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5 Individualität und Person – Zur Auseinandersetzung über das Menschenbild Vom lebendigen Urbild „Jeder individuelle Mensch“, schreibt Friedrich Schiller in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“, „trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen ideali- schen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen die große Auf- gabe seines Daseins ist.“ Und an späterer Stelle heißt es: „Es ist dem Menschen einmal eigen, das Höchste und das Niedrigste in seiner Natur zu vereinigen, und wenn seine Würde auf einer strengen Unterscheidung des einen von dem andern beruht, so beruht auf einer geschickten Aufhebung dieses Unterschieds seine Glückseligkeit.“ Die Würde des Menschen, wie sie in unse- rem Grundgesetz als „unantastbar“ bezeichnet wird, beruht hier- nach also auf der Unterscheidung eines höheren, geistigen Teils unseres Wesens von einem natürlich-triebhaften, den der Mensch mit anderen Naturwesen gemein hat. Die Fähigkeit zu dieser Unterscheidung ist schließ- lich Voraussetzung für ihre bewusste Vereini- gung. Es ergäbe keinen Sinn, würde man in jenem „Idealischen“ keine eigenständige geistige Wirk- lichkeit sehen: eine solche Menschenwürde wäre eine Schimäre, eine fixe Idee, die vor den Natur- tatsachen letztlich keinen Bestand hätte. Es ge- hört zu den Grundüberzeugungen eines Welt- und Menschenbildes, wie es sich im Werk Schillers und anderer Vertreter des „deutschen Idealismus“ darlebt, dass Ideen wirkende Kräfte sind, die allem Werden, dem natürlichen wie dem künstlerischen, ihre Form geben. Sie entstehen nicht aus der Natur, sondern liegen deren Bilde- und Formprozessen zugrunde, als lebendige schöpferische Urbilder aller Entwicklung. Jeder Mensch trägt ein solches lebendiges Bild aus Leonardo da Vinci Christus

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Individualität und Person –Zur Auseinandersetzung überdas Menschenbild

Vom lebendigen Urbild„Jeder individuelle Mensch“, schreibt Friedrich Schiller in

seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“,„trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen ideali-schen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit inallen seinen Abwechselungen übereinzustimmen die große Auf-gabe seines Daseins ist.“ Und an späterer Stelle heißt es: „Es istdem Menschen einmal eigen, das Höchste und das Niedrigste inseiner Natur zu vereinigen, und wenn seine Würde auf einerstrengen Unterscheidung des einen von dem andern beruht, soberuht auf einer geschickten Aufhebung dieses Unterschiedsseine Glückseligkeit.“ Die Würde des Menschen, wie sie in unse-rem Grundgesetz als „unantastbar“ bezeichnet wird, beruht hier-nach also auf der Unterscheidung eines höheren, geistigen Teilsunseres Wesens von einem natürlich-triebhaften, den derMensch mit anderen Naturwesen gemein hat. DieFähigkeit zu dieser Unterscheidung ist schließ-lich Voraussetzung für ihre bewusste Vereini-gung.

Es ergäbe keinen Sinn, würde man in jenem„Idealischen“ keine eigenständige geistige Wirk-lichkeit sehen: eine solche Menschenwürde wäreeine Schimäre, eine fixe Idee, die vor den Natur-tatsachen letztlich keinen Bestand hätte. Es ge-hört zu den Grundüberzeugungen eines Welt-und Menschenbildes, wie es sich im WerkSchillers und anderer Vertreter des „deutschenIdealismus“ darlebt, dass Ideen wirkende Kräftesind, die allem Werden, dem natürlichen wie demkünstlerischen, ihre Form geben. Sie entstehennicht aus der Natur, sondern liegen deren Bilde-und Formprozessen zugrunde, als lebendigeschöpferische Urbilder aller Entwicklung. JederMensch trägt ein solches lebendiges Bild aus

Leonardo da VinciChristus

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seinem vorgeburtlichen geistigen Sein in das Werden seinerBiographie hinein, als Sinn und Ziel dieses seines irdischenDaseins. Dieses Bild ist nicht zu verwechseln mit einer persönli-chen Vorstellung, sondern es ist überpersönlich-schicksalhaft,und als solches verwoben mit den Urbildern anderer Individua-litäten. Die Menschen, die sich auf der Erde inkarnieren, bringenein Menschenbild mit, das von geistiger Wirksamkeit durchzo-gen ist, und tragen es im unterbewussten Teil ihrer Seele mitsich.

Viele uns begeisternde Erfahrungen und Erlebnisse tragenden Charakter des Wiedererkennens von etwas, das man viel-leicht schon lange gesucht hat. Ein Bild vom Menschen hinge-gen, das diesen auf seine biologische und sonstige materielleWirklichkeit reduziert, wird zurecht als abstoßend und men-schenunwürdig empfunden. Den menschenverachtenden Ideolo-gien des vergangenen Jahrhunderts gegenüber ist dieses Empfin-den heute schon recht weit verbreitet. Der Widerwille würdesich aber auch gegenüber gegenwärtigen „Menschenbildern“häufiger einstellen, würden diese nicht in einem Schleier „hu-manistischer“ Phrasen und Nettigkeiten ihren eigentlichen Cha-rakter verhüllen.

Nicht ganz zu Unrecht allerdings wird in der Pädagogik derBegriff des „Menschenbildes“ auch oft von denjenigen skeptischoder gar ablehnend behandelt, die Achtung vor dem wirklichenMenschengeist haben. Entsteht doch leicht der Verdacht, manwolle den Menschen auf eine fertige Vorstellung festlegen unddamit seiner unendlichen Wandelbarkeit und VielgestaltigkeitGewalt antun. So ist auch das Menschenbild der Waldorfpäda-gogik stets Missverständnissen ausgesetzt, als werde die freieEntfaltung des Individuums im Schematismus von Entwick-lungsgesetzen eingeschnürt. Diese Gefahr kann aber nur dortauftreten, wo dieses Menschenbild nicht in seiner inneren Le-bendigkeit und Vielschichtigkeit erfahren wird, sondern alsRegelwerk missverstanden wird. In Wirklichkeit verlangt diesesMenschenbild aber eine gedankliche Beweglichkeit und ein

Blick in die Neue Sakristeivom Altar aus auf Maria mitdem Kind

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Einfühlungsvermögen, wie sie nur durch energische Arbeit ent-wickelt werden können. Dann allerdings wird dem Studierendendeutlich, dass die wirkliche menschliche Individualität samtihrer biographischen Entwicklungsmöglichkeiten zur Freiheitüberhaupt erst durch dieses Menschenbild verstanden und päda-gogisch gefördert werden kann.

