HUMES PRINZIPIEN- UND KANTS KATEGORIENSYSTEM

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HUMES PRINZIPIEN- UND KANTS KATEGORIENSYSTEM von R. A. Mall, Köln Daß es immer noch kein Einvernehmen darüber gibt, was Kants Antwort auf die Frage Humes war, ist beschämend für die Philosophiegeschichte 1 . Kein Lö- sungsversuch des Humeschen Problems wirkt überzeugend. "To refute him [Hume] has been, ever since he wrote, a favourite pastime among metaphysicians" 2 . Selbst was unter dem „Humeschen Problem" zu verstehen ist, scheint nicht ein- deutig festzustehen 3 . Aber diese und ähnliche polemische Thesen — so interessant und aufschlußreich sie auch sein mögen bilden nicht das zentrale Thema dieser Untersuchung. In dieser Untersuchung wird gezeigt, daß dem Prinzipiensystem in der Hume- schen Philosophie eine ähnliche Rolle zukommt wie dem Kategoriensystem in der Kantischen. Wir versuchen hier die Prinzipien (principles) Humes bzw. die Kategorien Kants derart zu thematisieren, daß wir auch bei Hume von einer Art „apriorisch-synthetischem Denken" sprechen können. Auch Walsh spricht von einer "empiricist doctrin of categories" 4 . Die eigentliche Philosophie Humes, nicht die ,offizielle', braucht mehr oder minder ein solches Denken. Die ,offizielle' Philosophie betont zu sehr die skeptische und die rein formallogische Seite des Humeschen Denkens und provoziert so die einseitige und sogar teilweise falsche Vorstellung, daß Hume der mit allen Mitteln zu bekämpfende Skeptiker bzw. der Vater des atomistischen Positivismus ist. Die eigentliche Philosophie Humes er- wächst aus seiner Kritik an dem reinen Sensualismus und an dem dogmatischen Rationalismus und gründet auf der Philosophie der menschlichen Natur, die "a compleat System of the sciences, built on a foundation almost entirely new" 5 darstellt 6 . 1 Cf. E. W. Sdiipper, Kant's Answer to Hume's Problem, Kant-Studien, Bd. 53, Heft 1—4, 1961—62. 2 B. Russell, History of Western Philosophy, S. 634, London 1967. 3 Vgl. E. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, S. 99 ff. 4 Cf. W. H. Walsh, Reason and Experience, S. 163 ff. 5 D. Hume, Treatise, Einleitung XX, Ed. Selby-Bigge, Oxford 1960. Für eine ausführliche Diskussion vgl. Hendel, Studies in the Philosophy of David Hume, New York 1963; H.H.Price, Hume's Theory of the External World, Oxford 1963; N. K. Smith, The Philosophy of David Hume, London 1960; R. A. Mall, Hume's Concept of Man, Calcutta/New York/London 1967; A. Schaefer, David Hume Philosophie und Politik, Meisenheim a. Glan 1963. 319 Brought to you by | University of Arizona Authenticated Download Date | 12/18/14 2:06 PM

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HUMES PRINZIPIEN-UND KANTS KATEGORIENSYSTEM

von R. A. Mall, Köln

Daß es immer noch kein Einvernehmen darüber gibt, was Kants Antwort aufdie Frage Humes war, ist beschämend für die Philosophiegeschichte1. Kein Lö-sungsversuch des Humeschen Problems wirkt überzeugend. "To refute him [Hume]has been, ever since he wrote, a favourite pastime among metaphysicians"2.Selbst was unter dem „Humeschen Problem" zu verstehen ist, scheint nicht ein-deutig festzustehen 3. Aber diese und ähnliche polemische Thesen — so interessantund aufschlußreich sie auch sein mögen — bilden nicht das zentrale Thema dieserUntersuchung.

In dieser Untersuchung wird gezeigt, daß dem Prinzipiensystem in der Hume-schen Philosophie eine ähnliche Rolle zukommt wie dem Kategoriensystem in derKantischen. Wir versuchen hier die Prinzipien (principles) Humes bzw. dieKategorien Kants derart zu thematisieren, daß wir auch bei Hume von einer Art„apriorisch-synthetischem Denken" sprechen können. Auch Walsh spricht voneiner "empiricist doctrin of categories"4. Die eigentliche Philosophie Humes,nicht die ,offizielle', braucht mehr oder minder ein solches Denken. Die ,offizielle'Philosophie betont zu sehr die skeptische und die rein formallogische Seite desHumeschen Denkens und provoziert so die einseitige und sogar teilweise falscheVorstellung, daß Hume der mit allen Mitteln zu bekämpfende Skeptiker bzw. derVater des atomistischen Positivismus ist. Die eigentliche Philosophie Humes er-wächst aus seiner Kritik an dem reinen Sensualismus und an dem dogmatischenRationalismus und gründet auf der Philosophie der menschlichen Natur, die "acompleat System of the sciences, built on a foundation almost entirely new"5

darstellt6.

1 Cf. E. W. Sdiipper, Kant's Answer to Hume's Problem, Kant-Studien, Bd. 53, Heft1—4, 1961—62.

2 B. Russell, History of Western Philosophy, S. 634, London 1967.3 Vgl. E. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale

Phänomenologie, S. 99 ff.4 Cf. W. H. Walsh, Reason and Experience, S. 163 ff.5 D. Hume, Treatise, Einleitung XX, Ed. Selby-Bigge, Oxford 1960.

Für eine ausführliche Diskussion vgl. Hendel, Studies in the Philosophy of DavidHume, New York 1963; H.H.Price, Hume's Theory of the External World, Oxford 1963;N. K. Smith, The Philosophy of David Hume, London 1960; R. A. Mall, Hume's Conceptof Man, Calcutta/New York/London 1967; A. Schaefer, David Hume — Philosophie undPolitik, Meisenheim a. Glan 1963.

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Obwohl diese Untersuchung hauptsächlich eine historische und auslegende ist,enthält sie Hinweise zur Bekräftigung der These, daß es Kategorien gibt, ohnedaß man dabei an der Kantischen Form der Herleitung und Deduktion festhaltenmuß7.

In den ersten beiden Teilen wird das Prinzipien- bzw. Kategoriensystem kurzdargestellt, im dritten Teil das Problem des Apriori untersucht, im vierten Teildie Imagination bei Hume und die Einbildungskraft bei Kant diskutiert und ge-zeigt, daß die Humesche Theorie der Imagination eine größere Ähnlichkeit mitder Kantischen hat, als allgemein anerkannt wird, im fünften Teil das Problemder Herleitung und Deduktion behandelt. Der Schlußteil enthält eine kurzedurchnummerierte Zusammenfassung der Ergebnisse und weist auf die Möglichkeithin, daß die Kantische Form des Rationalismus als eine Form des vor-HumesdienRationalismus aufgefaßt werden kann.

