KANT UND PLATO

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KANT UND PLATO von Heinz Heimsoeth, Köln Auf dem Höhengrad und Entscheidungsübergang im Vorschreiten der Kritik der reinen Vernunft^ beim ersten Einstieg in die unabsehbaren Fragebereiche der Metaphysik mit all ihren Erwartungen und Ansprüchen, ihren Versuchungen und Abgründen: tritt mit einem Male der Name Platos als des „erhabenen" Philo- sophen aus ferner Vorzeit auf: in einem feierlichen Ernst der Diktion und der Zuwendung aus Eigenem, wie ihn Kant sonst keinem Philosophen seiner Lehr- zeit und der Vorzeit überhaupt dargebracht zu haben scheint. Die neue eigene Konzeption der metaphysischen Fundamentalbegriffe als solcher der reinen Ver- nunft, abgehoben und entgegengesetzt allen Verstehensbegriffen unserer Wissen- schaften von Erfahrbarem, knüpft Kant, zunächst der Wortwahl nach und dann durch eine Reihe von gedanklichen Bezügen, an die Pktonische „Idee", die ein- stige Ideenlehre, an, — nachdem schon vor dem Einstieg in die „Dialektik" der wichtige Ubergangsabschnitt „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegen- stände überhaupt in Phänomena und Noumena", diese einstens von Plato einge- führten Termini, im griechischen Wortklang, für das eigene Anliegen eingesetzt hatte. In dem, was Kant dann von Platos Lehre, deren „Geistesschwung" und „hohe Sprache" er rühmt, zusammengedrängt auf ein paar Seiten anführt, ist Be- jahung und ehrendes Erklären verbunden mit Abstandnehmen, mit einer War- nung vor der Gefahr von „Ubertreibungen" und einer „mystischen Deduktion" der zu unrecht hypostasierten Ideen. Im gleichen Rückbezug auf Pkto macht Kant die heute in der Hermeneutik- Diskussion so vielbesprochene Äußerung, daß man durch „Vergleichung" der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen lernen könne, als er sich selbst, etwa abweichend von den ersten Ab- sichten, verstand. Dabei scheint als Vergleichung nicht so sehr die verschiedener Texte und Zusammenhangsbezüge gemeint (denn Pkto-Texte kgen Kant kaum vor), als vielmehr die Konfrontation mit eigenen Einsichten. Die „mildere" Aus- legung, welche Kant, entgegenwirkend den Bedenklichkeiten, dembewunderten Philosophen angedeihen lassen möchte, soll eine solche sein, die „der Natur der Dinge" angemessen wäre 1 ). Noch an zwei anderen Stellen der Kritik wird Pkto, ganz kurz, erwähnt. In dem das Werk abschließenden knappen Abschnitt zur „Geschichte der reinen Vernunft" wird er als der vornehmste Philosoph des Noumenalen (auch: „Intellektuellen", was hier gleichbedeutend ist) und als „das Haupt der Noologisten" bezeichnet; darin klingt die Affinität zum eigenen Ver- *) A 315; B 371. 349 Brought to you by | University Library Technische Universitaet Muenchen Authenticated | 129.187.254.46 Download Date | 10/7/13 4:18 AM

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KANT UND PLATO

von Heinz Heimsoeth, Köln

Auf dem Höhengrad und Entscheidungsübergang im Vorschreiten der Kritikder reinen Vernunft^ beim ersten Einstieg in die unabsehbaren Fragebereiche derMetaphysik mit all ihren Erwartungen und Ansprüchen, ihren Versuchungen undAbgründen: — tritt mit einem Male der Name Platos als des „erhabenen" Philo-sophen aus ferner Vorzeit auf: in einem feierlichen Ernst der Diktion und derZuwendung aus Eigenem, wie ihn Kant sonst keinem Philosophen seiner Lehr-zeit und der Vorzeit überhaupt dargebracht zu haben scheint. Die neue eigeneKonzeption der metaphysischen Fundamentalbegriffe als solcher der reinen Ver-nunft, abgehoben und entgegengesetzt allen Verstehensbegriffen unserer Wissen-schaften von Erfahrbarem, knüpft Kant, zunächst der Wortwahl nach und danndurch eine Reihe von gedanklichen Bezügen, an die Pktonische „Idee", die ein-stige Ideenlehre, an, — nachdem schon vor dem Einstieg in die „Dialektik" derwichtige Ubergangsabschnitt „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegen-stände überhaupt in Phänomena und Noumena", diese einstens von Plato einge-führten Termini, im griechischen Wortklang, für das eigene Anliegen eingesetzthatte. In dem, was Kant dann von Platos Lehre, deren „Geistesschwung" und„hohe Sprache" er rühmt, zusammengedrängt auf ein paar Seiten anführt, ist Be-jahung und ehrendes Erklären verbunden mit Abstandnehmen, mit einer War-nung vor der Gefahr von „Ubertreibungen" und einer „mystischen Deduktion"der zu unrecht hypostasierten Ideen.

