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Jahrbuch 66 des kölnischen Geschichtsvereins e. V. 1995 in Zusammenarbeit mit Otto Dann, Manfred Groten und Ulrich Krings herausgegeben von Wolfgang Schmitz (/ ,; ) Gl ýj ý ý'-1 9ýj ý4-ý

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Jahrbuch 66 des kölnischen Geschichtsvereins e. V. 1995 in Zusammenarbeit mit Otto Dann, Manfred Groten und Ulrich Krings herausgegeben von Wolfgang Schmitz (/

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Erzbischof Gunthar von Köln und die Konflikte um das Reich König Lothars II.

Überlegungen zum politischen und rechtlichen Kontext der Absetzung durch Papst Nikolaus I. im Jahre 863

Von Wolfgang Georgi

Etwa seit der zweiten Oktoberwoche 863 weilten die Erzbischöfe von Trier und Köln, Thcudgaud und Gunthar, in Rom. Hier legten sie das Synodalprotokoll der Synode von Metz dem Papst zur Bestätigung vor. König Lothar II. hatte

sich nämlich seit 857 immer tiefer in einen Ehestreit verstrickt. Seine große Liebe war - wie man annimmt - seine 'Friedelfrau' Waldrada, mit der er anscheinend vor 855 ein Verhältnis eingegangen war. Die andere Frau in seinem Leben warTheutberga, die er 855 aus politischen Gründen geehelicht hatte. Im Juni des Jahres 863 hatte die Synode von Metz im Reich König Lothars II.

unter Vorsitz der beiden päpstlichen Legaten Radowald von Porto und Johannes

von Cervia getagt und entschieden, der König sei bereits im Hause Kaiser Lothars I. mit Waldrada in rechtmäßiger Ehe verheiratet gewesen. Daher sei die Ehe Lothars II. mit Theutberga illegitim. '

Unverhofft und für beide Metropoliten unerwartet, bestätigte oder rügte Nikolaus I. die Beschlüsse nicht, sondern erklärte die Synode zur Räubersynode. Die Beschlüsse seien für immer und ewig nichtig. Beide Erzbischöfe setzte er ohne vorherige Verhandlung ab und forderte von allen anderen Teilnehmern der Synode von Metz, bei Androhung der Exkommunikation, eine Recht- fertigung. Andernfalls sollten auch sie ihre Würden verlieren. Die Legaten entzogen sich der drohenden Verurteilung wegen angeblicher Bestechlichkeit durch die Flucht. Was aber bewog den Papst zu einer solchen Maßnahme?

I) Der Ehestreit fand Eingang in alle Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Karolinger: E. Mühlbacher. Deutsche Geschichte unter den Karolingem, 1896, Nd. Stuttgart 1959, S. 504-537; A. Cariellieri, Die Zeit der Reichsgründungen (382-911) (Weltgeschichte als Machtgeschichte 1), München 1927, S. 295-301; Th. Schiederifh. Schieffer (Hg. ), Handbuch der europäischen Geschichte. Bd. 1, Stuttgart 1976, S. 601-615; P. Riche, Die Karolinger, Paris 1983, Dt. Stuttgart 19922, S. 213-217,222-224,237f.; E. Hlawitschka, Vom Frankenreich zur Formierung der europäischen Staaten und Völkergemeinschaft (840-1046), Darmstadt 1986, S. 27,79-81; H. K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen. Merowinger und Karolinger (Das Reich und die Deutschen), Berlin 1987. S. 332-336; E. Boshof, Lotharingicn-Lothringen. Vom Teilreich zum Herzogtum, in: Zwischen Gallia und Germania, Frankreich-Deutschland: Konstanz und Wandel raumbestimmender Kräfte, hg. A. Heit (Trierer Histor. Forschungen 12), Trier 1987, S. 129-153, hier 133-136; R. Schieffer. Die Karolingcr, Stuttgart 1992, S. 159-162.

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Die ersten Herrschaftsjahre Lothars II. und ihre Probleme

Zu Beginn seiner Herrschaft war Lothar auf die Unterstützung seinesAdels und König Ludwigs des Deutschen - der ihn adoptiert hatte - angewiesen, wie die

Königserhebung in Frankfurt und das Erscheinen Hukberts von St. Maurice in

Aachen am 26. Oktober 855 zeigen: Hukbert warder Bruder derTheutberga und

verfügte als Laienabt von St. Maurice über eine bedeutende Machtposition im

Alpenraum. Das Bündnis mit ihm ermöglichte es dem König, sein Reich gegen Süden, nach Italien hin zum Reich seines Bruders Kaiser Ludwigs II.,

abzusichern. Nach Südwesten hielt Lothar sich zugleich eine Option auf das

provencalische Reich seines Bruders Karl offen. Im Zusammenhang mit dem

Herrscherwechsel von 855 steht die Erhebung des seit 850 amtierenden Erzbischofs Gunthar von Köln zum sununus capellanus. Dieser trat die Nachfolge

des am B. Dezember 855 verstorbenen Drogo von Metz an. Lothars Entscheidung fiel sicherlich nicht ohne Bedacht; sie deutet auf eine Kontinuität in der

Hofkapelle seit Lothar I. hin. Gunthars Onkel Hilduin war nicht nur der Vorgänger

auf der Kölner cathedra als vocattts arclºiepiscoptts, sondern auch der letzte

Erzkanzler des Kaisers. Gundiar war, wie Fleckenstein vermutet, bereits vor

seinem Pontifikatsantritt Mitglied der Hofkapelle, was wohl auch ausschlag-

gebend für seine Erhebung durch Lothar I. gewesen ist. ' Schon 856 haben sich

2) J. F. Böhmer, Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingem. 751- 918, bearb. v. E. Mühlbacher u. a., Innsbruck 19082, Nd. 1966 (weiter Ri). Nr. 1275e, 1276; E. Dümmler, Geschichte des ostfränkischen Reiches. 3 Bde., Leipzig 1887', Nd. 1960, hier Bd. 2, S. 398; R. Parisot, Le Royaume de Lorraine sous les Carolingiens (843-923), Paris 1899, S. 78-88; H. H. Anton, Verfassungspolitik und Liturgie. Studien zu Westfranken und Lotharingien im 9. und 10. Jh., in: Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Regionale Befunde und raurnüber- greifende Perspektiven. Georg Droege zum Gedenken, hg. M. Nikolay-Panter u. a., Köln 1994, S. 65-103, bes. S. 79-94; T. Bauer, Die Ordinatio Imperii von 817, der Vertrag von Verdun 843 und die Herausbildung Lotharingiens, in: RhVjbll 58 (1994), S. 1-24, hier 20-24. - Zu Hukbert und Theutberga, die der Familie der Bosoniden angehörten, vgl. E. Hlawitschka, Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 8), Freiburg 1960, S. 158-162; S. Konecny, Die Frauen des karolingischen Königshauses. Die politische Bedeutung der Ehe und die Stellung der Frau in der fränkischen Herrscherfamilie vom 7. bis zum 10. Jahrhundert (Dissertationen der Universität Wien 132), Mgen 1976, S. 103-105. 3) Die Urkunden der Karolinger 3. Die Urkunden Lothars I. und Lothars II., cd. Th. Schieffer (MGH Diplomata), Berlin 1966, erster Beleg Gunthars als Kaplan vom 2. Januar 858, Nr. 7, vgl. S. 19f.. 374f.; F. \V. Oediger, Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter. Bd. 1: (313- 1099), Bonn 1954-1961, Nd. 1978, (= REK) Nr. 16; J. Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige. Bd. I: Grundlegung. Die karolingische Hofkapelle (MGI{ Schriften 16,1), Stuttgart 1959, S. 134; F. W. Oediger, Das Bistum Köln von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jhs. (Geschichte des Erzbistums Köln. Bd. 1), Köln 1972, S. 87f.; Series Episcoporum Ecclesiae Catholicae Occidentalis, hg. O. Engels/S. \\einfurtcr. Bd. V. 1: Archiepiscopatus Coloniensis, Stuttgart 1982, S. 14-16; R. Schieffer, Der Bischof zwischen Civitas und Königshof (4. -9. Jh. ), in: Der Bischof in

seiner Zeit. FS Joseph Kardinal Höffner, hg. P. Berglar/O. Engels, Köln 1986, S. 17-39, hier S. 30f.; \V. Georgi, Erzbischof Gunthar von Köln (850-8631 + nach 871). Tyrann oder piissirnus doctor? In: Geschichte in Köln 36 (1994), S. 5-31.

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Lothars Hoffnungen auf die Revision der Reichsteilung von 855 als unbegründet erwiesen, so daß er, da das Bündnis mit Hukbert hinfällig wurde, Thcutberga im folgenden Jahr verstieß und gegen

ihren Bruder zu Felde zog. ' Aus den

chemaligenVerbündeten im Kampf um das Erbe Kaiser Lothars I. waren erbitterte Feinde geworden. Der Bündnis- und Erbvertrag Lothars II. mit Karl von der Provence besiegelte die politische Neuorientierung. ' Die verstoßeneTheutberga mußte der König allerdings auf Druck scincsAdels wiederaufnehmen. Mit dieser Entscheidung fand sich Lothar jedoch nicht ab. Er stellte die Gemahlin vor ein weltliches Gericht, vor dem sie wegen Unzucht mit ihrem Bruder undAbtreibung angeklagt wurde. Ein auf Rat des Adels und der Bischöfe beschlossenes Gottesurteil erwies jedoch die Unschuld der Königin. ' Sie blieb daher an Lothars Seite. 859 erhielt der König anscheinend neue Informationen über die Vorwürfe, als er sich mit seinem Bruder Kaiser Ludwig II. traf. Damals trat er den südlichen Teil seines Reiches jenseits des Jura, also den Herrschaftsbereich Hukbcrts, an Ludwig ab. Erselbst war wohl nicht in der Lage, den Bruder seiner Gemahlin zu entmachten. ' Nunmehr nahm Lothar seine Scheidungspläne wieder auf und wandte sich an seine Bischöfe um Rat. Erst ab diesem Zeitpunkt scheint Erzbischof Gunthar von Köln mit dem Verfahren befaßt. Wie das Protokoll der Aachener Synode vom 9. Januar 860 zeigt, war er der maßgebliche Berater und Vorsitzende der Versammlung. Ihm hatte Theutberga ihre (angeblichen) Verfehlungen gebeichtet. Neben Gunthar waren noch der ErzbischofTheudgaud

vonTrier, die BischöfcAdventius von Metz, Franco von Lüttich, die Äbte Hegil

von Prüm und Odeling von Inden anwesend. ' Die Versammlung stellte fest, daß

4) R1 1282b, Aufbnich zur Heerfahrt 28.12.856,1283a; Parisot, Royaume (wie Anin. 2), S. 119f. 5) RI 1283b; R. Poupardin, Lc Royaume de Provence sous les Carolingicns (855-922? ) (Bibliothi quc`, de I'Ecolc des Hauces Etudes 131), Paris 1901, S. 1-40, hier 16-20; J. Calmctte, La diplomatic Carolincienne, Paris 1901, S. 69-113, zu den Konflikten der Zeit. 6) Hinkmar von Reims, 'De divortio Lotharii Regis et Theutbergae Reginae', cd. L. Böhringer (NIGH Concilia 4, Suppl. t, 1992). S. 114.120 (libellus septein capitulorum), Einleitung S. 5f.; RI 1284a; Zu den gennanischen Rechtsvorstellungen: R. Kottje, Eherechtliche Bestimmungen der genpanischen Volksrechte. in: Frauen in Spätantike und Frühmittelalter. Lebensbedingungen- Lcbcnsnonnen-Lebensformen, hg. W. Affcldt, Sigmaringen 1990, S. 211-220, hier S. 213,217- 220. T. Bauer, Rechtliche Implikationen des Ehestreites Lothars 11.: Eine Fallstudie zu Theorie und Praxis des geltenden Eherechts in der späten Karolingerzeit, in: ZRG Kan 80 (1994), S. 41- 87, hier 52-61. Vgl. die Rezension in: DA 50 (1994), S. 738. 7) RI 12162,1289c: Parisot, Royaumc (wie Anm. 2), S. 1331.; Calmctte, Diplomatie (wie Anm. 5), S. 71-73; H. Hecs, Studien zur Geschichte Kaiser Ludwigs II., Diss. Regensburg 1973, S. 57f.; De divortio (wie Anm. 6), Einleitung, S. 8f. 8) De divortio (wie Anm. 6). S. 1201.; RI 1289i, 1289e; REK 173; NI. Sdralek, Hinkmar von Rheines kanonistisches Gutachten über die Ehescheidung des Königs Lothar 11. Ein Beitrag zur Kirchen-, Staats- und Rechts-Geschichte des 9. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1881, S. 58-76; Konecny. Frauen (wie Amn. 2). S. 107,115; 1V. Hartmann. Die Synoden der Karolingcrzeit im Frankenreich und Italien (Konziliengeschichte). Paderborn 1989, S. 274-278; T. Dauer, Kontinuität und Wandel synodaler Praxis nach der Reichsteilung von Verdun: Versuch einer Typisierung und

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der König keine eheliche Gemeinschaft mehr mitTheutberga führen könne; diese

solle ihre Sünden im Kloster büßen, so wie sie es zuvor selbst gewünscht habe. Im Februar hielt Lothar II. in Aachen eine Reichsversammlung ab, in deren Rahmen erneut eine Synode zusammentrat. Nach entsprechenden Vorbereitungen

und Einladungen waren nun auch Hatto von Verdun, die westfränkischen Bischöfe Hildegar von Meaux, Wenilo von Rouen und aus dem provencalischen Reich Hilduin von Avignon anwesend. Erzbischof Hinkmar von Reims war geladen, lehnte sein Erscheinen jedoch ab. Nachdem Theutberga erneut ihre Schuld bekannt und ein schriftliches Geständnis überreicht hatte, bestätigten die Bischöfe die verhängte Buße? NachAbschluß der beiden Synoden des Jahres 860 deutete noch nichts darauf hin, daß Lothars Scheidungsbegehren und die Unterstützung der Bischöfe für den König sich zu einer das ganze Frankenreich

erschütternden politischenAffaire entwickeln sollte.

Im Rahmen des weiteren Verfahrens kommt dem Wandel der Eheauffassung

eine entscheidende Bedeutung zu. Von kirchlicher Seite galt nur die dotierte Ehe, die durch die Einsegnung des Priesters geschlossen wurde, die germanische Muntehe, in der die Frau aus dem Schutz ihrer Familie in den Schutz des Mannes überging, als rechte Ehe. Eine Verstoßung der Frau oder Scheidung und Wiederheirat eines Ehepartners wurden somit erschwert.!, Erzbischof Hinkmar

von Reims, der einflußreiche Vertraute Karls des Kahlen, nach Meinung Carlrichard Brühls der 'gerissenste Advokat' des Königs", vertrat in seinem Gutachten 'De divortio Lotharii regis' eine streng kirchenrechtliche Position, die es Lothar II. erschwerte, nach einer Scheidung von Theutberga erneut eine Ehe zu schließen - selbst wenn sich ihr Schuldbekenntnis als freiwillig gegeben

Einordnung der karolingischen Synoden und 'concilia mixta'von 843 bis 870, in: AHC 23 (1991), S. 11-115, hier 49,80Anm. 139; H. H. Anton, Synoden, Teilreichsepiskopat und die Herausbildung Lotharingiens (859-870), in: Herrschaft, Kirche, Kultur. FS F. Prinz, hg. G. Jenal (Monographien

zur Geschichte des Mittelalters 37), Stuttgart 1993, S. 83-124, hier 103-108. 9) RI 1291a; 11. Schrörs, HinkmarErzbischof von Reims. Sein Leben und seine Schriften, Freiburg 1884, S. 183f.. zur Einladung durch Advcntius von Metz. Zur zweiten Synode die in Anm. 8

genannte Literatur und Bauer. Kontinuität (wie Anm. 8), S. 56,103 Anm. 274-275, 'concilium mixtum'. 10) S. Hellmann, Die Heiraten der Karolinger, in: FS K. M. Heigcl. München 1903, Nd. S. Hellmann, AusgewählteAbhandlungen zur Historiographie und Geistesgeschichte des Mittelalters, hg. H. Beumann, Darmstadt 1961, S. 293-391; Th. Schielfer, Eheschließung und Ehescheidung im Hause der karolingischen Kaiser und Könige, in: Theol. prakt. Quartalschrift 116 (1968), S. 37-43; Konecny, Frauen (wieAnm. 2), S. 86-91,111-114.147-150; R. Kottje, Kirchliches Eherecht

und päpstlicher Autoritätsanspruch. Zu den Auseinandersetzungen über die Ehe Lothars 11., in: Aus Kirche und Reich. FS F. Kempf, hg. H. Mordek, Sigmaringen 1983, S. 97-103.; De divortio (wie Anm. 6), Einleitung, S. 4-26; Bauer, Ehestreit (wie Anm. 6), S. 61-70,81f. 11) C. Brühl, Hinkmariana, in: Ders., Aus Mittelalter und Diplomatik. Gesammelte Aufsätze. Bd. 1, Hildesheim 1989, S. 292-322, hier S. 302f.; Ders., Deutschland-Frankreich. Die Geburt zweier Völker, Köln 1990, S. 3581.