Der Erziehende kann sich dann auch einen Blick dafür er-werben, wie die Individualität sich durch die verschiedenenEntwicklungsstufen menschlicher Wesensglieder hindurch mani-festiert und sich selbst ergreifen lernt, bis sie sich als menschli-ches „Ich“ zum Selbstgestalter eigener Entwicklung machenkann. Dabei umfasst die Oberstufe als letzter Abschnitt derSchulzeit eine Phase in dieser Entwicklung, in der dem Jugend-lichen erste Boten seines „idealischen Menschen“ ins Bewusst-sein treten, oft als latente Fragen, in verschiedenen Formen derBegeisterung, oder auch als Ahnungen vom eigenen Schicksal,als versuchte Lebensentwürfe und nicht selten als ein tiefgründi-ges Gespür für wahre Menschlichkeit. Solche Erlebnisse derBegegnung mit sich selbst können besonders durch Künstleri-sches, sei es in der aufmerksam-schöpferischen Betrachtungoder im eigenen Tun, angeregt werden. In der Geistbegegnungmit der eigenen Wesenheit, dem „idealischen Menschen“, nichtim bloß reflektierenden Ich-Bewusstsein, kommt der freieMensch zu sich selbst.

Unbefangen sehen lernenEs kann sowohl die fertige Vorstellung als auch der feste

Begriff sein, wodurch uns oft der Blick für die volle und leben-dige Wirklichkeit verstellt wird. Dies gilt besonders für die Be-trachtung des Kunstwerks, und nirgendwo können wir uns sounmittelbar im unbefangenen Anschauen üben wie hier. Indemwir uns das Kunstwerk in der Betrachtung erschließen, könnenwir die Erfahrung machen, dass sich die Wirklichkeit nicht mitein paar wenigen Begriffen erfassen lässt und dass wir uns zumvollen Wahrnehmen der Dinge erst eigentlich die geistigen „Or-gane“ bilden müssen. Die Studienfahrt unserer 12. Klasse nachItalien bietet in dieser Hinsicht ein reiches Übungsfeld.1

Wenn die Schülerinnen und Schüler bei ihrem dritten undletzten Florenzbesuch die Neue Sakristei der Kirche San Lorenzobetreten, sind sie im Hinblick auf die berühmten vier SkulpturenMichelangelos auf den beiden Medici-Sarkophagen zunächstrecht ahnungslos. Auf eine genaue Vorbesprechung wurde be-wusst verzichtet, die Figuren wurden nicht mit Begriffen belegtund die Aufgabe besteht zunächst darin, sich beschreibend mitjeder einzeln zu verbinden und so ein inneres Bild von ihr zu

1 Der nebenstehende Beitragwurde – wie auch der fol-gende – im Anschluss anunsere diesjährige Studien-fahrt der 12. Klasse vom12.–25. Mai in die Toskanageschrieben. Hierbei standenwie üblich auf dem Pro-gramm: Bearbeitung einesselbst ausgesuchten Mar-morblocks im Wechsel mitkunstgeschichtlicher Semi-nararbeit und Besichtigun-gen von Kunstwerken inFlorenz und anderen Orten.Besucht wurden:In Florenz (3 Tage)- Santa Maria Novella,- Bargello-Museum,- San Lorenzo,- Dom (Kuppelbesteigung),- San Marco,- Uffizien,- Santa Croce,- Neue Sakristei,- Accademia,- Dom-Museum.In Siena:- Pinacoteca Nazionale,- Dom-Museum,- Dom.In San Gimignano- Dom

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entwickeln – um dann in einem weiteren Schritt die verschiede-nen Bilder miteinander zu vergleichen. Es ist „verboten“, dieerklärenden Täfelchen zu lesen, auf denen dem Betrachter diefertigen Begriffe geliefert werden, und viele halten sich auchdaran. Im Folgenden wird nun allerdings bewusst eine be-stimmte Reihenfolge eingehalten.2

Beginnen wir mit der männlichen Figur, die sich gleich linksbefindet, wenn man den Raum betritt. Der Schwere hingegeben,lastet sie auf dem Sarkophag „wie ein gefällter Eichbaum. Manmüsste Hebel ansetzen, um ihn von der Stelle zu bringen.“(Hermann Grimm) 3 Den Blick zur Erde gerichtet, zugleich re-

flektierend, nachdenkend, in der Erinnerung über dasGewesene sinnend, scheint in ihr die Zeit still zu stehen.Sie ist ganz Raum geworden und bildet eine deutlichegeometrische Form, ein Rechteck aus rechtem Knie undFuß, linkem Ellbogen und Kopf. Die feste geometrische„Architektur“ und die Hingabe an die Schwere kennzeich-nen sie als Ausdruck des physisch-körperlichen Men-schenwesens. Der Begriff „Abend“, der dem Betrachterzur „Erklärung“ angeboten wird, ist von Michelangeloselbst nicht belegt und verstellt auch die Sicht auf dievielfältigen Kräfte, die der Figur ihre Form geben.

Verlassen wir den „Abend“ und gehen wir zur soge-nannten „Nacht“ schräg gegenüber, dann sehen wir völligandere Raum-Zeit-Verhältnisse. Alles ist rund und führt

den Betrachter zu einer in sich kreisenden Bewegung, grenzen-los. Hier steht nicht die Zeit still und wird zum Raum, sondernder Raum geht über in eine in sich bewegte Zeitgestalt, alles istim Fluss. Deshalb haben wir auch nicht den Eindruck, dass derKörper schwer lastet, trotz der enormen Kraft, die er ausstrahlt.Kein Zentimeter ist hier, der nicht von Leben durchkraftet wäre.

Man muss vor dem Marmor gestanden haben, um diesganz nachvollziehen zu können. Der Betrachter wird zu-nächst irritiert ob der massigen Lebenskraft dieser weibli-chen Figur. Man entdeckt ihre Vollkommenheit undSchönheit erst, wenn man sich auf den inneren Lebens-strom einlässt. Sie ist auch nicht bewusstlos, sondern siegibt sich diesem inneren Geschehen hin. Wenn dies dieruhende „Nacht“ ist, dann birgt sie einen unglaublicheninneren Reichtum in sich.

Man sagt, Michelangelo habe zu dieser Skulptur eine beson-dere „magische“ Beziehung gehabt, der Legende nach habe ersie des Nachts „zum Leben erweckt“. Diese Vorstellung magdamit zusammenhängen, dass sich hier eben jene lebendigenBildekräfte Gestalt verleihen, aus denen heraus der Bildhauerund Plastiker – mehr oder weniger bewusst – arbeitet. Wie sich

2 Sie beschreibt eine Lem-niskate. Auf den Raum alsGanzes kann hier nichteingegangen werden.

3 Hermann Grimm:Das Leben MichelangelosManche Hinweise verdankeich dem wunderbaren Buchvon Heinz Georg Häussler:Das Formgeheimnis Michel-angelos, Stuttgart 1998

Der „Abend“

Die „Nacht“

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im unbehaunen, rauhen Stein, / Je mehr der Marmor untermMeißel schwindet, / Anwachsend immer vollres Leben findet... –so hat es Michelangelo in einem Gedicht angedeutet.

