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Ka rin Slaugh ter

LETZTE WORTE

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Buch Ein Mädchen nimmt sich eines Nachts an einem See das Leben. Am Ufer hat es seine Schuhe und eine Abschiedsnotiz hinterlassen. Doch der Messerstich im Nacken verheißt alles andere als Selbstmord … Lena Adams und ihr Partner Frank Wallace stehen noch am selben Morgen dem vermeintlichen Mörder gegenüber. Er wehrt sich, sticht auf einen Kollegen ein und verletzt ihn schwer. Der Junge wird in-haftiert, gesteht, unterschreibt vor Lenas Augen das Geständnis – und bringt sich im ersten unbeaufsichtigten Moment in seiner Zelle um. Zu-vor hat er noch mit seinem eigenen Blut an die Wand geschrieben: »Ich war's nicht.« Für Sara Linton ist es eindeutig: Lena Adams trägt Schuld am Tod des Jungen. Sie will Lena ein für alle Mal aus dem Verkehr ziehen und nimmt Kontakt zum Georgia Bureau of Investigation auf …

AutorinKarin Slaughter, Jahrgang 1971, stammt aus Atlanta, Georgia. 2003 er-schien ihr Debütroman Belladonna, der sie sofort an die Spitze der in-ternationalen Bestsellerlisten und auf den Thriller-Olymp katapultier-te. Ihre Romane um Rechtsmedizinerin Sara Linton, Polizeichef Jeffrey Tolliver und Ermittler Will Trent sind inzwischen in 32 Sprachen über-

setzt und weltweit mehr als 30 Millionen mal verkauft worden.

www.karin-slaughter.dewww.karinslaughter.com

www.blanvalet.de

Bei Blanvalet von Karin Slaughter bereits erschienen:

Belladonna (Grant County 1)Vergiss mein nicht (Grant County 2)

Dreh dich nicht um (Grant County 3)Schattenblume (Grant County 4, in Vorbereitung)

Gottlos (Grant County 5, in Vorbereitung)Zerstört (Grant County 6)Verstummt (Will Trent 1)Entsetzen (Will Trent 2Tote Augen (Georgia 1)

Letzte Worte (Georgia 2)Harter Schnitt (Georgia 3)

Bittere Wunden (Georgia 4)Unverstanden

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KA RIN SLAUGH TER

LETZ TE WOR TE

Thril ler

Deutsch von Klaus Berr

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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Broken« bei Delacorte Press, an imprint of The Random House Publishing

Group, a division of Random House, Inc., New York.

Ver lags grup pe Ran dom House FSC® N001967Das FSC®-zer tifi zier te Pa pier Holmen Book Cream

für dieses Buch lie fert Holmen Paper, Hallstavik, Schwe den.

1. Aufl ageTaschenbuchausgabe September 2014 im Blanvalet Verlag, München,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Karin SlaughterCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Umschlaggestaltung: © bürosüdUmschlagmotiv: Getty Images/Flickr/IlinaS

Herstellung: samSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Druck und Einband: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN: 978-3-442-37816-6

www.blanvalet.de

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Für Vic to ria

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Pro log

A lli son Spooner woll te in den Fe ri en aus der Stadt raus, aber sie wuss te nicht, wo hin sie fah ren soll te. Es gab

auch kei nen Grund hierzublei ben, aber we nigs tens war es bil li ger. We nigs tens hat te sie ein Dach über dem Kopf. We-nigs tens funk ti o nier te in ih rer Woh nung hin und wie der die Hei zung. We nigs tens be kam sie in der Ar beit eine war-me Mahl zeit. We nigs tens, we nigs tens, we nigs tens … Wa-rum ging es in ih rem Le ben im mer um das We nigs te? Wann wür de mal eine Zeit kom men, da es an fi ng, um das Meis te zu ge hen?

Der Wind wur de stär ker, und sie ball te in den Ta schen ih-rer dün nen Ja cke die Fäus te. Es reg ne te kaum, es war eher ein feucht kal ter Dunst, der sich auf den Bo den senk te, wie vor der Nase ei nes Hun des. Die ei si ge Käl te, die vom Lake Grant kam, mach te es noch schlim mer. So oft der Wind auf-frisch te, kam es ihr vor, als wür den win zi ge, stump fe Ra sier-klin gen ihr die Haut rit zen. Ei gent lich war man hier in South Ge or gia, nicht am ver damm ten Nord pol.

Wäh rend sie auf dem baum be stan de nen Ufer nach si che-rem Tritt such te, kam es ihr vor, als wür de jede Wel le, die am Schlamm leck te, die Tem pe ra tur um ein weiteres Grad ab sen ken. Sie frag te sich, ob ihre leich ten Schu he sta bil ge-nug wa ren, um Frost beu len an ih ren Ze hen zu ver hin dern. Im Fern se hen hat te sie ei nen Mann ge se hen, der alle Fin-ger und Ze hen an die Käl te ver lo ren hat te. Er hat te ge sagt, er sei dank bar, über haupt noch am Le ben zu sein, aber die

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Leu te sa gten doch al les, nur um ins Fern se hen zu kom men. So wie Alli sons Le ben im Au gen blick lief, wür de die ein zi-ge Sen dung, in die sie es je schaf fen wür de, die Abend nach-rich ten sein. Man wür de ein Foto zei gen – wahr schein lich das gräss li che aus ih rem High school-Jahr buch – und da ne-ben die Wör ter »Tra gi scher Tod«.

Alli son er kann te durch aus die Iro nie der Tat sa che, dass sie für die Welt tot wich ti ger wäre. Lebend scher te sich nie mand ei nen Dreck um sie – die we ni gen Dol lar, die sie ge ra de noch so zu sam men krat zen konn te, der be stän di ge Kampf, im Stu-di um mit zu kom men und zu gleich all die an de ren Ver ant-wort lich kei ten in ih rem Le ben zu be wäl ti gen. Nichts da von wür de für ir gend je man den von Be deu tung sein, au ßer sie lan-de te er fro ren am See ufer.

Wie der frisch te der Wind auf. Alli son dreh te der Käl te den Rü cken zu, spür te, wie ihre ei si gen Fin ger ihr in den Brust-korb sta chen, auf die Lun ge drück ten. Ein Zit tern lief durch ih ren Kör per. Ihr Atem stand als Wol ke vor ihr. Sie schloss die Au gen. Der Sprech ge sang ih rer Prob le me drang zwi schen ih ren klap pern den Zäh nen her vor.

Ja son. Uni. Geld. Auto. Ja son. Uni. Geld. Auto.

Das Man tra durch brach den kal ten Wind. Alli son öff ne-te die Au gen. Sie schau te sich um. Die Son ne ging schnel ler un ter, als sie ge dacht hat te. Sie dreh te sich zum Col lege um. Soll te sie zu rück ge hen? Oder soll te sie wei ter ge hen?

Sie ent schloss sich wei ter zu ge hen und zog den Kopf ge gen den heu len den Wind ein.

Ja son. Uni. Geld. Auto.

Ja son. Ihr Freund hat te sich, schein bar über Nacht, in ein Arsch loch ver wan delt.

Uni. Sie wür de vom Col lege fl ie gen, wenn sie nicht mehr Zeit zum Stu die ren fände.

Geld. Sie wür de sich kaum das Le ben si chern, ge schwei ge

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denn zur Uni ge hen kön nen, wenn sie ihre Ar beits stun den noch wei ter re du zier te.

Auto. Als sie es heu te Mor gen an ließ, hat te es an ge fan gen zu qual men, was kei ne gro ße Sa che war, weil es seit Mo na-ten qualm te, aber dies mal war der Rauch durch die Lüf tungs-schlit ze ins In ne re ge drun gen. Auf der Fahrt zum Col lege wäre sie bei na he er stickt.

Alli son stapf te wei ter und füg te ih rer Lis te »Frost beu len« hin zu, wäh rend sie um die Bie gung des Sees ging. Wenn im-mer sie blin zel te, hat te sie das Ge fühl, ihre Li der wür den durch eine dün ne Eis schicht schnei den.

Ja son. Uni. Geld. Auto. Frost beu len.

Die Angst vor Frost beu len schien am drän gend sten zu sein, ob wohl sie wi der wil lig zu ge ben muss te, dass ihr, je mehr sie da rü ber nach dach te, umso wär mer wur de. Viel leicht schlug ihr Herz schnel ler, oder sie ging schnel ler, als die Son ne lang sam hin ter dem Ho ri zont ver schwand und sie er kann-te, dass ihr Jam mern über den Tod in der Käl te Wirk lich-keit wer den wür de, wenn sie sich, ver dammt noch mal, nicht be eil te.

