mitgliedsstaat zugelassenen Verpackung

    in einem anderen Mitgliedstaat erzwingen) keine

    Verkaufsmodalitäten. Sie werden vielmehr wie dis-

    kriminierende Maßnahmen behandelt und müssen

    somit immer dem Artikel 36 AEUV entsprechen um

    zulässig zu sein. Vertriebsbezogene Regelungen hin-

    gegen (zum Beispiel die Beschränkung der Ladenöff-

    nungszeiten, Fernsehwerbungsverbote für ein be-

    stimmtes Produkt) sind Verkaufsmodalitäten, die

    nicht vom Verbot des Artikels 34 AEUV erfasst sind,

    sofern die genannten Voraussetzungen vorliegen.

    „Hemmnisse für den Binnenhandel [...] müssen hin-

    genommen werden, soweit diese Bestimmungen

    erforderlich sind, um zwingenden Erfordernissen

    gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen

    einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes

    der öffentlichen Gesundheit, [...] und des Verbrau-

    cherschutzes.“

    Nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufs-

    modalitäten beschränken, fallen nicht unter das Ver-

    bot des Artikels 28 EGV [heute 34 AEUV], wenn sie für

    alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten … und

    sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse

    und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedsstaaten

    rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berüh-

    ren.

  • 7

    b) Die Personenverkehrsfreiheit („Freizügigkeit), Arti-

    kel 45 bis 55 AEUV

    aa) Allgemeines

    Die Freiheit des Personenverkehrs umfasst einmal die

    Arbeitnehmerfreizügigkeit und daneben die Nieder-

    lassungsfreiheit. Sie schützt also sowohl Selbstständi-

    ge (Unternehmer) wie auch Angestellte. Die Perso-

    nenverkehrsfreiheit ist geregelt im Dritten Teil, Titel

    IV, Kapitel 1 und 2 AEUV (Artikel 45 bis 55).

    Im Gegensatz zur Warenverkehrsfreiheit, welche als

    Verbot von Beschränkungen formuliert ist, verleiht die

    Personenverkehrsfreiheit unmittelbar Rechte. Sie wird

    darüber hinaus aber erweitert ausgelegt, so dass – wie

    bei der Warenverkehrsfreiheit – Beschränkungen

    verboten sind.

    Im Laufe der Jahrzehnte haben sich der Hintergrund

    und damit auch der Anwendungsbereich der Perso-

    nenverkehrsfreiheit stark verändert. Ursprünglich

    stand hinter Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlas-

    sungsfreiheit eine rein wirtschaftspolitische Motivati-

    on: Menschen als Produktionsfaktoren sollten zu den

    Orten wandern, an denen sie am effektivsten und

    unter den besten Bedingungen eingesetzt werden

    konnten. Demnach sollten nur Wanderarbeitnehmer

    beziehungsweise wirtschaftlich Tätige diese Rechte

    ausüben können. Mittlerweile haben jedoch der

    „menschliche“ Faktor und die soziale Dimension an

    Bedeutung gewonnen. Durch neu geschaffenes Se-

    kundärrecht und die weiten Auslegungen des Ge-

    richtshofes sind nunmehr beispielsweise auch Fami-

    lienangehörige des Arbeitnehmers geschützt.

    Neben der Personenverkehrsfreiheit besteht die all-

    gemeine Freizügigkeit innerhalb der Europäischen

    Union, welche in Artikel 21 des AEU-Vertrages nor-

    miert ist. Da die Personenverkehrsfreiheit aber expan-

    siv ausgelegt wird, bringt die allgemeine Freizügigkeit

    in der Praxis kaum erweiterte Rechte.

    Eingeschränkt sind Arbeitnehmerfreizügigkeit und

    Niederlassungsfreiheit durch Übergangsfristen, die

    neuen Mitgliedsstaaten der Osterweiterung betref-

    fend. Bis zu sieben Jahre nach Beitritt dieser Staaten

    sind die Freiheiten im Anwendungsbereich beschränkt

    oder außer Kraft gesetzt.

    bb) Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Artikel 45 bis 48

    AEUV

    Zentrales Element für die Arbeitnehmerfreizügigkeit

    ist die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Zunächst können

    daher nur Arbeitnehmer mit Staatsangehörigkeit

    eines Mitgliedsstaates (also Unionsbürger) in den

    Genuss der Rechte aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit

    kommen. Neben ihnen können aber auch noch andere

    Personen diese Rechte ausüben, wenn sie mit dem

    Arbeitnehmer in einer Verbindung stehen. Diese

    abgeleiteten Rechte stehen insbesondere Familien-

    angehörigen des Arbeitnehmers zu.

    Bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit können also

    folgende Personengruppen unterteilt werden:

    Arbeitnehmer, wovon Wanderarbeitnehmer

    und Grenzgänger umfasst werden. Der EuGH

    hat den Arbeitnehmerbegriff unionsrechtlich

    definiert als jeder, der weisungsgebunden

    (abhängig) für einen anderen tätig ist und

    dafür eine Entlohnung oder Gegenleistung

    erhält. Die Entlohnung oder Gegenleistung

    muss jedoch nicht notwendig zur Bestreitung

    des Lebensunterhaltes des Arbeitnehmers

    verwendet werden;

    Vor-Arbeitnehmer, worunter zukünftige Ar-

    beitnehmer zu verstehen sind, die sich noch

    in der Ausbildung befinden. Sie sind nicht

    durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit ge-

    schützt;

    Familienangehörige, welche sowohl privile-

    giert (durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit

    geschützt) als auch nichtprivilegiert (nicht

    durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit ge-

    schützt) sein können. Nicht jeder Familienan-

    gehörige kann sich also auch auf die Arbeit-

    nehmerfreizügigkeit berufen, sowie

    sonstige Personen, welche nicht unter die Ar-

    beitnehmerfreizügigkeit fallen, entweder weil

    sie Inländer sind (da in diesem Fall kein

    grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt)

    oder aber Angehörige eines Drittstaates.

    Die Arbeitnehmerfreizügigkeit findet sich im Kern in

    Artikel 45 des AEU-Vertrages. Daneben bestehen ele-

    mentare Sekundärrechtsquellen zur Freizügigkeit der

    Arbeitnehmer, welche die Freizügigkeit näher konkre-

    tisieren und ihren Anwendungsbereich erweitern.

    Neben den Verordnungen 1612/68 und 1251/70 ist

    vor allem die Richtlinie 2004/38 von Relevanz. Diese

    Richtlinie hat die beiden genannten Verordnungen

    geändert und an die Gegenwart angepasst. Zudem hat

  • 8

    sie Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeit-

    nehmer und deren Familienangehörige aufgehoben

    und ein Aufenthaltsrecht von Studenten begründet.

    Die Arbeitnehmerfreizügigkeit verleiht den Berechtig-

    ten verschiedene Rechtspositionen.

    - Zunächst hat der Arbeitnehmer ein Ausreise-

    recht aus seinem Heimatstaat. Kein Mit-

    gliedsstaat kann also einen Arbeitnehmer, der

    gerne in einem anderen Staat der Union ar-

    beiten möchte, auf seinem Staatsgebiet fest-

    halten, etwa mit dem Argument, es bestünde

    gerade ein Mangel an Arbeitskräften.