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erwies und nicht als erpreßt. Letzteres beteuerte sie später Papst Nikolaus

gegenüber. ''- Da die eherechtlichen Fragen hier nicht ausführlicher behandelt

werden können, sei angemerkt, daß das Urteil der lotharingischen Bischöfe

alten Normen entsprach und nicht nur Halbwahrheiten und eine Beugung des Rechts darstellte, wie die Gegner Lothars beteuerten. 13 Zwei weitere Eheaffären der Zeit spielten desgleichen eine wichtige Rolle. Es sind die Streitigkeiten um Boso, den BruderTheutbergas, und seine exkommunizierte Gemahlin Ingeltrude, ferner der Eheschluß des Grafen Balduin von Flandern mit der schon zweimal verwitweten Tochter Karls des Kahlen, Judith, gegen den Willen des Vaters. In beiden Fällen bot Lothar II. und wahrscheinlich auch Gunthar den `Verfolgten' Schutz im Mittelreich. "

Sucht man allerdings nach den Gründen, die zur Absetzung Gunthars 863 führten, ist es notwendig, verschiedencAspekte zu berücksichtigen, die in ihrer Gesamtheit erst die Entscheidung Papst Nikolaus I. verständlich - wenn nicht sogar als zwangsläufig - erscheinen lassen. An erster Stelle ist an die Situation des Frankenreiches nach dem Vertrag vonVerdun 843 zu denken. DreiTeilreiche und drei Könige bestimmten bis 855 die Geschicke des immer noch als Einheit

verstandenen Gesamtreiches. Kaiser Lothar I. teilte 855 das Mittelreich unter seine drei Söhne auf, so wie oben erwähnt. Das Eintrittsrecht der Söhne und das Anwachsungsrecht der Brüder eines Herrschers bestimmten im dauernden Wechselspiel das politische Kalkül beim Tod eines Königs. Im Hinblick auf die beiden Brüder seines Vaters hatte sich Lothar II. 855 durch seine Königserhebung in Frankfurt mit Ludwig dem Deutschen und 857 durch das Bündnis mit Karl dem Kahlen'-' von 1Vestfranken verständigt. Trotzdem blieb das Verhältnis zu Karl dem Kahlen nicht ungestört, da Lothar 11.858 beim Einfall Ludwigs des

12) MGH Epistolac VI. Epistolae Karolini aevi 4, cd. E. Dümmler, E. Percls (1925), (weiter MGH Epp 6) Nr. 3. S. 268f.; RI 129 In. Sdralek, Hinkmar, (wie Anm. 8), S. 125-144; Dc divortio (wie Anm. 6), Einleitung, S. 28-31; Bauer, Ehestreit (wie Anm. 6), S. 70-76. - Ein Problem ist der Inzestvorwurf, weil auch Hukbert hätte angeklagt werden müssen. Zudem lag das Verbrechen vor der Eheschließung. Der Beweis des Verbrechens war der eigentliche Ansatzpunkt in der Gegenargumentation, zumal das Gottesurteil die Unschuld Theudbergas 'erwiesen' hatte. 13) Reginonis Chronica, cd. F. Kurze (MGH SS rer. Germ. in us. schol., 1890), S. 80ff.; Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 3, hg. R. Rau (Freiherr vorn Stein Gedächtnisausgabe 8), Darmstadt 1969, S. 179-319, hier S. 192-194 (864) (alle weiteren Angaben beziehen sich auf die Ausgabe von R. Rau); Konecny, Frauen (wicAnm. 2), S. 114-117 zur Propaganda; Georgi, Gunthar (wie Anm. 3), S. 14-20. 14) RI 1290b, 1291 (Koblenz 860), 1297b, 1298 (Savonnie'res 3. November 862); REK 178, (860); Th. Schieffer (Hg. ). Germania Pontificia. Bd. 7, Provincia Coloniensis 1: Archidiocesis Coloniensis. Göttingen 1986 (= GP VII), Nr. 21, Nikolaus 1. forderte von Gunthar und dem übrigen Episkopat, Ingeltrude zurückzusenden; De divortio (wie Anm. 6), Einleitung, S. 6,25,30; Vgl. Anm. 133. 15) RI 1281b, 1282; Boshof, Lotharingien (wie Anm. 1), S. 129-133; J. Nelson, Charles the Bald, London 1992, S. 186-196.

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Deutschen ins Westreich sich zuerst neutral verhielt und dann ein Bündnis mit diesem schloß. ' Nach dem Scheitern des Unternehmens erneuerte Lothar das Bündnis mit Karl am 12. Februar 859. " Zwischen seinen beiden Onkeln verstand er sich bis zum Abschluß des Friedens von Koblenz am 1. Juni 860 als Vermittler und stellte seine Bischöfe und besonders Erzbischof Gunthar in den Dienst der Sache. " Bereits dieses Geschehen verweist auf die Gefahr, in der das Mittelreich schwebte, nämlich zwischen den mächtigen Nachbarn zerrieben zu werden.

Zu berücksichtigen ist ferner der unzufriedene Adel, dessen Mißstimmung

sich im West- und Ostfrankenreich inAufständen Bahn brach und zu Bündnissen der Söhne Ludwigs und Karls mit dem Adel oder auch fremden Völkern, den Bretonen, Wenden oder Mährern führte. " Doch die Aufständischen fanden

oftmals Aufnahme und Entschädigung in den Nachbarreichen - signifikant hierfür ist die Flucht Hukberts zu Karl dem Kahlen. Von den Reichsteilungen der Jahre 843 und 855 waren aber nicht nur die Adligen, mit ihren Lehen und demAllod in verschiedenen Reichsteilen, sondern auch der Episkopat betroffen. Seine Besitzungen lagen jetzt in verschiedenen Reichen, und die Kirchen-

provinzen waren geteilt. Das zu Reims gehörige Bistum Cambrai lag im Mittclrcich, und der östliche Teil der Erzdiözese Köln mit den Bistümern Münster, Osnabrück, Minden und bis 8621864 Bremen gehörten zum Reich Ludwigs des Deutschen. Einer Zusammenlegung des Erzbistums Hamburg mit dem Bistum Bremen im Jahre 847 hatte Gunthar sich nach seinem Pontifikats-

antritt verweigert 20 Hinzu treten die Konflikte im westfränkischen Episkopat,

16) RI 1287a; Parisot, Royaume (wie Anm. 2), S. 121-140. 17) RI 1288a; Calmctte, Diplomatie (wie Anm. 5), 52-68; Zu den Ereignissen im Überblick: Schicffer, Karolinger (wie Anm. I), S. 154f. 18) RI 1290b, 1291; Anton, Synoden (wie Anm. 8), S. 90-103, zu den lotharingischen Bischöfen; Zu Gunthar von Köln: REK 169-171,175; \V. Gcorgi, Lcgatio uirum sapicntem requirat. Zur Rolle der Erzbischöfe von Köln als königlich-kaiserliche Gesandte, in: Köln - Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. FS. O. Engels, hg. S. \\'einfurtcr/H. Vollrath. Köln 1993, S. 61-124, hier S. 97f. 19) Dümmler, Ostfränkisches Reich, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 21-25,153f.; \V. Schlesinger, Die Auflösung des Karlsreiches, in: Karl derGroße. Lebenswerk und Nachleben. Bd. I. Persönlichkeit und Geschichte, hg. H. Bcumann, Düsseldorf 1967', S. 792-857, hier 826-857; K. Brunner, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 25), \\ ien 1979. S. 120-148; Riche, Karolinger (wie Anrn. 1), S. 206-236; Schieffer, Karolinger (wie Anm. 1), S. 143-159. 20) REK 164, zu 850; \V. Seegrün, Das Erzbistum Hamburg in seinen älteren Papsturkunden (Stud. u. Vorarb. zur Germania Pontificia 5). Köln 1976, S. 351. B. \Vavra, Salzburg und Hamburg. Erzbisturnsgründung und Missionstätigkeit in karolingischer Zeit (Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 179), Berlin 1991, S. 256-258.

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in die Erzbischof Hinkmar von Reims verwickelt war. '-' Zeugnis hierfür ist der Versuch durch die Pscudoisidorischen Dekretalen, die Macht-position des Metropoliten zu beschränken. '-' Besonders der lotharingische Episkopat nahm sich der Sache Bischofs Rothard von Soisson gegen Hinkmar an. 23

Einen weiteren Faktor stellt die Steigerung des Ansehens und der Autorität des Papsttums im Frankenreich dar. Ein Grund für diese Entwicklung waren die zahlreichen an den Stuhl Petri gerichteten Appellationen, die das Papsttum in vielerlei Hinsicht zur obersten, letztlich entscheidenden Rechtsinstanz werden ließen. Erzbischof Guntlhar von Köln selbst ist hierfür ein gutes Beispiel. Er war nachweisbar der erste Kölner Erzbischof, der das Pallium vom Papst erhielt. 24 Als 862 auf dem Herrschertreffen von Mainz zwischen Lothar II. und Ludwig von Ostfranken über die Vereinigung des Erzbistums Hamburg mit dem Bistum Bremen verhandelt wurde, erklärte Gunthar, nachdem er hiergegen kirchen- rechtliche Einwände vorgebracht hatte, auf Druck der anwesenden Bischöfe und Könige: si apostolica auctoritate firmaretur; ex se quoque raun: esse. So überliefert es die Vita Anskari»

In Papst Nikolaus I. erwuchs nicht nur Lothar II. und seinen Bischöfen, sondern auch Kaiser Ludwig II. ein entschiedener Gegner, der die Machtposition des Papsttums zu einem frühen Höhepunkt führte. 26

Die Elhcaffäre Lothars II. und die Politik der Könige bis zur Synode von Metz ini Juni 863

Nicht alle Bischöfe des Mittelreiches waren von der Rechtmäßigkeit der Entscheidung von Aachen überzeugt. Sie wandten sich an Erzbischof Hinkmar von Reims, den sie um ein Gutachten - `De divortio' - baten. Hinkmar bestritt die Zuständigkeit einer Reichssynode und forderte die Einberufung einer

21) Schrörs. Hinkrnar (wvieAnrn. 9). S. -50-71.237-292,315-358; J. Devisse, Hincinar. Archevcque dc Reims. 3 Bde., Genf 1975, S. 565-670. 22) Fl. Fuhnnann, Einfluß und Verbreitung der pscudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neueste Zeit (MGH Schriften 24,1-3), Stuttgart 1972-1974, S. 237-272. 23) Vgl. Anm. 109-I11. 24) GP VII 20; Series Episcoporum (wie Anm. 3), S. 15, Anm. 101, vgl. hier S. 30f. 25) Ritnberti Vita Anskarii, in: Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches, hg. W. Trillinich, R. Buchner (Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe 11), Darmstadt 19682, S. 16-133, hier 72, c. 23; REK 180. Vgl. Anm. 20,46, 169. 26) J. Haller, Das Papsttum. Idee und \V9rklicltkeit. Bd. 2: Der Aufstieg, Umch 1950, Nd. 1962, S. 63-117, bezeichnend sind die Kapitelüberschriften: �Höchste Ziele" und �Abgleiten und Versinken"; E. Ewig. Die Kirche im Abendland vom Tode Ludwigs des Frommen bis zum Ende der Karolingerzeit, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hg. H. Jedin, Bd. 3,1. Freiburg 1966, Nd. 1985, S. 160-172: Die Geschichte des Christentums, Bd. 4: Bischöfe, Mönche und Kaiser (642-1054), hg. A. Vauchcz u. a., dt. Ausgabe E. Boshof, Freiburg 1994, S. 712-718.

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fränkischen Generalsynode 2'Als jedoch Theutberga zu ihrem Bruder Hukbert ins Westfränkische Reich floh, fand sie in Karl dem Kahlen einen Fürsprecher. 28

Gleichzeitig appellierte sie an Papst Nikolaus I., beteuerte ihre Unschuld und erklärte, ihr Geständnis auf den Synoden nur unter Zwang abgelegt zu haben. 29

Nun wandten sich auch Lothar H. und seine Bischöfe an den Papst, baten um Rat und warnten vor den überall verbreiteten Lügen. Theudgaud von Trier,

Bischof Hatto von Verdun, Liutfrid, der Onkel Lothars 1I., und Walthar wurden 860 und 861 nach Rom entsandt. 30 Ein grelles Licht wirft eine Stelle im Brief des Königs an Nikolaus I. auf die sich zuspitzenden Auseinandersetzungen: Et

quidem nostri episcopi, veritatis discipuli, nºagistri erroris esse non possunt,

qui ortodoxi patris catholicae ei apostolicae fidei veri probabuntur esse cultores. 31 Im folgenden Jahr wehrten sich dann die Bischöfe in ihrem Beglaubigungsschreiben an Papst Nikolaus gegen durch GesandteTheutbergas

verbreitete Anklagen 32 In dieser Situation suchte Lothar II. den Schulterschluß mit Ludwig dem

Deutschen. 33 Dieser geriet unerwartet durch einen Aufstand seines Sohnes Karlmann in Konflikt mit Karl dem Kahlen. Die Parteigänger des ostfränkischen Königssohnes wurden vertrieben und fanden im Westreich Aufnahme. -' Die

Spannungen zwischen den Reichen nahmen noch zu, als Karl von Westfranken

a quibusdanº invitalus in das provencalische Reich einfiel, quoniam Karolas,

Hlotlºarii quondam inºperatoris filius, inutilis atque inconveniens regio honori

27) Dc Divortio (wie Anm. 6). S. 112 und Einleitung 20, die Namen der Bischöfe sind unbekannt. 28) Annales Bertiniani, cd. F. Grat u. a.. Paris 1964; Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, hg. R. Rau. Bd. 2 (Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe 6), Darmstadt 1969, S. 8-287 (die weiteren Angaben nach R. Rau), hier 104, zu 860, Uxor Lotharii Baretts odium viri sui a(que insidias, ad fratrenr mum Hucbertunr in regno Karli aufugit. RI 129la. 29) Wie Anm. 12. 30) MGH Epp 6, Nr. 1-3, S. 209-212,213. Z. 38f.; RI 1292a, 1293; REK 179; GP VII 22; Regesta Pontiftcurn Romanorum. Germania Pontificia X. Provincia Trevercnsis I. Archidioccesis, hg. E. Boshof, Göttingen 1992 (weiter GP X), Nr. 21,22. 31) MGH Epp 6, S. 210, Z. 8f. 32) MGH Epp 6, S. 211, Z. 35-39,... nostrarn nondunt definitant senlentianr sinistra interpretatione pervertere conannrr, praesertirrr cunt rostra unanimitas de uuore nostri principis (si forte taor (lici debeat, quae se gernrano incestrt utaculaverat) nihil aliud hacte nrs rletenainaverit, nisi quad perspecto suae confessionis libello publice coafttent rernedio poenitenti(te subvenire decrevinurs. 33) Annales Bertiniani (wie Anm. 28), zu 860, S. 104, Lotharius rex ntetuens avuncultun suunr Karbon, Ludoico regi Germaniae sociatur atque ob eandenr societatent portent regni std, id est Nelisaciant, tradit. RI 1293a. 34) Annales Bertiniani (wie Anm. 28), zu 861, S. 104, Qui cunt Adalardo, Ynrrirttrudis reginae (von Westfranken) avunculo. sue aunt: propinquo. queer llladrarius painri sui llludotvici faetione insequebanur, Karolunr adeunt, a quo benigne suscipiuntur ei honoribus consolantur. S. 107, Karl der Kahle übergab seinen Sohn Ludwig noch 861 Adalard und sandte ihn gegen die Normannen. RI 1280, I292, Adalard gehörte zu den treuen Grafen Lothars 11. vie seine Erwähnung

