Hymne auf die HÜLLE - stefanthull.com · Gut das Fünf- bis Zehnfache wert ist die LP die auch den...

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WELT AM SONNTAG NR. 5 29. JANUAR 2017 58 KUNSTMARKT I mmer kürzer wird der Produktlebens- zyklus von Tonträgern. Wer erinnert sich an Kassette oder Magnetband? Wer könn- te diese Speicherfossilien überhaupt noch abspielen? Auch die CD ist lange ange- zählt. Und selbst ihre immaterielle Nach- folgerin, die MP3-Datei, wurde mittler- weile schon beerdigt. Ausgerechnet die gute, al- te, knarzende und springende Vinylschallplatte aber sendet beharrlich Lebenszeichen, auch wirtschaftlich. Ende des vergangenen Jahres wurden in Großbritannien mehr Platten ver- kauft als Dateien heruntergeladen. Der Marktan- teil von Vinyl steigt. Auch deshalb, weil man Platten sammeln kann, während Streams sich im Augenblick des Konsums wieder verflüchtigen. Eine gute Plattensammlung besitzt hohen Schauwert. Manche Sammler hängen, zusätzlich zur Archivierung der Alben im Regal, Bilderleis- ten an die Wände, um daheim Cover-Ausstellun- gen zu kuratieren. Denn seit dem Durchbruch der Schallplatte in den Fünfzigerjahren haben Künstler die Hüllen gestaltet. Sieben oder zwölf Zoll im Quadrat sind der Rahmen, in dem sich von Robert Rauschenberg bis Andy Warhol, von Beuys bis Banksy, von Gregory Crewdson bis Ry- an McGinley eigentlich alle versucht haben, die in der Kunstgeschichte einen Namen haben. Man braucht sich noch nicht einmal für Musik zu interessieren, um für Platten zu brennen: Vie- le Cover, die gerade in der Ausstellung „Total Re- cords. Vinyl & Fotografie“ bei C/O Berlin gezeigt werden (bis 23. April), kommen aus der Samm- lung des Kölner Modeberaters Stefan Thull. Sein Vinyl lagert ungespielt in der Abstellkammer. Der Pariser Buchhändler Antoine de Beaupré liebt Musik und Design noch gleichermaßen. Aus seiner Sammlung stammt eine limitierte Auflage des Albums „Speaking in Tongues“ von Talking Heads. Das Dreier-Set in Klarsichthülle entwarf der Pop-Art-Begründer Robert Rauschenberg. Jede der transparenten Platten ist mit Fotogra- fien in einer Primärfarbe bedruckt. Legt man sie deckungsgleich übereinander, verschmelzen die Drucke in Cyan, Magenta und Gelb zu einem vollfarbigen Bild. 50.000 Exemplare wurden im Jahr 1983 produziert, bis man erkannte, dass der aufwendige Prozess viel zu teuer war. Dieser ho- hen Auflage ist es aber zu verdanken, dass die Edition heute noch zu einem Durchschnittspreis von nur 40 Euro gehandelt wird. Gut das Fünf- bis Zehnfache wert ist die LP die auch den Namen ihres Coverdesigners trägt: „Andy Warhol“ von The Velvet Underground & Nico. Der berühmte Bananenaufkleber – „peel slowly and see“ – sollte aber noch vorhanden sein, sonst hat sie lediglich musikalischen Reiz. Es sei denn, man besitzt so viele Plattenhüllen, dass man das rosafarbene Bananenfruchtfleisch stückweise freilegen kann. Das Auktionshaus Phillips versteigerte ein Konvolut von 15 so ange- knabberter Alben im Jahr 2009 für 27.500 Dollar. Andy Warhol gilt als Erfinder der Interaktion mit dem Cover: Zog man bis dahin nur die Schei- be heraus, um sie auf den Plattenteller zu