Alli son stütz te sich mit ei ner Hand an ei nem Baum ab, um ein Ge wirr von Wur zeln zu über que ren, die im Was ser ver-schwan den. Die Rin de war feucht und fühl te sich un ter ih-ren Fin ger spit zen schwam mig an. Ein Gast hat te heu te Mit-tag ei nen Ham bur ger zu rück ge hen las sen, weil er mein te, das Bröt chen sei zu schwam mig. Es war ein kräf ti ger, schrof fer Mann in vol ler Jagd aus rüs tung gewesen, von dem sie nie er-war tet hät te, dass er ein Wort wie »schwam mig« über haupt in den Mund neh men wür de. Er hat te mit ihr ge fl ir tet, und sie hat te zu rück ge fl ir tet, und als er ging, gab er ihr bei sei ner Rech nung von zehn Dol lar ein Trink geld von fünf zig Cent. Er hat te ihr tat säch lich zu ge zwin kert, als er zur Tür hi naus-ging, so als hät te er ihr ei nen Ge fal len ge tan.

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Was für ein Le ben woll te Alli son für sich? Ein Le ben, wie es in ih rem Blut ge schrie ben stand. Ihre Mut ter hat te so ei-nes ge lebt. Ihre Groß mut ter hat te es ge lebt. Ihre Tan te Shei-la hat te es ge lebt, bis sie eine Schrot fl in te auf ih ren On kel Boyd rich te te und ihm da mit bei na he den Kopf ab ge schos-sen hät te. Alle drei Spooner-Frau en hat ten an dem ei nen oder dem an de ren Punkt al les für ei nen wert lo sen Mann weg ge wor fen.

Alli son hat te es bei ih rer Mut ter so oft mit er lebt, dass sie zu der Zeit, als Judy Spooner zum letz ten Mal im Kran ken haus war, ihr gan zes In ne res zer fres sen vom Krebs, über nichts an de res mehr nach den ken konn te als über die Ver wüs tun-gen im Le ben ih rer Mut ter. Sie sah so gar ver wüs tet aus. Sie war erst ach tund drei ßig Jah re alt, doch ihre Haa re wur den be reits schüt ter und grau. Ihre Haut war stumpf. Ihre Hän de wa ren wie Klau en nach den Jah ren der Ar beit in der Rei fen-fab rik – die Rei fen vom Band neh men, den Druck prü fen und sie wie der aufs Band le gen, dann den nächs ten Rei fen und den nächs ten und den nächs ten, zwei hun dert pro Tag, bis je-des Ge lenk in ih rem Kör per schmerz te, wenn sie abends ins Bett kroch. Ach tund drei ßig Jah re alt, und der Krebs war ihr will kom men. Die Er lö sung war ihr will kom men.

Das wa ren so ziem lich die letz ten Wor te, die Judy zu Alli-son ge sagt hat te, dass sie froh sei zu ster ben, froh, dass sie nicht mehr al lein sein müs se. Judy Spooner glaub te an den Him mel und die Er lö sung. Sie glaub te, dass ei nes Ta ges gol-de ne Stra ßen und präch ti ge Häu ser die Kies ein fahrt und den Wohn wa gen im Trai ler-Park ih res ir di schen Le bens er set zen wür den. Alli son glaub te nur, dass sie ih rer Mut ter nie ge nug ge we sen war. Ju dys Glas war im mer halb leer, und all die Lie-be, die Alli son im Lauf der Jah re in ihre Mut ter gegossen hat-te, hatte sie nie ganz ausgefüllt.

Judy war viel zu tief im Dreck ver sun ken ge we sen. Der

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Dreck ei nes aus sicht lo sen Jobs. Der Dreck ei nes wert lo sen Man nes nach dem an de ren. Der Dreck ei nes Ba bys, das sie da ran hin der te wei ter zu kom men.

Das Col lege soll te Alli sons Ret tung sein. Sie war gut in den wis sen schaft li chen Fä chern. Wenn man ihre Fa mi lie be trach-te te, schien das un ver ständ lich, aber ir gend wie be griff sie, wie Che mi ka li en funk ti o nier ten. Sie ver stand die Grund la gen der Syn the se von Mak ro mo le kü len. Die Kennt nis der syn the ti-schen Po ly me re fl og ihr prak tisch zu. Und das Wich tigs te: Sie konn te ler nen. Sie wuss te, dass es ir gend wo auf der Welt ein Buch mit ei ner Ant wort da rin gab, und der bes te Weg, die se Ant wort zu fi n den, war, je des Buch zu le sen, das sie in die Fin ger be kam.

Im Ab schluss jahr der High school hat te sie es ge schafft, sich von den Jungs und der Sau fe rei und dem Meth fern zu hal ten, die Din ge, die so ziem lich je des Mäd chen ih res Al ters in ih-rer klei nen Hei mat stadt Elba, Alab ama, ru i niert hat ten. Sie woll te nicht en den wie ei nes die ser see len lo sen, aus ge laug-ten Mäd chen, die Nacht schicht ar bei te ten und Ko ols rauch-ten, weil sie ele gant aussehen wollten. Sie woll te nicht en den mit drei Kin dern von drei ver schie de nen Män nern, be vor sie über haupt drei ßig Jah re alt wur de. Sie woll te nicht je den Mor gen auf wa chen und die Au gen nicht öff nen kön nen, weil ir gend ei n Man n sie in der Nacht zu vor verprü gelt hat te. Sie woll te nicht tot und al lein in ei nem Kran ken haus bett en den wie ihre Mut ter.

Zu min dest hat te sie sich das so vor ge stellt, als sie Elba vor drei Jah ren ver ließ. Mr May we ather, ihr Na tur wis sen schafts-leh rer, hat te alle Fä den ge zo gen, die er konn te, da mit sie in ei nem gu ten Col lege auf ge nom men wur de. Er woll te, dass sie so weit wie mög lich weg ging von Elba. Er woll te, dass sie eine Zu kunft hat te.

Grant Tech be fand sich in Ge or gia, und es war, was die

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Ent fer nung an ging, nicht so weit weg, wie es ge fühls mä ßig weit weg war. Das Col lege war rie sig im Ver gleich zu ih rer High school, die eine Ab schluss klas se von neun und zwan zig Schü lern hat te.

Alli son hat te die ers te Wo che auf dem Cam pus mit der Fra ge zu ge bracht, wie es mög lich war, sich in ei nen Ort zu ver lie ben. Ihre Klas sen wa ren voll mit Ju gend li chen, die mit ei ner Viel zahl von Mög lich kei ten auf ge wach sen wa ren und kei nen Ge dan ken da ran ver schwen det hat ten, nicht di rekt nach der High school aufs Col lege zu ge hen. Kei ner ih rer Kom mi li to nen ki cher te höh nisch, wenn sie die Hand hob, um eine Fra ge zu be ant wor ten. Sie glaub ten nicht, man wür-de sich ver kau fen, wenn man ei nem Leh rer tat säch lich zu-hör te und ver such te, et was an de res zu ler nen, als sich künst-li che Fin ger nä gel auf zu kle ben und sich Haar ver län ge run gen ein zu fl ech ten.

Und die Um ge bung des Col leges war hübsch. Elba war ein Elends quar tier, so gar fürs süd li che Alab ama. Heartsdale, die Stadt, in der die Grant Tech sich be fand, fühl te sich an wie eine Stadt, die man sonst nur im Fern se hen sah. Je der pfl eg-te sei nen Gar ten. Im Früh ling säum ten Blu men die High Street. Völ lig Frem de wink ten ei nem zu, ein Lä cheln auf dem Ge sicht. Und in dem Di ner, in dem sie ar bei te te, wa ren die Stamm gäs te freund lich, auch wenn sie we nig Trink geld ga ben. Die Stadt war nicht so groß, dass sie sich ver lo ren vor kam. Lei-der war sie nicht groß genug, um Ja son aus dem Weg zu gehen.

Ja son.

Sie hat te ihn in ih rem An fangs jahr ken nen ge lernt. Er war zwei Jah re äl ter, er fah re ner und welt ge wand ter. Sei ne Vor-stel lung ei nes ro man ti schen Ren dez vous be schränk te sich nicht auf ei nen Ki no be such und eine schnel le Num mer in der letz ten Rei he, be vor der Ge schäfts füh rer ei nen hi naus-warf. Er führ te sie in rich ti ge Res tau rants mit Stoff ser vi et ten

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auf den Ti schen. Er hielt ihre Hand. Er hör te ihr zu. Beim Sex ver stand sie end lich, wa rum die Leu te es »Lie be ma-chen« nann ten. Ja son woll te nicht ein fach nur et was Bes se-res für sich selbst. Er woll te auch et was Bes se res für Alli son. Sie glaub te, dass das, was sie mit ei nan der hat ten, eine ernst-haf te Sa che wäre; die letz ten zwei Jah re ih res Le bens hat te sie da mit ver bracht, mit ihm et was Ge mein sa mes auf zu bau-en. Und dann hat te er sich plötz lich in ei nen völ lig an de ren Men schen ver wan delt. Plötz lich war al les, was an ih rer Be-zie hung so groß ar tig ge we sen war, der Grund, wa rum sie in die Brü che ging.