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ErjiisclrojGuntlmr von Köln 9

ei nomini ferebatur. 35 Doch der Feldzug schlug fehl. Wäre er hingegen erfolgreich gewesen, hätte Lothar II. den mit Karl von der Provence geschlossenen Erbvertrag nur noch mit Gewalt durchsetzen können. Spätestens dieses Vorgehen Karls des Kahlen, das unter anderem auch Hukbert wieder die Aussichten auf sein Herrschaftsgebiet eröffnet hätte, mußte Lothar 11. deutlich machen, daß

auch sein Reich ohne legitimenThronfolger Karl mehr oder weniger ausgeliefert war. 36 In diesem Zusammenhang ist eine Entdeckung Karl Schmids von Bedeutung. Er brachte den Königseintrag des Verbrüderungsbuches von Remiremont (439) Donntus Lotharius rer, donutus Hlttdouuictts rex, damn us Hludoºuticus re-r, donuºus Karohts rer, dotnnus Karolas rer und die Nennung weiterer 59 Personen, die teilweise Verwandte und Getreue der Könige waren, 37 in Verbindung mit dem Protest Lothars und Ludwigs bei Karl dem Kahlen in Ponthion. 38 Aus diesem Eintrag schließt Schmid auf ein Herrschertreffen im Dezember 861. Ist diese Datierung des Gedenkeintrages zutreffend, dann fallen besonders zwei Namen der im Anschluß genannten Personen (Berta, Rutrudis,

in den Urkunden zeigt. MGH DLoII. 5,14; Dümmler, Ostfränkisches Reich 2 (wie Anm. 2), S. 21-25; Zu Adalhard 1. vgl. E. Hlawitschka, Die Anfänge des Hauses Habsburg-Lothringen. Genealogische Untersuchungen zur Geschichte Lothringens und des Reiches im 9., 10. und 11. Jh. (Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 4), Saarbrücken 1969, S. 164f.; Brunner, Gruppen (wie Anm. 19), S. 137,143. 35) Annales Beniniani (wie Anm. 28), zu 861, S. 106; Poupardin, Provence (wie Anm. 5), S. 26- 31. 36) Die hier vorgenommene Beurteilung hängt eng mit der oft diskutierten Frage zusammen, ob die Kinderlosigkeit der Thcutberga und damit das Fehlen eines legitimen Thronerben seit Beginn der Eheaffäre das maßgebliche Motiv Lothars II. war. Vgl. Dc divortio (wie Anm. 6), Einleitung, S. 12-15 mit der Forschungskontroverse. Die hier vorgenommene Bewertung betrifft nicht Böhringers Befund, die Unfruchtbarkeit sei �erst in derEndphase des Streites vorgebracht" worden. (S. 15). 37) Liber memorialis von Remiremont, cd. E. Hlawitschka, K. Schmid, G. Tellenbach (MGH Libri Memoriales 1), Hannover 1970; K. Schmid, Ein karolingischer Königseintrag im Gedenkbuch von Remiremont, in: FMSt 2 (1968), S. 96-134, hier 100-103,115-123. Da unter den Söhnen Ludwigs des Deutschen Karlmann fehlt, datiert er, da ein Präsenzeintrag anzunehmen ist, diesen in die Zeit des Aufstandes. Problematisch hingegen scheint bei der Datierung zwischen dem 11.11.861 und dem 23.3.862, den nachgewiesenen Aufenthalten Ludwigs in Bayern, daß die Söhne Ludwigs den rert-Titel führen. Wenn auch Karl von der Provcnce unter den Teilnehmern gewesen ist, verwundert ferner, daß dieser nicht als Absender des Protestschreibens an Nikolaus 1. erscheint (vgl. den Protest an Karl in Anm. 38), das Schmid während dieses Treffens abgefaßt vermutet. MGH Epp 6, Nr. 3, S. 212-214; RI 1297, datiert zum Herrschertreffen von Mainz 862, nach 29. April (1296b). Anton, Synoden (wie Anm. 8), S. 108, geht von einer gleichzeitigen Bischofsversammlung aus. 38) Annales Bertiniani (wieAnm. 28), zu 861, S. 106,108, Ibique missaticuni exParte Hludoxwici fratris sui ei Hlotharii nepotis sui ab Adventio blettensium civitatis episcopo ei Liurardo comite delatttnt audit ensque absolvit ...; RI 1295a; Anton, Synoden (wie Arun. 8), S. 94f., 113f., zur besonderen Rolle des Adventius.

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Uhgo, Enuua, Uualdrada, Doda, Irnºingart, Irwin gar! ) auf: R'aldrada, die

Friedeifrau Lothars II., und Hugo, ihr Sohn. Somit läge der erste Beleg für den

unehelichen Sohn Lothars II. vor, der sonst erstmals am 18. Mai 863 in einer Stiftungsurkunde für das Peterskloster bei Lyon genannt wird 39 Bei Bertha und Irmingard (? ) könnte es sich ebenfalls um Kinder Lothars nmitR'aldrada handeln, deren Namen auch anderweitig belegt sind 40 Rotrud ist der Nanme der Schwester

Lothars, Emma hieß die Gemahlin Ludwigs des Deutschen, und Doda ist der Name der Friedelfrau Kaiser Lothars I: " Die zweite Inningard des Eintrags könnte die gleichnamigeTochter Ludwigs vvon Ostfranken sein. Vielleicht schon hier und nicht erst anläßlich des Herrschertreffens in Mainz im Mai 862 verfaßten Lothar und Ludwig ein Protestschreiben gegen den Friedensbruch Karls des Kahlen und forderten Nikolaus zum persönlichen Erscheinen auf. ''

Am 29. April 862 trat in Aachen erneut eine Synode zusammen. Nachdem Lothar II. eine Besserung seines Verhaltens gelobt und erklärt hatte, er werde in

allem dem Rat der Bischöfe folgen, überreichte er den Synodalen seine Klageschrift gegen Theutberga. Mit Berufung auf ihr schriftliches Schuld- bekenntnis und auf ihre Eheunfähigkeit erklärten die Teilnehmer die Unrecht-

mäßigkeit der Ehe. Eine neue Ehe sei dem König daher nicht zu verwehren: "

Der König seinerseits wandte sich an Nikolaus 1., teilte das Urteil mit und gelobte,

39) MGH DLoll. 19. 40) Parisot, Royauinc (wic Anm. 2), S. 144-146; K. F. Werner, Die Nachkommen Karls des Großen bis um das Jahr 1000, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben IV. Das Nachleben, hg. W. Braunfels, P. E. Schramm, Düsseldorf 1967. S. 403-484, Tafel Generation IV, a13 - a16, gibt als Geburtenfolge der Kinder Lothars 11. an: Hugo *c 855/60, v 863 v 18. Gisela, *c 860/65,13erha, *c 863, ? Ennengard. Brühl, Hinkmariana (wie Anm. II), S. 302, Anm. 13, nennt Irmgard nicht. Vgl. hier S. 16 - 18. 41) Schmid, Königseintrag (wie Anm. 37), S. 103-105, weist darauf hin, daß es sich uni typisch karolingische Frauennamen handelt, die eine genaue Identifizierung erschweren. 42) MGH Epp 6, Nr. 3, S. 212-214, hier 213, Z. 36f..... ur ex nostra unanimitate null sinisinun nihilque falsidicunn credere dignetur restra sancta paternitas... (Aus diesen Zeilen spricht abermals die Furcht vor Verleumdung durch den politischen Gegner. ), Z. 13-16, .... quad Carolas nmior coram instincn: fideles nnstms Eine lade sollicitat. utsub praeiextu er occasione potestatis indebitae

quaedan: non referende praciudicans in regen alten a Deo concesso praecipitanter aspiret, cum: apostolus dicat: 'Nom esi cnin: potestas nisi a Deo'. RI 1297; vgl. hier Anni. 45. - Eine Stelle des Briefes zeigt, daß bis zur Jahreswende 861/2 noch keine neuen Entscheidungen in der Eheangelegenheit getroffen worden waren: Sed sicut per Liutjridunr fidelen: nostrun: atque illustrissinwn: comiten: vobis dudum significariunus.... (Z. 38f. ) Dies bezöge sich auf die Gesandtschaft Lothars 11. aus dem Jahre 860! (So S. 2! 3, Anin. 4). Vor Weihnachten 861 protestierte Liutfrid bei Karl dein Kahlen in Ponthion, vgl. Anm. 38. 43) Sacroruin conciliorum nova et amplissirna collectio, l: g. D. Mansi. Bd. 15, Venedig 1770, Nd. Leipzig 1902, Sp. 617, uxoren: dncere. filins procreare retare nnn possunms; RI 12961; Harntann, Synoden (wie Anrn. 8), S. 278-280; Bauer, Kontinuität (wie Anm. 8), S. 56,104 Anni. 279-282; De divortio (wie Anm. 6), Einleitung, S. 14; Anton, Synoden (wie Anrn. 8). S. 108.

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Er, LiscInf Gundmr von Köln 11

bis zu einer definitiven Entscheidung des Papstes mit weiteren Schritten warten zu wollen. ` Lothar war sich demnach bewußt, welche Bedeutung seine Appellation und die derTheutberga für das Verfahren hatte. Nach dem Einfall Karls des Kahlen in die Provence war es nach der Entscheidung ebenso dringlich, Ludwig den Deutschen noch enger an sich zu binden. Dies geschah vermutlich während des Herrschertreffens von Mainz. 15 Den Preis für die Unterstützung zahlte wahrscheinlich Gunthar von Köln, da er entgegen seines früheren Standpunkts Bremen aus dem Kölner Metropolitanverband entließ. ̀

Die folgenden politischenAktivitäten gingen jetzt von Ludwig von Ostfranken aus. Bischof Altfried von Hildesheim begab sich in Begleitung von Lothars Gesandten zu Karl nach Compiegne. Dieser lehnte eine Unterredung mit Graf Nanthard und Berandus, dem Kaplan Lothars, über die causa Lotharii ab. Er bat aber um ein Treffen mit Ludwig, bevor er seinerseits die geforderte Zu- stimmung zu den Beschlüssen derAachenerSynode in Erwägung ziehen würde. Am 3. November 862 trafen dann die drei Könige in Savonnieres zusammen. ` Doch Karl und die westfränkischen Bischöfe lehnten zuerst die Verhandlungen mit Lothar ab"

Karls Klagen umfassen verschiedene Punkte. Lothar warf er vor, den Frieden von Koblenz nicht beachtet zu haben, stellte jedoch den eigenen guten Willen für eine Zusammenarbeit heraus. Bereits Dümmler bemerkte hierzu, daß doch eher in Karl der Friedensbrecher zu erkennen sei, der 861 in die Provence eingefallen war. 19 Ferner wurde Lothar beschuldigt, der exkommunizierten Ingel- trude, die ihrem Gemahl Boso, dem Bruder Hukberts und der Theutberga, entflohen war, in seinem Reich sicheren Aufenthalt zu gewähren und damit gegen päpstliche Anordnungen zu verstoßen. Ebenso habe der König Karls Tochter Judith und ihren Mann, dem Grafen Balduin von Flandern, die sich

44) Mansi (wieAnm. 43), Sp. 615-617; MGH Epp 6, Nr. 6, S. 272, das Schreiben vorn 23. November 862: RI 1296a. 45) RI 1296b; Dümmler, Ostfränkisches Reich (wie Anm. 2), S. 33-35, Sommer. 46) Vie Anin. 20,25. 47) J. Prinz, Ein unbekanntes Aktenstück zum Ehestreit König Lothars II., in: DA 21 (1965), S. 249-263. Interessant für den Zusammenhang ist in der Edition des Altfried-Bricfcs an Ludwig die Ergänzung des Textes über die Position Karls im Ehestreit (S. 262f. ) [... ei nnandata donnini Apostolici .... ] audire ei salt-are voluerit... Yon Prinz sinngemäß ergänzt aus dem Text von Savonnicres. Hier S. 12f.. 48) Annales Bertiniani (wie Anm. 28), zu 862, S. 114. Tandem Karolas cum episcopis qui secant erant Hlrtdou"ico ei episcopis qui erant cum eo scripto capintlatin: ostendit, pro quibus Hlodmrio conununicare nolebat, nisi pmfrteretur, quod inde nut certain redderet rationenr auf secundunt auctoritatem dignam osrenderct emendarionem. Calmette, Diplomatie (wie Anm. 5), S. 42-47, bes. 45. 49) Capitularia regum Francorum (NIGH Legum sectio II), cd. A. Boretius Bd. 2, Hannover 1890 (weiter MGH Cap II), S. 159f., c. 1-2; Dümmler, Ostfränkisches Reich, Bd. 2 (wicAnm. 2), S. 42- 46; Mühlbacher, Karolinger (wie Anm. 1), S. 514.

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gegen den Willen des Vaters verbunden hatten und deswegen von den

westfränkischen Bischöfen exkommuniziert worden waren, Schutz geboten. 5°

Dieser Klagepunkt schließt mit einem Zitat aus dem Römerbrief (1.32): Non

solunº qui faciunt. sed qºti consentiunt facientibus digni surrt ntorte. In dercausa

de nxore nepotis nostri Hlotlºarii klagt der Westfranke eingangs, dieser habe

den von ihm und seinen Bischöfen und den anderen hicrAnwesenden erbetenen Rat gehört sed secundunt illud consiliºun erinde non fecit. s' In diesem Kontext

wird ebenso der Vorwurf erhoben, die päpstlichen Mandate mißachtet zu haben.

Ohne den weiteren Ausführungen vorwegzugreifen sei bereits jetzt darauf

hingewiesen, daß diesen Vorwurf Papst Nikolaus I. in der Absetzungssentenz

von Oktober 863 über die beiden lotharingischen Erzbischöfe im folgenden

Jahr ebenso erhob. In den nur wenige Wochen nach dem Herrschertreffen

ergangenen Instruktionen Papst Nikolaus I. vom 23. November 862 für seine beiden Legaten Radoald von Porto und Johannes von Cercia ist von einer Mißachtung der päpstlichen Mandate keine Rede. Vielmehr fordert der Papst

eine genauere Untersuchung, nimmt aber weder für Lothar noch fürTheutbcrga Stellung. "

Die Schlußfolgerung Karls, in dem von Hinkmar von Reims verfaßten Protokoll von Savonnieres, lautet, daß Lothar ein Apostat sei s3 Worauf Karls Absichten zielten, läßt sich aus dem Bericht Hinkmars in denAnnales Bertiniani

nur andeutungsweise entnehmen. Nachdem eine Übereinkunft erzielt war, in der Lothar die Klagen Karls anerkannte und selbst Besserung versprach, sollte der Text der Übereinkunft öffentlich verlesen werden. Hiergegen wehrten sich Lothar und Ludwig von Ostfranken ne innotescerentur populo causne, quas Karolas Hlothario repºttabat... VVertan Karohts contra eorunt t'ota omnibus pleniter notwn fecit... Was wollten die beiden aber nach derAnsicht Hinkmar

50) MGH Cap Ii, S. 160f., c. 4-5, hier S. 161.7-5f. Qualiterauteni nepos roster Jiloiharius non soliun ergo nos ei consanguinimterit nostram, vertun Cl contra Deunt ei sacrant aucioritatent et conununent christianitaient lode egerit. sperr. quill vos nott late!. quod es: plurhois cognition. Zu Judith: Konecny, Frauen (wieAnm. 2), S. 138f., 152f.; Edith Ennen, Frauen im Mittelalter, München 1984, S. 59-63; Dc divortio (wie Anm. 6), Einleitung, S. 17f., Böhringer betont die wechselnden Interessenlagen Karls zwischen 860 und 867/868. 51) MGH Cap II, S. 161, Z. I Of., c. 6 ..., unde ei a nobis ei ab episcopis regni nostri, sed ei ab aliis episcopis praesentibus nobis consiliunt quaesivit ei audivit-, ... 52) MGH Epp 6, Nr. 6, S. 271 f.; JE 2698; RI 1296a. 53) MGH Cap 11, S. 161, Z. 12-18, c. 6. Schmus etiani. quitt ei ad dainmmn apostolicuni pm hoc

transntisit ei ab illo epistolas exinde recedit. Megare quoque non vohuims nos seine. quid dantnus

apostolicus ei illi ei quibusdant episcopis finde n: andavit: er stunts, quad Wegare non possumus nee vohunus, quoniant non debennis. quia dontni apostolici eommendatio ab evangelica verirate ei ab apostolica argue canonica auctoritaie in nullo discordat: ei secundunt manda: unt illius de hoc facto esecunint non audivinuts nee videinus. (Z. 27-29) ..., ei per beatun: Gregoriunt papant in lionielils Ezechielis dicit: Quia sitar ille. qui fide a Deo recedit, apostala est. ita ei iUe, qui a Deo recedit opere, sine dubio apostate es: ', ...