    - Parallel zum Ausreiserecht hat der Arbeit-

    nehmer auch ein Einreise- und Aufenthalts-

    recht in den anderen Mitgliedsstaaten. Die

    anderen Staaten dürfen ihn also nicht an der

    Grenze zurückweisen oder ihm den Aufent-

    halt in ihrem Staatsgebiet verweigern. Davon

    sind auch Arbeitssuchende umfasst. Ihre

    Aufenthaltsdauer ist allerdings auf sechs Mo-

    nate beschränkt. Finden sie in dieser Zeit kei-

    ne Arbeitsstelle beziehungsweise besteht

    dann keine konkrete Aussicht auf eine solche,

    können sie sich nicht mehr auf die Arbeit-

    nehmerfreizügigkeit berufen. In diesem Fall

    wäre aber das allgemeine Freizügigkeitsrecht

    aus Artikel 21 AEUV zu beachten, so dass der

    Arbeitssuchende weiter in dem Staat verblei-

    ben kann. Nur jene Rechte, welche die Ar-

    beitnehmerfreizügigkeit konkret gewährt

    (siehe unten), entfallen in einem solchen Fall.

    Das Einreise- und Aufenthaltsrecht steht

    auch den (privilegierten) Familienangehöri-

    gen eines Arbeitnehmers zu, solange der Ar-

    beitnehmer dieses Recht ebenfalls geltend

    machen kann. Das Recht gilt zunächst wäh-

    rend der gesamten Dauer des Arbeitsver-

    hältnisses sowie nach dessen Beendigung für

    weitere sechs Monate fort. – Das Recht zur

    Einreise und zum Aufenthalt ist jedoch von

    der Vorlage eines gültigen Personalausweises

    abhängig. Pflichten zur Meldung bei den Be-

    hörden des Aufenthaltsstaates sind zwar zu-

    lässig, aber grundsätzlich keine Vorausset-

    zung für die Erteilung des Aufenthaltsrechts.

    Daher müssen Sanktionen im Fall der Nichter-

    füllung von Meldepflichten durch den Arbeit-

    nehmer oder seine Familienangehörigen im-

    mer verhältnismäßig sein. Vor allem ist in der

    Regel eine Ausweisung aus dem Aufenthalts-

    staat nicht zulässig.

    - Daneben hat der Arbeitnehmer ein Recht auf

    Gleichbehandlung beim Zugang zur Beschäf-

    tigung. Es darf ihm also im Verhältnis zu in-

    ländischen Arbeitnehmern nicht erschwert

    (oder sogar unmöglich) sein, ein Arbeitsver-

    hältnis aufzunehmen. Das Recht zur Gleich-

    behandlung beinhaltet unter anderem auch

    eine Hilfestellung bei der Arbeitssuche (zum

    Beispiel durch Job Center). Einschränkungen

    für den ausländischen Arbeitnehmer beim

    Berufszugang sind grundsätzlich unzulässig.

    Eine Ausnahme bildet jedoch der Nachweis

    erforderlicher Sprachkenntnisse durch den

    Arbeitnehmer.

    - Auch bei der Ausübung der Beschäftigung

    hat der Arbeitnehmer ein Recht auf Gleich-

    behandlung. Dieses erstreckt sich auch auf

    den Arbeitsuchenden. Demnach muss ein

    ausländischer Arbeitnehmer den Inländern

    gleichgestellt werden. Dies gilt beispielsweise

    für Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeiten,

    Löhne oder die Anzahl der Urlaubstage (s. Ar-

    tikel 45 Absatz 2 AEUV). Eingeschränkt wird

    dieses Gebot jedoch dadurch, dass es im pri-

    vatrechtlichen Bereich nur hinsichtlich kol-

    lektiver Regelungen (Tarifverträge) gilt. Ein-

    zelne Arbeitsverträge zwischen einem Arbeit-

    geber und einem EU-ausländischen Arbeit-

    nehmer, welche diesem gegenüber Inländern

    weniger attraktive Klauseln beinhaltet (z.B.

    eine niedrigere Vergütung), sind also nicht

    notwendig rechtswidrig (Grundsatz der Ver-

    tragsfreiheit). Sehr deutlich tritt hier das

    Problem der Inländerdiskriminierung zutage:

    das Recht auf Gleichbehandlung bei Aus-

    übung der Beschäftigung findet nämlich keine

    Anwendung auf Inländer, die ihren Wohnsitz

    in einen anderen Mitgliedsstaat verlegen,

    aber weiterhin in ihrem Heimatstaat arbeiten.

    Zieht also beispielsweise ein Saarländer, wel-

    cher an der Grenze zu Frankreich wohnt, in

    seinen Nachbarort in Frankreich, arbeitet

    aber weiterhin im Saarland, kann er sich nicht

    auf das Recht auf Gleichbehandlung berufen.

    – Das Recht auf Gleichbehandlung bei der

    Ausübung der Beschäftigung gilt auch für so-

    ziale Vergünstigungen, und zwar auch für die

    Zeit der Arbeitssuche. Soziale Vergünstigun-

    gen sind allerdings vom System der sozialen

    Sicherung (wie Rente, Krankenversicherung

    etc.) zu unterscheiden. Diese Systeme fallen

    nicht unter das Inländergleichbehandlungs-

  • 9

    gebot, dafür existiert aber auf Grundlage von

    VO 883/2004 ein System der Koordinierung

    der verschiedenen Sozialversicherungsleis-

    tungen.

    - Letztlich bestehen die Sonderrechte der (pri-

    vilegierten) Familienangehörigen des Arbeit-

    nehmers. Diese dürfen also nicht nur gemein-

    sam mit diesem einreisen und sich im Mit-

    gliedsstaat aufhalten. Vielmehr haben sie

    darüber hinaus ein Recht zur Teilnahme an

    Ausbildungsmöglichkeiten des Aufnahmes-

    taats unter gleichen Bedingungen wie Inlän-

    der. Dieser unionsrechtliche Schutz geht bei-

    spielsweise weiter als der Schutz der Ehe und

    Familie in der Bundesrepublik Deutschland,

    welcher im Grundgesetz verankert ist!

    Von den vorgenannten Berechtigten sind Ausbil-

    dungswillige und Vor-Arbeitnehmer zu unterscheiden,

    also diejenigen, die (noch) keine Arbeitnehmer (und

    auch keine Familienangehörigen solcher) sind. Bei

    ihnen ergibt sich das Verbot der Diskriminierung aus

    dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Artikels

    18 AEUV. Sie könne sich aber nicht direkt auf die Rech-

    te, welche die Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt,

    berufen. Für Studenten gilt zudem das Aufenthalts-

    recht im Aufnahmestaat aus der vorgenannten Richtli-

    nie 2004/38.

    Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird jedoch nicht unbe-

    schränkt gewährt. Stattdessen existieren Ausnahmen,

    nach denen die Einreise oder Verlängerung des Auf-

    enthalts verweigert werden oder sogar die Ausreise

    verlangt werden darf. Weitere Diskriminierungen sind

    jedoch nicht möglich. Eine Beschränkung der Arbeit-

    nehmerfreizügigkeit ist möglich zum Schutz der öf-

    fentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (Arti-

    kel 45 Absatz 3 AEUV). Wie jede Ausnahmeregelung

    wird auch diese vom EuGH restriktiv ausgelegt: Zu-

    nächst muss eine tatsächliche, hinreichend schwer-

    wiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und

    Ordnung vorliegen und es muss von der betroffenen

    Person ein Verhalten zu erwarten sein, welches eine

    hinreichende Gefährdung eines Grundinteresses der

    Gesellschaft im Aufenthaltsstaat nahelegt. Auch hier

    gilt, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt

    werden muss. Generalpräventive Abschreckungs-

    maßnahmen sind völlig unzulässig.