Und wie es auch bei ih rer Mut ter ge we sen war, hat te Ja son es ir gend wie ge schafft, ihr die Schuld für al les in die Schu-he zu schie ben. Sie sei kalt. Sie sei dis tan ziert. Sie sei zu for-dernd. Sie habe nie Zeit für ihn. Als wäre Ja son ein Hei li-ger, der den gan zen Tag nur da rü ber nach dach te, was Alli son glück lich ma chen könn te. Sie war nicht die je ni ge, die mit Freun den auf näch te lan ge Sauf tou ren ging. Sie war nicht die-je ni ge, die sich im Col lege mit merk wür di gen Leu ten ein ließ. Sie war, ver dammt noch mal, nicht die je ni ge, die sich von die-sem Trot tel aus der Stadt hat te ein wi ckeln las sen. Wie konn te das Alli sons Schuld sein, wenn sie die sem Kerl noch nie ins Ge sicht ge se hen hat te?

Alli son zit ter te wie der. Bei je dem Schritt, den sie an die sem ver damm ten See ent lang ging, kam es ihr vor, als wür de das Ufer noch ein mal hun dert Me ter län ger wer den, nur um ihr eins aus zu wi schen. Sie schau te hi nun ter auf die nas se Erde un ter ih ren Fü ßen. Seit Wo chen stürm te es. Eine Sturz fl ut hat te Stra ßen weg ge spült, Bäu me um ge ris sen. Mit schlech-tem Wet ter hat te Alli son noch nie gut um ge hen kön nen. Die Dun kel heit nag te an ihr, zog sie nach un ten. Sie mach te sie lau nisch und wei ner lich. Die gan ze Zeit woll te sie nur schla-fen, bis die Son ne wie der he raus kam.

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»Schei ße!«, zisch te Alli son, als sie aus rutsch te und sich ge-ra de noch fan gen konn te. Ihre Ho sen bei ne wa ren schlamm-ver klebt fast bis zu den Kni en, die Schu he so gut wie durch-weicht. Sie schau te auf den auf ge wühl ten See hi naus. Der Re gen häng te sich ihr an die Wim pern. Sie strich sich die Haa re mit den Fin gern zu rück, wäh rend sie das dunk le Was-ser an starr te. Viel leicht soll te sie aus rutschen. Viel leicht soll-te sie sich in den See fal len las sen. Wie wür de es sein, sich selbst los zu las sen? Wie wür de es sich an füh len, sich von der Un ter strö mung im mer wei ter in die Mit te des Sees zie hen zu las sen, wo sie kei nen Bo den mehr un ter den Fü ßen hat te und sie kei ne Luft mehr be kam?

Es war nicht das ers te Mal, dass sie da rü ber nach dach te. Wahr schein lich war es das Wet ter, der un auf hör li che Re gen und der trü be Him mel. Im Re gen wirk te al les noch viel de-pri mie ren der. Und ei ni ge Din ge wa ren de pri mie ren der als an de re. Letz ten Don ners tag hat te die Zei tung ei nen Ar ti kel über eine Mut ter mit ih rem Kind ge bracht, die zwei Mei len vor der Stadt in ih rem VW Kä fer er trun ken wa ren. Kurz vor der Third Bap tist Church überschwemmte eine Sturz fl ut die Stra ße und riss sie mit . We gen des De signs der Ka ros se rie konn te der alte Kä fer schwim men, und auch die ses neu e re Mo dell war ge schwom men. Zu min dest am An fang.

Die Mit glie der der Kir chen ge mein de, die eben von ih rem wö chent li chen ge mein sa men Pot luck-Abend es sen ka men, bei dem je der et was mit brach te und auf ei nen Tisch stell te, wuss-ten nicht, was sie tun soll ten, weil je der Angst hat te, selbst von der Flut er fasst zu wer den. Vol ler Ent set zen sa hen die Leu te zu, wie der Kä fer sich auf der O ber fl ä che dreh te und dann nach hin ten kipp te. Was ser ström te in den In nen raum. Mut ter und Kind wur den von der Strö mung mit ge ris sen. Die Frau, die von der Zei tung in ter viewt wur de, sag te, sie wer de für den Rest ih res Le bens abends beim Ein schla fen und mor-

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gens beim Auf wa chen die Hand des klei nen Drei jäh ri gen se-hen, die im mer wie der aus dem Was ser he raus schnell te, be vor das arme Kind schließ lich in die Tie fe ge zo gen wur de.

Auch Alli son konn te nicht auf hö ren, an das Kind zu den-ken, ob wohl sie in der Bib li o thek ge we sen war, als es pas sier-te. Ob wohl sie die Frau und das Kind und auch die Dame nicht kann te, die mit der Zei tung ge spro chen hat te, sah sie, so oft sie die Au gen schloss, im mer die se klei ne Hand aus dem Was ser he raus ra gen. Manch mal wur de die Hand grö-ßer. Manch mal war es ihre Mut ter, die die Hand hil fe su chend nach ihr aus streck te. Manch mal wach te sie schrei end auf, weil die Hand sie in die Tie fe zog.

Wenn sie ehr lich war, muss te sie sa gen, dass ihr schon lan ge vor dem Zei tungs ar ti kel dunk le Ge dan ken durch den Kopf ge gan gen wa ren. Sie konn te nicht al les aufs Wet ter schie ben, doch mit Si cher heit hat ten der stän di ge Re gen und die un er-bitt lich graue Wol ken de cke in ih rem Ge müt ihre ganz ei ge ne Art der Ver zweifl ung he rauf be schwo ren. Um wie viel ein fa-cher wäre es, wenn sie jetzt auf gä be? Wa rum soll te sie nach Elba zu rück keh ren und zu ei ner zahn lo sen, ab ge härm ten al-ten Frau mit acht zehn Kin dern wer den, da sie doch ein fach in die sen See ge hen und einmal ihr Schick sal selbst in die Hand neh men könn te?

Sie wur de so schnell wie ihre Mut ter, dass sie bei na he spür-te, wie ihre Haa re er grau ten. Sie war ge nau so schlimm wie Judy – sie glaub te, sie wäre ver liebt, ob wohl der Kerl nur da-ran in te res siert war, was sie zwi schen ih ren Bei nen hat te. Ihre Tan te Sheila hat te letz te Wo che am Te le fon so et was in der Rich tung ge sagt. Alli son hat te sich über Ja son be klagt, weil sie sich wun der te, dass er ihre An ru fe nicht er wi der te.

Ein Zug an ih rer Zi ga ret te, und dann beim Aus at men: »Du klingst ge nau wie dei ne Mut ter.«

Ein Mes ser in der Brust wäre schnel ler, sau be rer ge we sen.

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Das Schlimms te war, dass Sheila recht hat te. Alli son lieb te Ja-son. Sie lieb te ihn viel zu sehr. Sie lieb te ihn so, dass sie ihn zehn mal am Tag an rief, ob wohl er nie ab hob. Sie lieb te ihn so sehr, dass sie alle zwei Mi nu ten auf ih rem blö den Com pu-ter auf Empfangen klick te, nur um nach zu se hen, ob er eine ih rer un zäh li gen E-Mails be ant wor tet hat te.

Sie lieb te ihn so sehr, dass sie jetzt mit ten in der Nacht hier drau ßen war und die Drecks ar beit er le dig te, zu der er selbst nicht den Mut hat te.

Alli son ging noch ei nen Schritt auf den See zu. Sie spür te, wie ihr Ab satz zu rut schen an fi ng, aber der Selbst er hal tungs-trieb ih res Kör pers über nahm, be vor sie hin fi el. Den noch leck te das Was ser an ih ren Schu hen. Ihre So cken wa ren be-reits durch nässt. Ihre Ze hen wa ren mehr als taub, so kalt, dass ein schar fer Schmerz bis zum Kno chen zu ste chen schien. Wür de es so sein – ein lang sa mes, be täu ben des Glei ten durch eine schmerz lo se Röh re?

Sie hat te Angst vor dem Er sti cken. Das war das Pro blem. Als Kind hat te sie das Meer ge liebt, aber als sie drei zehn Jah-re alt wur de, hat te sich das ge än dert. Ihr idi o ti scher Cou sin Dill ard hat te sie im ört li chen Schwimm bad un ter Was ser ge-drückt, und jetzt nahm sie nicht ein mal mehr ger ne Voll bä-der, weil sie Angst hat te, Was ser in die Nase zu be kom men und in Pa nik zu ge ra ten.

Wenn Dill ard hier wäre, wür de er sie wahr schein lich in den See sto ßen, ohne dass sie ihn da rum bit ten müss te. Als er sie da mals das ers te Mal un ter Was ser hielt, hat te er nicht ei nen Fun ken Reue ge zeigt. Alli son hat te das Mit tag es sen wie der von sich ge ge ben. Ihr Kör per hatte gebebt vor Schluch zen. Ihre Lun ge hatte gebrannt, und er hat te nur »Ha-ha« ge sagt wie ein al ter Mann, der ei nen von hin ten in den Arm zwick-te, nur um ei nen auf krei schen zu hö ren.