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Erzbischof Gnndmr von Köln 13

von Reims verbergen? Stellen wir die Frage anders: Was versetzte die beiden Könige und ihren consiliarius, den Welfen Konrad, so in Aufregung, daß sie bereit waren, die Einigung von Savonnicres aufs Spiel zu setzen? Die Klagen Karls hinsichtlich der drei Eheaffären beinhalten eine Gemeinsamkeit, nämlich den Vorwurf gegen göttliche und kirchliche Gesetze verstoßen zu haben. Von daher wird verständlich, warum Lothar die Veröffentlichung der Klagen ablehnte. Derchristliche Charakter seines Königtums schien gefährdet, und denAnwesen- den mußte er als herrschaftsunwürdig gelten. Wenn diese Desavouierung das Ziel der westfränkischen Politik war, wie dies die anschließend doch noch abgegebene öffentliche Stellungnahme Karls vermuten läßt, dann erklären sich die mehrfach seit 860 in Briefen an Nikolaus I. wiederholte Beteuerungen Lothars II. von selbst: Er sei ein christlicher König, der seine Pflichten vor allem im Heidenkampf erfüllte ss In diesem Zusammenhang sei an die Begründung für den Einfall Karls in die Provence erinnert: Der König dieses Reiches sei unnütz und nicht würdig den Königstitel zu tragen .

36 Auch wenn das Bild Lothars II. entscheidend von Hinkmar von Reims geprägt worden ist, wird es dadurch nicht unbedingt glaubwürdiger, scheint in ihm doch unver-

54) Annales Bertiniani (wie Anm. 28), zu 862, S. 114,116, Post quarr professionent sub hac conveniencia Karolas et episcopi qui cum eo erant in coin wnionem Hlotlariunt recepenu t, ei scriptas ac cortsiliariis recitatas adnunciationes, quas de illorunt conventu debuerunt populo nunciare, usi consilio praecipue Hludox"ictts ei Hlotlarius Cluronradi, sui consiliarii, Karoli auten: avtatculi, qui superciliosa, sedfrivola ei nec sibi adeo nec pluribus pmfrcun, rare sueto, scientia nitebantr, ne ..., Vgl. NIGH Cap 11, S. 163-165 Adnuntationes; RI 1298; Mühlbacher (wie Anm. 1), S. 515, . Lothar fügte und schmiegte sich, ohne sittlichen Halt entbehrte er auch des Mutes eines Charakters". Diese heute sicherlich nicht mehr akzeptierte Meinung führt jedoch zur Frage, weshalb Lothar nachgab und Ludwig von Ostfranken ihn in dieser Haltung unterstützte. 55) MGH Epp 6, Nr. 1, S. 210, Z. 11-20. Lothar 860 an Nikolaus, ..., quad si aliqua incursio paganonun fines beati Petri vobis caelints comntissos adire tentptaverit auf forte tcrminos auguscissitni i: nperatoris atque mnacissinti gennani nostri Hhtdun"ici, .... nos ac fideles nostros mori ac periculo tradere parali sunuts. sciences esse scripnun: unsere non debenuts mortenr, quae sine dubio perducit ad vitani . Nr. 3, S. 214, Z. 14, Embolum der Bischöfe im Brief Lothars und Ludwigs II. von 861/2 an Nikolaus ..., quia ftdelissinuts defensor est sanctae Dei ecclesiae contra paganorunt infestationun... Nr. 7., S. 218, Z. 26f, Lothar antwortet 864 auf die Nachricht von der Absetzung der beiden Erzbischöfe an Nikolaus Porro nos in ultiinis paene regni nostri ftnibus conunoranles ei erga it festationent paganonun laboriosas excubias servantes, ... Nr. 14, S. 23I f., Z. 43-3..., dum nos fines regni nostri paganonan agntina, pugnante pro nobis Christi dexiera.... ; RI 1293,1297,1304,1313; Anton. Synoden (wie Anm. 8), S. 114-117, zu den herrschafts-theoretischen Äußerungen; Ders., Verfassungspolitik (wie Anm. 2), S. 82f. - Zu den Normanneneinfällen in Lotharingien und den Abwehrkämpfen Lothars 11.: Parisot, Royaurne (wie Anm. 2), S. 325-330; Eugen Ewig. Frühes Mittelalter. Rheinische Geschichte 1,2, Düsseldorf 1980, S. 169-173. 56) Annales Bertiniani (wie Anm. 28), zu 861, S. 106, hier Anm. 35. - Dc divortio (wie Anm. 6), Einleitung. S. 18. ,,..., daß Karl auch damit rechnete, Lothar könnte infolge der Scheidung abgesetzt werden. Diese Möglichkeit eröffnete sich aber erst nach 862163. " - Wie der Text zeigt, wartete Karl sicherlich nicht erst die Entwicklung ab.

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kennbar die westfränkische Propaganda durchs' Mit dem Herrschertreffen von Savonnieres zeitlich eng verbunden ist die

Hochzeit Lothars mit Waldrada. Eine erneute Eheschließung war ihm laut dem

Beschluß der dritten Synode vonAachen erlaubt. In der Forschung ist das Datum

umstritten. Einerseits wird mit Hinweis auf die Annalen von St. Bertin ange-

nommen, die Vermählung habe bereits im September, also vor Savonnicres,

stattgefunden. SB �Lothar,

durch Zauberkünste, wie es heißt, verhext, und von blinder Liebe zu seinem Kebsweibe Waldrada getrieben, deretwegen er seine Gemahlin Theutberga verstoßen hatte, krönte diese seine Beischläferin und nahm sie als Ehegattin und Königin an; dabei waren ihm besonders sein Oheim Liutfrid

und Waltarius behilflich, die eben deswegen ihm so nahe standen, und, unerhört

es zu sagen, selbst einige Bischöfe seines Reiches gaben dazu ihre Zustimmung,

während Freunde von ihm es bedauerten und ihm widersprachen. " Diese

Darstellung gab Anlaß zu der Vermutung, daß die Anklagen Karls, die sich auf die Mißachtung der päpstlichen Mandate beziehen, die Hochzeit und Krönung betreffen S9Die Vermutung liegt nahe, daß Hinkmar in den Annales Bertiniani bewußt einen solchen Kausalzusammenhang zwischen dem Herrschertreffen

und der Eheschließung herstellte. Gegen diese Darstellung wurde jedoch einge- wandt, daß die Proteste Karls anderenfalls konkreter gewesen wären. ' In seinem Schreiben vom 28. April 863 erwähnte Nikolaus I. jedoch einen anderen Hochzeitstermin. Gegen Ende des Schreibens an den westfränkischen Episkopat heißt es, über die Vorgänge erzürnt, daß Bischof Hagano von Bergamo - der

Gesandte Kaiser Ludwigs - über die Ehebrecher den Segen gesprochen habe. "'

57) Brühl, Hinkmariana (wie Anm. 11). S. 300; Konecny, Frauen (wie Anm. 2), S. 11». Georgi, Gunthar (wie Anm. 3), S. 14-20. 58) Annales Bertiniani (wie Anm. 28), zu 862, S. 114, Übers. Rau S. 115, eingetragen vor der Weihe der Metropolitankirche in Reims am 17. September. RI 1297a: Mühlbacher (wie Anm. 1), S. 513, nach dem Treffen mit Ludwig II. von Ostfranken in Mainz. Zum Dank habe dann Lothar Il. Gunthars Bruder Hilduin das Bistum Cambrai übertragen. Parisot, Royaumc (wie Anm. 2), S. 199f., die Hochzeit zu August-September, F. R. Erkens, 'Sicut Esther Regina'. Die westfränkische Königin als cmunrs regni. in: Francia 20/1 (1993), S. 15-38, hier S. 35; Anton, Synoden (wie Anm. 8), S. 108. 59) Parisot, Royaume (wie Anm. 2). S. 206: Calmette, Diplomatie, (wie Anm. 5), S. 80; Anton, Synoden (wie Anm. 8), S. 108. - Bauer, Ehestreit (wicAnm. 6), S. 67, betont, daß LotharWaldrada mehrfach geehelicht habe und so seine .. eigenen Argumente unglaubwürdig" erscheinen ließ. Interpretiert man aber die Hochzeit von 862 als nachträgliche kirchliche Weihe (im Sinn von Erkens Überlegungen zur Weihe der Irmcntrud 866 [wie Anm. 58, S. 261.. 31 17.1), die die frühere Eheschließung sakral überhöhen sollte, ergibt sich ein solcher Widerspruch nicht. 60) A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands. Bd 2, Leipzig 19581, S. 564, Antn. I. - Wie die Textergänzungen von Prinz im Bericht Bischofs Altfried von Hildesheim gezeigt haben, wurde der Vorwurf der Mißachtung der päpstlichen Instruktionen bereits im Juni/luli 862 erhoben. \Vie Anm. 47. - Die westfränkischen Klagen beziehen sich wohl ehcrauf dicAppcllationcnThcuibergas, da Lothar und seine Bischöfe trotz der Forderung Hinkmars von Reims nach einer gesamt- fränkischen Synode 'nur' eine Mittelreichssynodc in Aachen versammelt hatten.

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Erzbischof Gunihar von Köln 15

Eine Hochzeit erst an Weihnachten ließe ferner keine Widersprüche zu den Instruktionen der Legaten und deren Beglaubigungsschreiben vom November

aufkommen. ' Denn erst imApril 863 klagte Nikolaus über die Mißachtung der

päpstlichen Jurisdiktionsgewalt 61 Angesichts dieser verschärften Haltung drängt

sich die Frage auf, weshalb Lothar überhaupt die offizielle Eheschließung vornahm und nicht mehr bis zur Synode von Metz abwartete. Die in der Forschung meist vertreteneAnsicht hierzu lautet, daß sich Lothar nicht in seinem Ziel beirren ließ und sich bewußt über seine dem Papst und Karl dem Kahlen

61) MHG Epp 6, Nr. 57, S. 361, Quae videlicet erennplaria una cunt conunarnitorio, quod praefatis fratribus nostris pro hac cadent causa ad Hlothariunt regent ntissis dedinws, per fratrent ei coepiscopunt nostnnn Odonent restrae sanctitati transnnisinnts. (Z. 15-18) ..., si hoc vice idem Hlotlarius ntannitis salubribus ac diinitionibus nostris per legatos ei epistolas nostras regulariter sibi ntissis noluerit obedire nec ad poenitentiam contpetenti satisfactione praentissa quatntotius repedare, a nobis arque a tot ins ecclesiae corpore canonica arque apostolica sententia efcietur tuna cunt onntibus fautoribtts ei connttunicatoribus stns penitts alienus: praecipue Aganus (Bf. Hagano v. Bergamo), quent, perltibetis die natalis Dontini super adulteros benedictionent, quae tnaledicto potius credenda est, protrtlisse. (Z. 22-26). In den anderen Abschnitten trat Nikolaus für Rothard von Soissons und Balduin von Flandern ein. JE 2723. - Im Gegensatz zu den obigen Äußerungen stehen die Vorwürfe vom 31. Oktober 867, MGH Epp 6, Nr. 53, S. 343, Z. 5-7, Sed ille honen Theudgaudi ei Guntharii nunc episcoporwn, ut postea clantit, auctoritate freius legatos nostros non praestolans publico fesioque nuptianun ritt celebrate Rnldradann sibi lure ntairintonii sotiarit. - Ob mit der benedictio eine Krönung R'aldradas verbunden war, wie in der Forschung teilweise vermutet wurde, lassen diese Textstellen nicht erkennen. Vgl. Anm. 59. 62) MGH Epp 6, Nr. 6, S. 272, Z. 22f., Quos same apostolattts nostri legatos excellentia vestra digno Monore suscipiat et fanniliaritatis eis locum concedat, tit Domino auxiliante, cunt ad nos fiterint reversis digna nobis de porte vestra nuntian ies, ...; JE 2698,23. November 862. - Mehr zur Verwirrung als zur Klärung trägt die Vita Nikolaus 1. aus der Feder des Anastasius bei. Libor Pontificalis, cd. L. Duchesne (Bibliothtsques des Ecoles francaises d'Athe'nes et de Rome 2 Ser. 3,7), Paris 1892, S. 159f...., pracsertint cunt Thetttgaudunt Treverensem ei Gunthariwn Agrippinae coloniae archiepiscopos cunt Haganone Bergautensi ei ceteris episcopis talent eident regi auctoritatenr dedisse audierit ttt Tlneutbergant liberius posset reicere ei {lnldradant cortcubi»ant in ntatrintoniunt legitime copulare: ei quos debuerat ante Don jaunt adiutores labere atque duclores, ipsos habere eint presul beatissinnes carnpererat hancdando auctoritatent perpettto igni traditores. Tunc, nec rrtora, continua utissos suos Franciarn destinavit. precipiens ei motets ut in Afetensitun urbe agregato synodali con rennt, cur idem rev requirerent Theutbergant reiceret auf Ilnldradant

sibi in coniugiunt copularet... - Hagano von Bergamo nahm nicht an der Synode von Aachen im April 862 teil. Anastasius erweckt so den Eindruck, als habe die Hochzeit bereits damals stattgefunden. Zu Hagano von Bergamo vgl. G. Cremaschi, Aganone, in: Dizionario Biogralco degli Italiani I. Rom 1960, S. 359f.; N. Staubach, Sedulius Scottus und die Geschichte des Codex Bemensis 363, in: FTtSt 20 (1986), S. 549-598, hier 591-593. 63) MGH Epp 6, Nr. 10, S. 276. Z 7-9, ... quod Hlotltarius legitinta ei prima repulsa tituliere secundmu sibi adscirerit conitigent neque sedis nostrae petrtu t ac prmnisstun ittdiciunt expectans toque canonico iudicio uspiant succwuberts. Z. 17 stellt Nikolaus Lothar mit einem Exkom- munizierten gleich, wenn er nicht auf der Synode erscheinen sollte. Vgl. Ernst Perels, Ein Berufungsschreiben Papst Nikolaus' 1. zur fränkischen Reichssynode in Rom, in: NA 32 (1907), S. 131-149, hier 143-149. Vgl. Die Verschärfung der Instruktionen an die Legaten, MGH Epp 6, Nr. 6, S. 277, Z 8f. (April); JE 2723-2726.

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gegebenen Zusagen hinwegsetzte. 6d Hauck vermutete dagegen, die Furcht vor der Entscheidung der Legaten und dem Spruch des Papstes habe Lothar veranlaßt vollendete Tatsachen zu schaffen 6i Im Gegensatz dazu nahm Haller an, Lothar sei sich nach Savonnicres seiner Sache sicher gewesen, und Bischof Hagano von Bergamo, der Gesandte Kaiser Ludwigs JI., habe erklärt, der Kaiser werde auf Nikolaus I. im Sinne Lothars einwirken. " Keine der Thesen kann jedoch hinreichend erklären, warum die Hochzeit die Zustimmung des Adels und der Bischöfe fand. Sicherlich ging es nicht darum, die persönlichen Wünsche des Königs zu erfüllen, sondern Adel und Bischöfe mußten von Sinn und Zweck der Eheschließung überzeugt sein 67

Sollte jedoch dieThronfolge durch einen legitimen Erben gesichert werden, 68 könnte die auf den ersten Blick überstürzt scheinende Eheschließung vielleicht in der bevorstehenden Geburt eines Kindes der \Valdrada und Lothars eine hinreichende Erklärung finden. Denn eine Hochzeit der Eltern erst nach der Geburt führte nicht zur Legitimität69 des Kindes: Lothar konnte daher möglicher-

64) Mühlbacher, Karolingcr (wie Anm. I), S. 513, allerdings zu September, Konccny, Frauen (wie Anm. 2), S. 109; Schicffer, Karolinger (wie Anm. 1). S. 160f. 65) Hauck, Kirchengeschichte (wie Anm. 60). S. 564, Anm. l; E. Perels, Papst Nikolaus 1. und Anastasius Bibliothecarius, Berlin 1920, S. 66, Lothar habe Karl und Hinkmar zum Trotz, im Einverständnis mit Ludwig und dem Kaiser «aldrada an Weihnachten geehelicht. 66) J. Haller, Nikolaus 1. und Pseudoisidor, Stuttgart 1936, S. 12, mit Anm. 31, S. 35f.; D, --rs., Papsttum (wie Anm. 26), S. 82. 67) So Brühl, Hinkmariana (wie Anm. 11), S. 301, Anm. 9, als grundlegende Überlegung zur Rolle des Episkopats im Ehestreit; Boshof, Lotharingien (wie Anm. I), S. 136; Georgi, Gunthar (wie Anm. 3), S. 6-8,26f., 31. 68) Der Aspekt einer Legitimierung des Nachfolgers durch die Ehe findet sich allgemein in der Forschung geäußert. Vgl. Parisot, Royaume (wieAnm. 2), S. 145(., vermutet bereits die Verstoßung der Theutberga bzw. das Vorantreiben des Verfahrens durch die Geburt Hugos veranlaßt. Er sieht Hugo bereits durch die Hochzeit legitimiert. Konecny, Frauen (wie Annt. 2), S. 107f. �In der zweiten Phase nach den Synoden von 860 versuchte Lothar, seinen Erben zu legitimieren und ihm somit die Nachfolge zu sichern". Bauer, Ehestreit (wie Anm. 6), S. 67f., 83. - Erkens, Esther (wie Anm. 58), S. 32-37, für diesen Zusammenhang sind die Erkenntnisse über Hochzeit, Krönung und Königinnenweihe im Verständnis Karls des Kahlen von Bedeutung. 69) W. Sick-el, Das Thronfolgerccht der unehelichen Karolinger (1903), Nd. in: Königswahl und Thronfolge in fränkisch-karolingischer Zeit, hg. E. Hlawitschka (Wd 247), Darmstadt 1975, S. 106-143, zu Hugo 124-128; Schieffer, Eheschließung (wie Anm. 10), S. 38, weist ausdrücklich darauf hin, daß das Problem der Illegitimität erst im Zusammengang mit demWandel des Eherechts Bedeutung erlangte. A. Angenendt, Das Frühmittelalter, Stuttgart 1990, S. 371f.; D. Willowcit, Von der natürlichen Kindschaft zur lllegimität. Die nichtehelichen Kinder in den mittelalterlichen Rechtsordnungen, in: lllegimität im Spätmittelalter, hg. L. Schmugge (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 29), München 1994, S. 55-66, bes. 62 mit Verweis auf Gen. 21.10-13, Gal. 4.30 und die Verwendung bei Leo 1.; 'Legitimatio per subsequcntem matrimonium' war im römischen Recht, im kanonischen Recht seit Alexander 111. und in Deutschland erst am Ausgang des Mittelalters bekannt, vgl. HRG 2, Sp. 1677-1681.

