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Über alle politischen, regionalen oder konfessionellen Grenzen hin- weg dominiert im 17. Jahrhundert noch die Idee einer zweckmä- ßig geschichteten Sozialordnung. »Hohe« und »niedere« Literatur werden in der gleichen Weise gegeneinander abgegrenzt, wie Adel und Nicht-Adel kontrastieren. Die barocken Poetiken reflektieren jeweils nur die »hohen« Literaturformen: am deutlichsten zu beob- achten beim Roman, wo zunächst nur die höfische Variante theo- riefähig war, nicht jedoch der Pikaroroman. Trotz dieser Asymetrie bleibt die aus der antiken Rhetorik übernommene Dreistil-Lehre für Produktion wie Rezeption im Hintergrund in Kraft. Mit dem allmählichen Abbau der Ständeordnung einher geht die Entwick- lung einer von italienischen und französischen Vorbildern inspirier- ten Poetik des Barock-Klassizismus. Der sozialgeschichtliche Ansatz im vorliegenden Band paßt sich den kulturellen wie sozialen Besonderheiten des Barockzeitalters an: Er stellt die frühneuzeitliche Literatur vor, wie sie auf die spezi- fischen Bedingungen des 17. Jahrhunderts reagiert, und eröffnet heutigen Lesern ein Verständnis von Texten, die unseren Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten ferngerückt sind, weil sie einer ande- ren »Diskursordnung« angehören als der heutigen.

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Über alle politischen, regionalen oder konfessionellen Grenzen hin-weg dominiert im 17. Jahrhundert noch die Idee einer zweckmä-ßig geschichteten Sozialordnung. »Hohe« und »niedere« Literaturwerden in der gleichen Weise gegeneinander abgegrenzt, wie Adelund Nicht-Adel kontrastieren. Die barocken Poetiken reflektierenjeweils nur die »hohen« Literaturformen: am deutlichsten zu beob-achten beim Roman, wo zunächst nur die höfische Variante theo-riefähig war, nicht jedoch der Pikaroroman. Trotz dieser Asymetriebleibt die aus der antiken Rhetorik übernommene Dreistil-Lehrefür Produktion wie Rezeption im Hintergrund in Kraft. Mit demallmählichen Abbau der Ständeordnung einher geht die Entwick-lung einer von italienischen und französischen Vorbildern inspirier-ten Poetik des Barock-Klassizismus.

Der sozialgeschichtliche Ansatz im vorliegenden Band paßt sichden kulturellen wie sozialen Besonderheiten des Barockzeitaltersan: Er stellt die frühneuzeitliche Literatur vor, wie sie auf die spezi-fischen Bedingungen des 17. Jahrhunderts reagiert, und eröffnetheutigen Lesern ein Verständnis von Texten, die unseren Denk- undWahrnehmungsgewohnheiten ferngerückt sind, weil sie einer ande-ren »Diskursordnung« angehören als der heutigen.

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Hansers Sozialgeschichteder deutschen Literaturvom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Begründet von Rolf Grimminger

Band 2

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Die Literatur des 17. Jahrhunderts

Herausgegeben von Albert Meier

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Register: Manfred Pfister

Mai 1999Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

MünchenO 1999 Carl Hanser Verlag München WienUmschlagkonzept: Balk & BrumshagenSatz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, LeutkirchDruck und Bindung: Appl, Wemding

Printed in GermanyISBN 3-446-12776-3 (Hanser)ISBN 3-423-04344-X (dtv)

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Inhalt

Vorwort 9

A. Historisch-politische Grundlagen

Michael MaurerGeschichte und gesellschaftliche Strukturendes 17. Jahrhunderts 18

B. Philosophisch-anthropologische Grundlagen

Christoph Deupmann gen. FrohuesPhilosophie und Jurisprudenz 100

Claus-Michael OrtAffektenlehre 124

Steffen MartusSprachtheorien 140

C. Literaturbezogene Institutionen

1. Literarisches Handeln

Anke-Marie Lohmeier>Vir eruditus< und >Homo politicus<. Soziale Stellungund Selbstverständnis der Autoren 156

Peter CersowskyBuchwesen 176

Ingo BreuerLiterarische Sozietäten 201

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6 INHALT

2. Literarische Formen

Boy HinrichsRhetorik und Poetik 209

Ernst OsterkampEmblematik 233

Jutta BreylDedikationen in Text und Bild 255

Kirsten ErwentrautBriefkultur und Briefsteller — Briefsteller und Briefkultur . . 266

Guillaume van GemertFremdsprachige Literatur(>Latinität< und Übersetzungen)