legen, ließ er uns echte Reißverschlüsse auf der Hülle öffnen („Sticky Fingers“ von den Rolling Stones) oder durch ausgestanzte Diarahmen schauen („The Academy in Peril“ von John Cale). Eine Kollektion von knapp sechzig von Warhol ent- worfener Platten schätzte Sotheby’s vor zwei Jahren aber offenbar zu hoch ein, für 30.000 bis 50.000 Pfund blieb sie unverkauft. Für viele zeitgenössische Künstler ist das For- mat Plattenhülle so interessant, weil es Auf- merksamkeit jenseits des Kunstbetriebs schafft. Besonders da, wo Kunst und Musik sich durch- dringen, wo bildender Künstler und performen- de Band erkennbar am gleichen Strang ziehen. Vorreiter – nicht nur musikalisch – waren stets Kim Gordon und Thurston Moore von Sonic Youth. Stellt man ihre Platten nebeneinander, weiß man, wer wichtig war im Kunstgeschehen der Achtziger- bis Nullerjahre: Raymond Petti- bon, Mike Kelley, Richard Kern, Richard Prince, Jeff Wall oder Marnie Weber haben dem Sound der No-Wave-Band visuelle Gestalt gegeben. Im jüngst erschienenen Buch „Art Record Co- vers“ von Francesco Spampinato (Taschen Ver- lag, 450 Seiten, 50 Euro) – dem aktuellsten und umfangreichsten Standardwerk für den Platten- kunstsammler – erzählt Kim Gordon, wie sie mit der Vinylsammlung ihres Vaters aufwuchs: „Ich starrte die Bilder sehr lange an, stellte die Cover in einer Reihe auf und dachte mir Geschichten aus, die ich dann zu der Musik erzählte.“ Im ver- gangenen Jahr hat Gordon für den Megagaleris- ten Larry Gagosian sogar einen Pop-up-Store auf der Buchmesse von Los Angeles kuratiert, wo nicht nur Platten von Rita Ackermann, Jacob Kassay oder Laura Owens verkauft wurden, son- dern das ganze Narrativ der Coverkunst. Die Schallplatte ist ein ikonisches Produkt des 20. Jahrhunderts. Ihre minimalistische, nor- mierte, identifizierbare Form machte Adorno so- gar zum Essaythema. Der Mainstream verein- nahmte sie ebenso wie die Avantgarde. Und für den Kunsthandel drängte sie sich förmlich als Multiple auf: Jack Goldsteins 100er-Edition „Suite of Nine 7-Inch Records with Sound Ef- fects“ aus farbigem Vinyl und dem Bellen eines Schäferhundes oder dem Gejammer streitender Katzen auf der Tonspur findet sich heute in den wichtigsten Museen, aber kaum mehr auf dem freien Markt. Joseph Beuys’ Schallplatten-Multi- ple der in Filz eingeschlagenen „Sonnenscheibe“ wird etwas häufiger angeboten. 2016 wurde sie bei Koller in Zürich für 6400 Franken zugeschla- gen; die Korff-Stiftung bietet sie für 20.000 Euro an. Und Beuys’ bekanntestes Soundpiece wird wohl nicht wegen der Verpackung gekauft. Aber sein Singsang in der 12-Zoll-Rille ist so zeitlos wie großartig: „Ja ja ja nee nee nee“. Innen Kunst und außen auch (im Uhrzeigersinn von oben links): „Andy Warhol“ von The Velvet Underground & Nico (1967), „Recycled Records“ von Christian Marclay (1981), Edition der Serpentine Gallery von Ed Atkins (2014), „Sonnenscheibe“ von Joseph Beuys (1973) TASCHEN VERLAG (3)/KOLLER AUKTIONEN/VG BILD-KUNST BONN, 2017 VON MARCUS WOELLER Das Vinylalbum überlebt auch deshalb alle Krisen, weil Künstler es so gut verpacken. So ist manche Platten- zugleich eine Kunstsammlung Hymne auf die HÜLLE