Dieser Plastiker ist aber auch in der Natur am Werk, wieeben in der menschlichen Gestaltbildung. Sein Schaffen bewusstzu verfolgen ist nicht nur Aufgabe des bildenden Künstlers, wiewir es in besonderer Weise bei Michelangelo sehen können. Wermit heranwachsenden Menschen zu tun hat, wird sich einenBlick dafür aneignen können, wie diese Kräfte im Allgemeinenund bei jedem einzelnen Menschen in ganz individueller Weisegestaltbildend arbeiten. Wenn in der Waldorfpädagogik vonLebensleib, Ätherleib, Bildekräfteleib gesprochen wird, dannsind das keine abstrakten Begriffe, sondern sie bilden sich fürdie Erfahrung im Anschauen der sich entwickelnden Menschen-gestalt.

Von der Bildgestalt zum SeeleninnernGehen wir von der „Nacht“ zur „Aurora“, zum „Morgen“ –

auch dies ist kein Begriff Michelangelos –, dann erleben wir ingewisser Weise eine entgegengesetzte Gebärde. Hier sehen wirnun zum ersten Mal ein sich nach außen öffnendes Wesenund zum ersten Mal wird der Körper aus einem seelischenInnern heraus bewegt. Die Polarität zwischen der sichöffnenden Gebärde und dem schmerzlich gereizten Ge-sichtsausdruck fällt hierbei besonders ins Auge. „Bei derAurora leuchtet aus jeder Bewegung, wohin man sieht, dasGefühl, das sie erfüllt. Im Kampfe gegen eine unendlicheMüdigkeit des Körpers und der Seele erblicken wir sie.“(Hermann Grimm) Sie ist einerseits an die irdisch-materielle Schwere gebunden, andererseits öffnet sie sichnach oben wie eine Schale, die sich den Lichtkräften hin-gibt. Die Schale ist Urbild des empfindenden Seelenwe-sens, das in der Polarität lebt zwischen dem Irdisch-Leibgebundenen einerseits und dem Kosmischen anderer-seits.

Alles ist hier polar, denn die Seele schwingt rhythmisch zwi-schen Tag und Nacht: einmal ist sie den physischen Sinnen ent-zogen und ganz „gelöst“ hingegeben an den Kosmos, dann wie-der kommt sie „zu sich“, indem sie geradezu schmerzhaft in denLeib gezogen wird. Das Atmen, das rhythmische Schwingenzwischen Schlafen und Wachen, Innen und Außen, Hingabe undSelbstgefühl, Sympathie und Antipathie, zwischen zahlreichenweiteren Polaritäten ist charakteristisch für das empfindendeSeelenwesen. Damit gliedert es sich ein in den gesamten Kos-mos. Denn auch dieser ist durchdrungen von Rhythmus und

Der „Morgen“

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Klang, deren seelisches Erleben ja auch in Schwingungsverhält-nissen seinen physikalischen Ausdruck findet. „Nada Brahma“,die Welt ist Klang.

Es wäre aber falsch zu glauben, dass diese Kräfte von Weltund Mensch gleichgültig ineinander flössen. Als beseeltes We-sen hat der Mensch ein Eigensein, das sich zur Welt hin abgrenztund sich selbst – und die Welt – im Innern erlebt. Der Begriff„Seelenleib“ kennzeichnet die Grenze zwischen Eigenerlebenund Weltensein, die durch Ein- und Ausatmen ineinander ver-woben sind. Da sich im täglichen „Einatmen“ der ganze Kosmoswiederfindet – man bedenke, wie wir wahrnehmend die ganzeweite Welt in uns aufnehmen – und im nächtlichen „Ausatmen“der Seelenleib dem Kosmos hingegeben ist, ist es berechtigt,neben dem Begriff Seelen- oder Empfindungsleib auch den tra-ditionellen Begriff Astralleib zu gebrauchen.

Überall in der Natur können wir das Zusammenarbeiten vonplastisch-bildenden mit rhythmisch-musikalischen Kräften beo-bachten, und nicht nur in der Natur, auch in unserem Innern.Man schaue sich nur aufmerksam das Gedankenleben an, dannwird man bemerken, dass es eine plastisch-begriffliche und einemusikalisch-stimmige Komponente enthält. Der Physiker Wer-ner Heisenberg schreibt: „Es sind die gleichen ordnenden Kräfte,die die Natur in all ihren Formen gebildet haben und die für dieStruktur unserer Seele, also auch unseres Denkvermögens, ver-antwortlich sind.“ 4

Was immer an die Seele wahrnehmbar herantritt, ist rhyth-misch gegliedert. So auch das menschliche Leben und die Ent-wicklung des Kindes, und will man Kindern etwas nahe bringen,muss man es „rhythmisieren“. Ein menschenkundlich durch-

4 Werner Heisenberg:Der Teil und das Ganze

„Nacht“ und „Tag“

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dachter Lehrplan etwa wird auf den Atem der Seele eingehen,insbesondere auch auf den Rhythmus von Wachen und Schlafen,auf den Herzrhythmus von Systole und Diastole, auf den Wech-sel von Erkennen und Tun. Das Zusammenwirken der rhyth-misch-musikalischen mit den plastisch-bildenden Kräften in derEntwicklung hat Rudolf Steiner in seinen pädagogischen Vorträ-gen immer wieder zum Thema gemacht.

Anwesenheit und EnthüllungBetrachten wir nun die letzte der vier Figuren, dann bekom-

men wir, zumindest vor Ort, sofort einen Schreck. Wer blicktuns da entgegen? Obwohl das Gesicht „grob“ und „unfertig“ ist,erleben wir uns von diesem Blick, der über das gewaltige Gebir-ge des muskulösen Rückens wie über einen undurchdringlichenSchutzschild hinwegschießt, wie aufgespießt. Eine geradezuüberwache Anspannung warnt uns, ihm nicht zu nahe zu kom-men; was durch die in sich gekreuzte Körperhaltung verstärktwird, die nicht nur Abwehr, sondern zugleich die Bereitschaftspüren lässt, spontan aus sich heraus in die Welt auszugreifen.Alles ist möglich!