286

D. Literarische Institutionen:Funktionsbereiche und Gattungssystem

1. Höfische Repräsentationsliteratur

Albert MeierDer Heroische Roman 300

Michael SchillingLyrik 316

Markus EngelhardtOper, Festspiel, Ballett 333

2.Religiöse Literatur

Irmgard ScheitlerGeistliche Lyrik 347

Helmuth ThomkeGeistliches Drama und Kritik am Drama 377

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INHALT 7

Franz EyblPredigt / Erbauungsliteratur 401

Peter CersowskyPansophische Literatur 420

3. Bürgerlich-weltliche Literatur

a) Gebrauchs- und Massenliteratur

Claudia StockingerKasuallyrik 436

Guillaume van GemertPikaro-Roman 453

Helga BrandesFrühneuzeitliche Ökonomieliteratur 470

Guillaume van GemertMoralisch-didaktische Literatur 485

Nicola GraapPublizistische Medien im sozialhistorischen Kontextdes 17. Jahrhunderts 501

b) Kunstliteratur

Rainer BaasnerLyrik 517

Peter J. BrennerDas Drama 539

Ingo BreuerFormen des Romans 575

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8 INHALT

Anhang

Anmerkungen 597Literaturverzeichnis 679Register 748Inhaltsverzeichnis 765

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Vorwort

Fast zwei Jahrzehnte nach Band 3 (Aufklärung), der Hansers Sozial-geschichte der deutschen Literatur 1980 eröffnete, folgt Band 2 zurLiteratur des 17. Jahrhunderts. Inzwischen ist deutlich geworden,daß die einstige Absicht, allen Bänden über den gesamten Berichts-zeitraum vom 16. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwarteine gemeinsame, trotz weitgezogener Freiräume im Kern verbind-liche »heuristische Vorgabe« (Bd. 3, 9) zu unterlegen, nicht reali-stisch war. Aufgrund vielfältiger methodischer Probleme, die in kri-tischen Stellungnahmen schnell zur Sprache kamen,' sind seitdemtiefgreifende Abweichungen von den Prämissen erforderlich gewor-den, die jedem späteren Band individuelle Lösungen abverlangen.

Nach wie vor mag der Gedanke konsensfähig sein, daß »selbstliterarische Kunstwerke oder philosophische Literatur (...) ohneKenntnis jener sozialen Wirklichkeit, die sie in ihren Sprachformenstets schon zu Sinnzusammenhängen verarbeitet haben, nur unzu-reichend oder gar falsch verstanden werden« (Bd. 3, 7); eine Über-einstimmung darüber, in welcher Weise Dichtung und Gesellschaftvermittelt sind und ob erstere überhaupt von letzterer her erklärbarist (vom >wie< ganz abgesehen), wird sich dennoch kaum mehr her-beiführen lassen. Vor allem das Vertrauen auf die Rationalität ge-schichtlicher Veränderungen, innerhalb derer Literatur, Gesellschaftund Staat in einem »notwendigen Zusammenhang« (Bd. 3, 15)stünden, muß vor dem Horizont der >condition postmoderne< (Lyo-tard) als obsolet gelten — gegenwärtig ist zweifellos kein Paradigmafür eine neue, konsistente Geschichtsphilosophie abzusehen, diealle Ereignisse auf eine Sinn-Matrix verteilen könnte. Infolgedessenfehlt es jedem Versuch, im Rahmen einer Gesamtdarstellung das li-teraturgeschichtliche Einheitsgebot zu beachten, an seiner gewich-tigsten Voraussetzung; ebenso verbietet sich der Anspruch, mit demAnsatz >Sozialgeschichte< über eine bevorzugte Generalmethodezur Einsicht in alle literarischen Daten zu verfügen (auch wenn erunter der Flagge des >New Historicism< gerade wieder Rückenwindverspürt).

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10 VORWORT

Immerhin: Auf keine Epoche deutscher Dichtung dürfte eine so-zialgeschichtlich perspektivierte Darstellung so gut passen wie aufdie Literatur der Barockzeit, weil deren Regelhaftigkeit in zeit-genössischen Poetiken nicht autonom-selbstreferentiell begründetwar, sondern von den Gesellschaftsstrukturen hergeleitet wurde:

Über alle politischen, regionalen oder konfessionellen Differen-zen hinweg dominiert im Selbstverständnis der frühen Neuzeitnoch die Idee einer zweckmäßig geschichteten Sozialordnung. DieSoziologie unserer Tage spricht von einer >stratifikatorischen< Glie-derung, 2 deren Endphase auf das 17. Jahrhundert zu datieren ist:auf das Jahrhundert, in dem sich mit der breiten Durchsetzung ab-solutistischer Regierungsformen die Umgestaltung von der Stratifi-kation zur funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystemsvollzog. Desto nachdrücklicher wirkt sich zur gleichen Zeit die inder Lebensrealität verschwindende Ständeordnung in der neuen,von italienischen und französischen Vorbildern inspirierten Poetikdes Barock-Klassizismus aus, deren Organisationszentrum im Dif-ferenz-Prinzip liegt. Ihre Regelsetzung leitet sich von den Stan-desunterschieden im Staat her:

Denn wie ein anderer habit einem könige / ein anderer einer privatpersongebühret / vnd ein Kriegesman so / ein Bawer anders / ein Kauffmann wie-der anders hergehen soll: so muß man auch nicht von allen dingen auff ei-nerley weise reden; sondern zue niedrigen sachen schlechte / zue hohen an-sehliche, zue mittelmässigen auch mässige vnd weder zue grosse noch zuegemeine worte brauchen. 3

Das rhetorische Wertgefälle von >genus grandiloquus< (bzw. >alti-

loquus<) und >genus infimus < 4 wird in erster Linie durch den gesell-schaftlichen Rang des Stoffes definiert, der wiederum mit der Re-putation der jeweils zentralen Affekte in Analogie steht: Der Zorneines Fürsten soll weit >edler< sein als die Rachsucht eines Soldatenoder Bauern. Seit Aristoteles sind Tragödie und Epos — die >hohen<Dichtarten schlechthin — folglich darauf ausgerichtet, »bessere Men-schen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen«;' dieuntergeordneten Dichtarten (Komödie, Exempelerzählung usw)befassen sich hingegen mit Personen oder Verhaltensweisen, deren

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VORWORT 11

sittliche Schwächen das Normalmaß übertreffen. Insofern konkre-tisiert sich die poetologische Leitdifferenz >hoch</>niedrig< in der Po-larität von >Heroischem< und >Satirischem>, d. h. als positive vs. ne-gative Übersteigerung des menschlich Üblichen.

>Hohe< und >niedere< Literatur werden daher bewußt in der glei-chen Weise gegeneinander abgegrenzt, wie Adel und Nicht-Adelkontrastieren. Frappierend ist diese Analogie gerade hinsichtlichder Argumentationsstrategie. Ihre poetologischen Normerwartun-gen haben die Zeitgenossen von oben nach unten definiert, d. h. alsAbleitung aus dem >Oberschichtenbezug< (Luhmann). Nach ebendiesem vertikalen Schema sind auch die Regeln für den Bereich derMoral vorgegeben worden: Die »Kriteriendiskussion (...) formu-liert die an den Adel gerichteten Erwartungen und setzt den Unter-schied von Oberschicht und Unterschicht als selbstverständlich vor-aus. Die Unterschicht mag nach einer anderen Moral leben«. 6 Ingenau dieser Weise reflektieren die barocken Poetiken jeweils nurdie >hohen< Literaturformen: am deutlichsten zu beobachten beimRoman, wo zuerst nur die höfische Variante theoriefähig war[- 305 f.], nicht jedoch der Pikaroroman oder gar die vielfälti-gen Zwischenformen. Trotz dieser Asymmetrie bleibt die aus derantiken Rhetorik übernommene Dreistil-Lehre für Produktion wieRezeption im Hintergrund in Kraft [— 222-225]. Die Distinktionzwischen hohem, mittlerem und niederem Stil weist eine derart evi-dente Parallele zum barocken Blick auf die soziale Schichtung auf[ — 30-36], daß dieser Zusammenhang den Dichtungslehren zurnicht hintergehbaren Argumentationsbasis diente. Am deutlichstenhat Georg Philipp Harsdörffer 1648 die Bindung der literarischenStruktur an die Rang-Abstufung in seinem Poetischen Trichter zumAusdruck gebracht:

Wie nun dreyerley Haubtstände/ also sind auch dreyerley Arten der Ge-dichte/ welche auf den Schauplatz gesehen und gehöret werden. I. Die Trau-erspiele/ welche der Könige/ Fürsten und grosser Herren Geschichte behan-deln. II. Die Freudenspiele/ so deß gemeinen Burgermanns Leben außbilden.III. Die Hirten oder Feldspiele/ die das Bauerleben vorstellig machen/ undSatyrisch genennet werden. Diese Nachahmung der dreyen Stände haben et-liche Stücke/ ins gemein und zugleich; etliche aber absonderlich (...).'