    Eine weitere Ausnahme von der Arbeitnehmerfreizü-

    gigkeit besteht im Gebiet der öffentlichen Verwal-

    tung: demnach findet die Freizügigkeit der Arbeit-

    nehmer dort grundsätzlich keine Anwendung (Artikel

    45 Absatz 4 AEUV). Auch hier erfolgt allerdings eine

    restriktive Auslegung durch den Europäischen Ge-

    richtshof: die von der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus-

    genommene Tätigkeit muss einen typisch hoheitlichen

    Charakter haben, zum Beispiel Tätigkeiten bei der

    Polizei oder im Gerichtswesen. Tätigkeiten, die zwar

    im öffentlichen Bereich erfolgen, aber nicht typi-

    scherweise der öffentlichen Verwaltung zuzurechnen

    sind, unterfallen hingegen der Arbeitnehmerfreizügig-

    keit, beispielsweise Lehramtsreferendare. Auch Tätig-

    keiten, welche möglicherweise mit der Ausübung von

    Hoheitsgewalt verbunden sein können, dies aber pri-

    mär nicht zum Inhalt haben (z.B. Kapitäne auf Über-

    seeschiffen), haben keinen typisch hoheitlichen Cha-

    rakter und unterfallen somit der Arbeitnehmerfreizü-

    gigkeit.

    cc) Niederlassungsfreiheit, Artikel 49 bis 55 AEUV

    Die Niederlassungsfreiheit ist die zweite Komponente

    der Personenverkehrsfreiheit. Im Gegensatz zur Ar-

    beitnehmerfreizügigkeit, welche ja gerade Arbeitneh-

    mer als weisungsgebunden Tätige berechtigt, findet

    sie Anwendung auf

    - Selbstständige sowie auf

    - Gesellschaften (juristische Personen), welche

    nach den Rechtsvorschriften eines Mitglieds-

    staates gegründet sind und ihren Sitz, ihre

    Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlas-

    sung im Unionsgebiet haben (Artikel 54

    AEUV).

    Die Niederlassungsfreiheit schützt demnach gemäß

    Artikel 49 Absatz 2 AEUV die

    - Aufnahme und Ausübung selbstständiger

    Erwerbstätigkeiten sowie die

    - Gründung und Leitung von Unternehmen

    nach den Bestimmungen des Aufnahmestaa-

    tes.

    Die Niederlassungsfreiheit muss dabei von der Dienst-

    leistungsfreiheit abgegrenzt werden. Dies ist im Einzel-

    fall kompliziert, als Faustregel kann man jedoch auf

    das Merkmal der Dauerhaftigkeit zurückgreifen: wer

    eine Dienstleistung erbringt, tut dies in der Regel nur

    über einen begrenzten Zeitraum. Wer sich jedoch

    irgendwo niederlassen möchte oder eine juristische

    Person zu gründen vorhat, orientiert sich hingegen in

    der Regel an einer dauerhaften, also nicht nur vo-

    rübergehenden, Erwerbs- oder Unternehmenstätig-

    keit.

  • 10

    Die Niederlassungsfreiheit richtet sich vor allem gegen

    solche nationale Berufsregelungen, welche für EU-

    Ausländer eine praktische Beschränkung der Möglich-

    keit zur Aufnahme und Ausübung selbstständiger Er-

    werbstätigkeiten im jeweiligen Staat darstellen (zum

    Beispiel Regelungen zur Zulassung zum Rechtsanwalt),

    aber auch gegen solche Regelungen, die die Gründung

    einer Gesellschaft, einer Zweigstelle, Tochterfirma

    oder ähnliches (vgl. Artikel 49 Absatz 1 Satz 2 AEUV)

    durch Unionsbürger oder juristische Personen aus

    einem Mitgliedsstaat erschweren oder unmöglich

    machen.

    Wie die anderen Grundfreiheiten auch, kann die Nie-

    derlassungsfreiheit beschränkt werden. So sind Aus-

    nahmen möglich zum Schutz der öffentlichen Ord-

    nung, Sicherheit und Gesundheit (Artikel 52 AEUV)

    und hinsichtlich der Ausübung öffentlicher Gewalt

    (Artikel 51 AEUV). Bezüglich letzterem findet die Nie-

    derlassungsfreiheit keine Anwendung. Dies betrifft vor

    allem Notare. Im Sinne der ursprünglich für die Wa-

    renverkehrsfreiheit aufgestellten Cassis-de-Dijon-

    Formel sind darüber hinaus Ausnahmen auch aus

    zwingenden Gründen des Allgemeinwohls möglich.

    Ein wichtiges Mittel zum Abbau von Diskriminierungen

    existiert auf Ebene des sekundären Unionsrechts: Mit

    Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung von

    Diplomen und Zeugnissen soll die Aufnahme und

    Ausübung selbstständiger Tätigkeiten in einem ande-

    ren Mitgliedstaat erleichtert werden (vgl. Artikel 53

    AEUV).

    Einige Probleme ergeben sich hinsichtlich der Nieder-

    lassungsfreiheit von Gesellschaften. Bezüglich der

    Ausübung der „primären“ Niederlassungsfreiheit

    (also die Zulässigkeit einer Sitzverlegung als Ganzes)

    hat der EuGH in der Rechtssache Daily Mail (81/87)

    entschieden, dass eine solche ausdrücklich unter dem

    Vorbehalt nationaler Rechte steht. In einem solchen

    Fall scheint eine Beschränkung der Niederlassungs-

    freiheit also zulässig. In der Rechtssache Daily Mail

    ging es allerdings um den Wegzug einer Gesellschaft in

    einen anderen Staat, vergleichbar dem Recht auf Aus-

    reise eines Arbeitnehmers. In der Entscheidung Über-

    seering (Rs. 208/00) hatte der Gerichtshof weiterhin

    entschieden, dass Gesellschaften das Recht zum Zuzug

    in einen Mitgliedsstaat aus der Niederlassungsfreiheit

    geltend machen können. Ob der EuGH mit dieser Ent-

    scheidung sein Daily-Mail-Urteil teilweise verworfen

    oder aber sogar bestätigt hat, blieb mit dem Übersee-

    ring-Urteil unklar. Es ist also nicht sicher, ob Gesell-

    schaften in Bezug auf die primäre Niederlassungs-

    freiheit nur ein begrenztes Recht auf Zuzug in einen

    anderen Mitgliedsstaat geltend machen können oder

    auch ein Recht auf Wegzug aus ihrem bisherigen

    Sitzstaat. Mit seinem unerwarteten Urteil in der Rs.

    Cartesio (C-210/06) scheint der Gerichtshof ein solches

    Recht auf Wegzug abzulehnen. – Unklar ist auch, in

    welchem Staat eine Gesellschaft überhaupt ihren Sitz

    hat, wenn die Staaten der Gründung und des Sitzes

    unterschiedlich sind. In Frage kommt der Staat der

    Gründung der Gesellschaft (Gründungstheorie) oder

    der Staat, in dem die Gesellschaft ihren (Haupt-)Sitz

    hat, von dem aus also die Firmenaktivitäten gesteuert

    werden (Sitztheorie). Mit seinem Urteil Überseering

    tendierte der EuGH allerdings wohl zur Gründungs-

    theorie. Mit dem Urteil Cartesio hat der Gerichtshof

    nun allerdings erneut eine Kehrtwende (wohl) zurück

    zur Sitztheorie vollzogen. – Seit dem Oktober 2004

    besteht für Unternehmer die Möglichkeit, den geschil-

    derten Problemen mit der Gründung einer europäi-

    schen Gesellschaft, einer „Societas Europae“ (S.E.),

    aus dem Weg zu gehen. Für eine solche S.E. gelten

    nämlich unionsweit einheitliche Voraussetzungen.

    c) Die Dienstleistungsfreiheit, Artikel 56 bis 62 AEUV

    Die Dienstleistungsfreiheit, welche im Dritten Teil,

    Titel IV, Kapitel 3 des EGV (Artikel 56 bis 62) normiert

    ist, hat die Funktion eines Auffangtatbestandes. Sie

    greift erst dort, wo die Waren-, Personen- oder Kapi-

    talverkehrsfreiheiten keine Anwendung finden. Sie ist

    also gegenüber den letztgenannten subsidiär. Auf-

    grund dessen ist eine Abgrenzung der Dienstleistungs-

    freiheit zu den anderen Grundfreiheiten erforderlich.

    Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit kann festgestellt wer-

    den, dass diese weisungsgebundene Tätigkeiten um-

    fasst, während die Dienstleistungsfreiheit selbststän-

    dige Tätigkeiten schützt. Die Dienstleistungsfreiheit ist

    damit der Niederlassungsfreiheit nahe. Während die

    Freiheit der Niederlassung jedoch stets auf eine dau-

    erhafte Ausübung der mit ihr verbundenen Tätigkeiten

    gerichtet ist, hat die Dienstleistungsfreiheit lediglich

    vorübergehende Tätigkeiten zum Gegenstand. Das

    beinhaltet auch mehrere gleichartige Dienstleistun-

    gen, die über einen Zeitraum von vielen Jahren erfol-

    gen, zum Beispiel Waschmaschinenreparaturen, die

    ein saarländischer Elektroinstallateur regelmäßig in

    grenznahen französischen Orten durchführt. Bezüglich

    der Warenverkehrsfreiheit gilt, dass auf den Schwer-

    punkt der betroffenen Handlung abgestellt werden

    muss. So erbringt das Speditionsunternehmen, wel-

  • 11

    ches regelmäßig spanisches Obst nach Frankreich

    transportiert, auch eine Dienstleistung. In erster Linie

    handelt es sich aber um einen Transport von Waren

    mit eigenem wirtschaftlichem Interesse, so dass die

    Warenverkehrsfreiheit Anwendung findet. Als weite-

    res Beispiel mag ein Maler dienen, der zur Erfüllung

    seines Auftrags seine eigene Farbe mitbringt. Hier hat

    das Mitbringen der Farbe kein eigenes wirtschaftliches

    Interesse. Der Maler bringt die Farbe lediglich mit, um

    damit Wände zu streichen, sie also zur Erfüllung seines

    Auftrags zu verwenden. Somit ist das Mitbringen der

    Farbe ein bloßer Annex zur Dienstleistung, dem Strei-

    chen der Wände.

    Was eine Dienstleistung ist, ist in Artikel 57 AEUV

    definiert. Demnach sind Dienstleistungen solche

    selbstständigen wirtschaftlichen Leistungen, die in

    der Regel gegen Entgelt erbracht werden, insbeson-

    dere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche

    und freiberufliche Tätigkeiten.

    Es muss, wie bei den anderen Grundfreiheiten, immer

    ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen.

    Daraus ergeben sich für die Dienstleistungsfreiheit

    folgende Fallkonstellationen:

    Aktive / positive Dienstleistungsfreiheit – der

    Dienstleistungserbringer begibt sich in den

    Mitgliedsstaat des Dienstleistungsempfän-

    gers. Beispiele: der Elektroinstallateur aus

    dem Saarland fährt nach Frankreich, um dort

    Waschmaschinen zu reparieren; ein polni-

    sches Bauunternehmen begibt sich nach

    Deutschland, um dort ein Haus zu errichten.

    Passive / negative Dienstleistungsfreiheit –

    der Dienstleistungsempfänger begibt sich in

    den Mitgliedsstaat des Dienstleistungser-

    bringers. Beispiele: ein britischer Tourist fährt

    nach Spanien in den Urlaub (Hotel, Restau-

    rant, Mietwagen etc.); ein Belgier begibt sich

    nach Deutschland, um dort zum Zahnarzt o-

    der zum Friseur zu gehen; Musikfans aus Lett-

    land, Malta, Ungarn und Italien fliegen nach

    Manchester, um dort ein Konzert der Gruppe

    Oasis zu sehen.

    Korrespondenzdienstleistung – nur die

    Dienstleistung überschreitet die Grenze, Er-

    bringer und Empfänger bleiben in ihrem je-

    weiligen Mitgliedsstaat. Beispiele: Rundfunk-

    und Fernsehprogramm; ein deutscher Euro-

    parechts-Rechtsanwalt sendet ein Beratungs-

    schreiben an einen Klienten in Brüssel.

    Rein innerstaatliche Sachverhalte unterfallen der

    Dienstleistungsfreiheit nicht. Auch in dem Fall, dass

    eine Dienstleistung zwischen Ansässigen eines Mit-

    gliedsstaates erbracht wird, das Entgelt jedoch auf ein

    ausländisches Konto überwiesen wird, fehlt es am

    grenzüberschreitenden Element der Dienstleistung

    (zu denken ist dann aber an den freien Kapital- und

    Zahlungsverkehr). Zudem muss mindestens entweder

    der Erbringer oder Empfänger der Dienstleistung (oder

    beide) die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats

    besitzen. Ein algerischer Friseur, welcher seinen Salon

    in Frankreich betreibt, kann also einem im Saarland

    wohnenden chinesischen Staatsbürger die Haare

    schneiden, ohne dass die Dienstleistungsfreiheit An-

    wendung findet. Für Unternehmen gilt, dass ihr

    Hauptsitz im Unionsgebiet liegen muss.

    Die Dienstleistungsfreiheit enthält ein Verbot von

    Beschränkungen für den Dienstleistungsverkehr in-

    nerhalb der EU. Dieses Verbot umfasst nicht nur Dis-

    kriminierungen, sondern auch sonstige Beschränkun-

    gen. Der Anwendungsbereich und Schutzumfang der

    Dienstleistungsfreiheit ist nach und nach erweitert

    worden, einmal durch Rechtsprechung des EuGH,

    daneben durch Sekundärrecht. Aktuell ist die Dienst-

    leistungsrichtlinie 2006/123/EG von großer Relevanz,

    welche Ende 2009 von den Mitgliedsstaaten umzuset-

    zen war, wobei die Umsetzung in einigen Mitgliedstaa-

    ten allerdings noch immer nicht erfolgt ist. Diskutiert

    wird derzeit darüber, welche Sozialleistungen der

    Dienstleistungsfreiheit unterfallen. Frei erbringbare

    medizinische Leistungen (nichtstationärer Arztbesuch

    etc.) fallen unter die Dienstleistungsfreiheit, stationäre

    Krankenhausaufenthalte (wegen Operationen oder

    ähnlichem) hingegen nicht. Auch die genannte Dienst-

    leistungsrichtlinie schafft keine Klarheit oder Abhilfe,

    da der Gesundheitssektor völlig aus ihr herausge-

    nommen ist. Da das Ziel der Richtlinie jedoch die

    Schaffung eines Binnenmarktes für Dienstleistungen

    ist, ist anzunehmen, dass in einem nächsten Schritt

    auch der gesamte Gesundheitssektor der Dienstleis-

    tungsfreiheit unterstellt wird.

    Auch die Dienstleistungsfreiheit gilt jedoch nicht un-

    beschränkt. Neben Beschränkungen aus Gründen der

    öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit

    (über Artikel 62 AEUV findet Artikel 52 AEUV Anwen-

    dung) sind zudem gemäß dem Gerichtshof Beschrän-

    kungen zum Schutz überragender Allgemeininteres-

    sen wie Umwelt-, Daten- oder Verbraucherschutz

    möglich. Letzteres entspricht der Cassis-de-Dijon-

    Formel. Im Bereich der Ausübung der öffentlichen

    Gewalt findet die Dienstleistungsfreiheit konsequen-

  • 12

    terweise keine Anwendung (Beispiel: Beurkundungs-

    pflicht durch einen Notar in Deutschland) (hier findet

    über Artikel 62 AEUV Artikel 51 AEUV Anwendung).