Und doch steckt in dieser geballten potentiellen Kraftzugleich eine fast ängstlich wirkende Vorsicht und Verletzlich-keit. Nicht nur wird der Betrachter auf sein eigenes Ich zurück-geworfen, auch im Gegenüber scheint sich das innerste Heilig-tum zu öffnen und eine geistige Präsenz zu verraten, die wir beiden andern Figuren erst suchen mussten. Ich bin ein Ich. ImBlick des andern ist uns eine unmittelbare Ich-Wahrnehmunggegeben, ein geistiges Erlebnis, das uns zugleich auf uns selbstzurückwirft. Das ist keine Spiegelung, das ist Wirklichkeit, An-wesenheit. Wir sind auf Augenhöhe, wir sind nicht mehr Sub-jekte, die ein Objekt, einen Naturgegenstandbetrachten, wir sind blickende, die zugleich er-blickt werden. Aber was ist das anderes als ebengenau die Erlebnisqualität, die dem menschlichen„Ich“ auch in der Selbsterkenntnis eigen ist?

Der Körper, den wir hier wahrnehmen, istnicht nur von starken Lebenskräften durchströmtund verrät nicht nur in der gespannten Polaritätvon Innen und Außen ein Seelenwesen, er zeigtdarüber hinaus auch eine unmittelbare geistigePräsenz. So sehen wir im sogenannten „Tag“ eineWirklichkeit „zutage“ treten, die wir nur in dermenschlichen Begegnung erfahren können. Diese Erfahrung derGeistesgegenwart hindert uns daran, andere bloß als Naturge-schöpfe zu behandeln. In der Pädagogik ist dieser Blick, ist die-

Der „Tag“

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ses Bewusstsein die Voraussetzung, über Kinder und Jugendli-che überhaupt sprechen zu dürfen. Wir müssen sehen lernen,dass uns hier ein geistiges Wesen anblickt, das sich der dreianderen Wesensglieder gewissermaßen als Instrumente derWelterfahrung bedient, sie verwandelt und ihnen im Laufe derEntwicklung seine ganz eigene und unverwechselbare Prägungverleiht.

Dieses Ich ist in solch unverhüllter Offenheit, wie es sich inder Neuzeit – und hier erstmalig und prophetisch in der Renais-sancekunst – offenbart, noch ein Neuling in der Welt, oft uner-kannt und unbeachtet, weil der Blick an den Hüllen, oft an denalleräußersten, hängen bleibt. Aber es wird sich in Zukunft im-mer reiner offenbaren als der Würdenträger unserer Zeit. In denJahrtausenden der menschlichen Geschichte hat es sich allmäh-lich herausgearbeitet und ist zu sich gekommen. Heute kommt esuns, für jeden wahrnehmbar, im andern entgegen.

Natürlich können wir Michelangelos Figuren auch die übli-chen Etiketten umhängen, denn mit den Tageszeiten, oder bes-ser: mit dem Wesen des Menschen zu den jeweiligen Tageszei-ten, haben sie naturgemäß etwas zu tun. Wir könnten aber eben-so gut die vier Temperamente auf die vier Etiketten schreiben:melancholisch, phlegmatisch, sanguinisch, cholerisch, oder wa-rum nicht die Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer? Wird derBetrachter aber auf solche Begriffe festgelegt, wird er sich in derRegel damit begnügen, dafür Bestätigungen zu suchen. Wennwir uns diese Figuren aber in der beschriebenen Weise erarbei-ten, indem wir uns in die Formen, Bewegungen und Gebärdenvertiefen, dann arbeiten wir uns ein Stück weit an die Kräfteheran, aus denen heraus das Genie solche meisterhaften Werkegestalten konnte. Wir bemerken dann auch, dass dem ein auswirklichem Geistesleben – oder Geist-Erleben – heraus geschaf-fenes Menschenbild zugrunde liegt: Nur die Hand, die demGeiste gehorsam ist, dringt zu der Gestalt in die Tiefe – so lautetdie Botschaft Michelangelos.

GeistesbotenDas Motiv der Verkündigung hat viele Künstler der Renais-

sance beschäftigt. Wenn wir in Florenz das DominikanerklosterSan Marco besuchen, dessen Wände der Maler Fra Beato Ange-lico mit herrlichen Fresken geschmückt hat, haben die Schülerunter anderem die Aufgabe, zwei Verkündigungsdarstellungenzu vergleichen. Die eine befindet sich direkt am Aufgang zumZellentrakt, die andere in einer Mönchszelle. Es fällt sofort insAuge, dass die äußere Darstellung eine deutliche Trennung zwi-schen dem Engel und Maria zeigt, zum einen durch die Säule,

Michelangelo, Porträt vonDaniele da Volterra, 1533

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zum anderen dadurch, dass das Innere, repräsentiert durch denarchitektonischen Raum, klar getrennt ist von jenem Außen, vondem der Geistesbote hereinweht. Ganz anders ist das Zellenfres-ko gestaltet. Hier ist alles Innenraum. Der Betrachter im Bild,der Ordensbruder (hier „Petrus der Märtyrer“), schaut nach In-nen und nimmt den Vorgang in einem einheitlichen Raum wahr,in dem überdies der Engel und Maria durch den Gewölbebogenmiteinander verbunden sind. Hier kann uns besonders deutlichwerden, warum dieses Motiv in der Renaissance eine so bedeu-tende Rolle spielt. Es geht eben nicht allein um ein historischesGeschehen, in dem der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria dasgöttliche Kind verkündet. Es geht auch um die gegenwärtigeBerührung und Befruchtung der Seele durch den Geist, umwirkliche „Begeisterung“, um Inspiration.

Eben dies hat ein weiterer großer Meister der Hochrenais-sance neben Michelangelo in vollendeter Form ins Bild gesetzt:Leonardo da Vinci in jener breitformatigen Darstellung – siehängt in den Uffizien und wurde vor einigen Jahren restauriert –,in der sich das individuelle Selbstbewusstsein des neuzeitlichenMenschen in unmissverständlicher Gebärdensprache offenbart.

Beato Angelico:VerkündigungFlorenz, San Marco

Leonardo da Vinci:VerkündigungFlorenz, Uffizien

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Nicht wie bei Fra Angelico in demütiger Ergebenheit, sondernaufrecht und gedankenklar, auf die Schrift verweisend und dengeistigen Gruß erwidernd, erscheint sie dem Geistesboten zu-mindest ebenbürtig. Beide, empfangende Seele und inspirieren-der Geistesbote, sind auf Augenhöhe in demselben Raum, des-sen Architektur ihre Gebärdensprache verdeutlicht und der seingemeinsames perspektivisches Zentrum (den „Fluchtpunkt“) ineinem gewaltigen durchlichteten Felsmassiv hat.