Im gleichen Rückbezug auf Pkto macht Kant die heute in der Hermeneutik-Diskussion so vielbesprochene Äußerung, daß man durch „Vergleichung" derGedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besserzu verstehen lernen könne, als er sich selbst, etwa abweichend von den ersten Ab-sichten, verstand. Dabei scheint als Vergleichung nicht so sehr die verschiedenerTexte und Zusammenhangsbezüge gemeint (denn Pkto-Texte kgen Kant kaumvor), als vielmehr die Konfrontation mit eigenen Einsichten. Die „mildere" Aus-legung, welche Kant, entgegenwirkend den Bedenklichkeiten, dem bewundertenPhilosophen angedeihen lassen möchte, soll eine solche sein, die „der Natur derDinge" angemessen wäre1). — Noch an zwei anderen Stellen der Kritik wirdPkto, ganz kurz, erwähnt. In dem das Werk abschließenden knappen Abschnittzur „Geschichte der reinen Vernunft" wird er als der vornehmste Philosoph desNoumenalen (auch: „Intellektuellen", was hier gleichbedeutend ist) und als „dasHaupt der Noologisten" bezeichnet; darin klingt die Affinität zum eigenen Ver-

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nunftidcalismus an, wobei aber die Warnung „vor dessen mystischem System"auch hier nicht fehlt2). Und in der jenen Gegensatz von Wissenschaftswelt des„Verstandes" und metaphysischen „Vernunft"-Aufgaben vorbereitenden Ein-leitung zum ganzen Werk steht das bekannte schöne Bild von der frei in der Luftsich fortbewegenden Taube, welche die Vorstellung fassen und ihr erliegen könn-te, „daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen würde: ebenso ver-ließ Plato die Sinncnwelt, weil sie dem Verstande so vielfältige Hindernisse legt,und wagte sich jenseits derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum desreinen Verstandes"3) — womit Kant sagen will: eines angeblich einsichtigen Ver-stehcns übersinnlicher Wesen, wo doch in Wirklichkeit allein „Vernunft" mit ihremalles Erfahren reguktiv bestimmenden Abzielen auf die alles je Verstehbare um-oder übergreifenden Noumena ihr stilleres, aber zugleich unabsehbar forttrei-bendes Werk tun kann.

Diese ausdrücklichen Textbezüge Kants auf Plato (denen in späteren Werkenvereinzelt andere folgen) sind der kurzgefaßte Ausdruck einer das eigene Suchenund Nachsinnen erhellenden Rezeption und Auseinandersetzung mit dem Klassi-ker der griechischen Philosophie, mit dessen Überlieferung und Auswirkungen,welche an ganz bestimmter Stelle in Kants philosophischem Werdegang einsetzteund ihn bis in die letzte Zeit in Atem hielt. In dem Preisgedicht, welches die „sämt-lichen Studierenden" der Königsberger Universität „dem verehrungswürdigstenHerrn Professor I. Kant zum 14. Juni 1797, als SOjährigem Schriftsteller-Jubiläum(vor 50 Jahren war Kants erste Schrift erschienen), darbrachten, stehen zwei Na-men der vergangenen Geschichte, die seines „Geistes tiefer Blick" noch überstie-gen habe: Plato und Newton4). In der Tat, der große englische Physiker und Na-turphilosoph war von früh an und blieb für immer Kants Vorbild und Leitsternfür das Begreifen der Welt der Erscheinungen; und von der Mitte seines Wegesan wurde Plato für unseren Philosophen Vorbild im Aufschwung der unter „hö-herem Bedürfnis" stehenden Vernunft zu den Noumena. —

Der Name Plato tritt erstmalig auf, sogleich in ähnlich hoher Wertung wie inder Kritik, in der kurzen lateinisch verfaßten Dissertatio inauguralis^ mit welcherKant als 46jähriger sein Lehramt als Professor der Logik und Metaphysik antrat.In zwei von ihren Paragraphen wird die Platonische Idee herangezogen, um das,was der Autor als zu seiner eigenen neuen Einsicht gehörig darstellen will, be-deutsam zu erhellen5). Man ist versucht, schon ohne weiteres den Titel dieserSchrift mit seiner Gegenüberstellung von Mundus sensibilis und Mundus intelli-

2) A 853/4; B 881/2.3) A 5; in B 8/9 heißt es, nun in mehr Kantischem Sinne, nur noch: „weil sie dem

Verstande so enge Schranken setzt".4) XII411.5) Es sind die §§ 9 und 25 (II 396f. und 413 in der Akademie-Ausgabe). Vor dieser

Ursprungsschrift des kritischen Idealismus taucht Platos Name nur einmal und ganzobenhin auf, in allgemein-literarischem Bezug: „platonische Liebe" unter den Geschlech-tern. II 240.