I. Eine kurze Darstellung des Prinzipiensystems Humes

Es ist ungewöhnlich, von der Humeschen Philosophie als einem System zusprechen, und daher bedarf unsere Rede vom Prinzipiensystem Humes einer Er-klärung. Hume entwickelt eine Theorie der aktiven menschlichen Natur undspricht von seinen Prinzipien als "propensities", die das gegebene Material derImpressionen und Perzeptionen verarbeiten und ordnen und so die Erfahrungermöglichen.

Unter Humes Prinzipien verstehen wir die verschiedenen Vollzugsweisen dermenschlichen Natur in ihrem aktiven Verhältnis zur Welt. Diese Prinzipien sinddaher auch als die Leitprinzipien der menschlichen Erfahrung, der menschlichenErkenntnis zu verstehen. Welches sind diese verschiedenen Leitprinzipien? Es sind'custom', 'habit', 'belieP, 'Imagination', 'practice', 'sympathy' usw.8. Hume sagtdeutlich, daß die menschliche Erfahrung, die menschliche Erkenntnis ohne diesePrinzipien gar keine Erfahrung bzw. Erkenntnis ist, "all experience becomes use-less, and can give rise to no inference or conclusion" 9. Die Philosophie Humesenthält eine Art Erfahrungskritik, die darin besteht, daß nicht die Erfahrungdiese 'propensities', sondern diese epropensities' die Erfahrung erklären, d.h. imSinne Husserls „konstituieren". Hume selbst formuliert seine radikal-kritischeFrage an seine Erfahrungslehre folgendermaßen: "What is the foundation of all

7 "Would it not be possible to grant all Kant's main points without committing one-self to any assertion about 'a priori' concepts?" sdireibt Walsh in seinem Artikel Cate-gories, In: Kant — A Collection of Critical Essays, ed. by R. P. Wolff, S. 61, London1968.

8 Cf. R. A. Mall, Hume's Concept of Man — An Essay in Pbilosophical Antbropo-logy, Calcutta, New York, London 1967.

9 Enquiries Concerning the Human Understanding and Concerning the Principlesof Morals, S. 38, Oxford 1966.

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conduslons from experience?"10 Diese kritische Frage Humes bezieht sich auf dasProblem der Übertragung von der Vergangenheit auf die Zukunft, denn er fragtebenda: "... but why this experience should be extended to future times, and toother objects, ..., this is the main question I would insist" ". Diese Übertragungbzw. die Erweiterung von der Vergangenheit auf die Zukunft geschieht — soHume — weder „intuitive" noch „demonstrative" 12, denn "all inferences fromexperience suppose, äs their foundation, that the future will resemble the past" 13.Über diese Prinzipien der menschlichen Natur, die Hume nicht so sorgfältig wieKant systematisch ordnet, sagt Wolff: "He never groups them together in thisfashion, but if he had, the result might well have been labeled a "Table of Catego-ries", for the propensities actually play a role quite similar to that of the catego-ries in the Critique of pure Reason" 14.

II. Eine kurze Darstellung des Kategoriensystems Kants

Kants "Hauptfrage", wie er in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik derreinen Vernunft sagt, ist die Feststellung der Grenzen der reinen Vernunft durchsich selbst; die Hauptfrage bleibt immer, „was und wie viel kann Verstand undVernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen, und nicht, wie ist das Vermögenzu denken selbst möglich?" 15

Das Mannigfaltige der sinnlichen Wahrnehmung bedarf auch bei Kant der Ver-arbeitung durch die Kategorien, die das Mannigfaltige „buchstabieren". Der Ver-stand ist demnach der gesetzgebende Faktor und der Geburtsort der Verstandes-formen, welche die Erscheinungen zu einem zusammenhängenden System der Er-fahrung ordnen 16. Nach Kant sind die Kategorien keine Eigentümlichkeiten dermenschlichen Natur — wie Hume es vielleicht sagen würde —, sondern sie sinddie notwendigen Funktionen des Verstandes und sind in jedem diskursiven Denkenenthalten. Ohne diese Funktionen ist keine Erfahrung möglich, und die Katego-rien stellen die transzendentalen Bedingungen der Erfahrung dar17.

Die Entdeckung der Kategorien geschieht in der Philosophie Kants durch dieReflexion über die Grundformen des Denkens, des Urteilens selbst. Der reineVerstand wird durch seine Urteile erschöpft. Durch die Ausarbeitung der ver-

10 Ibid., S. 32.11 Ibid., S. 33—34.12 Ibid., S. 37.« Ibid., S. 37.14 R. P. Wolff, Hume's Theory of Mental Activity, In: Hume — Modern Studies in

Philosopby — A collection of critical essays, ed. by V. C. Chappell, S. 127, London 1968.15 AXVII.1C Cf. F. Kaulbach, Die Entwicklung des Synthesis-Gedankens bei Kant, in: Studien

zu Kants philosophisdjer Entwicklung, Bd. 6, hrsg. von H. Heimsoeth u. a., Hildesheim1967.

17 Cf. L Kant, Kritik der reinen Vernunft, A. 93 ff., B. 125 ff.

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schicdcncn Funktionen des reinen Verstandes will Kant die Tafel der Urteils-formen aufstellen, die als Schlüssel für die Herleitung der Tafel der Kategoriendient. Im Zusammenhang mit der Herleitung der Kategorien erklärt Kant, aufHume Bezug nehmend: „Ich versuchte also zuerst, ob sich nicht Humes Einwurfallgemein vorstellen ließe, und fand bald: daß der Begriff der Verknüpfung vonUrsache und Wirkung bei weitem nicht der einzige 18 sei, durch den der Verstanda priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, daß Metaphysik ganz undgar daraus bestehe. Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern, und da dieses mirnach Wunsch, nämlich aus einem einzigen Prinzip, gelungen war, so ging ich an dieDeduktion dieser Begriffe, von denen ich nunmehr versichert war, daß sie nicht,wie Hume besorgt hatte, von der Erfahrung abgeleitet, sondern aus dem reinenVerstande entsprungen seien" 19.