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12 VORWORT

Diesem Angebot, in der Literatur des 17. Jahrhunderts eine di-rekte Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erken-nen, läßt sich freilich nicht unbesehen Folge leisten. Das liegt nurzum geringeren Teil daran, daß die Soziologie in der offiziellen»Lehre von den drei Ständen (Geistlichkeit, Adel und dritter Stand)ein semantisches Artefakt« wahrnimmt und auch für das 17. Jahr-hundert als >Grundunterscheidung< nur die Differenz »von Adelund gemeinem Volk« anerkennt.' Gewichtiger dürfte sein, daß einepostmarxistische Literaturgeschichtsschreibung, die auf die Er-klärung literarischer Wirkungen durch gesellschaftliche Ursachenzu verzichten gelernt hat und auch nicht mehr ideologiekritischdas Denken einer früheren Zeit nach >progressiv</>regressiv< oder>emanzipatorisch</>repressiv< zu sortieren vermag, zwischen Hars-dörffers Analogieprinzip und der gesellschaftlichen Realität seinerGegenwart kein Abbildungsverhältnis nach dem Basis/Uberbau-Schema annehmen kann. Neuere Versuche deutscher Provenienz,an der Idee einer Sozialgeschichte der Literatur festzuhalten, habenjedenfalls Georg Lukács' Widerspiegelungstheorem ebenso zu denAkten gelegt wie das auf die Adorno/Horkheimer-Schule zurückge-hende Programm der Ideologiekritik; statt dessen berufen sie sichauf systemtheoretische Basisannahmen (gleichgültig, ob luhmann-scher oder parsonsscher Couleur) und geben der Beschreibung denVorzug vor genetischen Erklärungen. Solche Theoriemodelle bezie-hen sich allerdings regelmäßig auf den Zeitraum nach 1750: 9 auf

die Phase eines ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsystems >Li-teratur<, das im wesentlichen nach Marktprinzipien funktioniertund insofern eine >relative Autonomie< ausbildet. Auf die Literaturvor dieser >Sattelzeit< (Koselleck), d. h. auf die frühneuzeitliche Peri-ode einer noch nicht autonom begründeten Literatur, geht keinerdieser Modellentwürfe ein. Für die Sozialgeschichtsschreibung derBarockliteratur liegt mithin keine brauchbare Theoriebildung der

90er Jahre vor.Demzufolge versteht sich die sozialgeschichtliche Herangehens-

weise im vorliegenden Band nicht als Universalparadigma, das sei-ner exklusiven Erkenntnischancen wegen den konkurrierendenAnsätzen überlegen wäre. Als eine von mehreren Strategien, dieKomplexität literarischer Erscheinungen eines Zeitabschnitts über-

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VORWORT 1 3

schaubar zu machen, hat sie ihre Rechtfertigung am Vorrang des

Sozialbezugs im Selbstverständnis der Literaten des 17. Jahrhun-derts. Der sozialgeschichtliche Zugang leitet sich insofern von sei-nen Darstellungsmöglichkeiten ab und paßt sich in dieser Absichtden kulturellen wie sozialen Besonderheiten des Barockzeitaltersan: Er strukturiert eine Präsentation der frühneuzeitlichen Litera-tur, die auf die spezifischen Bedingungen des 17. Jahrhunderts rea-giert und heutigen Lesern ein leistungsfähiges Verständnis von Tex-ten eröffnet, die unseren Denk- und Wahrnehmungsgewohnheitenferngerückt sind, weil sie einer älteren >Diskursordnung< (Foucault)angehören.

Als nur >regulativ< gemeinte Idee wird das Gliederungsprinzipder Rhetorik vorausgesetzt (die Unterscheidung von drei Stilebe-nen), weil diese Binnendifferenzierung wiederum auf der zeitgenös-sischen Deutung der sozialen Realität im höfisch-absolutistischenStaatswesen beruht. Aufgrund ihrer Zweckorientiertheit werdendie literarischen Produkte nach Maßgabe ihrer gesellschaftlichenLeistung je einem Bereich des Ständesystems zugeordnet: >höfisch<H >geistlich< H >bürgerlich-weltlich <. 10 Analog zur Vorgehensweisebarocker Poetiken, die sich als normsetzende Anleitungen zur Pro-duktion von Literatur geben, stehen für die literaturgeschichtlicheRekonstruktion darüber hinaus die literarischen Texte im Vor-dergrund, nicht deren Rezeption. Demgemäß folgt die Gliederungdes vorliegenden Bandes einem soziologisch fundierten Gattungs-system: Die literarischen Genres werden auf die drei Hauptfunk-tionsbereiche >höfisch>, >geistlich< und >bürgerlich< verteilt, um aufdiese Weise ein zureichend vollständiges Gesamtsystem zu bilden. Jenachdem, welche Gattungen bzw. Textsorten im gegebenen Sozial-bereich von Bedeutung sind, werden die einzelnen Unterpunktefestgelegt. Dieses flexible Gliederungsprinzip reagiert auf die Un-möglichkeit, das Gattungsschema stringent umzusetzen, und bringtein höheres Maß an historischer wie an poetischer Konkretheithervor. Es erlaubt zudem, innerhalb der werkbezogenen Artikelrepräsentative Texte in den Vordergrund zu stellen. Gerade hier— im Widerstreit von poetologischem Schema und individuellemText — läßt sich der literaturgeschichtliche Entwicklungsgang ambesten erfassen: die Wandlungsprozesse, die in die Ausbildung eines