    Weiterhin unterfallen Dienstleistungen in den Berei-

    chen Verkehr und Kapitalverkehr nicht den Vorschrif-

    ten über die Dienstleistungsfreiheit sondern anderen,

    speziellen primärrechtlichen Vorschriften. Für den

    Kapitalverkehr, welcher selbst eine Grundfreiheit dar-

    stellt, sind die die Vorschriften der Artikel 63 bis 66

    AEUV maßgeblich; für den Verkehr finden sich speziel-

    le Vorschriften im Dritten Teil, Titel VI des AEUV (Arti-

    kel 90 bis 100).

    d) Kapitalverkehrsfreiheit und freier Zahlungsverkehr,

    Art. 63 bis 66 AEUV

    Die vierte Grundfreiheit ist die Kapitalverkehrsfrei-

    heit. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem

    freien Zahlungsverkehr, der vorzugsweise als Annex-

    freiheit zu den Grundfreiheiten angesehen wird: man

    spricht in diesem Zusammenhang auch vom „echten“

    und „unechten Kapitalverkehr“. Letzterer –der Zah-

    lungsverkehr– ist lediglich die entgeltliche Gegenleis-

    tung für eine Leistung, die im Rahmen der anderen

    Grundfreiheiten erbracht wurde, beispielsweise für

    eine Dienstleistung.

    Der echte Kapitalverkehr betrifft die einseitige Wer-

    tübertragung aus einem Mitgliedstaat in den ande-

    ren. Zumeist geht es dabei um Vermögensanlagen wie

    Immobilieninvestitionen oder Unternehmensbeteili-

    gungen. Erfasst sind aber auch Schenkungen oder

    Erbschaften.

    Die Freiheit von Kapital- und Zahlungsverkehr verbie-

    tet alle diesbezüglichen Beschränkungen. Der AEUV

    sieht jedoch enumerativ Ausnahmen vom Beschrän-

    kungsverbot in seinen Artikeln 64, 143 und 144 vor.

    Eine weitere Ausnahme findet sich in Artikel 3 der

    Richtlinie 88/361. Diese Ausnahmen greifen zumeist

    bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten der Mitgliedsstaa-

    ten sowie bei mitgliedsstaatlichen Beschränkungen

    aufgrund nationalen Steuer- oder Ordnungsrechts.

    3. Prüfungsschema Freier Warenverkehr

    Vorprüfung: kein abschließendes Sekundärrecht

    I. Schutzbereich Art.34 AEUV

    1. Sachlicher Schutzbereich : Ware im Sinne des Art. 28 Abs. 2 AEUV. Definition: Alle, nicht notwendigerweise

    körperlichen, Gegenstände, die im Hinblick auf Handelsgeschäfte über eine Grenze zwischen den

    Mitgliedstaaten verbracht werden, ohne Rücksicht auf die Natur dieser Geschäfte (extensives Verständnis:

    alles, was handelbar ist)

    Kürzer: Alle körperlichen oder messbaren Gegenstände, die einen Geldwert haben und daher Gegenstand

    von Handelsgeschäften sein können.

    2. Räumlicher Schutzbereich: Grenzüberschreitender Bezug

    3. Vorsicht: kein persönlicher Schutzbereich, da WVF sachbezogen und nicht personenbezogen ist.

    II. Eingriff

    1. Handeln des Staates: nationale, staatliche Maßnahme: z.B. ein mitgliedstaatliches Gesetz

    2. Art. 30 AEUV

    3. Art. 34, 35 AEUV mengenmäßige Ein- und Ausführbeschränkung

    4. Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkung = Dassonville: Definition: Jede

    Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder

    mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, ist als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine

    mengenmäßige Beschränkung anzusehen: Potentielle Behinderung durch Inhaltsangabe

    5. Tatbestandsausschluss durch Keck? Eine Maßnahme gleicher Wirkung liegt nicht vor, wenn die nationale

    Regelung vertriebsbezogen ist und für alle im Inland tätigen Wirtschaftsteilnehmer unterschiedslos gilt und

  • 13

    den Absatz inländischer und aus anderen MS stammender Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich

    gleichermaßen berührt.

    Achtung: Drei-Stufen-Test durch EuGH eingeführt, Bsp-Fall: Krad-Anhänger (C-110/05)

    Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen i.S.v. Art. 34 AEUV:

    1. Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen bezweckt oder bewirkt wird, Erzeugnisse aus anderen

    Mitgliedstaaten weniger günstig zu behandeln [Diskriminierung ausländischer Waren] oder

    2. Hemmnisse für den freien Warenverkehr, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der

    Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig

    hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten (produktbezogenen) Vorschriften

    entsprechen müssen, selbst wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten,

    oder

    3. jede sonstige Maßnahme (z.B. Vertriebs- oder Benutzungsbeschränkung), die den Zugang zum Markt

    eines Mitgliedstaats für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindert

    III Rechtfertigung

    1. geschriebene Rechtfertigungsgründe des Art.36 S.1 AEUV

    a) Bei allen, auch offen diskriminierenden Maßnahmen

    b) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)

    2. ungeschriebene Rechtfertigungsgründe: Cassis-Formel: Voraussetzungen

    a) Unterschiedslos geltende Maßnahme bzw. versteckte Diskriminierung

    b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls (nicht erschöpfend): Lauterkeit des Handelsverkehrs, Erfor-

    dernisse effektiver steuerlicher Kontrolle, Umweltschutz, Verbraucherschutz

    c) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)

    3. eventuell: Rechtfertigung aus Gründen des Grundrechtsschutzes

    Abwägung: Vorrang des Grundrechts oder der Grundfreiheit im konkreten Fall?

    4. Prüfungsschema Arbeitnehmerfreizügigkeit

    Vorprüfung: kein abschließendes Sekundärrecht

    I. Eröffnung des Schutzbereichs

    1. Persönlich: EU-Arbeitnehmer / Staatsangehöriger eines MS

    Def. Arbeitnehmer = Person aus einem Mitgliedstaat, die unselbstständig für jemand anderen nach dessen

    Weisungen Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.

    2. Räumlich: Grenzüberschreitender Bezug

    3. Keine Bereichsausnahme nach Art. 45 Abs. 4 AEUV: Öffentliche Verwaltung

    II. Eingriff in den Schutzbereich

    1. Beeinträchtigende Maßnahme

    Die Grundfreiheiten sind zunächst an die Staaten als Verpflichtete gerichtet

  • 14

    ggf. auch durch Regelungen Privater (intermediäre Gewalten, kollektive Regelung unselbständiger Arbeit)

    - Art. 45 AEUV sei allgemein formuliert und richte sich nicht speziell an die MS.

    - Effet utile, Wahrung der einheitlichen Anwendbarkeit des Unionsrechts

    - Es soll eine nichtdiskriminierende Behandlung auf dem Arbeitsmarkt gewährleistet werden. Dies

    verdeutliche auch Art. 18 AEUV und Art. 157 AEUV.

    2. Auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung als offene oder versteckte

    Diskriminierung

    Exkurs: Diskriminierungsfreier Eingriff – Art. 45 AEUV als allgemeines Beschränkungsverbot i.S.d.

    Dassonville-Formel (Gebhard-Formel)?

    (P): Anwendbarkeit des allgemeinen Beschränkungsverbots auf die ANF?

    (+) Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten,

    sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen

    Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der

    betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden (vgl. Bosman)

    III. Rechtfertigung:

    1. Geschriebene Rechtfertigungsgründe Art. 45 Abs. 3 AEUV

    2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe („Cassis de Dijon“ - Formel) gibt es auch bei ANF (durch Rs. Bosman

    übertragen):

    a) Unterschiedslos geltende Maßnahme bzw. indirekte Diskriminierung

    b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls (nicht erschöpfend):

    - Problematisch, ob die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe bei indirekter Diskriminierung (oder sogar

    bei vertretbar angenommener direkter Diskriminierung) Anwendung finden

    - Allerdings ist zu beachten, dass Private gerade nicht im Allgemeininteresse handeln.