Die sogenannte „metaphysische" Deduktion zeigt die Ableitung der Verstan-desbegriffe aus den Urteilsformen, während Hume — so Kant — sie aus derErfahrung ableiten wollte. In der Zusammenstellung der Urteilsfunktionen greiftKant auf die Allgemeine* Logik zurück. Seine Behauptung, daß Vollständigkeitnur durch eine systematische Ableitung, und nicht durch eine empirische Zusam-menstellung erreicht werden kann, besteht gegen den Empirismus zu Recht, aberdie Frage ist, ob Kants Berufung auf die formale Logik zur Lösung des Problemsgenügt20.

III. Das Problem des A priori

Wir beginnen hier mit der Bemerkung, daß weder Kant noch Hume gegen dieAnnahme sind, daß es Leitprinzipien gibt und geben muß. Diese sind die Leit-prinzipien der Erfahrung, der Erkenntnis. Es gibt Elemente, Prinzipien, die selbstnicht im schlichten und einfachen' Sinne der Erfahrung Erfahrungen bedeuten,weil sie es sind, die die Erfahrung zu einem bedeutungsvollen Zusammenhangmachen. Unsere Gegenüberstellung möchte die beiden Systeme im Sinne der Leit-prinzipien der Erfahrung deuten. Das Problem des Apriori wollen wir wesentlichmit der aktiven Seite der menschlichen Intelligenz bzw. der menschlichen Naturverbunden wissen.

Bevor wir die Anwesenheit des Apriori bei Hume zeigen, müssen wir voraus-schicken, daß Hume selbst gegen Apriorismus und Rationalismus war. Die „offi-zielle" Darlegung und Deutung der Humeschen Philosophie versteht unter demApriori das Feld der Ideenrelationen. Die Sätze in diesem Felde sind analytischer

18 Nadi Kant soll Hume einzig und allein die Kausalität in Zweifel gezogen haben.19 Prolegomencty Vorrede, S. 7.20 Cf. Kant — A Collection of Critical Essays, ed. by R. P. Wolff, Modern Studies

in Philosophy, London 1968; P. F. Strawson, The Bounds of Sense. An Essay onKant's Critique of Pure Reasony London 1968; K. Reidi, Die Vollständigkeit der Kanti-schen Urteilstafel, Berlin 1932.

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Natur; sie sind auch a priori. Hume spricht von der "intuition" und "demonstra-tion" der Wahrheit, wobei Wahrheit für Hume hier ein Resultat der formalenVernunft darstellt. Dagegen sind die Sätze im Felde des matter of fact syntheti-scher Natur, wie die Prinzipien der Kausalität usw. Diese Sätze aber sind nichta priori im Sinne der Ideenrelationen, denn dann wären sie demonstrierbar, unddas Gegenteil wäre dann unvorstellbar. Dennoch sind diese Sätze nicht einfachalle Erfahrungen im Sinne der schlichten Erfahrung. Sie enthalten Momente, dieselbst als Voraussetzung der Erfahrung dienen. Es sind diese Momente, die wirhier die Humeschen Prinzipien wie custom, habit, belief usw. genannt haben. Daßdie Zukunft der Vergangenheit folgen wird, ist selbst nicht eine Erfahrung, son-dern die Voraussetzung, das Leitprinzip der Erfahrung. In diesem und nur indiesem Sinne der die Erfahrung leitenden Prinzipien sprechen wir vom Aprioribei dem System Humes. Das Humesche Apriori ist, um einen Ausdruck Husserlszu gebrauchen, ein „empirisch-gebundenes Apriori" 21.

Kants Apriori stellt dasjenige Element in unserer Erkenntnis dar, das unab-hängig von aller Erfahrung ist. Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit sind diewesentlichen Merkmale des Apriori nach Kant. Da wir allgemeingültige und not-wendige Erkenntnis haben und da die Erfahrung nur zufällige Erkenntnisse gibt,müssen wir apriorische Prinzipien bzw. Kategorien haben, die die Vorbedingun-gen der Erfahrung, der Erkenntnis selbst darstellen. Wenn man von der Erfah-rungserkenntnis all das wegnimmt, was den Sinnen angehört, so bleiben dennochgewisse ursprüngliche und apriorische Formen und Begriffe, die aller sinnlichenErkenntnis zugrunde liegen. Hume wird nicht von einem solchen „Wegnehmen"sprechen. Die Prinzipien sind — so Hume — "suitable to experience".

Der Ursprungsort des Kantischen Apriori ist der reine Verstand22. So sinddie Bestandteile unserer Erkenntnis vor aller Erfahrung und/oder unabhängigvon aller Erfahrung die apriorischen Elemente der Kantischen Lehre vom Apriori.Wir werden unten sehen, daß in dem System Humes sowie in dem Kants dieapriorische Imagination eine zentrale Rolle spielt.

Unter dem Problem des Apriori verstehen wir in dieser Untersuchung — wieschon erwähnt — in der Hauptsache die Überzeugung, daß, obwohl die Erfah-rung passive Momente enthält, sie dennoch nicht ganz passiver Natur ist. Hume istkein philosophischer Nachfolger Lockes und Berkeleys, und Kant hatte Unrechtinsofern, als er Hume „ausschließlich" in diese Tradition einordnete. Die Prin-zipien Humes und die Kategorien Kants sind die apriorischen Bedingungen derErfahrung, obwohl der Begriff der Erfahrung bei Hume und bei Kant verschie-den gedeutet und gebraucht wird. Auch bei Hume ist die Rede von den "Qualitiesof human nature", die aktiver Natur sind. Es sind diese "qualities", die die Er-fahrung leiten. Abgesehen von den Impressionen und Ideen als Elementen derErfahrung entdeckt Hume andere Faktoren der Erfahrung wie "feeling", "senti-

21 Erfahrung und Urteil, S. 454 ff., Hamburg 1964.22 Vgl. Prolcgomena, § 2.

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"customary transition", "manner", "disposition", "propensities", "actsof thc mind" usw., die die Natur und die Bedingungen der Erfahrung darstellen.Humc nennt diese Faktoren auch die "properties of human nature". Diese sinddie verschiedenen Tendenzen (tendencies) der menschlichen Natur, die verschie-denen Arbeitsweisen der menschlichen Natur in der Gewinnung der Erkenntnis, derErfahrung. So nennt Hume das Prinzip des belief "that act of the mind"23.In An Abstract of a book lately publisbed enti-tled Treatise of Human Nature'whercin the chief argument of that book is further illustrated and explained**heißt es: "Belief is a different 'manner' of conceiving an object, ... it 'feels* some-thing different in the conception of it from a mere reverie of the Imagination" 25.In diesen Worten Humes ist schon enthalten, daß es bei belief nicht einfach umwillkürlich subjektive Erkenntnis geht, sondern um objektiv gültige Erfahrungen.Die Kantische transzendentale Deduktion versucht, diese objektive Gültigkeitder Kategorien als subjektive Bedingungen auf einem anderen Weg zu zeigen.Belief ist "different", sagt Hume im Abstract, "from a loose conception". Mankann hier am Rande bemerken, daß die Aufgabe des Abstract Humes der derProlegomena Kants ähnelt, weil beide Bücher die Werke A Treatise of HumanNature bzw. Kritik der reinen Vernunft verständlicher machen möchten.