Leonardo, das „Universalgenie“, der Entdecker, Wissen-schaftler, Techniker, Künstler, hat wohl wie kein anderer in allenErscheinungen der Welt die Begegnung mit dem Geist gesucht.Anders als Michelangelo, der uns besonders durch seine unge-heure, geistessicher in die Tiefe dringende Willenskraft in Stau-nen versetzt, ist es bei Leonardo die Vielfalt und der Facetten-reichtum seines Denkens, Forschens und Könnens, was unsunbegreiflich erscheint. Hier erweist sich die unendliche Frucht-barkeit der menschlichen Seele, die sich auf der Suche nach demüberall wirkenden Geist der Welt öffnet.

Das göttliche EbenbildUnd gehen wir bei unserem Besuch in den Uffizien einige

Räume weiter, gelangen wir zu dem Werk einer wiederum ganzanderen, aber mit gleicher Geistesintensität schaffenden Persön-lichkeit dieser Zeit: Raffael von Urbino. Die Madonna mit dem

Stieglitz war über viele Jahre in Restauration, nun istauch sie wieder zu sehen. Die Schüler haben hier eineetwas merkwürdige Aufgabe: sie sollen das Bild inTeilbereichen anschauen, in einem oberen, unteren,mittleren Bereich, indem sie die anderen Teile für dieAugen verdecken. Dabei kann man sich nämlichetwas bewusst machen, was in der Gesamtheit desEindrucks dem Betrachter leicht entgeht.

Das Haupt Marias erscheint zwischen den auseinandertreten-den Wolken wie ein himmlisches, kosmisches Antlitz, betrachtetman nur den oberen Teil des Bildes. Der untere für sich be-trachtet, wo sich die Füße von Mutter und Kind berühren, wirkthingegen so greifbar nahe, dass man fast meint den Boden be-treten zu können. In der Mitte entfaltet sich, etwa auf der Höhedes Herzens, die natürliche Schöpfung. Wir blicken auf den

Menschen und die menschliche Seele, wie sie zwi-schen der irdisch-materiellen und der geistig-kosmischen Wirklichkeit ausgespannt ist, Himmels-königin und Erdenmutter zugleich. In der Sonnen-kraft des Herzens sind beide Welten vereint, als ineiner dritten, alles harmonisierenden Wirklichkeit.

Leonardo da Vinci:Selbstporträt (?)

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Unter diesem Herzen wächst das Kind, auf das Johannes derTäufer verweist: Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.

Die umfassende Schau der Trinität und des trinitarischenMenschenwesens als göttliches Ebenbild scheint uns in denMadonnenbildnissen Raffaels entgegen, in denen er mit einereinzigartigen Gefühlssicherheit kosmische und irdische Kräfte inHarmonie erklingen lässt. „Himmel und Erde“, die uns in derSommerzeit als Naturgeschehen ineinander fließen, können sichin der menschlichen Seele bewusst vereinen, im lebendigenIneinanderwirken von Leib, Seele und Geist. Hat uns Michelan-gelo in der plastischen Arbeit am Menschenleib ge-zeigt, wie uns der Mensch als viergliedriges Wesenentgegentritt, das sich durch seinen physischen Leibhindurch kundtut, und kann man aus Leonardos gren-zenlosem Weltinteresse ersehen, wie die Menschen-seele sich die geistige Wirklichkeit der Welt erschließt,so erscheint uns Raffael geradezu als der Geistesboteselbst, der die Geburt des eigentlichen Geisteskindesim trinitarischen Menschenwesen verkündet.

Man mag dieses Zusammentreffen der drei großenMeister der Renaissance als einen historischen Zufallansehen.5 Wer allerdings in ihrem Sinne die Welter-eignisse als Symptome einer geistigen Wirksamkeitanschaut, wird erstaunen über eine solche weisheits-volle Konstellation. Zu einer Zeit, als die Menschenbegannen sich aus dem religiösen Zusammenhang zulösen und sich der Welt als einem materiellen „Ge-genstand“ zuzuwenden – was dann ja zu dem Materia-lismus der späteren Jahrhunderte geführt hat –, zu ei-nem Zeitpunkt auch, als viele Kunstwerke der Renais-sance schon an spiritueller Substanz eingebüßt hatten, habendiese drei Individualitäten, jede unter anderen Gesichtspunkten,ein Menschenbild erarbeitet, das bis heute – davon zeugen dieBesucherströme in den Museen – von einzigartiger geistigerAusstrahlungskraft geblieben ist.

Wandlung des MenschenbildsEs gibt gelegentlich auch Gutes zu berichten aus dem allge-

meinen Schulwesen, so etwa von einer Einrichtung im Rahmendes Realschulabschlusses, von der auch in KURSIV schon berich-tet wurde: der „Fächerübergreifenden Kompetenzprüfung“,inzwischen kurz und bündig als „Fükom“ bezeichnet. Erfreulich,im Ansatz wenigstens, weil hier Gruppen von Schülerinnen undSchülern während des gesamten Schuljahres selbständig ein freigewähltes Thema erarbeiten können, zu dem sie auch einen

Raffael: Die Madonna mit demStieglitz / Distelfink, ca. 1506

5 Siehe hierzu Thomas Krämer:Leonardo Michelangelo RaphaelStuttgart 2004

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individuellen inneren Bezug haben können und sollen. In diesemSchuljahr, und deshalb wird dies hier erwähnt, haben sich einigeSchülerinnen das Thema gewählt: Wandel des Menschenbildesin Literatur und Kultur – am Beispiel von Sophokles‘ „Ödipus“(Antike), Wolframs „Parzival“ (Mittelalter) und Goethes „Faust“(Neuzeit). Das zeigt nun doch, dass sich bei den Jugendlichen imVerlauf ihrer Beschäftigung mit der Geschichte, der Kunst undKultur ein Bewusstsein von der Bedeutung dieses Themas gebil-det hat.

– Das antike Weltbild war dualistisch, wie man dies sym-ptomatisch in „König Ödipus“ sehen kann. Ödipus verfügt überdie Fähigkeit des rationalen Denkens, weshalb er das Rätsel derSphinx auch zu lösen versteht und somit „König“ wird. Er hataber keinen Einblick in die wirkenden geistig-göttlichen Kräfte,die seinen Lebensweg bestimmen. Gerade indem er aus rationa-lem Kalkül diesem Götterwirken zu entgehen versucht, wird erzum Vatermörder und Blutschänder. In dem Moment der tiefstenSelbsterkenntnis zerbricht er daran.

– Auch im Mittelalter sehen wir eine scharfe Trennung zwi-schen der geistigen und der irdischen Welt, deren Vermittlungdie Kirche als ihre Domäne beanspruchte. Die Biographie Parzi-vals scheint zunächst ebenfalls tragisch zu verlaufen, so will esdie Grals-Tradition, weil er den vom Familienschicksal vorge-zeichneten Weg verschläft. Aber Wolframs Parzival geht nunüber diese Bestimmung hinaus und erreicht aus eigenen Kräften– wozu das Scheitern zunächst sogar Voraussetzung ist – unddurch innere Wandlung sein geistiges Ziel.