Dill ard war Shei las Sohn, ihr ein zi ges Kind, das noch ent-

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täu schen der für sie war als sein Va ter, falls das über haupt mög lich war. Er schnüf fel te so viel Lack, dass sei ne Nase im-mer eine an de re Far be hat te, wenn man ihn sah. Er rauch-te Crystal. Er be stahl sei ne Mama. Als Letz tes hat te Alli son ge hört, dass er im Ge fäng nis war, weil er ver sucht hat te, ei-nen Schnaps la den mit ei ner Was ser pis to le aus zu rau ben. Als die Po li zei kam, hat te ihm der Ver käu fer be reits ei nen Base-ballschlä ger über den Schä del ge zo gen. Als Fol ge da von war Dill ard noch blö der als zu vor, aber eine gute Ge le gen heit hät te er sich trotz dem nicht ent ge hen las sen. Er hät te Alli son mit bei den Hän den ei nen kräf ti gen Schubs ge ge ben, so dass sie kopf ü ber ins Was ser stürz te, wäh rend er sein klei nes La-chen von sich gab: »Ha-ha.« Un ter des sen hät te sie mit den Ar men um sich ge schla gen und ver geb lich ge gen das Er trin-ken angekämpft.

Wie lan ge wür de es dau ern, bis sie ohn mäch tig wür de? Wie lan ge wür de Alli son in To des angst le ben müs sen, be vor sie stürbe? Sie schloss wie der die Au gen und ver such te, sich vor-zu stel len, wie das Was ser sie um gab, sie schluck te. Es wäre so kalt, dass es sich an fangs warm an füh len wür de. Ohne Luft konn te man nicht lan ge über le ben. Man wur de ohn mäch-tig. Viel leicht über kam ei nen Pa nik, die eine Art hys te ri scher Ohn macht zur Fol ge hat te. Oder viel leicht fühl te man sich sehr le ben dig – eu pho ri siert vom Ad re na lin, wie ein Eich-hörn chen in ei ner Pa pier tü te.

Hin ter sich hör te sie ei nen Ast kna cken. Alli son dreh te sich über rascht um.

»O Gott!« Alli son rutsch te wie der aus, doch dies mal stürz te sie wirk lich. Sie fuch tel te mit den Ar men. Ein Knie gab nach. Der Schmerz raub te ihr den Atem. Mit dem Ge sicht klatsch-te sie in den Schlamm. Eine Hand pack te sie am Hin ter kopf, zwang sie, un ten zu blei ben. Alli son at me te die bit te re Käl te der Erde, den nas sen, trie fen den Dreck.

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Ins tink tiv wehr te sie sich, kämpf te ge gen das Was ser an und ge gen die Pa nik, die ihr Ge hirn über fl u te te. Sie spür te, wie ihr ein Knie ins Kreuz ge rammt wur de und sie auf der Erde fest na gel te. Ein bren nen der Schmerz schoss ihr ins Ge nick. Alli son schmeck te Blut. Das war nicht sie. Sie woll te le ben. Sie muss te le ben. Sie öff ne te den Mund, um es aus Lei bes kräf-ten aus sich her aus zu schrei en.

Doch dann – Dun kel heit.

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MON TAG

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1. Ka pi tel

Z um Glück be deu te te das Win ter wet ter, dass die Lei che auf dem Grund des Sees gut er hal ten sein wür de, die Käl te

am Ufer al ler dings fuhr ei nem so in die Kno chen, dass man Mühe hat te, sich zu er in nern, wie der Au gust ge we sen war. Die Son ne auf dem Ge sicht. Der Schweiß, der ei nem den Rü-cken hin un ter lief. Wie die Kli ma an la ge im Auto Ne bel aus den Dü sen blies, weil sie mit der Hit ze nicht mehr mit hal ten konn te. Sosehr Lena sich auch zu er in nern ver such te, an die-sem ver reg ne ten No vem ber mor gen woll ten Ge dan ken an die Wär me ein fach nicht kom men.

»Ge fun den«, rief der Lei ter des Tauch trupps. Er di ri gier-te sei ne Män ner vom Ufer aus, die Stim me ge dämpft vom be stän di gen Rau schen des strö men den Re gens. Als Lena die Hand hob, um zu win ken, lief ihr Was ser in den Är mel des di cken Par kas, den sie sich schnell über ge wor fen hat te, als der An ruf sie um drei Uhr nachts er reich te. Es reg ne te nicht stark, aber un auf hör lich, trom mel te be harr lich auf ih ren Rü-cken, klatsch te auf den Re gen schirm, den sie auf der Schul ter ab stütz te. Die Sicht be trug etwa zehn Me ter. Al les da hin ter war von ei nem duns ti gen Ne bel ver hüllt. Sie schloss die Au-gen, dach te an ihr war mes Bett, den wär me ren Kör per, der den ih ren um schlun gen hat te.

Das schril le Klin geln ei nes Te le fons um drei Uhr in der Früh war nie ein gu tes Ge räusch, vor al lem, wenn man Po li-zis tin war. Mit po chen dem Her zen war Lena aus dem Tief-schlaf auf ge wacht, ihre Hand hat te au to ma tisch nach dem

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Hö rer ge grif fen und ihn sich ans Ohr ge drückt. Sie war die rang höchs te De tect ive mit Ruf be reit schaft, und des halb muss te sie ih rer seits über all in South Ge or gia an de re Te le fo-ne klin geln las sen. Das ih res Vor ge setz ten, das des Co ron ers, das der Feu er wehr und der Ret tung, das des Ge or gia Bu reau of Inv esti gat ion, um die Agen ten wis sen zu las sen, dass man auf öffentlichem Grund eine Lei che ge fun den hat te, das der Ge or gia Emer gency Ma na ge ment Au tho rity, der Be hör de zur Ko or di nie rung von Not fall ein sät zen, die eine Lis te mit ein-satz wil li gen zi vi len Frei wil li gen führ te, die be reit wa ren, auf kurz fris ti ge Alar mie rung hin nach ei ner Lei che zu su chen.

Nun wa ren sie alle hier am See ver sam melt, aber die Schlau en war te ten in ih ren Fahr zeu gen, die Hei zung auf höchs te Stu fe ge stellt, wäh rend der kal te Wind die Ka ros-se rie schau kel te wie eine Kin der wie ge. Dan Brock, der Be-sit zer des ört li chen Be gräb nis ins ti tuts, der auch als Coro ner der Stadt fun gier te, schlief in sei nem Trans por ter, den Kopf an der Na cken leh ne, den Mund weit of fen. So gar die Not-fall sa ni tä ter sa ßen ge schützt in ih rem Kran ken wa gen. Lena sah ihre Ge sich ter durch die Fens ter in den Heck tü ren spä-hen. Hin und wie der wur de eine Hand he raus ge streckt, eine Zi ga ret te glüh te im dämm ri gen Mor gen licht.

Lena hat te eine Be weis mit tel tü te in der Hand. Sie ent hielt ei nen Brief, den man in Ufer nä he ge fun den hat te. Das Pa pier war von ei nem grö ße ren Blatt ab ge ris sen wor den – li nier tes Pa pier, in etwa DIN-A 5. Die Wör ter wa ren in Groß buch-sta ben ge schrie ben. Mit Ku gel schrei ber. Eine Zei le. Kei ne Un ter schrift. Nicht der üb li che ge häs si ge oder kläg li che Ab-schied, son dern klar und deut lich: ICH WILL ES VOR BEI HA BEN.

In vie ler lei Hin sicht sind die Er mitt lun gen bei ei nem Selbst mord schwie ri ger als bei ei nem Mord. Bei ei nem Er-mor de ten gibt es im mer je man den, dem man die Schuld

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ge ben kann. Es gibt Spu ren, die ei nem zum Tä ter füh ren können, ein kla res Mus ter, das man dar le gen kann, um der Fa mi lie zu er klä ren, wa rum ih nen die ge lieb te Per son ent ris-sen wor den ist. Oder wenn schon nicht wa rum, dann wer der Mist kerl ist, der ihr Le ben ru i niert hat.

Bei Selbst mor den ist das Op fer der Mör der. Die Per son, auf der die Schuld las tet, ist auch die Per son, de ren Ver lust am tiefs ten emp fun den wird. Sie ist nicht mehr da, um sich den An schul di gun gen we gen ih res To des zu stel len, der na-tür li chen Wut, die je der emp fi n det, wenn er ei nen Ver lust er lit ten hat. Was die To ten statt des sen hin ter las sen, ist eine Lee re, die all der Schmerz und der Kum mer in der Welt nie wer den fül len kön nen. Mut ter und Va ter, Schwes tern, Brü-der, Freun de und an de re Ver wand te – alle ste hen mit lee ren Hän den da und fi n den nie man den, den sie für ih ren Ver lust be stra fen kön nen.

Und die Men schen wol len im mer be stra fen, wenn ein Le-ben un er war tet ge nom men wird.