Wenn man unter dem Humeschen Apriori das Vorhandensein der die Erfah-rung leitenden Prinzipien versteht, dann muß man sagen, daß Humes Philosophieeine Theorie der geistigen Akte (mental acts or activities) enthält26. Im Abstractspricht Hume von "acts of the mind", "reflecting on the operations of our ownminds". So werden wir bald zu zeigen haben, daß die Imagination, die mit Hilfeder universalen Prinzipien arbeitet und so das Fundament aller Erfahrungsschlüsseabgibt, ein ähnliches System wie das von den synthetischen Sätzen a priori bein-haltet. Die Prinzipien Humes sind synthetischer Natur, aber nicht „apriorisch-rationaler", sondern „apriorisch-imaginativer" Natur.

Trotz all der Gemeinsamkeiten zwischen den Prinzipien und den KategorienKants ist das Kantische Apriori vom Humeschen verschieden. Worin liegt derUnterschied? Aus dem Gesagten folgt:

(1) Das Kantische Apriori ist rational-logischer Natur, während das HumescheApriori „imaginativ-natürlicher" Natur ist.

(2) Das Kantische Apriori ist transzendentaler Natur; es handelt sich hierum die transzendentale Methode, während das Humesche Apriori ,experimentel-ler' Natur ist, weil Hume seine Prinzipien mit Hilfe der Methode des "experi-mental reasoning" herausstellt.

23 Vgl. Treatise, 629.24 Dies ersdiien zuerst 1740 anonym. Erst jetzt konnte man nadiweisen, daß Hume

dieser anonyme Autor war. Im Jahre 1938 wurde diese Identität von J. M. Keynes undP. Sraffa publik gemacht.

25 Hume, edited by D. C. Yalden-Thomson, Edinburgh 1951, S. 256.2e Hume, ed. von Chappell, S. 99 ff.

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(3) Das Kantische Apriori ist, um mit Dilthey zu sprechen27, „starr" und bean-sprucht eine absolute Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, während das Hume-sche sich vielmehr auf eine "experimental method of reasoning" stützt28.

(4) Die apriorischen Kategorien Kants haben in der reinen Vernunft, in demreinen Verstande, ihren Ursprungsort. Humes Prinzipien dagegen sind die ver-schiedenen ursprünglichen Weisen der menschlichen Natur selbst.

(5) So muß man das Humesche Apriori von dem Kantischen unterscheiden,denn die Humeschen Leitprinzipien sind, um mit Hendel zu sprechen, die "defacto qualities of human nature" 29.

IV. Die Imagination

Die Humesche Theorie der Imagination ähnelt der Kantischen Theorie derselbenso sehr, daß man nicht nur bei Kant, sondern auch bei Hume von einer „apriori-schen Imagination" sprechen kann. Daß die Humesche Philosophie der Imagina-tion eine sehr große Rolle nicht nur in seiner Erkenntnistheorie, sondern auch inseiner Moral spielt, ist das Resultat der neueren Hume-Forschung. Die Einbil-dungskraft ist die Quelle der apriorischen Prinzipien.

Hume wie auch Kant stellen die Imagination zwischen Sinnlichkeit und Ver-stand (sense and understanding). So kann man von einem „Dritten" sprechen, dasdie Rolle des Mittlers spielt. Kant spricht von zwei Arten der Einbildungskraft —der produktiven und der reproduktiven30. Auch bei Hume finden wir eine ähn-liche Unterscheidung, wenn die universalen Qualitäten der Imagination dennicht-universalen Qualitäten derselben gegenübergestellt werden. "In order tojustify myself", schreibt Hume, "I must distinguish in the Imagination betwixtthe principles which are permanent, irresistable, and universal; ... And the prin-ciples, which are changeable, weak, and irregulär"31.

Nach der transzendentalen Analytik ist die Kantische Einbildungskraft eine,blinde, aber zugleich eine unentbehrliche Funktion der Seele', „ohne die wir über-all gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal be-wußt sind"32. Auch Hume spricht ähnlich von der Tätigkeit der Imagination,wenn er sie zum Fundament der Sinne, des Gedächtnisses und des Verstandesmacht. "Without this quality", schreibt Hume, "by which the mind enlivens some

27 Dilthey sagt: „Das Apriori Kants ist starr und tot", siehe „Dokumentarischer An-hang" in P. Kraussers Kritik der endlichen Vernunft, S. 225.

28 Dies mag man dadurdi erklären — wie man audi vielfadi gesagt hat —, daß Kant,nidit Hume, von der Newtonisdien Physik ganz überzeugt ist.

20 Hendel, Studies in the Philosophy of David Hume, 399; cf. auch N. K. Smith,The Philosophy of David Hume, 155.

30 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A. 138 ff.; B. 177 ff.31 Treatise, 225.32 Kritik der reinen Vernunft, A. 78; B. 103.

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idcas bcyond othcrs, wc cou'd ncver assent to any argument, nor carry our viewbcyond those few objccts, which are present to our senses ... The memory, senses,and undcrstanding arc, therefore, all of them founded on the Imagination"33.

Wie bei Kant die reine transzendentale Einbildungskraft die Erfahrung mit ih-rem synthetischen Charakter ermöglicht, so ermöglicht die Humesche ,natürliche'Imagination mit Hilfe ihrer universalen Prinzipien die Erfahrung derart, daß siezur Quelle der verschiedenen Prinzipien der menschlichen Natur wird 34. Humespricht von der Imagination als "the foundation of all our thoughts and actions,so that upon their removal [d. h. 'removaP der eigentlichen universalen Qualitä-ten der Imagination] human nature must immediately perish and go to ruin" 35.

In dieser seiner Unterscheidung zwischen zwei Seiten der Imaginationkommt Hume, um mit Price zu sprechen, "very near to Kants distinction betweentwo radically different sorts of imagination, transcendental and empirical"3 .Da Hume fast einem jeden Formalismus und Apriorismus gegenüber negativeingestellt war, spricht er nie von diesen Begriffen in seiner Philosophie.