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Erzbischof Gundmr von Köln 17

weise - berücksichtigt man die Spannungen während des letzten Herrscher- treffens - nicht mehr bis zur geplanten Synode warten. Sein Schritt ist letztlich die logische Konsequenz aus dem Wandel der Eheauffassung, da nach kirchlicher Anschauung nur noch Kinder aus legitimer Ehe erbfähig waren. 70 Die zentrale Frage ist demnach, ob überhaupt im Jahr 863 ein Kind aus der Verbindung hervorgegangen ist. Nach ältererAuffassung wurde Hugo erst um 863 geboren, da er genau 15 Jahre später (878) - vielleicht gerade volljährig - auf der politi- schen Bühne erscheint, als er das ihm entrissene Erbe antreten wollte. ` Der Eintrag Hugos im Verbrüderungsbuch von Remiremont, neben seiner Mutter, den Schmid auf Ende 861 datierte, 7'- ist ein wichtiges Indiz für eine frühere Geburt. Viel aussagekräftiger ist jedoch der Name Hugo selbst. Diesen trugen nur Mitglieder der karolingischen Sippe, die kein Thronfolgerecht besaßen. 73 Wäre Hugo der ersehnte legitime Erbe gewesen, hätte Lothar sicherlich einen karolingischen Königsnamen gewählt. So bleibt nur die Vermutung, daß der Name Hugo in der ansonsten unbekannten Sippe der Waldrada verbreitet war. 74 Ließe sich aber die Geburt eines anderen Kindes der Waldrada erschließen? Da Lothars Tochter Bertha im Eintrag von 861 nicht genannt wurde, liegt die Vermutung nahe, daß sie nach Weihnachten 862 das Licht der Welt erblickte. 7S

Lothar II. stiftete am 18. Mai 863 für das Seelenheil seiner Eltern, seines Bruders Ludwig, fratris etiain nostri Karoli quondant piissinti rrgis, cuius ibident corpus septtltttrae traditunt est die cella sancti Marintiui für die Lichter und den Unterhalt der Nonnen von St. Pierre ]es Nonnains bei Lyon 76 In die Reihe der Lebenden und Verstorbenen nahm er seine geliebte Frau Waldrada und seinen

70) J. P. Nligne, Patrologiae cursus completus..., Series Latina 126, Paris 1864, Sp. 799c, zu 878, Exkommunikation Hugos durch Papst Johann VIII., Hugonem Lotharii regis quondam filium, non legitinutnt, sed naturalert adulterina copula guttiunt, qui post praestittun sacrantentum dilecto filio Ludovico regi Franconun ntentitus esse videtur, ...; JE 3184; Unabhängig vom Fall Hugos, der wie das weitere Scheidungsverfahren kein Präzedenzfall geworden ist, traten illegitime Karolinger die Thronfolge an. Vgl. Sickel, Thronfolgerecht (wie Anm. 69), S. 142f. 71) Ebd.; Parisot, Royaume (wie Anm. 2), S. 332, zum Versuch Hugos das Erbe des Vaters anzutreten, ebd. S. 442ff. Konecny, Frauen (wie Anm. 2), S. 215, Anm. 51, vermutet die Geburt erst kurz vor der ersten Nennung (DLoII. 19) 863. 72) Vgl. Anm. 37-41. 73) Werner, Nachkommen (wie Anm. 40), S. 418, zur Namensgebung. 74) Zur Sippe der Waldrada vgl. Brüht, Hinkmariana (wie Anm. 11), S. 302, Anm. 12-13; Schmid, Königseintrag (wie Anm. 37), S. 128-134, mit den Etichonen war sie nicht verwandt. 75) Vgl. Anm. 40, nach Werner wurde Bertha um 863 geboren; Schmid, Königseintrag (wie Anm. 37). 76) NIGH DLoii. 19. Daß Hugo zu diesem Zeitpunkt erstmals als legitimer Königssohn erscheint, hängt ursächlich mit dem Wechsel der Argumentation im Eherecht zusammen, die Anfang 863 vorgenommen wurde. Hierzu S. 18f.

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Sohn Hugo auf. " In Anbetracht der brisanten Lage, in der er den Zug in das

provencalische Reich angetreten hatte, und den Auseinandersetzungen um die Erbteilung nach dem Tod Karls am 24. Januar 863 mit Kaiser Ludwig, 'E dokumentiert diese Urkunde die Erbansprüche Hugos, die gleichsam am Grabe des Königs der Provence hinterlegt wurden. Interessant ist es daher, einen Blick

auf die Nachkommen Lothars U. im provencalischen Reich zu werfen. Der Enkel Lothars II. aus der Verbindung seiner Tochter Bertha mit dem Grafen Theudbald vonArles war Hugo von der Provence, der spätere König von Italien, der seinen Sohn mit Blick auf eine« iedervereinigung des Mittelreiches Lothar

nannte 79 Auf der Synode von Metz trug die königliche Seite im Juni 863 vor, Lothar

sei bereits im Hause seines Vaters vor 855 in rechterEhe mitWaldrada verheiratet gewesen; Lothars II. Onkel Liutfried bezeugte dies ausdrücklich. ̀ Die Forschung sah den Argumentationswechsel Lothars und seiner Bischöfe, nach den Entscheidungen der früheren Synoden, in dem eherechtlichen Argument der Gegner begründet, daß den Geschiedenen erst nach Ableben eines Ehe- partners eine Wiederverheiratung gestattet sei. " Hätten Lothar und sein Berater Gunthar diese Sicht akzeptiert, wäre dem König eine Heirat mit Waldrada auf unabsehbare Zeit verwehrt geblieben. Die neue Beweisführung bot aber noch einen weiteren Vorteil: Hugo war bereits in legitimer Ehe geboren! Die vorder-

77) MGH DLoII. 19, S. 415. Z. 27-29.... ob amorent dei ei emolumcntum anirttae genitoris nostri ac genetricis nec non ei dilecti fratris nostri Ifludouici itttperatoris, fratris etiattt .... Z. 37f.... atque salvationent antantissitnae coniugis nosirae Uualdradae ei ftlii nostri Ugonis... - Durch die Eheschließung Hugo zu legitimieren, lag in derköniglichen Machtbefugnis. Auf dem Hintergrund des bisherigen Ehescheidungsverfahrens wird jedoch deutlich, daß diser Akt in keiner Weise vor den Gegnern Bestand haben konnte. 78) RI 1298a-b, den Zug nach Burgund trat er nicht vor April 863 an. Am 30. April stellt er in Mantaille eine Urkunde aus (MGH DI-oll. 18); Vgl. Poupardin, Provence (wie Anm. 5), S. 34-38; Parisot, Royaurne (wieAnm. 2), 5.223-227; Calmette, Diplomatie (wieAnm. 5), S. 86-88; Schieffer, Karolinger (wie Anm. 1), S. 161, die schnell erfolgte Erbteilung, zum Vorteil des Kaisers, sei der Preis für das Einvertnchmcn in der Eheangelegenheit gewesen. - Im Juni war Lothar zur Synode in Metz. 79) E. Hlawitschka, Die verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen dein hochburgundischen und dem niederburgundischen Königshaus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte Burgunds in der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts, in: Grundwissenschaften und Geschichte, Fs. P. Acht, hg. W. Schlögl, P. Herde (Münchener Historische Studien. Abt. Geschichtl. Hilfswisscnschaftcn 15), Kallrnünz 1976, S. 28-57; Brühl, Deutschland (wie Anm. 11), S. 359, Anm. 41. 80) MGH Epp 6, S. 215, Nr. 5, Bericht desAdventius von Metz über die Synode. Hierzu Hartmann, Synoden (wie Anin. 8). S. 282- 81) Hauck, Kirchengeschichte (wie Anm. 60), S. 564f.; Schieffer, Eheschließung (wie Anm. 10), S. 38f.; Konccny, Frauen (wie Anm. 2), S. 42-14,86-91,111-117, zur Bedeutung der Vollehe seit Ludwig dem Frommen; Kottje. Autoritätsanspruch (wie Anrn. 10), S. 98; Bauer, Ehestreit (wie Anm. 6), S. 68. 82) De divortio (wie Anm. 6). Einleitung, S. 26-28, zentraler Gesichtspunkt hierbei ist der Einfluß

von Hinkmars Schrift auf das Verfahren; Georgi, Gunthar (wie Anm. 3), S. 30.

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Era, fbischojCundinr von Kühn 19

gründig so sprunghaft scheinende neue Argumentation, die oftmals Guntlhar

angelastet wird, erscheint demnach wohl durchdacht 82 In diesem Zusammen- hang mag ein Brief des Bischofs Adventius von Metz an seinen Metropoliten Theudgaud von Trier einzuordnen sein. Aus ihm erfahren wir, daß Lothar den Episkopat fürden 2. Februar 863 zu einer Beratung nach Metz eingeladen hatte, wie ihm \Valthar vom Königshof berichtet hatte83 Die Adventius so beunruhi- genden Informationen können durchaus mit der Eheangelegenheit in Verbindung stehen, denn die Mahnung zurVorsicht ist eindeutig. Fürchtete doch der Bischof, die göttlichen, biblischen und päpstlichen Normen könnten verletzt werden.

Das Datum 2. Februar zeigt ferner, daß man direkt nach der Hochzeit neue Entscheidungen herbeiführte, von denen der Papst dann imApril seinen Legaten berichtete: Hlotharius ner profitetur ltaldradanr se apatre accepisse et sonorem posunodum adinisisse Hucberti. Ubi prinuun diligenti investigatione inquirite.... 84 Nikolaus I. wies seine Legaten an, den König mit Theutberga auszusöhnen, sollten sich die neuen Argumente Lothars als nicht haltbar erweisen. Ein kanonisches Urteil sei secunduin aequitatis normam zu fällen 85

Karl der Kahle sah sich jetzt einerseits durch die Eheschließung Lothars und andererseits durch die nach dem Tod Karls von der Provence rasch aufge- nommenen Kontakte zwischen Ludwig von Ostfranken, Lothar und Kaiser Ludwig II. wahrscheinlich in die Defensive gedrängt. Gemeinsam forderten die karolingischen Herrscher Karl auf Frieden zu halten86 Karl entsandte im Februar-März Bischof Odo von Beauvais nach Rom, der dort westfränkische Belange regeln sollte. 87 Er wurde ebenfalls in der Eheangelegenheit tätig; einen Brief Hukberts, in dem dieser fürdie Sache seiner Schwester eintrat, überreichte er in Rom und überbrachte dieAntwort Nikolaus' I. 88Auch aus diesem Schreiben vomApril 863 ist, wie bereits im erwähnten Brief an den westfränkischen Klerus, der päpstliche Unmut über Lothar herauszulesen. 89 Karl nahm mithin Einfluß auf die Haltung des Papstes und setzte auf eine Entscheidung gegen Lothar. 90

83) MGH Epp 6, S. 214f.. Nr. 4, Anf. 863. Quapmpter oportet vos, dilectissimi pater, modo conic agere. ne. quo absit. aliqua vana spe a via Dei ei evangelicis aique apostolicis docunrentis deviando, laqueunr incurratAvenri. Ist der vermutete Zusammenhang zutreffend, erweist sich Adventius als Gegner der königlichen Politik, der wie Theudgaud nicht zum engsten Kreis der Berater gehörte. 84) MGH Epp 6, Nr. 11, S. 277, Z. 8f.; JE 2726. zu April. 85) Ebd., S. 278, Z. 2. 86) Annales Bertiniani (wie Anm. 28), zu 863, S. 118; RI 1298b. 87) MGH Epp 6, Nr. 57, S. 361; JE 2723; Schrörs, Hinkmar (wie Anm. 9), S. 247-249; Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 36; E. Boshof, Odo von Beauvais, Hinktnar von Reims und die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen im westfränkischen Reich, in: Ecclesia et Regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche. Recht und Staat im Mittelalter. FS F. -J. Schmale, hg. D. Berg, H. 1V. Goetz, Bochum 1989, S. 39-59, hier 47-49. 88) MGH Epp 6, Nr. 16, S. 282. 89) Vgl. Anm. 61. 90) Konecny, Frauen (wie Anm. 2), S. 116f.

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Nikolaus I. hat die Normen des Verfahrens und den Rahmen der Synode von Metz eindeutig bestimmt. Am 23. November hatte er die fränkischen Könige

aufgefordert, je zwei Bischöfe aus ihren Reichen zur Synode nach Metz zu entsenden und dies den Bischöfen nach der Heirat Lothars erneut eingeschärft 91 Dennoch tagte die Versammlung als �reines

lotlharingisches Reichskonzil"9' Allgemein wird, da keine königlichen Einladungen erfolgt seien, in der Forschung vermutet, daß das Fernbleiben der Bischöfe aus den anderen Reichen auf eine geschickte Taktik Lothars zurückzuführen sei9' Im Falle Hinkmars sei das Einladungsschreiben absichtlich zu spät ergangen ' Bedurfte es wirklich spezieller Schreiben, wenn der Papst zu einer Legatensynode mehrfach geladen hatte? Oder war es die Angelegenheit der Legaten, die Aufforderung auszu- sprechen? Im Schreiben Nikolaus I. vom 28. April 863, das Odo von Beauvais dem westfränkischen Klerus überbrachte, betonte er das päpstliche Recht der Einberufung 95

Blieben jedoch, wie es in Metz geschehen war, die Bischöfe aus den anderen Reichen fern, war von Beginn an jeder Synodalbeschluß in seiner Recht- mäßigkeit anzweifelbar. 96 Auf die möglichen Gründe für das Fernbleiben, ist im nächsten Kapitel noch näher einzugehen. Dieser Umstand erlangt um so größere Bedeutung, als sich der Papst grundsätzlich eine Prüfung der Beschlüsse vorbehalten hatte. Nikolaus I. hielt es selbst für wahrscheinlicher, daß Lothar nicht auf der Synode erscheinen und sich so dem Urteil nicht beugen würde. "'

91) MGH Epp 6, Nr. 3-6, S. 268-272-, JE 2698-2700. MGH Epp. 6, Nr. 10, S. 275f.; JE 2725. Die Verschärfung der Haltung betont Haller, Nikolaus (wtiic Anm. 66), S. 37-39. 92) Hartmann, Synoden (wieAnm. 8), S. 281; Bauer, Kontinuität (wicAnm. 8), S. 56.104f. Anm. 283-291, bezeichnet ? letz als Typus einer 'erweiterten Provinzialsynode'; Anton, Synoden (wie Anm. 8), S. 109-112, zu den Teilnehmern. 93) Perels, Nikolaus (wie Anm. 65), S. 77. 94) Hartmann, Synoden (wicAnm. 8), S. 28 1; Bauer, Kontinuität (wicAnm. 8), S. 106, Anm. 291. 95) MGH Epp 6, Nr. 57, S. 361, Z. 31f.. S. 362, Z. 1-3 De careocandis aute: n er singulis pnnvinciis pro congreganda synada episcopis, unde scriptis, seist sanctitas vestra inisisse nos duos e latere in Galliain fratres ei coepiscopos nostros, qunnun superius munoriaar fecinius, qui synodum pro exanrinanda causa Teutbergae et llaldradae feminaninr conrocarent. ubi ei Ginas ex vobis praesules, sicut et de aliis regnis. adesse praecepitnus. Vgl. Ebd. Nr. 11, S. 276, Z. 28... Mettis aposlolica auctoritate synodo erocam nostra iussa perficite. Nikolaus erwartete bezüglich der Einladung vom 23. Nobembcr 862 von Lothar die Weiterleitung der Schreiben durch seine Boten (Ebd. Nr. 6, S. 272). Später erhob Nikolaus den Vorwurf, die Briefe an die ostfränkischen Bischöfe seien ab amicis Hlot/rarii regis den Legaten entwendet worden (Ebd. Nr. 53, S. 343, Z. 14-16). Jedoch hielten sich die beiden Legaten vor ihrer Abreise nach Metz am Hofe Karls des Kahlen auf. Vgl. Annales Bertiniani (wieAnm. 28), zu 863, S. 118. - Denkbarwäre jedoch, daß königliche Geleitbriefe fehlten. 96) Zu der von Nikolaus vertretenen Konzils- und Primatsidee: H. Barion, Das fränkisch-deutsche Synodalrecht des Frühmittelalters (Kan. Studien und Texte 5/6), Bonn 1931, S. 357-360; H. J. Sieben, Die Konzilsidee des lateinischen Mittelalters (847-1378), (Konziliengcschichte) Paderborn 1984, S. 24f., 32-42. 97) MGH Epp 6, Nr. 11, S. 276-278.