Das war der Grund, wa rum es hier Auf ga be der Er mitt-ler war, da für zu sor gen, dass je der Zen ti me ter des Fund orts und des Schau plat zes des To des pe ni bel ver mes sen und auf-ge zeich net wur de. Jede Zi ga ret ten kip pe, je der Pa pier fet zen, je des Stück weg ge wor fe nen Mülls muss te ka ta lo gi siert, auf Fin ger ab drü cke über prüft und für eine Ana ly se ins La bor ge-schickt wer den. Im An fangs be richt wur de auch das Wet ter no tiert. Die ver schie de nen Be am ten und das Not fall per so nal wur den in ei ner se pa ra ten Lis te re gist riert. Falls Schau lus ti ge vor han den wa ren, wur den Fo tos ge macht. Au to kenn zei chen wur den über prüft. Das Le ben des Selbst mord op fers wur de so gründ lich durchleuchtet wie das ei nes Mord op fers: Wer wa-ren ihre Freun de? Wer wa ren ihre Lieb ha ber? Gab es ei nen Ehe mann? Ei nen Freund? Eine Freun din? Gab es wü ten de Nach barn oder nei di sche Ar beits kol le gen?

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Lena wuss te nur, was sie bis jetzt ge fun den hat ten: ein Paar Frau en sport schu he in Grö ße 8, da run ter der Ab schieds brief. Im lin ken Schuh lag ein bil li ger Ring – zwölf ka rä ti ges Gold mit ei nem leb lo sen Ru bin in der Mit te. Der rech te Schuh ent hielt eine wei ße Swiss-Army-Arm band uhr mit fal schen Di a man ten an stel le der Zif fern. Un ter die sem Schuh lag der zu sam men ge fal te te Zet tel.

ICH WILL ES VOR BEI HA BEN.Kein gro ßer Trost für die Hin ter blie be nen.Plötz lich stieß, Was ser auf sprit zend, ei ner der Tau cher

durch die See o ber fl ä che. Sein Part ner tauch te ne ben ihm auf. Bei de muss ten ge gen den Schlick auf dem See grund an kämp-fen, um die Lei che aus dem kal ten Was ser und in den kal ten Re gen zu zer ren. Das tote Mäd chen war klein und zier lich, was ihre An stren gun gen über trie ben wir ken ließ, aber Lena sah schnell den Grund da für. Eine schwere Ket te war um ihre Tail le ge wi ckelt und mit ei nem leuch tend gel ben Vor hän ge-schloss be fes tigt, das ihr wie eine Gür tel schnal le ziem lich tief vor dem Bauch hing. An der Ket te wa ren zwei Wasch be ton-blö cke be fes tigt.

Manch mal er lebte man bei der Po li zei ar beit Wun der. Die Frau hat te of fen sicht lich si cher stel len wol len, dass sie es nicht mehr aus dem See he rausschaff te. Ohne das Ge wicht der Wasch be ton blö cke hät te die Strö mung die Lei che wahr-schein lich in die Mit te des Sees ge trie ben, was es so gut wie un mög lich ge macht hät te, sie zu fi n den.

Lake Grant war ein etwa drei zehn hun dert Hek tar gro ßes, künst lich an ge leg tes Ge wäs ser, das an ei ni gen Stel len bis zu hun dert Me ter tief war. Un ter der Ober fl ä che stan den ver las-se ne Häu ser, klei ne Hüt ten und Schup pen, wo frü her Men-schen ge lebt hat ten, be vor das Ge biet in ein Was ser re ser voir um ge wan delt wur de. Es gab dort un ten Ge schäf te und Kir-chen und eine Baum woll spin ne rei, die den Bür ger krieg über-

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lebt hat te, nur um wäh rend der De pres si on ge schlos sen zu wer den. Das al les war aus ge löscht wor den von dem he rab-stür zen den Was ser des Och awa hee River, da mit das Grant County eine zu ver läs si ge Strom quel le erhielt.

Der Groß teil des Sees ge hör te dem Na ti o nal Fo rest Ser-vice, deut lich über vier hun dert Hek tar, die um den See lagen wie eine Ka pu ze. Eine Sei te grenz te an das Wohn ge biet, wo die Wohl ha ben de ren leb ten, die an de re ans Grant Ins ti tu te of Techno logy, ei ner klei nen, aber auf stre ben den staat li chen Uni ver si tät mit fast fünf tau send Stu den ten.

Sech zig Pro zent des acht zig Mei len lan gen See ufers ge-hör te der State Fores try Di vi si on. Die bei wei tem be lieb tes-te Stel le war die se hier, Lover’s Point, wie die Ein hei mi schen sie nann ten. Hier durf ten Cam per ihre Zel te auf stel len. Teen-ager ka men hier her, um Par tys zu fei ern, und hin ter lie ßen oft lee re Bier fl a schen und be nutz te Kon do me. Hin und wie der gab es ei nen An ruf we gen ei nes Feu ers, das ir gend je mand hat te au ßer Kont rol le ge ra ten las sen, und ein mal war ein toll-wü ti ger Bär ge mel det wor den, der sich dann aber als al ters-schwa cher Lab ra dor er wies, der sich vom La ger platz sei nes Herr chens fort ge schli chen hat te.

Ge le gent lich wur den hier auch Lei chen ge fun den. Ein-mal war ein Mäd chen le ben dig be gra ben wor den. Meh re re Män ner, Teen ager, wie vo raus zu se hen gewesen war, wa ren er trun ken, als sie di ver se Mut pro ben voll führ ten. Im letz-ten Som mer hat te ein Kind sich das Ge nick ge bro chen, als es kopf ü ber in das fl a che Was ser der klei nen Bucht sprang.

Die bei den Tau cher hiel ten inne und lie ßen das Was ser von ih ren An zü gen trop fen, be vor sie ihre Ar beit wie der auf-nah men. Schließ lich, nach zu stim men dem Ni cken von al len Um ste hen den, wur de die jun ge Frau hö her aufs Ufer ge zo-gen. Die Wasch be ton blö cke hin ter lie ßen tie fe Fur chen in dem san di gen Bo den. Es war halb sie ben in der Früh, und

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der Mond schien zu blin zeln, als die Son ne lang sam über den Ho ri zont stieg. Die Tü ren des Kran ken wa gens gin gen auf. Die Sa ni tä ter fl uch ten über die bit te re Käl te, als sie die Roll bah re he raus zo gen. Ei ner hat te ei nen Bol zen schnei der über der Schul ter. Er knall te mit der Hand auf die Mo tor-hau be des Trans por ters des Coro ner, und Dan Brock schreck-te hoch und fuch tel te mit den Ar men. Er schau te die Sa ni-tä ter streng an, blieb aber, wo er war. Lena konn te es ihm nicht ver den ken, dass er kei ne Lust hat te, sich in den Re gen zu stür zen. Das Op fer wür de nir gend wo mehr hin ge hen au-ßer in die Lei chen hal le. Blink lich ter und Si re nen wa ren hier nicht nö tig.

Wäh rend Lena zu der Lei che lief, fal te te sie die Be weis mit-tel tü te mit dem Ab schieds brief sorg fäl tig zu sam men, steck te sie in ihre Par ka ta sche und zog ei nen Stift und ihr Spi ral no-tiz buch he raus. Den Re gen schirm zwi schen Hals und Schul-ter ein ge klemmt, no tier te sie sich Uhr zeit, Da tum, Wet ter, An zahl der Sa ni tä ter, An zahl der Tau cher und An zahl der Fahr zeu ge und Po li zis ten so wie eine kur ze Be schrei bung der Um ge bung, wo bei sie auch auf die ernst fei er li che Stil le der Sze ne rie und das völ li ge Feh len von Schau lus ti gen ein ging – all die De tails, die sie spä ter ge nauso in ih ren Be richt wür de tip pen müs sen.

Das Op fer war un ge fähr so groß wie Lena, etwa eins drei-und sech zig, aber viel zier li cher. Ihre Hand ge len ke wa ren zart wie Vo gel kno chen. Die Fin ger nä gel wa ren un re gel mä ßig ab-ge nagt. Sie hat te schwar ze Haa re und ext rem wei ße Haut. Ver mut lich war sie An fang zwan zig. Ihre ge öff ne ten Au gen wa ren matt wie Baum wol le. Der Mund war ge schlos sen. Die Lip pen wa ren schar tig, als hät te sie ner vös da rauf he rum ge-kaut. Viel leicht hat te aber auch ein Fisch Hun ger be kom men.

Ohne die Zug kraft des Was sers war die Lei che ein fa cher zu ma növ rie ren, und so wa ren nur drei Sa ni tä ter nö tig, um

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sie auf die Roll bah re zu hi even. Schlick vom See grund be-deck te sie vom Kopf bis zu den Ze hen. Was ser troff aus ih-rer Klei dung – Blue jeans, ein schwar zes Fleece-Shirt, wei ße So cken, kei ne Schu he, eine of fe ne, dun kel blaue Auf wärm ja-cke mit dem Nike-Logo auf der Vor der sei te. Die Roll bah re schwank te, und ihr Kopf kipp te von Lena weg.