Bei Kant ist die Einbildungskraft der Vermittler zwischen Verstand und Sinn-lichkeit, und das Schema als ein Drittes zwischen der Kategorie und Erscheinungist ein Produkt der reinen Einbildungskraft. Unsere Interpretation zeigt, daß auchbei Kant die Rolle der Einbildungskraft wichtiger und zentraler ist als die desVerstandes, denn ohne die Einbildungskraft blieben die Kategorien unschemati-siert und ohne jeden Sinn für die menschliche Erfahrung, für die menschliche Er-kenntnis. Die Einbildungskraft ist die Quelle aller Synthese. Dennoch sagt aberKant, daß die transzendentale Synthese der Einbildungskraft mit der Einheit dertranszendentalen Apperzeption in Verbindung stehen muß, um objektive Erkennt-nis hervorbringen zu können. So sagt Kant, daß die transzendentale Einheit derApperzeption in ihrem Bezug auf die imaginative Synthese den Verstand selbstbedeutet37.

Kant, aber nicht Hume, konnte eine komplette Liste der Funktionen des Ver-standes darstellen, weil Kant die aristotelische formale Logik für abgeschlossenhielt. Die formale Logik beschäftigt sich vielmehr mit dem Problem der ,Konsi-stenz', während die transzendentale Logik die Wahrheit behandelt. In diesemSinne muß man die Kritik Walshs an Kant verstehen, wenn er sagt: "He [Kant] is,it would seem, attempting the impossible: to argue from general logic, ... totranscendental logic. No such transition can be made" 38.

Was Hume in seiner Philosophie 'belief' nennt, ist eigentlich der Akt des Urtei-lens (judgment). In diesem Akt des Urteilens sind nicht nur die Sinneseindrückemaßgebend, sondern auch die aktive Seite der menschlichen Natur, der mensch-lichen Vernunft. Man kann feststellen, daß die Humesche Philosophie ein ,synthe-

33 Treatise, S. 265.34 Vgl. Treatise, 371, 385 und 504.35 Treatise, 225.36 Hume's Tbeory o} the External World, S. 16.37 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A. 119.38 Reason and Experience, 168.

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tisch-apriorisches Denken' enthält, wobei die Hauptrolle nicht die Vernunft —wie bei Kant —-, sondern die Imagination spielt. Auch für Hume ist die Kausal-relation synthetischer Natur, ohne dabei zugleich sensualistischer Natur zu sein.Sie ist daher apriorischer Natur in dem Sinne, daß sie die Erfahrung leitet, denn,wie Hume in der Behandlung des Problems der Imagination im Treatise sagt —"customary transition from causes to effects, and from effects to causes" stellteines der universalen Prinzipien der Imagination.

Was Hume mit dieser seiner Theorie der Imagination bewältigen will, ist dieFrage nach den objektiven und subjektiven Elementen in der menschlichen Erfah-rung. Wenn Hume diejenige Imagination hervorhebt, die mit „permanent, irre-sistable, and universal principles" arbeitet und die die Grundlage des objektiv-universalen im Sinne des intersubjektiv-gültigen Denkens darstellen soll, dannpräsentiert er eine Lösung des Problems des objektiven Denkens in der Linie Kants.Dennoch bleibt die Lösung Humes in manchen wichtigen Punkten verschieden von

i der Kants:(1) Die Humesche Lösung sieht in der menschlichen Natur, und nicht in der

'menschlichen Vernunft, den Ursprungsort der Prinzipien bzw. der Kategorien.Die Humesche Lösung kann mit Recht ihren Platz behaupten, ohne dabei an einerformalen Logik festzuhalten oder festhalten zu müssen. In diesem Sinne kannman sagen, daß Hume selbst die Reichweite seiner eigenen Entdeckung nichtimmer ganz gesehen hat39.

(2) Hume, nicht Kant, war synthetischen Sätzen a priori gegenüber skeptischeingestellt, weil für ihn (Hume) das apriorische Denken ein Denken im Felde derIdeenrelationen bedeutete.

(3) So ergibt sich eine ,imaginativ-natürliche' Interpretation des Prinzipien-systems Humes, während das Kantische Kategoriensystem rationalistisch interpre-tiert werden kann.

(4) Die Kategorien Kants sind daher rational-logischer Natur, während dieHumeschen Prinzipien mit der nicht-rational-logischen (im Sinne der HumeschenIdeenrelationen) Seite der menschlichen Natur zu tun haben. Das soll aber nichtbedeuten, daß die Prinzipien Humes irrationaler' Natur sind. Sie sind ebeninnerhalb dieser Gegensätzlichkeit „rational-irrational" nicht einzuordnen. Dahermuß man den Humeschen Begriff "natural, easy, manner" ernst nehmen.

(5) Hume bestreitet die Möglichkeit einer jeden Demonstration der Prinzipienbzw. Kategorien, wobei unter dem Begriff der Demonstration die Vernunft imFelde der Ideenrelationen verstanden wird. Nur so kann man die Bedeutung derHumeschen Unterscheidung zwischen "moral and demonstrative reasoning" rich-tig einschätzen.

Die Prinzipien bzw. die Kategorien haben ihr Arbeitsfeld im ersteren und nichtim letzteren. Die Vermutung liegt nahe, daß Hume, ohne es ausdrücklich gesagtzu haben, der festen Ansicht war, daß eine formale Logik kaum die Natur der

39 Vgl. Walsh, Reason and Experience, S. 182.

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Prinzipien erklären kann, geschweige rechtfertigen und endgültig begründen."Kant was quite right", schreibt Walsh, "to connect the categories with judgment,but not to think that formal logic could 'throw light on them* "40.

Hume wie Kant sind von der Gültigkeit der Prinzipien bzw. der Kategorienfest überzeugt. Beide scheinen die menschliche Natur bzw. die menschliche Ver-nunft zu analysieren, wobei die menschliche Natur bzw. die menschliche Vernunftetwas An-sich-Seiendes darzustellen scheint. Man kann aber kaum von einemAn-Sich im Sinne des Ding-an-sich bei Hume sprechen. Die Erörterung der Frage,ob nicht die menschliche Natur Humes diejenige Instanz darstellt, in der dieVollzüge der Prinzipien stattfinden, würde uns hier zu weit führen.

V. Das Problem der Deduktion

Es ist sehr gewagt, bei Hume von einer „Herleitung der Prinzipien" zu spre-chen. Dennoch scheint die Humesche Philosophie der Sache nach den Gedankeneiner Herleitung der Prinzipien einzuschließen, denn sie zeigt auch, wo die Prinzi-pien herstammen. Den Begriff „Herleitung" muß man aber dann im weitestenSinne verstehen. Eine Herleitung soll daher in dieser Untersuchung in der Haupt-sache den Versuch Humes bzw. Kants bezeichnen, die Herkunft der Prinzipienbzw. Kategorien zu erklären.