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WAMS_Dir/WAMS/WSBE-VP129.01.17/1/Kul6 FLEICHT 5% 25% 50% 75% 95%

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WELT AM SONNTAG NR. 5 29. JANUAR 201758 KUNSTMARKT

Immer kürzer wird der Produktlebens-zyklus von Tonträgern. Wer erinnert sichan Kassette oder Magnetband? Wer könn-te diese Speicherfossilien überhaupt nochabspielen? Auch die CD ist lange ange-zählt. Und selbst ihre immaterielle Nach-folgerin, die MP3-Datei, wurde mittler-

weile schon beerdigt. Ausgerechnet die gute, al-te, knarzende und springende Vinylschallplatteaber sendet beharrlich Lebenszeichen, auchwirtschaftlich. Ende des vergangenen Jahreswurden in Großbritannien mehr Platten ver-kauft als Dateien heruntergeladen. Der Marktan-teil von Vinyl steigt. Auch deshalb, weil manPlatten sammeln kann, während Streams sich imAugenblick des Konsums wieder verflüchtigen.

Eine gute Plattensammlung besitzt hohenSchauwert. Manche Sammler hängen, zusätzlichzur Archivierung der Alben im Regal, Bilderleis-ten an die Wände, um daheim Cover-Ausstellun-gen zu kuratieren. Denn seit dem Durchbruchder Schallplatte in den Fünfzigerjahren habenKünstler die Hüllen gestaltet. Sieben oder zwölfZoll im Quadrat sind der Rahmen, in dem sichvon Robert Rauschenberg bis Andy Warhol, vonBeuys bis Banksy, von Gregory Crewdson bis Ry-an McGinley eigentlich alle versucht haben, diein der Kunstgeschichte einen Namen haben.

Man braucht sich noch nicht einmal für Musikzu interessieren, um für Platten zu brennen: Vie-le Cover, die gerade in der Ausstellung „Total Re-cords. Vinyl & Fotografie“ bei C/O Berlin gezeigtwerden (bis 23. April), kommen aus der Samm-lung des Kölner Modeberaters Stefan Thull. SeinVinyl lagert ungespielt in der Abstellkammer.Der Pariser Buchhändler Antoine de Beaupréliebt Musik und Design noch gleichermaßen. Ausseiner Sammlung stammt eine limitierte Auflagedes Albums „Speaking in Tongues“ von TalkingHeads. Das Dreier-Set in Klarsichthülle entwarfder Pop-Art-Begründer Robert Rauschenberg.Jede der transparenten Platten ist mit Fotogra-fien in einer Primärfarbe bedruckt. Legt man siedeckungsgleich übereinander, verschmelzen dieDrucke in Cyan, Magenta und Gelb zu einemvollfarbigen Bild. 50.000 Exemplare wurden imJahr 1983 produziert, bis man erkannte, dass deraufwendige Prozess viel zu teuer war. Dieser ho-hen Auflage ist es aber zu verdanken, dass dieEdition heute noch zu einem Durchschnittspreisvon nur 40 Euro gehandelt wird.

Gut das Fünf- bis Zehnfache wert ist die LPdie auch den Namen ihres Coverdesigners trägt:„Andy Warhol“ von The Velvet Underground &Nico. Der berühmte Bananenaufkleber – „peelslowly and see“ – sollte aber noch vorhandensein, sonst hat sie lediglich musikalischen Reiz.Es sei denn, man besitzt so viele Plattenhüllen,dass man das rosafarbene Bananenfruchtfleischstückweise freilegen kann. Das Auktionshaus

Phillips versteigerte ein Konvolut von 15 so ange-knabberter Alben im Jahr 2009 für 27.500 Dollar.