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Erzbischof Gunihar von Köln 21

Daß die Bischöfe nicht erschienen, hatte er 863 wohl genausowenig erwartet wie 865.96 Es braucht in diesem Zusammenhang nicht weiter ausgeführt werden, daß die Synode von Metz die frühere Entscheidung im Ehestreit bestätigte. Nikolaus warf jedoch den Synodalen später vor, entgegen kirchlicher Norm Theutberga in Abwesenheit verurteilt zu haben. Diese hatte ihr Fernbleiben entschuldigt, da ihr kein sicheres Geleit zugesichert gewesen sei, worin ihr Nikolaus Glauben schenkte. 99 Lothar hingegen bestritt ihre Einlassungen.

Die Konflikte im fränkischen Episkopat vor der Absetzung Gunthars und der Wandel der päpstliche Politik

Als wesentlich erscheinen drei Konflikte: dieAuseinandersetzungen zwischen Hinkmar von Reims, Lothar II. und Gunthhar von Köln um die Besetzung des Bistums Cambrai; die Unterstützung der Bischöfe des Mittelreiches für Rothard von Soissons in seinem Streit mit Hinkmar von Reims; der Zwist zwischen Papst Nikolaus I. und Erzbischof Johannes von Ravenna.

Die Spannungen um die Wiederbesetzung des Stuhls von Cambrai nach dem Tod Bischofs Theoderich (832-862) reichen zurück bis in die Jahre nach dem Vertrag von Verdun. DcrBischof hatte damals von Klerus und Volk seiner Kirche verlangt, daß sie sich im Falle seines Todes an Kaiser Lothar wenden sollten. 100 Nicht auszuschließen ist fernerdie ParteinahmeTheoderichs - im Einvernehmen mit Lothar und Gunthar - im Konflikt Karls des Kahlen mit seiner Tochter Juditlt. 101 Nach demTodeTheoderichs am 5. August 862 forderte Hinkmarsofort die unbehinderte Bischofswahl von Lothar II. und intervenierte bei Gunthar für eine kanonische \Vahl. 102 Nachdem in Cambrai schließlich Hilduin, der Bruder Gunthars von Köln, gewählt worden war, verwarf Hinkmar die Besetzung als irregulär. 103 Während derVerhandlungen von Savonnieres am 3. November 863 überreichte Hinkmar den lotharingischen Bischöfen eine Klageschrift, in der Hilduin als desAmtes unwürdig bezeichnet wird. 107 Einige Zeit später antworteten

98) Dümmler, Ostfränkisches Reich (wie Anm. 2), S. 115; Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 55f.; Hartmann, Synoden (wie Anm. 8), S. 285. 99) NIGH Epp 6, Nr. 53, S. 343, Z. 13-22,31. Okt. 867. 100) NIGH Epistolae \'III. 1. Epistolae Karolini aevi 6. Hincinari archiepiscopi Rernensis epistolae, cd. E. Pcrels, Hannover 1939, Nd. 1985 (weiter NIGH Epp 8), Nr. 70, S. 37, zu 845-855. Das Verhältnis Thcoderichs zu seinem Metropoliten war nicht spannungsfrei, wie weiten: Schreiben belegen. Ebd. Nr. 88,90,91, S. 42; NI. Sot, Un historien et son Eglise. Flodoard de Reims, Paris 1993, Regesten S. 563- 101) NIGH Epp 8, Nr. 149, S. 118, Aufforderung Hinkmars zur Verkündung der Exkommuni- kationssentenz über Judith und Balduin von Flandern. \'gl. Anm. 14,50. 102) NIGH Epp 8, Nr. 151-152, S. 119; REK 183; Schrörs, Hinkmar (wie Anm. 9), S. 228f. 103) NIGH Epp 8, Nr. 153-154, S. 119. Devisse, Hinkmar (wie Antn. 21), S. 441-443. 104) Nlansi (wie Anm. 43), 645-648. NIGH Epp 8, Nr. 153, S. 119; REK 184, die Antwort der Bischöfe. Devisse, Hinkmar (wie Anm. 21), S. 441, bes. Anm. 482.

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Theudgaud von Trier, Gunthar von Köln undArducius von Besancon und luden Hinkmar zum 15. März nach Metz ein, wo er seineAnklagen beweisen sollte?, ' Falls er nicht erschiene, verfalle erden kanonischen Regeln gegen dieAnkläger. Hinkmar wandte sich aber, vertreten durch Bischof Odo von Beauvais, an Nikolaus I. 106. Im päpstlichen Schreiben an die Bischöfe des Mittelreiches wurde Hilduin im Mai 863 als kanonisch nicht geeignet bezeichnet, Lothar ein Einfluß

auf die Bischofserhebung jedoch nur unter Berücksichtigung der Rechte des Reimser Metropoliten zugestanden und eine Exkommunikation Hilduins

angedroht. 107 Mit anderen Worten: Nikolaus hatte sich die Sicht Hinkmars in dieserAnglegenheit zu eigen gemacht ... quod contrastatutasanctontnt canonwu ecclesiant Cameracensein inraseris. 103

Wohl mehr oder weniger gleichzeitig holten die Erzbischöfe Theudgaud von Trier, Guntliar von Köln, Arducius von Besancon und Tado von Mailand zum Gegenschlag aus. Sie versuchten die Bischöfe des ostfränkischen Reiches gegen Hinkmar einzunehmen und baten um Unterstützung fürden abgesetzten Bischof Rothard von Soissons. '"' In diesen hier skizziertenVorgängcn zwischen Hinkmar

und Gunthar finden wir wahrscheinlich auch dieAntwortaufdic Frage, weshalb Hinkmar und die anderen westfränkischen Bischöfe nicht auf der Synode von Metz im Juni erschienen. Blieb Hinkmar fern, konnte er auch nicht wegen des Streits um Cambrai und Rothard angekagt werden. "" Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist daher auch die Bitte Hinkmars um Bestätigung des Privilegs Benedikts III., in dem ihm unter anderen Vorrechten das Recht verliehen wurde, nur vor dem Papst verklagt und alleine von diesem gerichtet werden zu können. "' Letztlich ging es bei diesen Konflikten auch um die Frage, ob Hinkmar oder Theudgaud von Trier der Primat der 'Gallia Belgica' zustand. "2 Deutlich wird durch dieseAusführungen, daß sich parallel zum Ehestreit der Konflikt unter den Erzbischöfen in den entscheidenden Monaten derJahre 862 und 863 verschärfte.

105) REK 184; Bauer, Kontinuität (wvieAnm. 8), S. 104, Anm. 283. DieserTermin war ürsprünglich ebenso für die Verhandlung der Eheangelegenheit vorgesehen. 106) Gleichzeitig mit den Klagen im Ehestreit und im Fall Rothards von Soissons. Vgl. Anm. 61, 87. 107) MGH Epp 6, S. 2791., Nr. 13, an Lothar 11., S. 281 f., Nr. 15; JE 2730-2731. 108) MGH Epp 6, S. 280f., Nr. 14, hier S. 280, Z. 311. 109) REK 187, Juni 863; Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 10017., Anm. 264; Fuhrmann, Pseudoisidor (wie Anm. 22), S. 255, Anm. 47 zu Januar-März; Hartmann, Synoden (wie Arun. 8), S. 315. 110) Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 100, Ziel sei es gewesen, Hink-mar bei Nikolaus ,. durch die Anklage außer Gefecht zu setzen". Hingegen hatte Hinkmar die Verhandlungen über Rothard und Hilduin in Metz zu fürchten. Diese Vermutung bestätigt auch Haller (S. 102). Boshof, Odo (wie Anrn. 87), S. 48, die Befragung Odos durch Nikolaus 1. 111) MGH Epp 6, Nr. 59, S. 365; JE 2720.28. April 863; Schrörs, Hinkmar (wie Anm. 9), S. 249- 252, bezieht dies auf die Spannungen im westfränkischen Episkopat. Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 102; Devissc, Hincmar (wie Anm. 21), S. 591. - Das Datum läßt keine Zweifel, daß Odo von Beauvais diese Bitte vorbrachte, vgl. Boshof, Odo (wie Anm. 87), S. 48f.

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Erzbischof Gunthar von Köln 23

Kurz vor der Eskalation dcrAuseinandersetzungen nördlich derAlpen geriet Erzbischof Johannes VII. von Ravenna (850-878) in Konflikt mit Nikolaus I. 13. Am 24. Februar 861 exkommunizierte ihn der Papst. Nachdem der Erzbischof eingelenkt hatte, wurde im November die Exkommunikation gelöst.

Bedeutender als die Vorgänge selbst, die hier nicht referiert werden können, sind die politischen Umstände des Verfahrens. Nikolaus I. begann seinen Pontifikat unter kaiserlicher Vorherrschaft. Nunmehr steigerte er seine Juris- diktionsgewalt und war bemüht, den Einfluß Ludwigs II. abzuschütteln. Einer der kaiserlichen Vertreter in Rom war Radowald von Porto, der bei Beginn der Auseinandersetzungen mit dem Erzbischof von Ravenna nach Konstantinopel gesandt worden ist, um den Fall der beiden Patriarchen Photios und Ignatios zu untersuchen. "' Anfang 862 nach Rom zurückgekehrt, beauftragte ihn der Papst im November mit der Legation zur Untersuchung des lotharingischen Ehestrei- tes. Kurze Zeit später erschien eine Gesandtschaft des Ignatios aus Konstan- tinopel in Rom, die gegen Radowald den Vorwurf der Bestechlichkeit erhob.

Im April oder August 863 wurde auf einer Römischen Synode der Begleiter Radowalds, Bischof Zacharias von Anagni, abgesetzt und der Spruch gegen Radowald bis zu seiner Rückkehr ausgesetzt. ` Auffällig ist zweifelsohne, daß Nikolaus Radowald nicht schon bei Bekanntwerden der Vorwürfe von seiner Legation entband. Ein unter Bestechungsverdacht stehender Legat leitete demnach die Synode von Metz. Andere Beispiele belegen, wie schnell Nikolaus und seine Amtsvorgänger auf Vorwürfe gegen die Amtsführung von Bischöfen und Äbten reagierten. "' Daß Radowald von Porto dann wegen der Beschlüsse

112) JE 2720; Boshof, Lotharingien (wie Anm. 1). S. 132f.; Georgi, Gunthar (wie Anm. 3), S. 12f.. 30, mit weiteren Literaturangaben. 113) Liber Pontificalis (wie Anm. 62). S. 155-158,168f.. Anm. 17-32; R. J. Bellctzkie, Pope Nicholas 1 and John of Ravenna: The struggle for ecclesiastical rights in the 91i century, in: Church History 49 (1980), S. 262-272, hier 264; Hartmann, Synoden (wieAnm. 8), S. 293-296; K. Herbers, Der Konflikt Papst Nikolaus 1. mit ErzbischofJahhannes VII. von Ravenna (861), in: Diplomatische und chronologische Studien aus der Arbeit an den Regesta Imperii, hg. P. J. Eieinig (Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 8), Köln 1991, S. 51-66, hier 53f. mit weiterer Literatur. 114) Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 15-34; Hartmann, Synoden (wie Anm. 8), S. 287f.; K. Herbers, Papst Nikolaus 1. und Patriarch Photios. Das Bild des byzantinischen Gegners in lateinischen Quellen, in: Die Begegnung des Westens mit dem Osten, hg. O. Engels/P. Schreiner, Sigmaringen 1993, S. 51-74. 115) JE, S. 350; Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 31-34; Hartmann, Synoden (wie Anrn. 8), S. 288f., zum Termin; Bauer, Kontinuität (wie Anm. 8), S. 49,82 Anm. 150. - Fand die Synode erst im August statt, urteilte Nikolaus noch unter dem Eindruck der Bestechungsvorwürfe überGunthar und Theudgaud. 116) Beispielsweise: MGH Epp 6, Nr. 116, S. 631f. (864), an den Erzbischof von Salzburg. - Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 33; F. J. Felten, Äbte und Laienäbte im Frankenreich. Studie zum Verhältnis von Staat und Kirche im früheren Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 20), Stuttgart 1980, S. 31, Vgl. Anm. 148.

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von Metz erneut Bestechlichkeit vorgeworfen wurde, läßt die Klagen gegen die Legaten in keinem guten Licht erscheinen. "' Den kaiserlich gesinnten Radowald von Porto ersetzte als Berater am päpstlichen Hofe Anastasius Bibliothecarius. Dies wertet die Forschung als einen Wandel der päpstlichen Politik. ` Die Verbindung der italischen und fränkischen Angelegenheiten erscheint deutlich nach der Absetzung der beiden Erzbischöfe von Köln und Trier, als diese sich an Kaiser Ludwig II. wandten. 19Anastasius Bibliothccarius berichtet hiervon im Liber Pontificalis. Bischof Hagano von Bergamo, der die Ehe Lothars II. mitWaldrada an Weihnachten 862 eingesegnet hatte, Erzbischof Johannes von Ravenna und dessen Bruder Herzog Gregor von der Aemilia verschworen sich mit Gunthar von Köln und Theudgaud von Trier

... contra sedem Romanani, inunospecialitercontra summuni pontificeni... '20. Sie bewogen den Kaiser zur Intervention in Rom. '''-' Diese scheiterte, so daß Guntlhar und Theudgaud in Italien keine direkte Aussicht mehr auf eine Wiedereinsetzung hatten. Die wechselseitige Beziehung der Absetzung der lotharingischen Erzbischöfe mit den Vorgängen in Rom zeigt sich gleichfalls nach dem Tode Nikolaus I. Anastasius Bibliothecarius wurde unter dem Vorwurf, Papst und Kaiser entzweit zu haben, angeklagt. '''-

117)Annales Bertiniani (wieAnm. 28), zu 863. S. 118-120. In qua s)"nodo praefati tttissi, corntpti nuuteribus, epistolas domni aposiolici occultantes, Hihi/ de his quae Bibi conunendata fttertuu secundunt sacrant auctoritatent egentnt. (120) ... Radoaldunt similitercupiditate in Constantinopoli cum Zacharia socio suo episcopo nuper corntptunt dampnare volens....; Dümmler, Ostfränkisches Reich 2 (wie Anm. 2), S. 66 folgt diesen Vorwürfen; Haumann, Synoden (wie Anm. 8), S. 282, bezweifelt die Bestechung der Legaten durch Lothar 11. und die Bedrohung des lotharingischcn Episkopats durch den König. 118) Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 32-35,198; Dets., Papsttum (wie Anm. 26), S. 84f.; Belletzkie, Nicholas (wie Anm. 113), S. 268-270. 119) REK 194-196. 120) Liber Pontificalis (wie Anm. 62), S. 160f, hier 161, Z. I f. 121) Annales Beuiniani (wie Anm. 28), zu 864, S. 128.867 zählte der Papst auch die Anstiftung zur Intervention in Rom zu den Verbrechen. MGH Epp 6, S. 340-351, Nr. 53, hier S. 345, Z. 33 - S. 346, Z. 1-10,31. Oktober , REK 219; Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 45-51. 122) Perels, Nikolaus (wie Anm. 65), S. 233; Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 95f.; Hartmann, Synoden (wieAnm. 8), S. 296f., die weiteren Delikte: Vernichtung dergcgen ihn früherergangenen Synodaldekrete, Ausraubung des Papstpalastes und Beteiligung an Morden. Anastasius konnte sich reinigen und wurde wieder ins Amt eingesetzt.