Es ist interessant zu bemerken, daß Hume wie Kant von einer „neuen Wissen-schaft" sprechen, von der sie voll überzeugt sind. Sie sind auch der festen Ansicht,daß niemand vor ihnen von einer solchen Wissenschaft bloß die Idee gehabthat41. Kant spricht in diesem Zusammenhang von dem „Wink Humes", aberer meint, daß Hume ,sein Schiff nicht in Sicherheit brachte*. Er (Hume) ließ es,auf dem Strand des Skeptizismus liegen und verfaulen'. Bei ihm (Kant) kommees aber lediglich darauf an, dem Schiff „einen Piloten zu geben, der nach sicherenPrinzipien der Steuermannskunst das Schiff sicher führen könne"42. Auch beiHume — wie schon in einem anderen Zusammenhang erwähnt — ist der Pilotunter dem Namen der Imagination, der Prinzipien der menschlichen Natur ein-geführt und nicht unter dem Namen des „reinen Verstandes oder der reinenVernunft" mit den apriorischen Verstandesbegriffen. So werden wir die Hume-sche Herleitung nicht eine „metaphysische" im Sinne Kants, sondern vielmehreine ,natürlidi-imagmative' im Sinne Humes nennen müssen.

Daß Hume diese Prinzipien weder aus den Sinnen, noch der Vernunft herleitenkann, zeigen seine skeptischen Überlegungen bezüglich der Sinne und der Ver-nunft im Treatise. Hume spricht da im ersten Buch, 4. Teil von: "scepticism withregard to reason", "scepticism with regard to the senses" 4S. Daß die HumescheDeduktion nicht eine aus der Erfahrung, wie Kant vermutet hat, sein kann, kann

40 Ibid., S. 182.41 Vgl. Treatise, Einleitung; Kritik der reinen Vernunft, Einleitung; siehe audi „Vor-

rede" und „Vorerinnerung" der Prolegomena.42 Vgl. Prolegomena, § 7, 8 und 36.43 Vgl. Treatise, 180 ff.

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man aus der Frage Humes ersehen: "What is the Foundation of all conclusionsfrom experience" 44.

Hume spricht von "the fallacious deductions of our reason", indem er einerational-logische Deduktion der Prinzipien, insbesondere der Kausalität bestreitet.In sect. V. Part. II. der ersten Enquiry heißt es: "This Operation of the mind,by which we infer like effects from like causes, and 'vice versa', is so essential tothe subsistence of all human creatures, it is not probable, that it could be trustedto the fallacious deductions of our reason." So sehen wir, daß die HumeschePhilosophie weder eine rational-logische noch eine sensualistisdi-empiristische Her-leitung enthält. Hume unternimmt nirgends einen Versuch, eine transzendentaleDeduktion als Herleitung der objektiven Gültigkeit der Prinzipien durchzuführen.Bleibt man seinem philosophischen Geist treu, dann kann man, Hume interpre-tierend, feststellen, daß die objektive Gültigkeit dieser Prinzipien nur auf demWege der praktisch-pragmatischen Bewährung zu begründen ist. Kants Vermu-tung, daß Hume eine „empirische Deduktion" versucht habe, aber ohne Erfolg,ist daher unzutreffend45. Eine logisch-rationale Deduktion der Prinzipien wirdfür Hume nichts anderes bedeuten als eben eine Deduktion aufgrund der Ideen-relation. Eine solche würde für Hume ganz leer sein, denn die Prinzipien spielenihre Rolle nicht im Felde der Ideenrelationen, sondern im Felde des matter offact, d. h. "moral reasoning".

Wenn wir aber die Humesche Deduktion eine ,natürliche' nennen, dann meinenwir damit in erster Linie die Humesche Aufweisung und Zurückführung auf dieverschiedenen Weisen der menschlichen Natur. Man kann die Humesche Deduktionauch eine — wie schon erwähnt — ,natürlich-imaginative' nennen derart, daßman die zentrale Rolle der Imagination bei der Herausarbeitung der verschiede-nen Prinzipien aufweist. Nehmen wir den Begriff der Kausalität als Beispiel.Hume sagt, daß die folgenden drei "circumstances, contiguity, priority, and con-stant conjunction" unbedingt dem Begriff der Kausalrelation angehören48. Hinzukommt der wichtigste Faktor der kausalen Notwendigkeit (causal necessity).Diese Notwendigkeit liegt nicht in den Objekten, sondern ihr Ursprungsort istdie menschliche Natur selbst. Hume findet es erst schwer, diese Idee, dieses "feel-ing" der kausalen Notwendigkeit entsprechend seiner Lehre von den Impressionenund Ideen, wie er diese am Anfang seines Treatise einseitig und überbetont ankün-digt, erklären zu können. Er forscht nach der ,Impression' dieser Idee der Not-wendigkeit. Er findet sie in einem neuen 'feeling', 'sentiment', 'manner'. Dieswird wiederum aufgrund der Prinzipien des custom und habit erzeugt. Die Er-zeugung dieser Impression, dieses 'sentiment', dieses 'feeling' geschieht in einer —wie Hume sagt — 'natürlichen Weise*. Daher ist diese Idee der kausalen Not-wendigkeit, der "necessary connexion" keine rational-logische und demonstrier-

44 Enquiries, 30 ff.45 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B. 127 ff.4 Cf. Abstract, 252 ff.

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bare Infcrenz. So hat diese Idee der Notwendigkeit den Charakter des belief.Daß auch hier die Imagination die zentrale Rolle spielt, kann man daraus ersehen,daß Hume die Kausalität zu einem der universalen Prinzipien der Imaginationmacht. So spricht Hume von den Qualitäten der Imagination, "which are perma-nent, irresistable, and universal; such äs the customary transition from causes toeffects, and from effects to causes" 47.

Die zentrale Doktrin der transzendentalen Analytik — wie schon erwähnt —ist die transzendentale Deduktion der Kategorien. Diese Doktrin und diese De-duktion soll die Kantische Antwort auf die Frage Humes darstellen.