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VORWORT

autonomen Literatursystems einmünden. Gerade weil die Literaturdes 17. Jahrhunderts in so hohem Maße regelbestimmt ist, der je-weilige Autor als >poeta doctus< seinen strengen Vorgaben mit ra-tionalem Kalkül zu folgen hat und das Prinzip der Innovation noch

nicht als Qualitätsmerkmal gilt, kann es aber keine Souveränitätdes individuellen Werkes geben. Dessen Ort und Rang entscheidensich vielmehr in der Reibung mit den poetologischen Vorgaben, de-ren rationale Ordnung zunehmend brüchig wird und hinter derVielfalt der Produktion mehr und mehr zurückbleibt. Deutlichwird das insbesondere am Auftauchen der neuen Prosagattung>Roman< mit ihren von Anfang an divergenten Sub-Genres (>höfi-scher Roman< [--> 300 ff.], <Schäferroman<, >galanter Roman< etc.[— 575 ff.]), die sich keineswegs reibungslos auf soziologisch defi-nierbare Trägerschichten verteilen lassen.

Das auf diese Weise vorgegebene Raster versteht sich jedoch nichtals gültige Gliederungsstruktur, sondern stellt sich in ein Span-nungsverhältnis mit den Inhalten: Inwiefern sich eine bestimmteHaupt-<Gattung< wie z. B. die >Lyrik< mit plausiblen Argumententatsächlich dreiteilen läßt, müssen die entsprechenden Artikel er-weisen. Dort ist der Ort für die Kontrolle des Rasters; dort läßt sichjeweils die Frage stellen, ob die ständisch -rhetorische Abgrenzung

Plausibilität besitzt, ob zwischen den Regionen oder den Konfessio-nen Unterschiede zu beachten sind und ob die Dynamik der literari-schen Entwicklungen über ein Jahrhundert hinweg die Ausgangs-matrix gegebenenfalls sprengen kann. Das triadische Gliederungs-prinzip bleibt daher rein formal und beansprucht weniger eineheuristische denn eine funktionale Qualität: Es setzt einen gemein-samen Nenner aller Einzelbeiträge, indem es ihnen gerade dadurchden inneren Problemzusammenhang verschafft, daß der systemati-sche Ansatz als äußerliches Gerüst formal bleibt. Darüber hinausaber hat jeder Beiträger die Konzeption des Artikels eigenverant-wortlich bestimmt, ohne durch methodische Vorgaben in seinerWahl der Mittel eingeschränkt worden zu sein.

Die Offenheit für Störungen oder gar Widersprüche zwischenden Ordnungsprämissen der Gesamtkonzeption und der jeweiligenRealisation in der Entwicklung einer literarischen Form will denAutoren des Bandes ebenso wie seinen Lesern den Test auf Abwei-

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VORWORT 15

chungen hin ermöglichen. In solcher Selbstkritik der Ausgangsposi-tionen manifestiert sich der Verzicht auf jede substantialistische,unvermeidlich präskriptive Geschichtsschreibung zugunsten ihrerdeskriptiven Brauchbarkeit. Insofern jeder Artikel im knappenÜberblick über die komplexen Ereignissen informiert und diese an-hand von repräsentativen Beispielen illustriert, bildet er eine Artvon Monographie. Diese monographische Absicht liegt auch derEntscheidung zugrunde, den Band aufzuteilen zwischen der Dar-stellung aller wesentlichen Grundlagen der literarischen Produk-tion und der Darstellung ihrer dichterischen Folgen, wenngleichdas Konzept der >poetics of culture< (Greenblatt) eine innigere Ver-netzung nahelegt. Vor der Auseinandersetzung mit den poetischenGattungen werden daher Informationen sowohl über die poli-tisch-soziologischen Fakten als auch über die ideengeschicht-lichen Voraussetzungen der Literatur geliefert: die gesellschaft-lich-geschichtlichen Rahmenbedingungen ()A. Historisch-politi-sche Grundlagen<), die zentralen Denkweisen in Philosophie undWissenschaft (>B. Philosophische und anthropologische Grundla-gen<), die soziologischen wie poetologischen Institutionen des li-terarischen Lebens (>C. 1. Literarisches Handeln< / >C. 2. Literari-sche Formen<). Ein weiterer Grund für die Binnendifferenzierungdes Bandes liegt darin, daß die unkaschierte Präsentation solcherHintergrundinformationen die formale Reaktion darstellt auf dieUnmöglichkeit, zwingende Beziehungen zwischen Literatur undGesellschaft aufzudecken (im Sinne etwa von >Kausalität< oder >Wi-derspiegelung<).