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Erzbischof Guntlmr von Köln 25

Die Absetzung Gunthars von Köln

In seinem berühmten Schreiben Seelos quod Hlotharius rex, '=' das später Eingang in das Decretum Gratiani''' fand, verurteilte Nikolaus nicht nur die Synode von Metz sondern sprach dicAbsetzung der beiden Erzbischöfe Gunthar

und Theudgaud aus. Beide Beschlüsse der Synode vom Oktober in Rom bilden demnach eine Einheit. Bereits eingangs des Schreibens bezog der Papst eindeutig Position im Ehestreit: dem noch bis Ende 862 gloriostts rer genannten Lothar II. wird der Königstitel in Abrede gestellt (si tanzen rex veraciter dici possit) und das Verbrechen an den beiden Frauen als persönliche Verfehlung scharf verurteilt. '25Anwälte und Begünstiger (tutores atgtte fautores) seien hierbei die beiden Erzbischöfe gewesen. '26 Deshalb wurden sie abgesetzt und sollten in Zukunft ab offictio sacerdotali ercontnuuticati atque a regimine episcopates alienali gelten. ''-' Ihre Namen seien deshalb aus dem Verzeichnis der Priester

zu tilgen. 121 DieAnklagen lauten im einzelnen auf Verletzung der apostolischen Ordnungen während der Synode von Metz, die daher gleichzusetzen sei mit der Räubcrsynode von Ephesos im Jahre 449. Die Versammlung soll niemals mehr als Synode, sondern als Bordell gelten. '=y Angelastet wurde den Erz- bischöfen ferner die Begünstigung der Ingeltrude, der vor ihrem Manne Boso

geflohenenTochter des Grafen Matfrid, da sie ihre Exkommunikation mißachtet und dadurch gegen kanonische Vorschriften und mehrfach auch gegen das Gerechtigkeitsgebot verstoßen hätten. '' Die anderen Teilnehmer der Synode

vom Juni bedrohte Nikolaus I. mit der Exkommunikation, falls sie nicht ihre Ergebenheit gegenüber dem apostolischen Stuhl erklären sollten. ̀ Ein Blick

123) NIGH Epp 6, S. 284-286, Nr. 18-21, vgl. das Exemplar an die westfränkischen Bischöfe: Annales Bcriiniani zu 863, S. 120-126. Schreiben an die Ostfranken: Annales Fuldenses, cd. F. Kurze (MGH SS rer. Gerne. in us. schol., 1891), S. 58-60, aus der Rezension B. R. Rau (Hg. ):. Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Bd. 3 (Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe 7). Darmstadt 1969', S. 19-177, der Text fehlt hier. - Zur Synode: Hartmann. Synoden (wie Anm. 8), S. 288-290; Bauer, Kontinuität (wie Anm. 8), S. 49,82f., Anm. 151-156. 124) Dec. Grat. C 2.1.21, CT 449,25 125) NIGH Epp 6, Nr. 18. S. 284, Z. 19. 126) Wie spätere Papstbriefe erkennen lassen, bezieht sich diese Qualifizierung auf die dem König auf den Synoden geleistete kirchenrechtliche Argumentationshilfe (MGH Epp 6, Nr. 53, S. 345, Z. 3, consentiendo vel favendo. Z. 17 nuctor bezieht sich auf den Libellus von Metz). In anderen Überlieferungen des Schreibens werden sie als auctores atquefactores bzw. fautores bezeichnet. MGH Epp 6, Nr. IS, S. 284. Überlieferung C und Annales Bcniniani (wie Antn. 28), zu 863, S. 120. 127) MGH Epp 6, Nr. 18. S. 284. Z. 33-37. 128) In den KölnerBischofslistcn wurde Gunthardcnnoch aufgenommen. Series archicpiscoporutn Coloniensiunm, cd. O. Holder-Eggcr (NIGH SS 13,1881), S. 284f.. Series 1-1V. 129) MGH Epp 6. Nr. 18, S. 285, Z. 7f. 130) NIGH Epp 6, Nr. 18, S. 285, Z. 15-26, S. 286, c. 4 De Ingeltrude. Das Gerechtigkeitsgebot hatte Nikolaus als Norm für die Synode von Metz gefordert, vgl. Antn. 84-85. 131) MGH Epp 6. Nr. 18, S. 285, c. 3.

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zurück auf das Herrschertreffen von Savonnicres im November 862 läßt eine Übereinstimmung mit den von Karl dem Kahlen vorgebrachtenAnklagepunkten erkennen. 132 Für die Beurteilung der Anklagen wichtig ist ebenso ein Verweis darauf, daß Nikolaus im Jahre 860 Gunthar aufforderte, Ingeltrude, falls sie sich in seiner Kirchenprovinz aufhalte, ihrem Mann zurückzusenden oder deren Exkommunikation zu verkünden. '33

Schwieriger ist es, den Verlauf der Verhandlungen nachzuzeichnen. Wie Nikolaus selbst bekennt, waren zahlreiche Gerüchte und auch Schreiben in Rom angelangt, die die beiden Erzbischöfe als amtsunwürdig und verbrecherisch erscheinen ließen. ' Kernpunkt der Verhandlungen war der schriftlich vorgelegte Synodalbeschluß, der die päpstliche Bestätigung finden sollte. 135 Nach demText der Absetzungssentenz wurde das Protokoll der Synode aber zum Grund und Beweis für die Verfehlungen der Erzbischöfe. 136 Während der Untersuchung sollen beide Erzbischöfe ferner das Bekenntnis abgelegt haben, den Spruch gegen die Ingeltrude verletzt zu haben. "'

In Gunthars Protestschreiben aus dem Jahre 864 stellt sich der Verlauf der Synode aus Sicht der Verurteilten wie folgt dar: Während der drei Wochen, die sie in Rom auf das Zusammentreten der Synode warteten, führten sie Gespräche mit Nikolaus. Der Vorwurf eines Verstoßes gegen Lehrmeinungen der Römischen Kirche sei dabei nicht erhoben worden)` Dann aber seien sie auf einer Synode von Geistlichen und Laien bedrängt worden: sine synodo et canonico exanºine,

132) Boso hatte bereits auf dem Treffen von Koblenz 860 geklagt. Der Fall der Judith gelangte durch Appellation Balduins an Nikolaus, der sich für sie bei Karl dem Kahlen verwandte. Vgl. Anrn. 14,61. 133) MGH Epp 6, Nr. 1-2, S. 267f.. an Hinkmar und Karl den Kahlen, mit der Bitte auf Lothar einzuwirken; REK 178, vgl. Anm. 14. 134) MGH Epp 6, Nr. 18, S. 284. Z. 23-30, ..., pene torus nobis orbis undique ad lintina serr sedenr confluentes apostolicant referebat, absentibus quoque id ipstun nostro scribentibus apostolatui. Quod ras tanto credere renuinrus.... 135) Annales Bertiniani (wie Anm. 28), zu 864, S. 132, c. I des Protestschreibens bestätigt die Bitte um Billigung. 136) MGH Epp 6, Nr. 18, S. 284, Z. 27-30, S. 285, Z. 13-15. 137) MGH Epp 6, Nr. 18, S. 285, Z. 15-19. 138) Annales Bertiniani (wie Anm. 28), zu 864, S. 132, c. 2, ... , ni/iil certitudinis ni/ilque doc: rinae nobis erpressisti, sed tantunr quodam die in publico dLristi, nos excusabiles apparere et innocentes iuxta nostri adserrionent libelli. Dies deutet darauf hin, daß der libelus nicht akzeptiert wurde und es nur noch um die Frage ging, ob Gunthar und Thcudgaud gegen geltende Lehrmeinungen verstoßen hatten. - Perels, Nikolaus (wie Anm. 65), S. 81 f. Radowald soll vor den Erzbischöfen in Rom eingetroffen sein und dann auf Kunde von dem Verfahren gegen ihn die Flucht ergriffen haben. Merkwürdig ist aber, daß Radowald erst in Rom von den Vorgängen erfahren haben soll.

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Erzbischof Gundmr von Knot 27

ºuºllo accusante, nullo testifºcante, nullaque disputation is discretione dirintente vel auctoritatºn probatione convincente, absque nostri oris confession e, absentibus aliis metropolitanis et (4"ocesaneis coepiscopis et coº fr atribus nostris, extra onuºiunº onuºino consensunº wo solius arbitrio et tyrannico furore dampnare nosmer 1'oluisti. 19 Nur in einzelnen Handschriften der Annales Bertiniani und der Annales Fuldenses wird der vollständige Text überliefert. Hier gehen die Klagen dahingehend weiter, daßAnastasius Bibliothecarius dem Papst ein vorbereitetes Schriftstück überreicht habe, das dann verlesen wurde. 'ao Am Ende des Protestschreibens wiederholt Gunthar die Argumente für die Rechtmäßigkeit der Ehe Lothars mit Waldrada. "'

In der Forschung herrscht vielfach die Ansicht vor, daß zwar die Absetzung der beiden Erzbischöfe gerecht gewesen sei, die Verurteilung indessen gegen geltendes Kirchenrecht verstoßen habe. "= Diese Einschätzung geriet bereits durch neuere Forschungen ins Wanken, denn die eherechtliche Argumentation entsprach den älteren Rechtsvorstellungen und war keine willkürliche Aus- legung, wie es beispielsweise von Regino von Prüm behauptet wird. 13 Die Ansicht, die beiden Erzbischöfe hätten in ihrer eherechtlichen Argumentation kirchliche Rechtssätze verletzt, erklärt sich unter anderem aus der Gleichsetzung der Synode von Metz mit der Räubersynode des Jahres 449144 und einem Bordell)` Einen Einzelfall stellt die Verurteilung einer Synode nach dem Vorbild Papst Leos I. keinesfalls dar. Auch im Streit mit Photios von Konstantinopel

139) Annales Beniniani (wie Anm. 28), zu 864, S. 132, c. 3. 140) Annales Berliniani (wie Anm. 28), zu 864, cd. Grat, S. 109, vgl. Introduction LXVf. (Handschrift F): Annales Fuldenses, cd. Kurze (wie Anm. 123), S. 61, (Handschrift B) ..., subito quadaut tibi cartula et inprorise porrecta. lectoris ofciuat assuntens, assistente lateri ttto Atastasio....; Perels, Nikolaus (wie Anm. 65), S. 82,217-220. 141) Annales Beniniani (wie Anm. 28). zu 864, S. 134, c. 7; Bauer, Ehestreit (wie Anm. 6), S. 67f., Konsenstheorie. 142) In Anlehnung an die zeitgenössischen Quellen, vgl. Georgi, Gunthar (wie Antn. 3), S. 6f., 10,14-20; Zum Urteil: Hauck, Kirchengeschichte (wie Anm. 60), S. 567; Perels, Nikolaus (wie Anm. 65), S. 83; Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 55f.; Ihrs., Papsttum (wie Anm. 26), S. 86f.

�Indem Nikolaus in dieser Weise gegen Lothar und seine knechtischen Bischöfe einschritt, trat er auf die Seite, wo Recht und Wahrheit waren: ' Vgl. Anm. 165; Ewig, Kirche (wie Ann. 26), S. 150, �Nikolaus hatte sich formal ins Unrecht gesetzt, da sein abruptes Vorgehen gegen Köln und Trier kirchenrechtlich irregulär war. "; Geschichte des Christentums (wie Anm. 26), S. 714, �eine bis dahin unerhörte Realisierung des Jurisdiktionsprimates". 143) Reginonis Chronica (wie Anm. 13), zu 864, S. 194, ..., ex trtriusque testatttenti paginis quasdartt sententias projert. quas aliter, quarrt ecclesiasticr regrtla docet,..... Kottje, Autoritätsanspruch (wie Anm. 10), S. 99f. 144) Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 135, schreibt dieses Urteil Anastasius Bibliothecarius zu. 145) Mic Anm. 129, wegen der Begünstigung des Ehebruchs.

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ging Nikolaus I. gleichermaßen vor, ̀ und Hadrian II. nannte die Synode, durch die Nikolaus I. 867 in Konstantinopel abgesetzt worden ist, gleichfalls eine Räubersynode. ̀ I Diese mehrfache Verwendung des Begriffes latrocinium in der Zeit Nikolaus I. verdeutlicht, daß hiermit jeweils die Unrechtmäßigkeit der Synode und derer Beschlüsse unzweideutig festgestellt wird.

So ungewöhnlich wie die Einleitung des Prozesses - ohne Ankläger und nur auf Berichte von Verfehlungen hin - erscheint, ist dieses Vorgehen aber doch nicht gewesen, denn nach den Kanones von Karthago III (397) und Toledo VIII (653) mußte ein Purgationsverfahren von Amtswegen auf Grund eines üblen Gerüchts (publice mala fama, popularis infamia) eingeleitet werden. Von den Vorwürfen konnte sich der Beschuldigte durch Eid reinigen; bis dies geschah, erfolgte eine Suspension vom Amt. '48 Allerdings erübrigte sich im Oktober 863 ein sonst übliches Verfahren mit Zeugen, da beide Erzbischöfe sich nachAnsicht von Nikolaus durch die Schrift, die sie aufgesetzt hatten ut nostro roborarentus c), rograplto, caperentur. Sie hatten sich selbst überführt. "' Worauf sich dieses Urteil aber im einzelnen stützte, führt der Papst nicht weiter aus. Erst am 31. Oktober 867 erhob Nikolaus den Vorwurf, beide Erzbischöfe hätten die Unterschriften der Synode von Metz dahingehend gefälscht, daß sie den Rechtsvorbehalt der päpstlichen Entscheidung, den ein Bischof mit seiner Unterschrift gemacht hatte, eigenhändig getilgt hätten. 150 Worin der eigentliche

146) MGH Epp 6, Nr. 88,28. September 865 an Kaiser Michael I11., S. 469, Z. 19, S. 473, Z. 15. 147) MGH Epp 6, Nr. 40, (10. Juni) 867 an Kaiser Basileios, S. 756, Z. 25; Hartmann, Synoden (wie Anrn. 8), S. 289-291, mit Anm. 13. 148) P. Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland. Bd. 5: System des katholischen Kirchenrechts, Berlin 1895, S. 51-58,75-77,81-84,278-28 1; H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Köln 19641, S. 38,43,124,220,473f.; 1V. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts. Bd. I, \Vien 1959, S. 91 f., 231 f., 3861.; B. Schimmelpfennig, Die Degradatio von Klerikern im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 34 (1982), S. 305-323; H. Mordek, Bischofsabsetzungen in spätmerowingischer Zeit. Justelliana, Bemensis und das Konzil von Malay (677), in: Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. FS H. Fuhrmann, hg. H. Mordek, Tübingen 1991, S. 31-53; Art. Depositio, Degradatio, in: Lexikon des Mittelalters 111, Sp. 637f., 708. - Ein Jahr später forderte Nikolaus 1. von Erzbischof Adalwin von Salzburg die Exkommunikation Bischofs Lantfrieds von Säben-Brixen: Nihilominus autem de hoc episcopo relatum est apostolarui nostrn, quod cum quadanr filia sirr inunoderatam terteat finniliaritatern et ob id mala farna ei orta sit. MGH Epp 6, Nr. 116, S. 632. 149) MGH Epp 6, Nr. 18, S. 284, Z. 28-30. 150) MGH Epp 6, Nr. 53. S. 347, Z. 24ff.; 1V. Hartmann, Fälschungsverdacht und Fälschungs- nachweis im früheren Mittelalter, in: Fälschungen im Mittelalter2 (MGH Schriften 33 2), Hannover 1988, S. 111-127, hier 120,126. Die Schlußfolgerung Hartmanns, Nikolaus habe �anscheinend das Pergament auf Rasuren überprüft" ist in diesem Zusammenhang nicht zwingend. Die Absetzungssentenz von 863 berichtet hiervon, was ein ebenso verdammenswertes Vergehen gewesen wäre, nichts. Möglicherweise erfuhr Nikolaus erst später von einem Vorbehalt, da alle lotharingischen Bischöfe sich vor dem Papst rechtfertigen mußten.