    - Der EuGH stellt daher auf sachliche Gründe ab, die die Regelung rechtfertigen können; hier:

    Sicherstellung von Sprachkenntnissen

    c) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)

    5. Prüfungsschema Niederlassungsfreiheit

    Vorprüfung: kein abschließendes Sekundärrecht

    I. Eröffnung des Schutzbereichs

    1. Sachlich: tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit. Nach Art. 49 II AEUV umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeit. Mit dem Merkmal der selbstständigen Tätigkeit wird die Niederlassungsfreiheit zudem von der Arbeitnehmerfreizügigkeit abgegrenzt.

    2. Bereichsausnahme nach Art. 51 AEUV? öffentliche Gewalt: Nach dem EuGH ist Art 51 (und auch die entsprechenden Ausnahmen bei den anderen Grundfreiheiten) restriktiv auszulegen die Bereichsausnahme erfasst daher keine ganzen Berufe, sondern nur bestimmte Tätigkeiten, die unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.

  • 15

    3. Räumlich: grenzüberschreitender Bezug (+)

    II. Eingriff Jede Diskriminierung stellt einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit dar. Der EuGH sieht seit dem Gebhard-Fall auch solche nationalen Maßnahmen als Beschränkungen der NLF an, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können.

    III. Rechtfertigung

    1. Geschriebene Rechtfertigungsgründe, Art. 52

    Eine Rechtfertigung ist dann möglich, wenn es die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit fordert und wenn die Maßnahme verhältnismäßig ist. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung kann allerdings nur geltend gemacht, werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. a) Bei allen, auch offen diskriminierenden Maßnahmen

    b) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)

    2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe nach der Cassis-Formel: a) Unterschiedslos geltende Maßnahme bzw. versteckte Diskriminierung

    b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls (nicht erschöpfend): Lauterkeit des Handelsverkehrs, Erfor-

    dernisse effektiver steuerlicher Kontrolle, Umweltschutz, Verbraucherschutz

    c) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)

    6. Prüfungsschema Dienstleistungsfreiheit

    Vorprüfung: kein abschließendes Sekundärrecht

    I. Schutzbereich

    1. Persönlich: EU-Dienstleister: Natürliche Person od. Gesellschaft (Art.62, 54 AEUV)

    2. Sachlich: Dienstleistung (siehe Art.57 AEUV) = Selbstständige Tätigkeit, i.d.R. gegen Entgelt und zeitlich begrenzt

    ACHTUNG: Subsidiarität der DLF abgrenzen von anderen Freiheiten

    - Von der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch das Merkmal der Selbständigkeit (dieses wird zwar in Art. 57 AEUV nicht ausdrücklich genannt, kann aber aus den Beispielen der Buchstaben a bis d herausgelesen werden)

    - Von der Niederlassungsfreiheit durch das Merkmal der vorübergehenden Tätigkeit - Von der Warenverkehrsfreiheit dadurch, dass bei der DLF gerade keine körperlichen oder messbaren

    Gegenstände, sondern „unsichtbare“ Leistungen gehandelt werden (Abgrenzungsprobleme bei Software etc.)

    - In Grenzbereichen ist auf den wirtschaftlichen Schwerpunkt der Tätigkeit abzustellen!

    3. Räumlich: Grenzüberschreitender Bezug - Aktiven Dienstleistungsfreiheit - Passiven Dienstleistungsfreiheit oder - Korrespondenzdienstleistung

    4. Keine Bereichsausnahme nach Art.62, 51 AEUV: Ausübung öffentlicher Gewalt

  • 16

    II. Eingriff in den Schutzbereich

    1. Nationale staatliche Maßnahme oder Maßnahme Privater

    2. Offene oder versteckte Diskriminierung = auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung

    3. Diskriminierungsfreier Eingriff – Art. 56 AEUV als allgemeines Beschränkungsverbot? Durch „Übertragung“ der Dassonville-Formel in der Rs. C-76/90, „Säger/Dennemeyer“ (Slg. 1991, S. I- 4221) hat der EuGH auch die DLF als allgemeines Beschränkungsverbot ausgestaltet

    DLF auch einschlägig, wenn unterschiedslos anwendbare Maßnahmen die Ausübung der DLF unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen.

    4. Übertragung der Keck-Rspr. auf die DLF?:

    Konsequenterweise musste dann auch die Reduktion i.S.v. Keck erfolgen (ausdrücklich in „Mobistar“, verb. Rs. C-544/03 u. C-545/03, Slg. 2005, S. I-7723; zuvor wohl aber auch schon in der Rs. „Alpine Investments“, C-384/93, Slg. 1995, S. I-1141.

    Keine Beschränkungen i.S.d. Art.56 AEUV sind solche nationalen Bestimmungen, die Ausübungsmodalitäten von Dienstleistungen regeln, und für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer unterschiedslos gelten und das Erbringen wie Empfangen inländischer wie EU-ausländischer Dienstleistungen rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise betreffen.

    III. Rechtfertigung

    1. Geschriebene Rechtfertigungsgründe nach Art. 62 i.V.m. Art. 52 Abs. 1 AEUV Eingriffe in die DLF können aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt werden. 2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe

    a) Unterschiedslos geltende Maßnahme bzw. versteckte Diskriminierung

    b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls (nicht erschöpfend): Lauterkeit des Handelsverkehrs, Er-

    fordernisse effektiver steuerlicher Kontrolle, Umweltschutz, Verbraucherschutz

    c) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)

    III. Wettbewerbspolitik der EU, Art. 101 ff. AEUV

    1. Allgemeines

    Die Wettbewerbspolitik der Union fällt – wie auch die

    Zollunion, die Währungspolitik (für den Euroraum)

    oder die Handelspolitik – in die ausschließliche Uni-

    onszuständigkeit, Art. 3 Abs. 1 AEUV.

    Die Vorschriften des Wettbewerbsrechts (Art. 101 ff.

    AEUV) schützen primär den unverfälschten Wettbe-

    werb. Daneben wird durch die EU-Wettbewerbspolitik

    aber auch das Ziel des Verbraucherschutzes verfolgt.

    Umfasst sind im Grundsatz Unternehmen und Unter-

    nehmensvereinigungen, worunter wirtschaftlich täti-

    ge juristische und natürliche Personen fallen. Erfasst

    sind zudem auch öffentliche Unternehmen, also solche

    des Staates, und –nach neuerer Rechtsprechung des

    EuGH– auch die Mitgliedsstaaten. Sie alle sind durch

    die Wettbewerbspolitik in erster Linie Verpflichtete,

    aber auch Träger von Rechten.

    Das Wettbewerbsrecht der Union gilt nur für wirt-

    schaftliche Aktivitäten, die im Territorium der EU

    Auswirkung haben. Nicht erfasst sind hingegen solche

    Wirtschaftstätigkeiten, die ausschließlich in Drittstaa-

    ten durchgeführt werden.

    Zuständig ist die Kommission durch die Generaldirek-

    tion Wettbewerb, welche weitgehende Durchfüh-

    rungskompetenzen und Vollzugsbefugnisse hat. Die

    Beamten dort überprüfen wettbewerbsrelevante

  • 17

    Sachverhalte und erlassen, wenn notwendig, Be-

    schlüsse, um die Wettbewerbspolitik durchzuführen

    und durchzusetzen, z.B. Genehmigungen staatlicher

    Beihilfen, Genehmigungen von Fusionen von Unter-

    nehmen oder Geldstrafen gegen Unternehmen wegen

    wettbewerbsverzerrenden Verhaltens. Diese Beschlüs-

    se können durch die Betroffenen vor dem EuGH (zu-

    ständig dort ist das Europäische Gericht) im Rahmen

    einer Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) angefochten

    werden.