– Und zunächst ist auch Faust eine gespaltene Persönlichkeit,die einerseits alles rationale Wissen dieser Welt beherrscht, aberzugleich überzeugt ist, dass dieses Wissen nichts wert ist, weil esnicht enthält, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Aberals er schließlich – über die Liebe – einen Zugang zum Geistfindet, ist das erst der Anfang eines Weges, der ihm eine endloseAuseinandersetzung mit der realen geistigen Macht des Bösen,des Widersachers der Schöpfung, beschert.

So können wir sehen, dass zu allen Zeiten die Menschen,auch nachdem in der Antike das Gefühl der geistigen Einheit derWelt zerbrochen war, ihr Leben auf eine geistige Wirklichkeitbezogen haben. Die Leugnung der geistigen Dimension desDaseins und die Reduzierung des Menschen auf ein biologisch-materielles „Naturprodukt“ sind „Errungenschaften“ des 19. und20. Jahrhunderts. Der Rassismus und zuvorderst der Nationalso-zialismus haben daraus die grausige Konsequenz gezogen undaus ihrer geistverleugnenden Ideologie heraus bestimmt, wanndas Menschenleben „lebenswert“ sei.

Die Erzeugung des Homunkulusin Goethes Faust, Darstellung ausdem 19. Jahrhundert

Ödipus und die Sphinx –die Frage nach dem Menschen

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Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wandte sichoftmals ganz bewusst gerade gegen dieses biologistische Men-schenbild. So lesen wir in einem Entwurf des Kreisauer Kreisesvom August 1943 über die „Grundsätze für die NeuordnungDeutschlands“: „Der Ausgangspunkt liegt in der verpflichtendenBesinnung des Menschen auf die göttliche Ordnung, die seininneres und äußeres Dasein trägt. Erst wenn es gelingt, dieseOrdnung zum Maßstab der Beziehungen zwischen Menschenund Völkern zu machen, kann die Zerrüttung unserer Zeit über-wunden und ein echter Friedenszustand geschaffen werden… ImZusammenbruch bindungslos gewordener, ausschließlich auf dieHerrschaft der Technik gegründeter Machtgestaltung steht vorallem die europäische Menschheit vor dieser Aufgabe.“ Und ineinem Flugblatt der Weißen Rose heißt es: „Wohl muss man mitrationalen Mitteln den Kampf wider den nationalsozialistischenTerrorstaat führen; wer aber heute noch an der realen Existenzder dämonischen Mächte zweifelt, hat den metaphysischen Hin-tergrund dieses Krieges bei weitem nicht begriffen. Hinter demKonkreten, hinter dem sinnlich wahrnehmbaren, hinter allensachlichen, logischen Überlegungen steht das Irrationale, d.i. derKampf wider den Dämon, wider den Boten des Antichrist.“

Auf dem Weg zum „Nivea-Baby“?Wir bilden uns heute gerne ein, dass wir die Dämonie des

Nationalsozialismus weit hinter uns gelassen haben. In Wirk-lichkeit sind die Kräfte, die sich hier mit brutaler Gewalt für 12Jahre Bahn gebrochen haben, auch heute allgegenwärtig und wirkönnen sie tagtäglich wahrnehmen, wenn wir es nicht vorziehenan der Wirklichkeit vorbeizusehen. So gibt es zwar keine „Eu-thanasie“ und keine „Aktion Lebensborn“ mehr, aber das biolo-gistische Bild des Menschen schleicht sich auf leisen Sohlen indie Gesellschaft ein. Als Symptom hierfür kann man beispiels-weise die Entwicklung der Pränataldiagnostik ansehen.6

Sie habe die Einstellung zu Behinderungen verändert, sagtder Humangenetiker Wolfram Henn von der Universität desSaarlandes. Eine der häufigsten Fragen, die Eltern von Kindernmit Down-Syndrom gestellt werde, sei, warum sie dieses Kindbekommen hätten. Manche kommentieren noch schonungsloser:„Das muss doch heute nicht mehr sein.“ Nach Ansicht vielerKritiker der vorgeburtlichen Diagnostik verändert sich nicht nurstillschweigend unser Umgang mit Behinderung, sondern stelltunser gesamtes Menschenbild in Frage: vom Qualitätsembryozum Qualitätsmenschen.

Was ehemals Schicksal war, ist inzwischen persönlicheSchuld. Das behinderte Kind ist zum Versäumnis der Frau ge-

6 Die folgenden zwei Absätzegeben zum Teil Inhalte derBroschüre „Pränatale Dia-gnostik – Die stille Selektion“wieder, herausgegeben von der„Aktion Mensch“

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worden. Und der behinderte Mensch zum vermeidbaren Be-triebsunfall. „Es entwickelt sich ein normierender Druck, der zueiner Art Monokultur führt“, so Christian Judith von der Behin-dertenorganisation Lebenshilfe, der von Geburt an körperbehin-dert ist. „Alle müssen groß, gesund, blond und blauäugig sein.“Der Ultraschall-Experte Professor Hausmann von der UniklinikBonn bringt es auf den Punkt: „Alle wollen das Nivea-Baby.“Die Chancen stehen gut, die vorgeburtliche Diagnostik ist erstam Anfang.

Fragen, die bisher noch mit dem Wesen des Menschen ver-knüpft waren, nach seinem geistigen Ursprung, nach seinemSchicksal oder dem tieferen Sinn seines Erdenlebens, spielen imRahmen eines solchen eugenischen Nützlichkeitsdenkens keineRolle mehr. Diese Entwicklungstendenz wird flankiert von einerutilitaristischen „Philosophie“, die vorgibt, die „vernünftigen“Konsequenzen aus einem rein naturwissenschaftlichen Men-schenbild zu ziehen. Ohne Rücksicht auf die gedanklichen Wi-dersprüche, in die man sich verwickelt, feiert man sich plakativals „humanistisch“, indem man dem Menschen alle göttlich-geistige Substanz abspricht. Wenn dann trotzdem von „Geist“und „Sinn“ gesprochen wird, klingt es geradezu schmerzhaftwidersinnig. So bezeichnet eine Internetseite der „Humanisten“es als ein „Kriterium der Mündigkeit“, neben allerlei Gemein-plätzen, „einen veränderbaren, nichtresignativen Agnostizismuszu vertreten“, als Kriterium der Unmündigkeit hingegen gilt der„Glaube an Übersinnliches, Okkultismus, Anbetung von Götternund Fetischen“. Die schöne neue Welt umgibt sich mit demImage bescheidener Menschlichkeit.