Andy Warhol gilt als Erfinder der Interaktionmit dem Cover: Zog man bis dahin nur die Schei-be heraus, um sie auf den Plattenteller zu legen,ließ er uns echte Reißverschlüsse auf der Hülleöffnen („Sticky Fingers“ von den Rolling Stones)oder durch ausgestanzte Diarahmen schauen(„The Academy in Peril“ von John Cale). EineKollektion von knapp sechzig von Warhol ent-worfener Platten schätzte Sotheby’s vor zweiJahren aber offenbar zu hoch ein, für 30.000 bis50.000 Pfund blieb sie unverkauft.

Für viele zeitgenössische Künstler ist das For-mat Plattenhülle so interessant, weil es Auf-merksamkeit jenseits des Kunstbetriebs schafft.Besonders da, wo Kunst und Musik sich durch-dringen, wo bildender Künstler und performen-de Band erkennbar am gleichen Strang ziehen.Vorreiter – nicht nur musikalisch – waren stetsKim Gordon und Thurston Moore von SonicYouth. Stellt man ihre Platten nebeneinander,weiß man, wer wichtig war im Kunstgeschehender Achtziger- bis Nullerjahre: Raymond Petti-bon, Mike Kelley, Richard Kern, Richard Prince,Jeff Wall oder Marnie Weber haben dem Soundder No-Wave-Band visuelle Gestalt gegeben.

Im jüngst erschienenen Buch „Art Record Co-vers“ von Francesco Spampinato (Taschen Ver-lag, 450 Seiten, 50 Euro) – dem aktuellsten undumfangreichsten Standardwerk für den Platten-kunstsammler – erzählt Kim Gordon, wie sie mitder Vinylsammlung ihres Vaters aufwuchs: „Ichstarrte die Bilder sehr lange an, stellte die Coverin einer Reihe auf und dachte mir Geschichtenaus, die ich dann zu der Musik erzählte.“ Im ver-gangenen Jahr hat Gordon für den Megagaleris-ten Larry Gagosian sogar einen Pop-up-Store aufder Buchmesse von Los Angeles kuratiert, wonicht nur Platten von Rita Ackermann, JacobKassay oder Laura Owens verkauft wurden, son-dern das ganze Narrativ der Coverkunst.

Die Schallplatte ist ein ikonisches Produkt des20. Jahrhunderts. Ihre minimalistische, nor-mierte, identifizierbare Form machte Adorno so-gar zum Essaythema. Der Mainstream verein-nahmte sie ebenso wie die Avantgarde. Und fürden Kunsthandel drängte sie sich förmlich alsMultiple auf: Jack Goldsteins 100er-Edition„Suite of Nine 7-Inch Records with Sound Ef-fects“ aus farbigem Vinyl und dem Bellen einesSchäferhundes oder dem Gejammer streitenderKatzen auf der Tonspur findet sich heute in denwichtigsten Museen, aber kaum mehr auf demfreien Markt. Joseph Beuys’ Schallplatten-Multi-ple der in Filz eingeschlagenen „Sonnenscheibe“wird etwas häufiger angeboten. 2016 wurde siebei Koller in Zürich für 6400 Franken zugeschla-gen; die Korff-Stiftung bietet sie für 20.000 Euroan. Und Beuys’ bekanntestes Soundpiece wirdwohl nicht wegen der Verpackung gekauft. Abersein Singsang in der 12-Zoll-Rille ist so zeitloswie großartig: „Ja ja ja nee nee nee“.

Innen Kunst und außen auch (im Uhrzeigersinn von oben links): „Andy Warhol“ von The Velvet Underground & Nico (1967), „RecycledRecords“ von Christian Marclay (1981), Edition der Serpentine Gallery von Ed Atkins (2014), „Sonnenscheibe“ von Joseph Beuys (1973)

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VON MARCUS WOELLER

Das Vinylalbum überlebt auch deshalb alle Krisen, weil Künstler es so gutverpacken. So ist manche Platten- zugleich eine Kunstsammlung

Hymne auf die HÜLLE