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ErzbischofGunrhar von Köln 29

Sinn dieserAnklage liegt, ist nur schwer nachzuvollziehen, da beide Erzbischöfe den Papst selbst um Bestätigung des Protokolls baten. Die Eheangelegenheit war durch Appellation, Entsendung der Legaten und Bestätigungsbitte der Beschlüsse zu einer causa major des Papstes geworden, der für sich im selben Jahre �das alte Recht des römischen Stuhls" inAnspruch nahm, den Patriarchen von Konstantinopel, Photios, abzusetzen. "' In diesem Kontext sind auch die Prozesse gegen Rothard von Soisson, \Vulthad von Bourges und Hinkmar von Laon fürdie päpstliche Jurisdiktion bedeutsam, obwohl sie aufden Fall Gunthars und Theutgauds nicht anwendbar sind, da sich bereits Synoden im West- frankenreich mit diesen Fällen beschäftigt hatten und der Papst Appella- tionsinstanz in einem laufenden Verfahren war. "!

Nach altem Kirchenrecht wurde eine Amtsenthebung auf einer Gemeinde- versammlung, später auf einem Provinzialkonzil vorgenommen und steht damit in direkter Beziehung zu Wahl und Weihe des Bischofs. Zu unterscheiden ist hierbei einerseits der Vergeltungs- bzw. Straf- und andererseits der Besserungs- charakter des Urteils. Die gegen Geistliche verhängten Strafen waren degradatio, depositio, privato benefici und snspensio, der vorübergehende Entzug von kirchlichen Weihen und Rechten. Zur depositio, die mit der degradatio gleichgesetzt wurde, trat die Exkommunikation hinzu. Dies bedeutete Verlust des Amtes, der Würde mit Rechten und Einkünften, Ausschluß aus dem Klerikerstand. Eine\\ iedereinsetzung war ausgeschlossen (depositio perfecta). Die Verurteilten behielten ihre Weihen und blieben weiterhin zur Laienkom- munion zugelassen. Solche Depositionen wurden in der 2. Hälfte des 9. Jh. zu cansae maiores des Papstes. Wesentliches Element derAbsetzung ist ferner das Depositionszeremoniell, die Abnahme der liturgischen Geräte, die der zum \Veihegrad gehörigen Gewänderbzw. deren Zerreißen. Die weitere Strafe lautete vielfach auf Exil oderdauernde Klosterhaft bzw.

�freiwilligen" Klostereintritt. 153

Erst hierdurch ließ sich eine weitere Amtsausübung verhindern, die jegliches Recht auf Wiedereinsetzung ausschloß. Von alldem hören wir bei Gunthar und Theutgaudus nichts. Rechtssymbolisch wurde die Absetzung demnach nicht

151) Haller, Nikolaus (wie Anm. 66), S. 55. 152) Schrörs, Hinkntar (wie Anm. 9), S. 243-249,270-289,234-351; Devisse, Hincmar (wie Anm. 21), S. 582-634; Hartmann, Synoden (wie Anm. 8), S. 313-328. 153) Wie Anm. 148; Fuhrmann, Pseudoisidor (wie Anm. 22), S. 249-257, zum Fall des Bischofs Hermann von Ncvcrs; Hartmann, Synoden (wie Anm. 8), S. 248,250,260 und 218-220 zum Schreiben Leo )M 847/848 an die Bischöfe der Bretagne. Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 843-859 (NIGH Concilia 3). cd. W Hartmann, Hannover 1984, S. 187-189, c. 3, Nam nullam dampnatinnent episcaponun esse unquam censemus, nisi ante legitinuun nunterum episcoporunr. qui fit per drrodecim episcopos. ... Et si inter cos. quas dampnandos esse dixerint homines. frerit episcopus, qui suant causanr in presentia Romane sedis episcopi petierit audiri, nullus super illum finitivanr pnrswnat dare suucncianr, sed omnino cum audiri decernimus.

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vollzogen, was Gunthar 864 erst die widerrechtliche Amtsausübung er- möglichte. 'S' Eine Einweisung ins Kloster, wie sie bei Rothard von Soisson 862 vorgenommen wurde, '" war wegen der Machtverhältnisse in Italien jedoch

unmöglich. Im Zusammenhang mit derAbsetzung beider Erzbischöfe ist ferner zu bedenken, daß bei einer Verurteilung nach `altem' Recht eine lotharingisch-

ostfränkische Synode hierfür zuständig gewesen wäre; ein Urteilsspruch im Sinne Nikolaus I. wäre sicherlich nicht ergangen. In der Forschung wurde ferner die Vermutung geäußert, Niklolaus habe sich schon 863 an den Pseudo- isidorischen Dekretalen orientiert, da er das Verfahren selbst eröffnet habe. '56

Alle diese Beobachtungen vermögen freilich keinen vollständigen Überblick darüber zu geben, welchen Rechtsstandpunkt Nikolaus I. bei derAbsetzung nun tatsächlich einnahm. Ein bisher kaum berücksichtigterAspekt mag das Vorgehen Nikolaus I. ebenso einleuchtend begründen. Gunthar war der erste Kölner Erz- bischof, der das Pallium erhalten hat. ScitAnfang des 9. Jh. waren alle Metropo- liten verpflichtet, binnen dreierMonate nach derWeihe beim Papst um die Ertei- lung nachzusuchen und ein Glaubensbekenntnis abzulegen. Deutlich zu erken- nen ist der Rechtscharakter, den Nikolaus I. aus der Verleihung ableitete. 866 formulierte er, daß ein Metropolit erst nach Erhalt des Palliums seine Metro- politanfunktion ausüben dürfe (satte interim in throno non sedentent et praetor corpus Christi non consecrantent, priusquant palliwn a sede Romana percipiat, sicttti Galliarºn omnes ei Gerntaniae ei aliarunt regionumt archiepiscopi ageie cotmprobatttttr). 'S' Wenn Nikolaus diesen Rechtsstandpunkt einnahm, konnte er dann sich auch das Recht der Deposition von Metropoliten vorbehalten? Einen solchen Zusammenhang legt eineAussage dcrAnnalcs Xantenses nahe. Die bei- den Erzbischöfe hätten bei ihrer Klage gegen den Papst nicht berücksichtigt, ab eo pallittttt digttitatis accepisse. Loquente pereos apostata spiritºt... 13'. Erhellend ist in diesem Kontext die Bedeutung, die Nikolaus I. und Hadrian II. der päpstli-

154) REK 197. 155) Schrörs, Hinkmar (wie Anm. 9), S. 245. -Annales Bertiniani (wie Anm. 28), S. 226, der zum Diakon geweihte Karlmann wurde 873 in Senlis entkleidet; Hartmann, Synoden (wie Anm. 8). S. 327f. - Für jeden erkennbar konnte dem Verurteilten auch das Fleisch an den Weihefingem und die Tonsur mit Messer oder Scherbe entfernt werden. 156) Vgl. Anm. 22. Pseudoisidor gelangte erst im Zuge der Absetzung und der folgenden Appellation Rothards von Soissons um 863/4 nach Rom. Kottje, Autoritätsanspruch (wie Anrn. 10), S. 102f. 157) MGH Epp 6, Nr, 99, S. 568-600, hier593, Z. I5- 18; Zum Pallium: Hinschius (wicAnm. 148), Bd. 2, Berlin 1887, S. 23-37, hier28,31 zur Pflicht der Einholung des Palliums in Rom und der EinschränkungderAmtsgewalt, bis zurErteilung. O. Engels, Der Pontifikatsantrittundseine Zeichen, in: Segni e riti nella Chiesa altomedioevale occidentale (Settimanc di Studio ... 33,2), Spoleto 1987. S. 706-766, hier735-744. 158) Annales Xantenses, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 2, hg. R. Rau (Freiherr vorn Stein Gedächtnisausgabe 6), Darmstadt 1969, S. 340-371, hier zu 865, S. 356. Diese Vorstellung legt ebenso der Spruch über die anderen lotharingischen Bischöfe nahe, da es hieß, daß sie ihr Amt vom Papst empfangen haben. MGH Epp 6, Nr. 18, S. 285. Z. 31 f. Quodsi crrrn sede apostolica, ende cos principiuni episcopaurs sunipsisse nurniifestum est....

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ErzbischofGunrhnr ron Köln 31

chen Prüfung des Elekten und der Verleihung des Palliums bei der Wieder- besetzung des Kölner Erzbistums beimaßen. 1S9 Der Gedanke, daß ein Erzbischof nur vor dem Papst angeklagt und von diesem verurteilt werden konnte, und nicht etwa wie sonst üblich von seinen 1\ titbischöfen, lag überhaupt nicht außerhalb jeglicherVorstellung, erhieltdoch Hinkmar von Reims diese Rechtsstellung kurz vor der Synode von Rom. "' Eine wichtige Erklärung für das Verfahren und den Rechtsstandpunkt findet sich in der Sentenz selbst; im Kapitel Desententiis atque inderdictis sedis apostolicae betonte Nikolaus I. seinen Jurisdiktionsprimat. 161

Bei eingehender Betrachtung der mit dem Absetzungsverfahren in Rom zusammenhängenden Quellen16' erkennt man, daß erst die päpstlichen Schreiben und Berichte nach der Synode von Ende Oktober 863 die Vorwürfe präzisieren. Nikolaus 1. geriet unter Druck des Kaisers und der fränkischen Bischöfc. 163 Deutliches Zeichen hierfür ist das Schreiben Nikolaus I. an Ludwig von Ostfranken und dessen Klerus vom 31. Oktober 867, in dem die 863 erhobenen Vorwürfe durch andere ergänzt wurden. Ziel war es, die Gründe für die Amtsenthebung zu bekräftigen und die Ablehnung einer Wiedereinsetzung ins Amt zu rechtfertigen: Ecce pro quibus totiens rogatis, ecce pro quibus indefessi satagitis. 16i

Selbst nach diesen Überlegungen, die zeigen sollten, daß das Verfahren nicht pauschal als rechtswidrig bezeichnet werden kann, bleiben Fragen offen. \Veslialb verwarf Nikolaus nach der Prüfung nicht nur die Beschlüsse von Metz als mit dem Kirchenrecht nicht vereinbar, sondern setzte beide Erzbischöfe ab? Warum griff der Papst direkt zum schärfsten Mittel derAbsetzung und begnügte sich nicht mit einer Suspension vom Amt? Weshalb erwähnte Nikolaus mit keinem Wort seine beiden Legaten'5 Radowald und Johannes? Ebenso ist zu

159) HIGH Epp 6, Nr. 5, S. 246-248, Gunthar an Hadrian ll. 870, Nr. 23, S. 288, Nikolaus 1. an Lothar Il.; REK 216.225; GP VII 26 (Ende 863). 160) Vgl. Anm. 111. 161) NIGH Epp 6. Nr. 18, S. 286, c. 5, Z. 18-22; Perels, Nikolaus (wie Anm. 65), S. 84; Kottje, Autoritätsanspruch (wie Anm. 10), S. 103. 162) Die wesentlichen weiteren Stücke sind in den Regcsten der Erzbischöfe von Köln zu den Ereignissen von 863 und 864 zusammengestellt: REK 193-196. Vgl. GP VII 24-31; GPX 24-32. 163) GP VII 31,33,41,45-IS. 164) NIGH Epp 6, S. 347. Z. 5. Nr. 53. Dies gilt für folgende Vorwürfe: Segnung der Ehe Lothars mit Waldrada. Bestechung der Lcgatcn, Ausübung von Druck au f die Bischöfe wähnend der Synode, Erpressung der Unterschriften. Tilgung des Prüfungsvorbehalts durch den Papst. (S. 343,347). 165) Radowald und Johannes flohen vor Zusammentreten der Synode zu Ludwig 11. Der Spruch über Radowald wegen der angeblichen Bestechlichkeit in Konstantinopel stand noch aus. Vgl. Haller. Nikolaus (w"icAnm. 66), S. 55. Anm. 144, �Die Erzbischöfe zu verurteilen, ehe dasMerhaltcn der Legaten geprüft war, widersprach den einfachsten Rechtsbegri ffen. " In diesem Zusammenhang glaubt Haller an eine Einigung zwischen Kaiser Ludwig II. und Nikolaus, die die italienischen Bischöfe unbehelligt ließ (S. 47f. ).

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fragen, weshalb der kaiserliche Gesandte, der Bischof Hagano von Bergamo, der die Ehe Lothars mit Waldrada gesegnet und in Metz eine wichtige Rolle

gespielt hatte, unbehelligt blieb. Gunthar hingegen sah in Hagano den Haupt-

schuldigen für sein Unglück. ' Ein abschließendes Urteil zu finden scheint schwer. Verstehen wir aber die Absetzung als politischen Prozeß, erkennt man zweifelsohne die Zeitbedingtheit des Urteils, denn Nikolaus handelte, vielleicht unbewußt, zum Vorteil Karls des Kahlen und Hinkmars von Reims. Dies gilt besonders für die zwischen dem westfränkischen und lotharingischen Episkopat

eskalierten Konflikte. Hinkmars Hauptgegner Gunthar und Theudgaud waren nach derAbsetzung handlungsunfähig. Berücksichtigt man ferner die Einfluß- nahme von Bischof Odo von Beauvais im April 863 im Sinne der westfränk- ischen Politik auf Nikolaus 1., dann rundet sich das Bild ab. Die hier vorgelegte These zur Hochzeit Lothars mit Waldrada, kann dies nur noch bekräftigen, lag es doch sicherlich nicht im Interesse Karls des Kahlen, daß Lothar seinen Sohn Hugo durch den geschickten Schachzug legitimiert hatte. Im Interesse Theutbergas handelte Nikolaus allemal, denn nachweisbar befand sich zur Zeit der Synode von Rom ihr Hofkaplan Engclwin bei Nikolaus. Dieser überbrachte nach seiner Rückkehr HinkmardicAbsetzungssentenz. 167 Diese Schlußfolgerun- gen dürfen aber nicht die Tatsache unberücksichtigt lassen, daß Nikolaus I. die Angelegenheiten Rothards von Soissons und der Judith gegen die westfränk- ischen Interessen entschied. 16S Im Sinne Ludwigs von Ostfranken bestätigte Nikolaus 864 die Vereinigung des Bistums Bremen mit dem Erzbistum Ham- burg. 169 Hiergegen konnte sich Gunthar nun nicht mehr wehren.

Die politischen Auswirkungen des Ehestreites erschütterten das Mittelreich schwer. Trotz der Absetzung und der Versuche Lothars II., Gunthar 864 durch den Welfen Hugo zu ersetzen, standen die Einwohner Kölns zum Erzbischof. 170

166) Liber Pontificalis (wie Anm. 62), S. 160; Staubach, Sedulius (wie Anm. 62), S. 592. 167) MGI-I Epp 8, Nr. 169, S. 159, Z. 25; RI 1304d; Dümmlcr, Ostfränkisches Reich (wie Anm. 2), S. 111, Engelwin erhielt nach HukbertsTod das Martinsklosterzu Tours. Perels, Nikolaus (wie Anm. 65), S. 83, geht von weiteren Informanten aus. 168) JE 2722. 169) REK 200; GP VII, 32,31. Mai 864. 170) REK 197. 171) REK 223; GP VII 51. 172) REK 225,228-235; GP \'ll 58. 173) REK 239; Zusammenfassend: Georgi, Gunihar (vie Anm. 3), S. 25-31. 174) R. Schicffer, Die Entstehung von Domkapiteln in Deutschland (Bonner Historische Forschungen 42), Bonn 1976, S. 132-135,280; G. Hauser, Abschied toin Hildcbold-Dorn. Die Bauzeit des alten Domes aus archäologischer Sicht, in: Kölner Domblatt 56 (1991), S. 209-228; D. Hochkirchen, Ein Kapitelfragment aus der Domgrabung. Neue Erkenntnisse zu Bau VI. in: Ebd. 59 (1994), S. 225-250, hier 246-249.

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Erst nach dem Tod Lothars II. 869 im Kampf Ludwigs von Ostfranken und Karls des Kahlen um das Mittelreich verlor Gunthar jede Chance auf eine Wiedereinsetzung, die ihm Hadrian II. noch 869 in Aussicht gestellt hatte. ̀ In dieser veränderten politischen Situation erkannte er seine Absetzung an und verwandte sich mehrfach für seinen Nachfolger Willibert beim Papst. "' Die Kölner Kirche bewahrte sein Andenken als passintus doctor, "' verdankte sie ihm doch die Güterteilung des Jahres 866 und vielleicht den Bau des karolingischen Domes. "'