Lena hör te auf zu schrei ben. »Mo ment mal«, rief sie, weil sie spür te, dass hier ir gend was nicht stimm te. Sie steck te ihr No tiz buch in die Ta sche und ging ei nen Schritt auf die Lei-che zu. Im Na cken des Mäd chens hat te sie et was auf blit zen se hen – et was Sil ber nes, viel leicht eine Hals ket te. Al gen be-deck ten Hals und Schul tern des Mäd chens wie ein Lei chen-tuch. Mit der Spitze ih res Ku gel schrei bers schob Lena die glit schi gen grü nen Ten ta kel weg. Un ter der Haut des Mäd-chens be weg te sich et was, es kräu sel te das Fleisch, wie der Re gen die Wassero ber fl ä che kräu sel te.

Auch den Tau chern fi el die Be we gung auf. Sie alle bück-ten sich, um ge nau er hin zu se hen. Die Haut fl at ter te wie in ei nem Hor ror fi lm.

»Was zum …«»O Gott!« Lena schrak zu rück, als eine klei ne El rit ze aus

ei nem Schlitz im Hals des Mäd chens glitt.Die Tau cher lach ten, wie Män ner eben lachen, die nicht zu-

ge ben wol len, dass sie sich fast in die Hose ge macht hätten. Lena da ge gen leg te sich die Hand aufs Herz und hoff te, dass nie mand mit be kom men hat te, wie ihr das Herz bei nah aus der Brust ge sprun gen wäre. Sie at me te tief durch. Die El rit-ze zap pel te im Schlamm. Ei ner der Män ner hob sie auf und warf sie wie der in den Fluss. Der Lei ter des Tauch trupps riss den un ver meid li chen Witz, dass et was hier fi schig sei.

Lena warf ihm ei nen stren gen Blick zu, be vor sie sich über die Lei che beug te. Der Schlitz, aus dem der Fisch ge kom men war, be fand sich im Na cken, knapp rechts ne ben der Wir-

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bel säu le. Sie schätz te, dass die Wun de ma xi mal zwei ein halb Zen ti me ter breit war. Das ge öff ne te Fleisch war im Was ser ge schrum pelt, doch vor ei ni ger Zeit muss te die Ver let zung sau ber und prä zi se ge we sen sein – ein Schnitt, wie er von ei-nem sehr schar fen Mes ser ver ur sacht wur de.

»Je mand muss Brock we cken«, sag te sie.Jetzt war es plötz lich kei ne Selbst mord er mitt lung mehr.

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2. Ka pi tel

In sei nem dem County ge hö ren den Lin coln Town Car rauch te Frank Wall ace nie, aber die Sitz be span nung hat-

te den Ni ko tin ge stank auf ge nom men, der aus je der sei-ner Po ren si cker te. Er er in ner te Lena an Pig Pen aus dem Peanuts-Comic. Egal wie sau ber er war oder wie oft er sei ne Klei dung wech sel te, der Ge stank folg te ihm wie eine Staub-wol ke.

»Was ist los?«, frag te er barsch und ließ ihr nicht ein mal die Zeit, die Au to tür zu schlie ßen.

Lena warf den feuch ten Par ka auf den Wa gen bo den. Zu vor hat te sie zwei T-Shirts über ei nan der an ge zo gen und da rü ber noch eine Ja cke. Trotz dem und ob wohl die Hei zung auf vol-ler Leis tung lief, klap per ten ihre Zäh ne noch im mer. Es war, als hät te ihr Kör per die gan ze Käl te ge spei chert, während sie drau ßen im Re gen stand, und wür de sie erst jetzt, da sie im War men war, wie der frei ge ben.

Sie hielt die Hän de an den Lüf tungs schlitz. »O Gott, es ist eis kalt.«

»Was ist los?«, wie der hol te Frank. Demonstra tiv schob er sei nen schwar zen Le der hand schuh zu rück, da mit er auf die Uhr schau en konn te.

Lena zit ter te un will kür lich. Sie schaff te es nicht, ih rer Stim me die Auf re gung nicht an mer ken zu la ssen. Kein Po-li zist wür de es ei nem Zi vi lis ten ge gen über je zu ge ben, aber Mor de wa ren in der Ar beit die auf re gends ten Fäl le. Lena war rand voll mit Ad re na lin, und es wun der te sie, dass sie die Käl te

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über haupt spür te. Mit klap pern den Zäh nen sag te sie zu ihm: »Es ist kein Selbst mord.«

Frank wirk te noch ver är ger ter. »Ist Brock der sel ben Mei-nung?«

Brock war wie der zurück in sei nem Trans por ter und schlief, wäh rend die Ket te durch trennt wur de, das sahen sie bei de, weil sie so gar aus dem Auto he raus sei ne schwar zen Ba cken-zäh ne erkennen konn ten. »Brock kann doch sei nen Arsch nicht von ei nem Loch im Bo den un ter schei den«, keif te sie zu rück. Sie rieb sich die Arme, um ein we nig Wär me in den Kör per zu be kom men.

Frank zog sei nen Flach mann he raus und gab ihn ihr. Sie nahm ei nen schnel len Schluck, und der Whis key brann te sich durch ihre Keh le in den Ma gen. Auch Frank nahm ei nen kräf ti gen Zug, be vor er sich den Flach mann wie der in die Ja-cken ta sche steck te.

»Im Na cken ist ein Mes ser stich«, sag te sie.»In Brocks?«Lena warf ihm ei nen ver nich ten den Blick zu. »Im Nacken

des to ten Mäd chens.« Sie bück te sich und such te in ih rem Par ka nach der Brief ta sche, die sie in der Ja cken ta sche der jun gen Frau ge fun den hat te.

»Könn te selbst bei ge bracht sein«, sagte Frank.»Un mög lich.« Sie hielt sich die Hand in den Na cken. »Die

Klin ge drang un ge fähr hier ein. Der Mör der stand hin ter ihr. Hat sie wahr schein lich über rascht.«

Frank mur mel te: »Hast du das aus ei nem Lehr buch?«Lena sag te nichts da rauf, was sie nor ma ler wei se nicht

schaff te. Frank war seit vier Jah ren Interims-Po li zei chef. Al-les, was in den drei Städ ten pas sier te, die das Grant County um fass te, fi el in sei ne Zu stän dig keit. Madi son und Avon dale hat ten die üb li chen Prob le me mit Dro gen und häus li cher Ge walt, aber Heartsdale soll te ei gent lich prob lem los sein.

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Das Col lege war hier an ge sie delt, und die wohl ha ben den Ein woh ner mel de ten je den An fangs ver dacht ei nes Ver bre-chens so fort.

Des sen un ge ach tet hat ten komp li zier te Fäl le die Ten denz, Frank zu ei nem Arsch loch zu ma chen. Ge nau ge nom men konn te das Le ben im All ge mei nen Frank zu ei nem Arsch loch ma chen. Dass sein Kaf fee kalt wur de. Dass der Mo tor sei nes Au tos nicht gleich beim ers ten Ver such an sprang. Dass die Mine sei nes Ku gel schrei bers ein trock ne te. Frank war nicht im mer so ge we sen. Si cher lich hat te er, seit Lena ihn kann-te, schon im mer eine Nei gung zum Mür ri schen ge habt, aber in letz ter Zeit war sein Ver hal ten ge färbt von ei ner sub ti len Wut, die je der zeit durch bre chen konn te. Al les mach te ihn wü tend. In ei nem Au gen blick konn te bei ihm aus be herrsch-ba rer Ir ri ta ti on un ver hoh le ne Ge mein heit wer den.

Zu min dest in die ser spe zi el len An ge le gen heit war Franks Wi der wil le ein leuch tend. Nach fünf und drei ßig Jah ren Po li-zei ar beit war ein Mord das Letz te, was er jetzt noch am Hals ha ben woll te. Lena wuss te, dass er die Nase voll hat te von dem Job und von den Leu ten, mit de nen er des we gen zu tun hat te. In den letz ten sechs Jah ren hat te er zwei sei ner engs-ten Freun de ver lo ren. An ei nem See sit zen woll te er nur noch im son ni gen Flo ri da. Ei gent lich soll te er eine An gel ru te und ein Bier in der Hand ha ben, nicht die Brief ta sche ei nes to-ten Mäd chens.

»Sieht un echt aus«, sag te Frank, als er die Brief ta sche öff-ne te. Lena stimm te ihm zu. Das Le der war zu glän zend. Das Prada-Logo war aus Plas tik.

»Alli son Ju dith Spooner«, sag te Lena, als er ver such te, die durch weich ten Plas tik ta schen aus ei nan der zu zie hen. »Ein-und zwan zig. Der Füh rer schein stammt aus Elba, Alab ama. Ganz hin ten steckt ihr Stu den ten aus weis.«

»Col lege.« Frank hauch te das Wort mit ei nem An fl ug

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von Ver zweifl ung. Es war schlimm ge nug, dass man Alli son Spooner auf staat li chem Grund und Bo den ge fun den hat te. Dass das Mäd chen zu sätz lich aus ei nem an de ren Staat kam und Stu den tin des Grant Tech war, wür de für er höh te po li ti-sche Auf merk sam keit sor gen.