    Politisch steht derzeit Margarete Vestager aus Däne-

    mark als die für den Wettbewerb zuständige Kommis-

    sarin an der Spitze der EU-Wettbewerbspolitik.

    Hauptinstrumente der Wettbewerbspolitik sind

    Kartellaufsicht;

    Missbrauchsaufsicht;

    Fusionskontrolle sowie

    Beihilfenaufsicht.

    Die EU-Wettbewerbspolitik ist in den vergangen Jah-

    ren wiederholt reformiert worden. Mit dem Inkrafttre-

    ten unter anderem der Kartellverfahrensordnung

    1/2003, der Europäischen Fusionskontrollverordnung

    sowie des Modernisation Package der Kommission

    zum 1. Mai 2004 ist der Prozess im Wesentlichen ab-

    geschlossen, wobei allerdings einige Teilbereiche des

    Wettbewerbsrechts (z.B. zuletzt im Bereich PKW-

    Verkauf, -Wartung und -Reparatur, in denen bisher

    den Wettbewerb behindernde Sonderregelungen

    galten) periodisch durch die Kommission überprüft

    und wenn notwendig modifiziert werden. Somit befin-

    det sich die Wettbewerbspolitik, den tatsächlichen

    Umständen Rechnung tragend, in steter Weiterent-

    wicklung. Der Vertrag von Lissabon hat primärrechtlich

    nahezu keine Veränderungen im Bereich EU-

    Wettbewerbspolitik mit sich gebracht. Sekundärrecht-

    lich vorgesehene Rechtsakte – Verordnungen und

    Richtlinien – ergehen in diesem Politikbereich in einem

    besonderen Gesetzgebungsverfahren durch den Rat,

    welcher auf Vorschlag der Kommission handelt; das EP

    wird nur angehört.

    Die Relevanz der Wettbewerbspolitik als -neben den

    Grundfreiheiten und der Währungsunion- eine der

    Stützen der EU-Wirtschaftspolitik zeigt sich immer

    wieder an in den Medien prominent behandelten

    Wettbewerbsverfahren vor allen gegen globale Unter-

    nehmen, welche möglicherweise ihre marktbeherr-

    schende Stellung missbraucht haben. Vor allem die

    abgeschlossenen Fälle Microsoft und Intel sowie lau-

    fende Verfahren gegen Google oder Gazprom erhalten

    hohe Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.

    2. Kartellaufsicht

    Durch die in Artikel 101 des AEU-Vertrages normierte

    Kartellaufsicht sind wettbewerbsbehindernde Ver-

    einbarungen oder Beschlüsse sowie aufeinander

    abgestimmte Verhaltensweisen verboten. In Abgren-

    zung zur Missbrauchsaufsicht, welche regelmäßig nur

    ein Unternehmen betrifft, richtet sich die Kartellauf-

    sicht stets gegen mindestens zwei Marktteilnehmer.

    Ein Kartell setzt also immer mindestens zwei, häufig

    jedoch auch mehr Marktteilnehmer voraus, welche

    sich in ihm zusammenschließen.

    Vereinbarungen umfassen Verträge zwischen mindes-

    tens zwei Unternehmen. Sie sind auf den Eintritt einer

    Rechtsfolge zwischen den Parteien ausgerichtet. Be-

    schlüsse können zum Beispiel Satzungen von Industrie

    und Handelskammern, also Unternehmensvereinigun-

    gen, sein. Abgestimmte Verhaltensweisen meinen ein

    bewusstes und gewolltes Zusammenwirken von Par-

    teien ohne eine ausdrückliche Absprache zwischen

    ihnen, beispielsweise durch einen Austausch von In-

    formationen zwischen den Parteien. Sie sind abzu-

    grenzen vom faktischen Parallelverhalten, welches

    ohne jeden Kontakt der betroffenen Parteien erfolgt

    (Beispiel: Preisanpassungen der Discount-Supermärkte

    B, C und D für Milch, nachdem der Discounter A den

    Milchpreis reduziert oder auch erhöht hat – eine ent-

    sprechende Absprache bzw. Abstimmung zwischen A,

    B, C und D wird hier regelmäßig nicht anzunehmen

    sein, es handelt sich lediglich um eine marktwirtschaft-

    lich motivierte Reaktion der anderen Marktteilnehmer

    auf das Verhalten von A; ähnliches kennen wir von

    Tankstellen).

    Verboten sind insbesondere:

    die Festsetzung von Preisen oder sonstigen

    Geschäftsbedingungen; Beispiele:

    - Fluggesellschaften A und B sprechen die

    von ihnen erhobenen Flugpreise auf den

    von ihnen beflogenen Strecken von Eu-

    ropa in die USA bzw. umgekehrt ab;

    - die deutschen Kaffeeröstereien A, B und

    C legen in Absprache die (Großhandels-

    )Verkaufs-preise für ihre Erzeugnisse fest

    (dieses Beispiel hatte in der Praxis aller-

    dings nur Auswirkung auf den deutschen

    Markt und fiel somit nicht unter das EU-

  • 18

    Wettbewerbsrecht sondern das deutsche

    Kartellrecht; zuständig war in diesem Fall

    das Bundeskartellamt);

    Einschränkung oder Kontrolle von Erzeu-

    gung, Absatz, technischer Entwicklung oder

    Investitionen; Beispiele:

    - zwei Unternehmen A und B sprechen sich

    ab, ihr Angebot zu verknappen, um somit

    die Preise erhöhen zu können;

    - von 5 auf einem definierten Markt täti-

    gen Unternehmen schließen sich A, B, C

    und D, was die Entwicklung neuer Pro-

    dukte angeht, zusammen, um Unter-

    nehmen E wegen dessen vergleichsweise

    niedriger Innovationen aus dem Markt zu

    drängen – Achtung: unter bestimmten

    Voraussetzungen können derartige Zu-

    sammenschlüsse allerdings erlaubt sein,

    nämlich wenn das Ziel des Zusammen-

    schlusses nicht das Herausdrängen eines

    Wettbewerbers aus dem Markt sondern

    vielmehr der technische Fortschritt ist

    und der Wettbewerb nicht ausgeschaltet

    wird, Art. 101 Abs. 3 AEUV;

    die Aufteilung der Märkte oder Versor-

    gungsquellen (Beispiel:

    - mehrere Pharmaunternehmen teilen sich

    die Vertriebsmärkte für eine neuartige

    Medizin gegen Grippe so auf, dass in je-

    dem EU-MS immer nur eines der Unter-

    nehmen auf dem Markt aktiv ist und so-

    mit aufgrund mangelnder Konkurrenz

    den Verkaufspreis für das Produkt unna-

    türlich hoch festlegen kann);

    - die drei einzigen Hersteller von Autoglas

    (Scheiben etc.) teilen sich den EU-

    Binnenmarkt geographisch derart auf,

    dass alle in etwa einen gleich großen

    Kundenstamm haben und sich gegensei-

    tig nicht mehr „in die Quere kommen“;

    die Anwendung unterschiedlicher Bedingun-

    gen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber

    Handelspartnern, wodurch diesen Wettbe-

    werbsnachteile entstehen; Beispiel:

    - von den Luxusgüterherstellern L1 und L2

    durch Vertragsfreiheit und freien Wett-

    bewerb nicht gerechtfertigte abgespro-

    chene Preisunterschiede gegenüber ih-

    ren Abnehmern A1, A2 und A3 eines Pro-

    dukts, je nachdem ob die Abnehmer das

    Produkt nur in Ladenlokalen oder auch

    über das Internet weiterverkaufen, sowie

    die an den Abschluss von Verträgen geknüpf-

    te Bedingung der Abnahme zusätzlicher Leis-

    tungen durch den Handelspartner; Beispiel:

    - Hersteller H1 und H2 legen in den Kauf-

    verträgen ihrer Maschinen fest, dass die

    Käufer die Maschinen ausschließlich

    durch Mitarbeiter des jeweiligen Herstel-

    lers (also H1 oder H2) warten bzw. repa-

    rieren lassen dürfen, nicht jedoch durch

    freie Wartungs- oder Reparaturbetriebe

    – auch dies kann unter bestimmten Um-

    ständen gerechtfertigt sein, vor allem in

    der Automobilindustrie war das lange

    aufgrund einer entsprechenden Grup-

    penfreistellungs-Verordnung der Fall (das

    bedeutet, dass die Wettbewerbsregeln

    auf die Automobilindustrie nur mit Ein-

    schränkung oder auch gar nicht Anwen-

    dung gefunden haben), in unserem Bei-

    spiel wäre eine mögliche Rechtfertigung

    darin zu sehen, dass das nötige Know-

    How für die Reparatur der Maschinen

    ausschließlich bei Mitarbeitern von H1

    und H2 zu finden ist, da es sich um kom-

    plizierte und neuartige Maschinen han-

    delt und fehlerhafte/ungenügende War-

    tung bzw. Reparatur erhebliche Schäden

    hervorrufen können.

    Diese Aufzählung der verbotenen Maßnahmen ist

    nicht abschließend.

    Das Verbot einer Maßnahme greift jedoch nur, wenn

    die betreffende Maßnahme eine Beschränkung oder

    Verfälschung des Wettbewerbs bewirkt oder zumin-

    dest bezweckt. Hat also eine der beispielhaft aufge-

    zählten Maßnahmen, wie eine Preisabsprache zwi-

    schen Unternehmen, keine Auswirkung auf den ord-

    nungsgemäßen Handel und ist eine solche Auswirkung

    auch gar nicht beabsichtigt, ist die Maßnahme recht-

    mäßig. Für gewöhnlich liegt allerdings vor allen bei

    Preisabsprachen, aber auch bei den anderen aufge-

    führten Maßnahmen, eine Beschränkung oder Verfäl-

    schung des Wettbewerbs vor, auch wenn diese

    manchmal gar nicht beabsichtigt sein mag (vgl. das

    Beispiel der notwendigen Reparatur der Maschinen

    durch Mitarbeiter von H1 und H2, um sicherzustellen,

    dass die komplizierten Geräte auch tatsächlich sachge-

    recht gewartet und somit Schäden finanzieller und

    wirtschaftlicher Art vermieden werden).

  • 19

    Selbst wenn eine Maßnahme nach dem Gesagten an

    sich rechtswidrig sein sollte, muss sie aber nicht auch

    notwendig verboten sein: ein Verbot greift nämlich

    grundsätzlich nur dann, wenn die mit der Maßnahme

    einhergehende Beschränkung spürbar ist. Als Indiz

    dient dabei die de-minimis-rule, nach der man bei 5

    Prozent Umsatzanteil am relevanten Markt (im Regel-

    fall dem EU-Binnenmarkt) von einer Spürbarkeit aus-

    gehen kann. Ist die Wettbewerbsverzerrung also ledig-

    lich minimaler Natur, werden gegen das Kartell im

    Regelfall keine Maßnahmen ergriffen.

    Damit EU-Wettbewerbsrecht greifen kann, müssen die

    fraglichen Maßnahmen – wie bei den Grundfreiheiten

    ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen muss

    – zudem Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen

    Handel haben. Bei rein nationalen Sachverhalten greift

    lediglich das Kartellrecht des jeweiligen Mitgliedsstaa-

    tes. Betrifft im Beispiel der deutschen Kaffeeröstereien

    A, B und C ihre Preisfestlegung ihrer Produkte aus-

    schließlich den Markt in Deutschland (s.o.), so ist das

    Bundeskartellamt die zuständige Behörde, welches

    den Sachverhalt unter Bezugnahme der zugrundele-

    genden deutschen Rechtslage beurteilt.

    Unter engen Voraussetzungen können Maßnahmen,

    die eigentlich unter das EU-Kartellverbot fallen, aus-

    nahmsweise zulässig sein. Dies sieht Artikel 101 Ab-

    satz 3 AEUV ausdrücklich vor. Eine solche Legalaus-

    nahme ergibt dort Sinn, wo Wettbewerbsbeschrän-

    kungen positive Auswirkungen haben und bezwecken,

    beispielsweise die Förderung des technischen oder

    wirtschaftlichen Fortschritts, man denke an das Bei-

    spiel der Unternehmen, welche sich zwecks Entwick-

    lung neuer Produkte zusammenschließen. Dies kann

    gerechtfertigt sein, wenn das Ziel des Zusammen-

    schlusses gerade nicht das Herausdrängen der ande-

    ren Unternehmen aus dem Markt oder ähnliche Fol-

    gen bezweckt. Relevant ist dies derzeit vor allem im

    Automobilsektor in der Entwicklung leistungsfähiger

    Elektroautos.

    Wenn eine Vereinbarung jedoch tatsächlich unter

    Artikel 101 AEUV fällt und rechtswidrig ist, so ist sie

    automatisch nichtig. Damit soll das Entstehen von

    Marktmacht einzelner Unternehmen mit entspre-

    chenden negativen Auswirkungen auf andere Markt-

    teilnehmer und den freien Wettbewerb verhindert

    werden. Betroffene, die Schäden erlitten haben, kön-

    nen diese gemäß dem jeweils einschlägigen nationalen

    Schadensersatzanspruch ersetzt verlangen. Zudem

    kann die Kommission die Unterlassung des rechtswid-

    rigen Verhaltens verlangen und zu Teilen sehr hohe

    Geldbußen verhängen, welche sich an der Dauer und

    Marktauswirkung des Kartells sowie der Mitwirkung

    des jeweiligen Unternehmens in diesem orientieren.

    Maximal sind Geldbußen in Höhe von 10 Prozent des

    globalen (!) Jahresumsatzes eines Unternehmens mög-

    lich. Im Bereich der Verhängung von Geldbußen oblie-

    gen der Kommission also echte Vollzugsbefugnisse. In

    Kartellverfahren gehen Kronzeugen (welche das Kartell

    gegenüber der Kommission zur Anzeige gebracht und

    aufgedeckt haben) straffrei aus. Andere Kartellmitglie-

    der, welche die Kommission aktiv bei der Aufklärung

    des Sachverhalts unterstützen, erhalten prozentuale

    Reduzierungen ihrer Geldbußen (normalerweise 20 bis

    50 Prozent). In jüngerer Zeit geht der Trend weg von

    Kartellverfahren, welche regelmäßig langjährige Ver-

    fahren vor dem Gerichtshof (in beiden Instanzen) zur

    Folge haben, zu Absprachen zwischen der Kommission

    und den beteiligten Unternehmen eines Kartells.

    Kommission und „Sünder“ einigen sich sozusagen

    gütlich auf eine Strafe.

    3. Missbrauchaufsicht

    Neben der Bildung von Kartellen ist auch die miss-

    bräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden

    Stellung, welche den Handel beeinträchtigt, verbo-

    ten, Artikel 102 AEUV. Das Verbot umfasst jede Maß-

    nahme, die als Diskriminierung oder Ausbeutung der

    Handelspartner anzusehen ist. In Abgrenzung zur

    Kartellaufsicht bezieht sich die Missbrauchsaufsicht

    immer nur gegen ein Unternehmen mit marktbeherr-

    schender Stellung.

    Ob ein Unternehmen eine marktbeher