Kant hatte schon von Hume gelernt, daß weder von einer rational-logischen,noch von einer sensualistisch-empirischen Deduktion die Rede sein kann49. Sospricht Kant von einer transzendentalen Deduktion der Kategorien 49. Er sagt:„Die transzendentale Deduktion aller Begriffe a priori hat also ein Prinzipium,worauf die ganze Nachforschung gerichtet werden muß, nämlich dieses: daß sieals Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrungen erkannt werden müs-sen' ' 50

Der Geburtsort aller reinen Verstandesbegriffe ist der reine Verstand selbst.Diese reinen Verstandesbegriffe sind die Kategorien, die Erkenntnis und Erfahrungermöglichen. Diese Kategorien entdeckt Kant — wie schon dargestellt — durchdie Reflexion über die Grundformen des Denkens, des Urteilens. Wie die Prin-zipien entspringen auch die Kategorien im Subjekt. Kants Methode der Herlei-tung der Kategorien ist — wie schon erwähnt — weder logisch noch empirisch,sondern transzendental, d. h. die Kategorien stellen die Bedingungen der Erfah-rung dar. Die transzendentale Frage ist immer eine Frage nach den Bedingungen,die der menschliche Geist mit sich bringt. Am Rande kann man hier bemerken, daßsich in Kants Apriori die Gesetzlichkeit des reinen Bewußtseins bekundet, wobeies sich nicht um das psychologische, sondern um das transzendentale Bewußtseinhandelt. Hierin liegt schon ein Grundunterschied zwischen Hume und Kant51.Kants Problem ist daher nicht die „Entstehung" der Erfahrung, sondern ihreKonstitution a priori 52.

Die transzendentale Deduktion besteht im großen und ganzen in der Rechtfer-tigung des objektiven Gebrauches der Kategorien. Dies war das HauptbedenkenKants in seinem Brief an Marcus Herz. Durch diese Deduktion will Kant nichtnur auf Hume antworten, sondern auch den Berkeleyschen subjektiven Idealismusüberwinden 53.

47 Vgl. Treatise, 225.48 Vgl. Kritik der reinen Vernunft: B 127.49 Kant sah aber nidit, daß audi bei Hume die Möglidikeit einer Deduktion vorlag.50 Kritik der reinen Vernunft, A94, B126.51 Hume steht hierin Husserl näher.52 Vgl. Prolegomena, § 21a.53 Ob Kant Berkeley überwunden hat oder nidit, können wir hier nidit erörtern.

Es ist aber interessant, daß Berkeley wie audi Kant denselben Ansprudi erheben, nämlididurdi ihre Philosophien Materialismus, Atheismus, Skeptizismus usw. für alle Zeiten er-

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Daß auch bei Kant in der transzendentalen Deduktion die Einbildungskraftdie zentrale Rolle spielt, kann man daraus ersehen, daß sie als ein ,drittes' Ver-mögen zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand steht54. Es muß ein „Drittes"geben, sagt Kant, das „einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erschei-nung in Gleichartigkeit stehen muß"55. Ein solches Dritte ist nach Kant dastranszendentale Schema. Dieses Schema ist ein Produkt der Einbildungskraft.Kant unterscheidet zwischen Schema und Bild und meint, daß das Schema mehreine Vorstellung einer Methode, einem Begriff ein Bild zu verschaffen, als dasBild selbst ist. Daher auch die Rede von der „vermittelnden Vorstellung". DieseImagination ist kein Phantasieren. Diese Unterscheidung Kants zwischen Bildund Schema beruht auf einer anderen wichtigen Unterscheidung, nämlich derzwischen zwei Arten der Imagination. So wird das Bild ein Produkt desempirischen Vermögens der Einbildungskraft. Den Schematismus bezeichnet Kantals „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele" 5Ö.

Auch bei Hume ist die empirische Seite der Imagination, die diejenigen Prin-zipien enthält, "which are changeable, weak, and irregulär", nicht in der Ausar-beitung der Prinzipien maßgebend. So können wir nach den vorigen Überlegungenfeststellen: Kant folgt Hume, indem er eine logische Deduktion ablehnt; er folgtHume weiter, indem er eine empirische Deduktion ablehnt. Kant folgt Humenoch weiter, indem er sagt, daß diese Kategorien keine eingeborenen Ideen sind.Dennoch ist die Humesche Auffassung seiner Prinzipien — wie schon gezeigt —anders als Kants Auffassung seiner Kategorien.

'Zusammenfassung

Aus unserer Darlegung, Interpretation, Analyse und Gegenüberstellung er-gibt sich folgendes:

1. Die Philosophie Humes enthält wie die Philosophie Kants eine Theorie, einSystem der Prinzipien bzw. Kategorien.

2. So kann man nicht nur bei Kant, sondern auch bei Hume von einer Theorieder aktiven Seite der menschlichen Natur sprechen.

3. Die Prinzipien bzw. die Kategorien stellen in einer ähnlichen Weise die Leit-prinzipien der menschlichen Erfahrung dar.

4. Bei Hume stammen sie aus der menschlichen Imagination, aus der menschli-chen Natur, bei Kant dagegen aus dem menschlichen Verstand.

5. Weder bei Hume noch bei Kant gibt es eine logische oder eine empirischeDeduktion der Prinzipien bzw. Kategorien.

ledigt zu haben. Hierauf sagte Hume, daß Berkeley selbst der Erzvater des modernenSkeptizismus ist.

54 Vgi. Kritik der reinen Vernunft, A 138, B 169 und 177.w Ibid., B 177.

;'</., B 180—81.

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6. Dennoch ist die Humesche Deduktion nicht eine „transzendentale" im SinneKants, sondern eine ,natürlich-imaginative* im Sinne Humes.

7. Nicht bei Hume, sondern nur bei Kant ist die Rede von der Festlegung derZahl der Kategorien.

8. Bei Hume wie bei Kant stellen die Prinzipien bzw. die Kategorien dieaktive Seite der menschlichen Natur bzw. der menschlichen Vernunft dar, sodaß man in dem Prozeß der Erfahrung passive so wie auch aktive Elemente auf-zeigen kann.

9. Nicht nur bei Kant, sondern auch bei Hume ist die Erfahrung synthetischerNatur.

10. Die Rolle der Imagination bzw. der Einbildungskraft ist bei beiden Philo-sophen eine zentrale und sehr wichtige.

11. Eine Unterscheidung zwischen zwei Arten der Imagination finden wirbei Hume wie bei Kant vor.

12. Die Imagination verfährt bei der Verarbeitung des Materials der Erkenntnisnicht etwa willkürlich. Sie arbeitet nach den ihr eigentümlichen Gesetzen, die alsa priori zu bezeichnen sind, weil sie die Erfahrung zustande bringen, jedoch ausihr nicht ableitbar und erklärbar sind. Man kann daher nicht nur bei Kant, sondernauch bei Hume von einer "Imagination a priori" sprechen.