»Wo hast du die Brief ta sche ge fun den?«, fragte er.»In ih rer Ja cken ta sche. Schät ze, eine Hand ta sche hat te sie

nicht. Oder der Mör der woll te, dass wir ihre Iden ti tät er fah-ren.«

Er schau te sich das Füh rer schein fo to des Mäd chens an.»Was ist?«»Sieht aus wie die klei ne Be die nung, die im Di ner ar bei-

tet.«Das Grant Di ner lag vom Po li zei re vier aus am ent ge gen-

ge setz ten Ende der Main Street. Die meis ten Be am ten gin-gen zum Mit tag es sen dort hin. Lena hielt sich al ler dings fern. Ent we der brach te sie sich et was von zu Hau se mit, oder aber sie aß gar nichts.

»Hast du sie ge kannt?«, fragte sie.Er schüt tel te den Kopf und zuck te zu gleich die Ach seln.

»Sie hat gut aus ge se hen.«Frank hat te recht. Ein schmei chel haf tes Füh rer schein fo-

to hat ten nicht vie le, aber Alli son Spooner hat te mehr Glück ge habt als die meis ten. Ihre wei ßen Zäh ne zeig ten ein brei-tes Lä cheln. Die Haa re wa ren nach hin ten ge kämmt, so dass man ihre ho hen Wan gen kno chen sah. Sie hat te Fröh lich keit in den Au gen, als hät te eben je mand ei nen Witz ge macht. Das al les stand in schar fem Kont rast zu der Lei che, die sie aus dem See ge zo gen hat ten. Der Tod hat te ihre Vi ta li tät aus-ge löscht.

»Wuss te gar nicht, dass sie Stu den tin war«, sagte Frank.»Nor ma ler wei se ar bei ten sie nicht in der Stadt«, gab Lena

zu. Die Stu den ten des Grant Tech ar bei te ten ent we der auf

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dem Cam pus oder gar nicht. Sie hat ten so gut wie kei nen Kon takt mit den Städ tern, und die Städ ter ga ben sich Mühe, nicht in Kon takt mit ih nen zu kom men.

»Das Col lege ist über die Thanks giv ing-Fe ri en ge schlos-sen. Wa rum ist sie nicht zu Hau se bei ih rer Fa mi lie?«, gab Frank zu bedenken.

Da rauf hat te Lena kei ne Ant wort. »In der Brief ta sche sind vier zig Dol lar, ein Raub mord war es also nicht.«

Frank schau te trotz dem in das Fach, und sei ne di cken, be-hand schuh ten Fin ger fan den die mit See was ser zu sam men-ge kleb ten Zwan zi ger und Zeh ner. »Viel leicht war sie ein sam. Und hat be schlos sen, ein Mes ser zu neh men und al lem ein Ende zu setz ten.«

»Dann hät te sie ein Schlan gen mensch sein müs sen«, be-harr te Lena. »Du wirst es se hen, wenn Brock sie auf dem Tisch hat. Sie wur de von hin ten er sto chen.«

Er seufz te er schöpft. »Was ist mit der Ket te und den Wasch be ton stei nen?«

»Wir kön nen in Mann’s Hard ware in der Stadt nach fra gen. Viel leicht hat der Mör der sie ja dort ge kauft.«

Er ver such te es noch ein mal. »Bist du dir si cher we gen der Mes ser wun de?«

Sie nick te.Frank starr te wie der auf das Füh rer schein fo to. »Hat sie ein

Auto?«»Wenn sie ei nes hat, ist es nicht in der nä he ren Um ge-

bung.« Sie kehr te noch ein mal zu ih rer Mord the se zu rück. »Wenn sie die zwei Zehnkiloblö cke und die schwe re Ket te nicht durch den Wald ge schleppt hat …«

Frank klapp te die Brief ta sche zu und gab sie ihr zu rück. »Wa rum wird ei gent lich je der Mon tag im mer noch be schis-s ener?«

Da rauf hat te Lena kei ne Ant wort. In der letz ten Wo che

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war es nicht viel bes ser ge we sen. Eine jun ge Mut ter und ihre Toch ter wa ren von ei ner Sturz fl ut mit ge ris sen wor den. Die gan ze Stadt war noch im mer in Auf ruhr über den Ver lust. Kein Mensch konn te sa gen, wie die Leu te auf den Mord an ei ner jun gen, hüb schen Stu den tin re a gie ren wür den.

»Brad ver sucht, je man den vom Col lege auf zu trei ben, der Zu gang zur Re gist ra tur hat und uns Spooners Hei mat ad res-se ge ben kann.« Brad Ste phens war end lich vom Strei fen po-li zis ten zum De tect ive auf ge stie gen, aber sei ne neue Ar beit un ter schied sich kaum von der al ten. Er mach te noch im mer die Lauf ar beit.

»So bald die Spu ren si che rung ab ge schlos sen ist«, bot Lena an, »küm me re ich mich um die To des be nach rich ti gun gen.«

»Alab ama hat zent ra le Zeit.« Frank schau te auf die Uhr. »Ist wahr schein lich bes ser, die El tern di rekt an zu ru fen, als so früh schon die Po li zei von Elba auf zu scheu chen.«

Lena schau te auf die Uhr. Hier war es fast sie ben, was in Alab ama kurz vor sechs be deu te te. Wenn es in Elba so war wie im Grant County, dann hat ten die De tect ives zwar die gan ze Nacht Ruf be reit schaft, an ih ren Schreib ti schen sa ßen sie je doch erst ab acht Uhr mor gens. Nor ma ler wei se stand Lena erst um die se Zeit auf und schal te te die Kaf fee ma schi ne ein. »Wenn ich wie der auf dem Re vier bin, rufe ich an stands-hal ber auch noch bei den Kol le gen an.«

Im Auto wur de es still – bis auf das Pras seln des Re gens auf Blech. Ein Blitz zuck te quer über den Him mel. Lena schreck-te ins tink tiv zu sam men, aber Frank starr te nur auf den See hi naus. Die Tau cher hat ten kei ne Angst vor den Blit zen. Sie wech sel ten sich am Bol zen schnei der ab und ver such ten, das tote Mäd chen von den Wasch be ton blö cken zu be frei en.

Franks Handy klin gel te, ein schril les Tril lern, das klang wie ein Vo gel, der ir gend wo im Wald saß. Er mel de te sich mit ei-nem bar schen »Ja?« Er hör te ein paar Se kun den zu und frag-

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te dann: »Was ist mit den El tern?« Frank mur mel te ein paar Ver wün schun gen. »Dann geh wie der rein, und fi nd’s he raus.« Er klapp te das Handy zu. »Trot tel.«

Lena nahm an, dass Brad ver ges sen hat te, die In for ma ti-o nen über die El tern zu be sor gen. »Wo wohn te Spooner?«

»Tay lor Drive. Num mer sech zehn ein halb. Brad soll sich dort mit uns tref fen, falls er es schafft, sein Ge hirn ein zu-schal ten.« Er star te te den Mo tor und leg te den Arm auf Le-nas Rü cken leh ne, wäh rend er mit dem Auto zu rück stieß. Der Wald war dicht und feucht. Lena stütz te sich mit der Hand-fl ä che am Ar ma tu ren brett ab, wäh rend Frank lang sam zur Stra ße zu rück fuhr.

»Sech zehn ein halb heißt wahr schein lich, dass sie in ei ner Ga ra gen woh nung lebt«, be merk te Lena. Vie le der Ein hei mi-schen hat ten ihre Ga ra gen und Werk zeug schup pen in Wohn-raum um ge wan delt und verlangten dafür von den Stu den-ten exor bi tan te Mie ten. Aber die meis ten Stu den ten woll ten un be dingt au ßer halb des Cam pus woh nen, so dass sie jeden Preis zahlten.

»Der Ver mie ter heißt Gor don Bra ham«, sag te Frank.»Hat Brad das he raus ge fun den?«Sie fuh ren so hef tig über eine Bo den er he bung, dass Franks

Zäh ne au fein and er schlu gen. »Sei ne Mut ter hat es ihm ge-sagt.«

»Na ja.« Lena such te ver zwei felt nach et was Po si ti vem, das sie über Brad sa gen konn te. »Er zeigt Ini ti a ti ve, indem er he-raus ge fun den hat, wem das Haus und die Ga ra ge ge hö ren.«

»Ini ti a ti ve«, wie der hol te Frank spöt tisch. »Der Jun ge wird sich ei nes Ta ges noch mal den Kopf weg schie ßen las sen.«

Lena kann te Brad seit über zehn Jah ren. Frank kann te ihn noch län ger. Für sie beide war er noch im mer der trot te li-ge Jun ge, der Teen ager, der mit sei ner Waf fe, die er zu hoch über der Hüf te trug, völ lig de plat ziert aus sah. Brad hat te ei-

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ni ge Jah re in Uni form hin ter sich und die rich ti gen Tests be-stan den, die ihm die gol de ne Pla ket te ei nes De tect ive ein-brach ten, aber Lena war lan ge ge nug bei der Trup pe, um zu wis sen, dass es ei nen Un ter schied gab zwi schen ei ner Be-för de rung auf dem Pa pier und ei ner Be för de rung auf der Stra ße. Sie konn te nur hof fen, dass in ei ner Klein stadt wie Heartsd ale Brads Man gel an Stra ßen schläue nichts zur Sa-che tat. Be rich te schrei ben und Zeu gen be fra gen be herrsch-te er sehr gut, aber auch nach zehn Jah ren am Steu er ei nes Strei fen wa gens sah er in den Men schen im mer noch eher das Gute als das Schlech te.