Tatsächlich findet hier eine „Umwertung der Werte“ statt,indem der Agnostizismus, d.i. die vermeintliche Unerkennbar-keit der geistigen Wirklichkeit, als Wahrheit behauptet wird unddies als Errungenschaft und Weiterentwicklung der „Aufklä-rung“ propagiert wird – eine folgenreiche Verkehrung. Nachdemman dem Menschen durch Herabwürdigung alles dessen, wasihm heilig ist, jede tiefere Sinnhaftigkeit abgesprochen hat, kon-struiert man eine oberflächliche Nützlichkeitsmoral, die ohnegeistige Begründung auszukommen vorgibt. Junge Menschenempfinden aber gerade aus ihrem „idealischen Menschen“ her-aus eine solche „Sinngebung“ als Schwindel, ja schlimmer noch,es ist, als gebe man ihnen für ihren Erkenntnishunger Steine stattBrot.

Verlust und WiedergeburtIn seinen pädagogischen Vorträgen hat Rudolf Steiner des

öfteren vor den Folgen gewarnt, wenn das heutige naturwissen-

„Ein Internetdienst in denUSA kümmert sich seit Kur-zem um Eltern, auf denen dieSorge lastet, ihr Nachwuchskönne zu hässlich ausfallen.Das Fruchtbarkeits-Forum aufder Webseite BeautifulPe-ople.com bringt wenig attrak-tive Väter und Mütter mitbesonders gutaussehendenSpendern von Samen oderEizellen zusammen…Gutaussehende Menschensollten ihr Erbgut selbstlos anPaare weitergeben, die selbstkeine Kinder bekommenkönnen und zu allem Unglückauch noch hässlich sind…Für das Fruchtbarkeits-Forumdürfen sich nun auch hässli-che Menschen mit Kinder-wunsch melden. Schließlichlautet die Mission: AlleMenschen sollen schönerwerden - spätestens in dernächsten Generation…“

eltern.t-online.de

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schaftliche Welt- und Menschenbild zur Lebensgesinnung wird.Man fühlt anders, man stellt sich in die Welt anders hinein, in-dem man glaubt, sie sei bloß irgend etwas, was für eine Retortepasst, aber nicht für ein Universum… Dass das möglich ist, dassunser Kopf … solch eine unmenschliche Weltanschauung alseine Wirklichkeit hinnimmt, dass wir so denken können, dasprägt unserem Fühlen, unserem Empfinden einen ganz be-stimmten Charakter auf. Ja, und wenn wir so fühlen, empfinden,denken können, dass der Mensch eigentlich ganz herausfällt,dann ist es eben so, dass wir mit diesem Empfinden und Gefühl,wenn wir vor den fünfzehnjährigen Knaben und Mädchen ste-hen, keinen Zugang finden, dass wir nicht wissen, was wir damitanfangen sollen. Mit unserer Weltanschauung lassen sich Uni-versitätskollegien machen, man kann da dasjenige auseinander-setzen, was man glaubt als das Richtige zu erkennen, aber eslässt sich nicht leben damit. Wir schicken dann die Leute, dieerziehen sollen, von unseren Hochschulen hinaus, und sie habenüberhaupt nichts mehr, was ein Zusammenhang mit der Jugendist. Das ist der furchtbare Abgrund, der sich vor uns aufgetanhat…

Die Konsequenz, die Steiner daraus für die Pädagogik zieht,mag zunächst rigoros klingen, man bedenke jedoch, dass es nichtum „die Wissenschaft“ geht, sondern um das Welt- und Men-schenbild des „heutigen Wissenschaftswesens“: Das müssen wirschon einsehen, dass es ungeheuer wichtig ist, dass wir lernen,als Lehrer mit den Grundbegriffen des heutigen Wissenschafts-wesens zu brechen. Mit den Grundbegriffen des heutigen Wis-senschaftswesens kann man der Welt einen blauen Dunst vorma-chen, aber man kann nicht lehren.7

Auch eine Naturwissenschaft allerdings, die nicht von mate-rialistischen Vorurteilen befangen wäre, käme an die individu-elle Wesenheit des Menschen nicht heran, vom heute üblichenWissenschaftsverständnis ganz zu schweigen. Mit naturwissen-schaftlichen Methoden kommt man nur bis zu dem Menschen alsGattungswesen. Man mag dann dem Menschen „besondere Ei-genschaften“ zusprechen, der einzelne Mensch bleibt aber füreine solche Betrachtung stets nur ein Ergebnis zufälliger Da-seinsbedingungen aus Vererbung und Umwelt. Was ist dann andem ganzen Wicht Original zu nennen?8

Wenn man dem Menschen dann noch eine gewisse Empfin-dungsfähigkeit und ein Innenerleben zugesteht – denen aller-dings nur eine relative, aus dem Materiellen abgeleitete „Wirk-lichkeit“ beigemessen wird –, kann man im Sinne der heutigen„Bioethik“ von einer „Person“ sprechen. Dem Erkenntnisbe-dürfnis des jungen Menschen entspricht aber eine solche „Erklä-rung“ seines eigenen Wesens nicht, denn er trägt ein ganz ande-

„Menschenbilder“

7 Vorträge vom 17. und19.6.1921

8 Goethe: Vom Vater habich die Statur…

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res Menschenbild in den Tiefen seiner Seele. Er wird allerdings,wenn ihm nur das besagte als Quintessenz wissenschaftlichenForschens entgegengehalten wird, zu einer derartigen ErklärungZuflucht nehmen müssen. Eben dadurch wird ihm aber nicht nurder Zugang zu den eigenen Seelengründen verschüttet, er wirdauch die Neigung entwickeln, in dem andern Menschen einezufällige Ausprägung des Gattungsmenschen zu sehen. Ein tiefe-res soziales Verständnis, wie es unserer Gesellschaft dringendnottäte, kann sich unter solchen Bedingungen nicht entwickeln.