Wie der Berichtszeitraum >Barock< abzustecken ist, bleibt eben-falls programmatisch offen und kann durch die provisorische Fest-legung auf das >17. Jahrhundert< nur vage bestimmt werden. Ein-deutige Ränder werden nicht verbindlich und allgemeingültigdefiniert — für jeden Einzelbereich (z. B. eine Gattung) müssen An-fangs- und Endpunkt eigens präzisiert werden und dürfen zweck-mäßige Abweichungen von den Nachbarbereichen aufweisen. Glei-ches gilt für die räumlich-landschaftliche Begrenzung: Auch wenngrundsätzlich alle deutschsprachigen Territorien gleichermaßen dasBeschreibungsobjekt bilden, werden von Fall zu Fall Einschränkun-gen bzw. individuelle Akzentsetzungen erforderlich sein (Nord H

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VORWORT

Süd / protestantisch H katholisch). Als gemeinsamer Nenner fürdas, was hier unter >barocker< Literatur verstanden wird, fungiertjedoch der rhetorische Kernbegriff >aptum< [-> 217-219], der dieanalogiefähige Leitdifferenz >angemessen</>unangemessen< vorgibtund erst im Gefolge von Martin Opitz' Klassizismus in der deutsch-sprachigen Literatur zum Tragen gekommen ist. An diesem strengrationalen Ordnungsprinzip, das emotionalistischen Zwischen-tönen noch keinen Raum läßt, orientieren sich gleichermaßen diepoetologischen Gattungsregeln des 17. Jahrhunderts wie die sozia-len Standards der damaligen Lebenswelt - jedesmal entscheidet die>Schicklichkeit< über die Richtigkeit des Handelns. Daß sich Litera-tur unter diesem Zeichen am geschlossenen System der Dreistil-Lehre [-' 222-225] orientiert und die innere Gliederung in der je-weiligen Übereinstimmung von literarischer Form und sozialemOrt sucht, darf in Deutschland gerade während des 17. Jahrhun-derts als verbindendes Charakteristikum aller Kulturbereiche gel-ten und kann insofern eine vage Epochenabgrenzung tragen. Jeden-falls ist in dieser rhetorisch fundierten Literatur, die sich gleicher-maßen an die Tradition wie an die gesellschaftliche Gegenwartrückgebunden sieht, eine Differenz wahrzunehmen zu den Ent-wicklungen im Laufe des 18. Jahrhunderts, als die Literatur einenMarkt ausbildet und unter der sensualistisch motivierten Leitideeeiner ästhetischen Autonomie die Bindung an die rational fundierteRhetorik-Tradition aufgibt. Das bedeutet ganz wesentlich, daß esfür die >Barockliteratur< noch keinen Anlaß gibt, zwischen >Dich-tung< und >Sachliteratur< zu unterscheiden 486 ff.]. Alle lite-rarischen Formen definieren sich vielmehr als zweckgebundeneTexte, d. h. durch ihre gesellschaftlich gewollte Funktion und damitNützlichkeit: sei es konkret im Alltag (etwa in Predigten oder in derÖkonomieliteratur), sei es abstrakt durch die Bestätigung der sozialvorgegebenen Ordnung (in der >hohen< Dichtung durch das Reprä-sentieren des fürstlichen Ethos, in der >niederen< Dichtung durchdas Respektieren gesellschaftlicher Rangunterschiede von unten[-^ 575f.1).