13. Man kann auch bei Hume von den ,apriorisdien' Prinzipien der mensch-lichen Natur sprechen, da sie die universalen Eigenschaften (qualities) der Ima-gination zum Fundament haben.

14. Faßt man die Prinzipien bzw. Kategorien als ursprüngliche Weisen dermenschlichen Natur bzw. der menschlichen Vernunft auf, kann man kaum voneiner Demonstration dieser Prinzipien bzw. Kategorien sprechen in dem Sinne,daß man diese noch weiter zurückführt und begründet.

15. Die Frage: warum nur diese Prinzipien bzw. Kategorien unsere Erfah-rung leiten und konstituieren, kann selbst nicht endgültig beantwortet werden.Man versucht diese Frage mit Hilfe von pragmatischen, konventionellen und will-kürlichen Überlegungen zu beantworten. Diese Frage kann höchstens — so scheintes uns — de facto (und nicht de jure) beantwortet werden in dem Sinne, daß mandie de facto Präsenz dieser Prinzipien bzw. Kategorien als Beleg ansieht.

16. Wir haben zu zeigen versucht, daß man, ohne im Sinne Kants ein Ratio-nalist zu sein, von Prinzipien bzw. Kategorien sprechen kann, die einen anderenUrsprung als den der reinen Vernunft haben.

17. Man kann die folgende Frage stellen: warum kann nicht die Imaginationim Sinne Humes als Geburtsort der Prinzipien bzw. Kategorien angesehen wer-den57? Diese Untersuchung hat diese Frage implizit zu bejahen versucht, ohnedabei den Kantischen Geburtsort aller Kategorien verneinen zu müssen.

57 Vgl. Walsh, Reason and Experience, Kap. VIII: 'Reason and Imagination'.

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18. Die Prinzipien bzw. die Kategorien können, ohne „irrational" zu sein,nicht-rationaler Natur sein derart, daß sie die verschiedenen Weisen der mensch-lichen Natur de facto darstellen.

19. Man kann bei Hume von einer Art ,imaginativem Naturalismus" sprechen,der in seiner Philosophie eine ähnliche Stelle einnimmt, wie der Kritizismus Kantsin seiner Philosophie.

20. Weder bei Kant, noch bei Hume ist die Erfahrung der Boden der Notwen-digkeit, Allgemeingültigkeit und Universalität.

21. Nicht das Prinzipiensystem Humes, sondern nur das KategoriensystemKants erhebt den Anspruch, für alle Zeiten die Kategorientafel fertig gestellt zuhaben, mit dem weiteren Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Abgeschlossenheit.

22. So kann festgestellt werden, daß das Humesche System im Vergleich zudem Kantischen offener und von jeder Starrheit frei ist.

23. Nicht Kant, sondern Hume kommt zur radikalen Überzeugung: "What-ever is may not be"58. Diese beinhaltet aber keinen grenzenlosen Skeptizismus,sondern sie drückt die radikalskeptische Einstellung im Sinne der HusserlschenPhänomenologie aus, deren Überwindung dann durch die Ausarbeitung der siche-ren Leitprinzipien der menschlichen Natur — die Humesche Wissenschaft von dermenschlichen Natur — geschieht.

24. In diesem Sinne und in diesem Zusammenhang läßt sich die BemerkungHusserls über das Verhältnis von Hume und Kant verstehen, daß Hume nochradikaler sei als Kant, denn das „Humesche Problem" enthält die In-Frage-Stel-lung der sogenannten Wissenschaftlichkeit, Objektivität, ja Rationalität usw.

25. So ergeben sich zwei Auffassungen von der Vernunft — die Kantische Ver-nunft ist ein Vermögen, während die Humesche Vernunft einen ,wunderbarenund nicht weiter erklärbaren Instinktprozeß in uns59 darstellt, dessen Konti-nuität von den Menschen bis hin zu den Tieren reicht. Hume spricht von "genera-tion" in seinem Dialoguesy wenn er da das Problem der Vernunft behandelt.

26. Nicht Hume, sondern Kant unterscheidet zwischen theoretischer und prak-tischer1 Vernunft.

27. Der Gedanke eines geschichtlichen Wandels der Prinzipien bzw. der Kate-gorien ist bei Hume, nicht bei Kant vorhanden.

Wir haben in dieser Untersuchung am Rande zu zeigen versucht, daß man voneinem Prinzipiensystem bzw. Kategoriensystem sprechen kann, ohne dabei not-wendigerweise an den Kantischen Begriffen des Apriori, der transzendentalen Lo-gik, der Tätigkeit der Imagination, der Deduktion, der Vernunft usw. festhaltenzu müssen. Dies soll aber nicht bedeuten, daß die Prinzipien bzw. die Kategoriendadurch empirischer Natur werden müssen. Wir können die Rolle der Prinzipienbzw. der Kategorien in unserer Erfahrung voll akzeptieren, ohne dabei notwen-digerweise deren Ursprung in der reinen Vernunft annehmen zu müssen, denn

58 Enquiries, 164.w Cf. Treatise, S. 179.

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auch die Imagination kann der Geburtsort der Prinzipien sein. Akzeptiert mandie Verfahrensweise Humes, fällt die schwierige Aufgabe einer Beweisführung imSinne der Demonstration der Prinzipien bzw. der Kategorien weg, denn dieImagination ist weder rationaler noch irrationaler Natur; sie ist »natürlich* der-art, daß sie die ursprüngliche Art und Weise der menschlichen Natur selbst dar-stellt.

Wenn man der Ansicht ist, daß die Kantische Form des Rationalismus eineForm mehr oder minder des vor-Humeschen Rationalismus darstelle und manweiter der Meinung ist, daß die Humesche Philosophie der menschlichen Natursich fernhalte vom Rationalismus und vom Berkeleyschen Subjektivismus einerseitsund vom sensualistischen Empirismus andererseits, dann und nur dann könnendie folgenden Worte Russells in unserem Zusammenhang wichtig sein. Russellschreibt: "German philosophers, from Kant to Hegel, had not assimilated Hume'sargument. I say this deliberately, in spite of the belief which many philosophersshare with Kant, that his ,Critique of pure Reason' answered Hume. In fact,these philosophers at least Kant and Hegel — represent a pre-Humian type ofrationalism, and can be refuted by Humian arguments" 60. Eine Erörterung dieserpolemischen aber zugleich interessanten und auf Schluß r eichen Feststellung würdeuns hier zu weit führen.

60 History of Western Philosophy, S. 646.

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