Dem widerspricht das aus den Urgründen des menschlichenWerdens sich herausarbeitende, bei vielen jungen Menschenauch erkennbare Bedürfnis, dem anderen Menschen individuellbegegnen zu wollen. In einem Vortrag von 1918 sprach RudolfSteiner von einer Entwicklungstendenz, die sich den Menschenaus der geistigen Wirklichkeit heraus offenbaren kann, wenn siedafür wach sind: Es soll werden so, dass wir nicht den Menschengewissermaßen wie ein höherentwickeltes Tier nur seinen physi-schen Qualitäten nach betrachten, weder in der Theorie noch inder Praxis, sondern dass wir jedem Menschen entgegentretenmit dem voll ausgebildeten Gefühl: In dem Menschen erscheintetwas, was aus den göttlichen Weltengründen heraus sich offen-bart, durch Fleisch und Blut sich offenbart… Alle freie Religio-sität, die sich in der Zukunft innerhalb der Menschheit entwi-ckeln wird, wird darauf beruhen, dass in jedem Menschen dasEbenbild der Gottheit wirklich in unmittelbarer Lebenspraxis,nicht bloß in der Theorie, anerkannt werde. Dann wird es keinenReligionszwang geben können, dann wird es keinen Religions-zwang zu geben brauchen, denn dann wird die Begegnung jedesMenschen mit jedem Menschen von vornherein eine religiöseHandlung, ein Sakrament sein…9

Vom Sinn der Schule heuteDas Menschenbild, das der Waldorfpädagogik zugrunde

liegt, verweist auf jenen Kern der menschlichen Wesenheit, derdurch die „Person“ hindurch „klingt“ (lat. sonare = klingen), diegeistige Individualität und ihre „ewige Entelechie“ (Goethe).Nur der verständige Blick auf die menschlichen Hüllen und ihreDifferenzierung gegenüber dem eigentlichen Wesenskern desMenschen begründet auch ein wirkliches Verständnis der Men-schenwürde, von der Schiller spricht. Als Pädagogen oder Erzie-hende sind wir aufgefordert, diesen Blick bewusst zu schulen,was sich als zunehmend notwendig erweist, denn das Normative,Nivellierende und Anti-Individualistische ist allseits auf demVormarsch. Wir müssen uns die Frage stellen: wovon lassen wirunseren Blick leiten, worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit

Raffael von UrbinoSelbstbildnis, 1506Florenz, Uffizien

9 Vortrag vom 9.10.1918

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und unsere pädagogischen Intentionen. Inwieweit haben wireinen Blick für die geistige Individualität entwickelt?

Wo das Bewusstsein vom individuellen Menschengeist fehlt,entsteht „ein normierender Druck, der zu einer Art Monokulturführt“. Während sich bei vielen Menschen ein deutlicheres undbewussteres Bedürfnis nach individueller Begegnung entwickelt,wachsen die anti-individualistischen Kräfte und Zwängezugleich ins schier Unermessliche. Durch Vorschriften und for-male Leistungsanforderungen werden in der Schule, ebenso inanderen sozialen Arbeitsfeldern, der Blick und die Aufmerk-samkeit zunehmend auf das Normative gelenkt. Hier gilt es,Gegenkraft zu entwickeln und Widerstand zu leisten. DieseGegenkraft besteht aber nicht in subjektiver Willkür und Belie-bigkeit – was man gemeinhin als Freundlichkeit und Nettigkeitkennt, das ist jedermanns persönliche Angelegenheit –, sondernin einer kontinuierlichen Arbeit am Menschenbild als Kern dereigenen Fortbildung.

In einem Vortrag im Jahr 1916, veröffentlicht unter dem Ti-tel „Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwundenwerden?“, geht Rudolf Steiner auf die einander oft bedingendenExtreme von subjektiver Willkür und normativem Zwang ein:Man stellt sich vor: so und so sollte der Mensch eigentlich sein;wenn man dann sieht, er ist in dem oder jenem anders, dann fälltman über ihn ein Urteil. Ehe nicht diese Art des Sympathisch-oder Antipathischfindens aus Vorurteilen, aus besonderen Lieb-habereien heraus, die man über diesen oder jenen Menschen-charakter hat, aufhört, und ehe sich nicht verbreitet die Gesin-nung, den Menschen zu nehmen, wie er ist, kann nicht vorwärts-geschritten werden in wirklicher praktischer Menschenkennt-nis… Sympathien und Antipathien sind die größten Feinde deswirklichen sozialen Interesses. Das beachtet man sehr häufignicht. Derjenige, der weiß, was in wirklichem, sozialem Ver-ständnis liegt für die Weiterentwickelung der Menschheit, derbeachtet mit manchmal furchtbar beklommenem Herzen, wieLehrer in der Schule wirken, die aus gewissen Vorurteilen her-aus den einen Schüler von vornherein sympathisch oder nichtsympathisch dem anderen gegenüber finden. Das ist oft furcht-bar; während es sich darum handelt, jeden zu nehmen, wie erist, und aus dem, was er ist, das Allerbeste zu machen.

Das geht aber dann in die Einrichtungen hinein. Unsere Ein-richtungen, unsere sozialen Gesetze, die die Individualität derLehrer oftmals furchtbar auslöschen, die sind schon so, dass aufdie Individualität in Wirklichkeit nicht eingegangen werdenkann. Da muss wirkliches Verständnis für Geisteswissenschaftso wirken, dass praktische Seelenkunde und praktische Men-schenkunde in das allgemeine Interesse aufgenommen werden.10

10 10.10.1916 – Weiterhinheißt es an dieser Stelle:„Ebenso werden entgegentre-ten sozialem Verständniszwischen Mensch und Menschimmer mehr und mehr dienationalen Gefühle und Emp-findungen…, die in eminen-tester Weise entgegenwirkendem sozialen Verständnisse,dem wirklichen Interesse vonMensch zu Mensch. Und so,wie heute diese nationalenGegensätze, nationalen Sym-pathie- und Antipathiegefühleauftreten, so sind sie einestarke, eine furchtbare Prü-fung für die Menschheit, weilein Heil nur darinnen liegenkann, dass sie überwundenwerden… Die nationalenGefühle gehen nach derentgegengesetzten Richtunghin; die gehen darauf hin, denMenschen nicht selbständigwerden zu lassen, sondern ihnso zu machen, dass er nur wieein Abklatsch, wie ein Abbilderscheint dieser oder jenerGruppenhaftigkeit, Nationali-tät.“

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Viel wichtiger als eine Steigerung der Lern- und Leistungsfähig-keit ist es deshalb, dass Schule zunehmend zu einem Ortmenschlicher Begegnung wird, wo ein freies, weil aus dem indi-viduellen Wesen des Menschen entspringendes Geisteslebengepflegt und erfahren werden kann. Das Künstlerische spielthierbei eine Schlüsselrolle, weil es seinem Wesen nach selbst einMittleres zwischen gesetzmäßiger Norm und persönlicher Nei-gung darstellt. So gesehen ist die Entwicklung des Menschenbil-des in der Seele des jungen Menschen selbst ein künstlerischerProzess, für dessen Gelingen die Schule in hohem Maße mitver-antwortlich ist. Darin besteht der soziale Auftrag der Schule,nicht darin, der Gesellschaft leistungsfähige Bürger zuzuführen.In Zukunft wird unendlich viel davon abhängen, inwieweit dieWaldorfschule diesem Erziehungsauftrag gerecht zu werdenvermag.

Heinz Mosmann (L)

Proben zum Oberstufenkonzert 2012