Die Literatur des 17. Jahrhundert bildet im deutschen Sprachraumsowenig wie anderswo ein bruchloses System aus. Als Phase des Pa-radigmenwechsels vom Humanismus zur Autonomieästhetik ist die

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VORWORT 17

Epoche >Barock< aber von vielen Ungleichzeitigkeiten, Phasenver-

schiebungen, Traditionsbindungen und auch Freiheiten geprägt,die es im Rahmen einer Sozialgeschichtsschreibung zu respektierengilt. Gerade in den Abweichungen — sei es zwischen den Funktions-bereichen, zwischen den Gattungen oder zwischen den Zeiträumen— bringt sich die gesellschaftlich bedingte Dynamik jedenfalls ammarkantesten zur Geltung. Das ist kein Prozeß, der sich von gesell-schaftlichen Wandlungen herleiten ließe oder auch nur als Epiphä-nomen zu erklären wäre (im Sinne des Mythologems von >Aufstiegdes Bürgertums< als der Ursache dafür, daß eine neue, nicht-höfischdefinierte Literatur die alte, höfische verdrängt hätte). Vielmehr istauf den beiden Feldern Gesellschaft/Literatur eine vergleichbareUmstellung der Ordnungsregeln zu bemerken, die freilich nichtgeschichtsphilosophisch-linear als Fortschrittsprozeß zu erfassenist: Feste Strukturen lösen sich nicht zugunsten höherer Organisati-onsformen auf; mehr und mehr wird jedoch bewußt, daß die ratio-nalen Ordnungsvorstellungen in der sozialen Realität ebenso wieinnerhalb der literarischen Produktion der anwachsenden Komple-xität der Fakten nicht mehr gerecht zu werden vermögen. Demzu-folge tritt gerade auch im Rahmen von Dichtung und Dichtungs-theorie der Primat der Ratio zurück, was sich im Verdrängen derRhetorik durch eine tendenziell emotionalistische Poetik äußertund insofern der Auflösung der Ständeordnung korrespondierenmag. Im günstigsten Fall kann die Sozialgeschichtsschreibung dieliterarischen Veränderungen während des 17. Jahrhunderts bis zudiesem Punkt hin beobachten und die literarische Epoche >Barock<als Erscheinungsform der frühen Neuzeit deutlich machen, in dersich das moderne, funktionale Denken vorbereitet.

Albert Meier

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Michael Maurer

Geschichte und gesellschaftliche Strukturendes 17. Jahrhunderts

I. Staaten und Stände

Das 17. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Kriege; nur von dieserLebensbedingung her wird es verständlich. Aus der Glaubensspal-tung und der humanistischen Gelehrsamkeit, dem Ständewesenund dem Dualismus von Reich und Territorialstaaten (dem Erbe des16. Jahrhunderts) entwickelten sich im 17. Jahrhundert sowohl diekrisenhaften Zuspitzungen als auch das dauerhafte Friedensmodellvon Münster und Osnabrück, der Aufstieg der Territorialstaatenebenso wie der Absolutismus, die katastrophalen Abstürze der Zi-vilisation wie die Aufgipfelung höfischer Pracht und Kultur.

1. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

Die politische Verfaßtheit der deutschen Länder um 1600 warhöchst komplex. Es ist nicht leicht, ihr von einem modernen Be-wußtsein aus gerecht zu werden — am ehesten lassen sich die Ex-treme benennen: Die Verfassung enthielt noch Elemente des mittel-alterlichen Personenverbandsstaates (die Gestalt des Reiches warletztlich nur als Produkt des Lehenswesens erklärbar); die Verfas-sung enthielt aber auch schon Elemente des modernen, institutio-nellen Flächenstaates, zu dem sich Deutschland damals in einzel-nen seiner Territorien entwickelte.' Um 1600 wie um 1700 mußman daher stets (mindestens) zwei Ebenen des politischen Lebensim Blick behalten. Noch gab es das Heilige Römische Reich Deut-scher Nation, also eine teils reale, teils metaphysische Größe: einenHerrschaftsverband unter dem Kaiser, dem man eine universalge-schichtliche Bedeutung zumaß und den man in Kontinuität mit demRömerreich der Antike sehen wollte, der eine zweite universale

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DAS HEILIGE RÖMISCHE REICH DEUTSCHER NATION 19

Macht neben dem Papsttum darstellte und im religiösen Weltbild

eine eigene Funktion besaß. 2 Schon gab es aber auch die Wirklich-

keit absolutistisch regierter Territorialstaaten, die sich zunehmend

vom Reich ablösten und deren Macht wesentlich reale Fürsten-macht bedeutete, die sich jeweils auf stehende Heere und feste Be-amtenapparate stützte. Der Schlüsselbegriff für die neuzeitlicheStaatsbildung hieß >Souveränität< (— 113 f. J, klar entwickelt von