Lena hat te im Job ge ra de mal eine Wo che ge braucht, um zu er ken nen, dass es so et was wie ei nen durch und durch gu-ten Men schen nicht gab.

Sie selbst ein ge schlos sen.Doch sie woll te jetzt kei ne Zeit mit Ge dan ken über Brad

ver schwen den. Sie be trach te te die Fo tos in Alli son Spooners Brief ta sche, wäh rend Frank durch den Wald fuhr. Es gab eine Auf nah me von ei ner oran ge far ben ge scheck ten Kat ze, die in ei nem Strei fen Son nen licht lag, und ei nen Schnapp schuss von Alli son und ei ner Frau, ihrer Mut ter, wie Lena ver mu te-te. Das drit te Foto zeig te Alli son auf ei ner Park bank. Rechts von ihr saß ein Mann, der ein paar Jah re jün ger wirk te als sie. Er trug eine tief in die Stirn ge zo ge ne Base ball kap pe und hat-te die Hän de tief in den Ta schen sei ner wei ten Ho se. Links von Alli son saß eine äl te re Frau mit sträh ni gen blon den Haa-ren und zu viel Make-up im Ge sicht. Ihre Jeans wa ren haut-eng. Die Au gen strahlten Här te aus. Sie mochte drei ßig oder drei hun dert Jah re alt sein. Alle drei sa ßen dicht bei sam men. Der Jun ge hat te Alli son Spooner den Arm um die Schul tern ge legt.

Lena zeig te Frank das Foto. Er frag te: »Fa mi lie?«Sie be trach te te das Foto und kon zent rier te sich da bei auf

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den Hin ter grund. »Sieht aus, als wäre das Foto auf dem Cam-pus auf ge nom men wor den.« Sie zeig te es Frank. »Siehst du das Ge bäu de dahin ten? Ich glau be, das ist das Stu den ten-zent rum.«

»Für mich sieht die Frau nicht aus wie eine Col lege stu-den tin.«

Er mein te die äl te re Blon de. »Sieht aus wie eine von hier.« Sie hat te das un miss ver ständ lich bil li ge, blond ge bleich te Aus se hen ei nes in der Klein stadt auf ge wach se nen Mäd chens. Von der nach ge mach ten Brief ta sche ein mal ab ge se hen wirk te Alli son, als be fän de sie sich auf der ge sell schaft li chen Lei ter ei ni ge Stu fen wei ter oben. Es pass te ir gend wie nicht, dass die bei den Freun din nen sein soll ten. »Viel leicht hat te Spooner ein Dro gen prob lem?«, ver mu te te Lena. Nichts über wand Gren zen so ein fach wie Meth am phe ta min.

Schließ lich wa ren sie wie der auf der Haupt stra ße. Die Hin-ter rä der dreh ten ein letz tes Mal im Schlamm durch, als Frank auf den As phalt fuhr. »Wer hat den Fund ei gent lich ge mel-det?«

Lena schüt tel te den Kopf. »Der 911er-An ruf kam von ei-nem Handy. Die Num mer war un ter drückt. Weib li che Stim-me, aber sie woll te ih ren Na men nicht nen nen.«

»Was hat sie ge sagt?«Lena blät ter te be hut sam in ih rem No tiz buch, da mit die

feuch ten Sei ten nicht zer ris sen. Sie fand die Mit schrift und las sie laut vor. »Weib li che Stim me: ›Mei ne Freun din ist seit heu te Nach mit tag ver schwun den. Ich glau be, sie hat sich um-ge bracht.‹ Not ruf be am ter: ›Wie kom men Sie da rauf, dass sie sich um ge bracht ha ben könn te?‹ Weib li che Stim me: ›Sie hat-te letz te Nacht Streit mit ih rem Freund. Sie sag te, sie wür de am Lover’s Point ins Was ser ge hen.‹ Der Be am te ver such te, sie in der Lei tung zu hal ten, aber sie leg te da nach auf.«

Frank sag te nichts. Sie sah sei nen Kehl kopf ar bei ten. Er ließ

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die Schul tern so tief hän gen, dass er aus sah wie ein Klein kri-mi nel ler, der sich am Lenk rad fest klam mer te. Seit Lena in sein Auto ge stie gen war, wehr te er sich ge gen die Mög lich-keit, dass es sich hier um Mord han deln könn te.

»Was denkst du?«, fragte sie.»Lover’s Point«, wie der hol te Frank. »Nur je mand aus der

Stadt wür de es so nen nen.«Lena hielt das No tiz buch vor die Lüf tungs schlit ze der

Hei zung, um die Sei ten zu trock nen. »Der Freund ist wahr-schein lich der Jun ge auf dem Foto.«

Frank ging auf ih ren Ge dan ken gang nicht ein. »Da kam also der 911er-An ruf, und Brad ist zum See ge fah ren und hat was ge fun den?«

»Der Zet tel lag un ter dem rech ten Schuh. Alli sons Ring und die Arm band uhr steck ten in den Schu hen.« Lena bück te sich wie der zu den Be weis mit tel tü ten, die tief in den Ta schen ih res Par kas steck ten. Sie durch wühl te die Hab se lig kei ten des Op fers und fand den Zet tel, den sie Frank zeig te.

ICH WILL ES VOR BEI HA BEN.Er starr te die Schrift so lan ge an, dass sie sich Ge dan ken

mach te, weil er nicht mehr auf die Stra ße ach te te.»Frank?«Ein Rad streif te den As phalt rand. Frank riss das Steu er he-

rum. Lena hielt sich am Ar ma tu ren brett fest. Sie wür de den Teu fel tun und sei nen Fahr stil kor ri gie ren. Frank war nicht der Mann, der sich gern kor ri gie ren ließ, vor al lem nicht von ei ner Frau. Vor al lem nicht von Lena.

»Ko mi scher Ab schieds brief«, sagte sie. »Auch wenn es nur ein vor ge täusch ter ist.«

»Kurz und präg nant.« Frank be hielt eine Hand am Lenk-rad, wäh rend er sei ne Ja cken ta sche durch such te. Er setz te sei-ne Le se bril le auf und starr te auf die ver schmier te Tin te. »Sie hat nicht un ter schrie ben.«

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Lena schau te auf die Stra ße. Er fuhr schon wie der auf der rech ten Be gren zungs li nie. »Nein.«

Frank steu er te wie der in Rich tung Mit tel li nie. »Sieht das für dich aus wie die Hand schrift ei ner Frau?«

Da rü ber hat te Lena noch gar nicht nach ge dacht. Sie be-trach te te den ein zel nen Satz, der mit brei ten, run den Groß-buch sta ben ge schrie ben war. »Sieht or dent lich aus, aber ich könn te nicht sa gen, ob das eine Frau oder ein Mann ge schrie-ben hat. Wir könn ten ei nen Hand schrift ex per ten fra gen. Alli-son ist Stu den tin, also gibt es wahr schein lich Vor le sungs mit-schrif ten und Auf sät ze oder Tests von ihr. Ich bin mir si cher, wir fi n den et was, wo mit wir den Satz hier ver glei chen kön-nen.«

Frank ging auf kei nen ih rer Vor schlä ge ein. Statt des sen sag-te er: »Ich den ke ge ra de an die Zeit, als mei ne Toch ter in ih-rem Al ter war.« Er räus per te sich ein paarmal. »Auf das i hat sie im mer Krin gel ge malt an stel le von Punk ten.«

Lena sag te nichts. Ihre gan ze Kar ri e re lang hat te sie mit Frank ge ar bei tet, aber über sein Pri vat le ben wuss te sie nicht mehr als sonst je mand in der Stadt. Von sei ner ers ten Frau hat te er zwei Kin der, aber das war in zwi schen vie le Ehe frau-en her. Sie wa ren aus der Stadt weg ge zo gen, und an schei nend hat te er kei nen Kon takt mehr mit ih nen. Sei ne Fa mi lie war ein The ma, über das er so gut wie nie re de te, und im Au gen-blick fror Lena zu sehr und war viel zu auf ge regt, um da mit an zu fan gen.

Sie rich te te ihre Auf merk sam keit wie der auf den Fall. »Also, ir gend je mand hat Alli son in den Hals ge sto chen, sie an Wasch be ton blö cke ge ket tet, in den See ge wor fen und dann be schlos sen, es aus se hen zu las sen wie einen Selbst mord.« Lena schüt tel te den Kopf über die se Dumm heit. »Mal wie-der ein kri mi nel les Ge nie.«

Frank schnaub te zu stim mend. Sie spür te, dass sei ne Ge dan-

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