Jean Bodin (1529/30-1596) in den Six livres de la République(1576) und seit dem frühen 17. Jahrhundert auch im Reich rezipiert:Ideell umfaßt der Begriff Fürsten, die jeweils in ihren Staaten weit-gehend unabhängig regieren und im europäischen Rahmen auf

gleichrangige Fürsten treffen, welche in ihrem Bereich ebenfalls un-eingeschränkt sind. Den wichtigsten Faktor bei der Umwandlungälterer Herrschaftsgebilde mit geteilter oder gestufter Souveränitätin absolutistische Fürstenstaaten von einheitlicher Souveränität bil-dete das seit dem Humanismus zunehmend rezipierte RömischeRecht: das geschriebene Recht des antiken Römerreichs, das aufeine kaiserliche Spitze zugeschnitten war und dadurch die Möglich-keit bot, souveräne Fürsten der Neuzeit mit entsprechenden Herr-schaftsrechten auszustatten. Auf diesem Wege dienten den Fürstengelehrte Juristen (oft bürgerlicher Herkunft), die an den Universi-täten Oberitaliens (Padua, Bologna usw., seit dem späten 15. Jahr-hundert mehr und mehr auch innerhalb des eigenen Territoriums)Römisches Recht studiert hatten und entsprechende Vorstellungenin die Wirklichkeit der Territorialstaaten hineintrugen. 3

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, ein kompliziertesstaatliches Gebilde, das weder mit antiken noch mit neuzeitlichenpolitischen Begriffen ganz greifbar war, umfaßte die Mitte Europas:Nach dem bekannten Ausspruch Samuel Pufendorfs (1632-1694)war es >monstro simile< (irregulär bzw. ungestalt), weil es sich mitden aristotelischen Staatsformen – Monarchie, Aristokratie, De-mokratie – nicht identifizieren ließ. 4 Nach neuzeitlichen Begriffenstand es vor allem im Widerspruch zur Souveränitätslehre, da mandem Kaiser, der doch unbestritten das Haupt des Reiches war, an-gesichts vielfältiger Einschränkungen keine wirkliche Souveränitätzusprechen konnte. Aber auch die mächtigsten Territorialfürsten,mochten sie nun König von Böhmen oder Kurfürst von Branden-

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STAATEN UND STÄNDE

burg heißen, waren nicht wirklich souverän (wie etwa der Königvon Frankreich oder der König von England), solange sie sich demKaiser unterordnen mußten. Einerseits sah das Reich mit dem Kai-ser an der Spitze wie eine Monarchie aus; andererseits bildete es seitdem hohen Mittelalter ein Wahlreich, dessen sieben Kurfürsten sichauf einen Kaiser einigen mußten, was einer Aristokratie ähnelte.Man kann das Heilige Römische Reich wohl nur dann richtig ver-stehen, wenn man stets beide Ebenen vor Augen hat: das Reich alsideelle Größe, der eine je sich wandelnde Realität entsprach, unddie Territorialstaaten, die in den Wandlungen des 17. Jahrhundertszu Zentren realer Machtentfaltung aufstiegen.

Seit dem Wormser Reichstag 1495 hatte es immer wieder Bestre-bungen zur Reform des Reiches gegeben; 5 tatsächlich hatte dasReich bis 1806 Bestand, als es infolge der Napoleonischen Kriegeschließlich zusammenbrach. Die entscheidende Entwicklungsten -

denz führte jedoch nicht zu einem Ausbau, einer Erneuerung desReiches und seiner Institutionen, sondern vielmehr zu einer Aus-höhlung durch die wachsende Souveränität der Territorialstaaten.Die wichtigsten Stadien dieses Prozesses sind im 17. Jahrhundertgreifbar. Sie beruhten nicht allein auf interner Machtentfaltung aufder zweiten Ebene, sondern auf einem komplexen Zusammenspielder Fürsten mit äußeren Mächten. Insofern ist das Alte Reich derFrühen Neuzeit nur als Bestandteil eines internationalen Systems zubegreifen, in dem zunächst das Verhältnis zu Spanien den Aus-schlag gab, während im 17. Jahrhundert zunehmend Frankreichund Schweden eingriffen.

Dabei muß man sich vor Augen halten, daß die Nationalstaatender Moderne damals erst im Entstehen waren. Im Westen Europasgab es bereits relativ homogene Nationalstaaten: Spanien (Kastilienund Aragön, von 1580 bis 1640 einschließlich Portugals), Frank-reich (noch ohne Lothringen, das Elsaß, die Franche-Comté; auchdie Nordgrenze verlief um 1600 noch wesentlich anders) und Eng-land (mit Einschluß von Wales, seit 1603 in Personalunion und seit1707 in Realunion mit Schottland; Irland wurde nominell beherrscht,aber durchgreifend erst seit den Kolonisierungsunternehmen undFeldzügen des 17. Jahrhunderts). Diese Staaten waren allesamt Mo-narchien, hatten ein einheitliches Recht (zumindest tendenziell),