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gibilis, im Vorbezug auf das Phänomena-Noumena-Kapitel der Kritik, auf Pktozu beziehen; doch wäre das voreilig. Denn vom Mundus intelligibilis als unter-schieden von der Sinnenwelt sprach auch die Tradition, in welcher Kant aufwuchsund zunächst lehrte6). Und in den Träumen eines Geistersehers gebraucht Kantauch diesen kteinischen Terminus: hier für die „immaterielle Welt" geisthafterSubstanzen und „tätiger Naturen" überhaupt, zu denen auch die Prinzipien organi-schen Lebens gerechnet werden7). Daß dies aber doch nur den alten Rahmen be-zeichnet, innerhalb dessen sich das Neue Kants herausbildete, für welches Neueer eben auf den alten Plato ausdrücklich zurückgreift, kann man schon aus dem§ 3 der Schrift ersehen, wo der Autor zurückverweist auf die „Schulen der Alten",welche das Noumenon dem Phänomenen gegenübergestellt hätten: hier tritteben, in einem Rückbezug, welcher mit Plato zugleich die Eleaten und Pythagorasim Sinne hat8), die griechische Begriffssprache auf. Und im § 7 wird dem „be-rühmten Wolff" als Haupt der neueren Schule vorgeworfen, daß er zum großenSchaden der Philosophie nobilissimum illud antiquitatis dephaenomenorum et noume-norum indole disserendi institutum vielleicht ganz in Vergessenheit gebracht habe, in-dem er jenes Gegenüber als einen bloß „logischen" Unterschied hingestellt habe9).In Wahrheit bewegte sich ja auch der frühe Kant, so etwa in der Monadologia phy-sica, dieser angeblichen Vereinigung von Geometrie und Metaphysik, noch ganzauf dieser Bahn, aus welcher er eben jetzt ausbricht — in Auseinandersetzung mitdem Platonismus.

In der Mitte des neuen Denkens steht der Begriff Perfectio noumenon. „Be-griffe der Vollkommenheit" sind nie den Erscheinungen in Raum und Zeit, nieden Gegebenheiten und Erfahrungsgesetzen der Sinnenwelt zu entnehmen, son-dern allein dem intellectus purus (der späteren „reinen Vernunft" i. e. Sinne).Pkto, der Enthusiast, „gab den Ursprung der Begriffe der Vollkommenheit gutan", heißt es in einer Reflexion aus dieser Zeit10). In einer sehr viel späteren Notiz

6) Vgl. z. B. im Handbuch der Metaphysik, nach welchem Kant lehrte: A. Baum-gartens Metapbysica § 869: mundus, quatenus sensitive repraesentatur, sensibilis (ad-spectabilis), quatenus distincte cognoscitur, intelligibilis es t. Deus mundum huncintelligibilem distinctissime cognoscit. Ergo omnes huius mundi monades, omnes eius-dem animas cognoscit.

*) II329/30.8) Vgl. XVII 555/6 (Nr. 4449): „Historie der Unterschiede zwischen sensitivis

und intellectualibus. aegypter. Pythagoras ... Plato und Pythagoras machten dieintellectualia zu besonderen obiecten der möglichen Anschauung ...".

9) 392, 395.10) XVII555/6 (Nr. 4447). Aus späterer Zeit: „... Platos Meinung, daß alle unsere

Erkenntnis a priori, vornehmlich die der Vollkommenheiten ... aus der Erinnerungabstamme ...". „Schon vor dem Pkto unterschied man die intellectuelle Erkenntnissevon den empirischen ... und machte sogar einen Unterschied zwischen intelligiblenund sensibeln Dingen". „Aber diesen Unterschied wichtig zu finden, war ein Bedürfnisder Vernunft nöthig, über das empirische hinaus zu gehen, weil dieses immer bedingt unddaher nicht Sache an sich selbst seyn kan, die jederzeit ihre Vollständige Bedingungenhaben muß." XVIII 437/438 (Nr. 6051).

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heißt das so: „Platons Lehre von den Ideen solte dazu dienen zu verhindern, daßwir nicht aus empirischen principien das suchten, was seine Quellen und Urbild inder bloßen Vernunft haben kann, nemlich die wahre Vollkommenheit"11). „Voll-kommenheit" enthält immer, aus alter Tradition, ineins beides: Vollständigkeitdes Zugehörigen und axiologische Dignitat. Für jede Gattung von Dingen, sagtder § 9, deren Größe veränderlich ist (was denn also für alle „Kreaturen**, fürjedes seiende, lebende, handelnde Wesen gilt), ist das Maximum perfectionis das„gemeinsame Maß und das Prinzip der Erkenntnis". Eben das habe Plato Ideegenannt12).

Kant setzt gleich an deren Stelle für die gegenwärtige Philosophie den neuenTerminus: das Ideal. Der Wendung: Maximum perfectionis vocatur (!) nunc tem-poris ideale entspricht genau der Passus der späteren Kritik: „Was uns ein Idealist, war dem Plato eine Idee des göttlichen Verstandes, ein einzelner Gegenstand in derreinen Anschauung desselben, das Vollkommenste einer jeden Art möglicherWesen und der Urgrund aller Nachbilder in der Erscheinung"13).

Anders als so hat Kant von den Platonischen Ideen nie gewußt: als Archetypenund Vollkommenheitsgestalten sollten sie in der geistigen Anschauung Gotteswurzeln und dort zu erfassen sein. Es war das Bild der Überlieferung, in welcherKant immer gestanden ist — der Überlieferung von spätantik-patristischen Fas-sungen des Platonismus her, maßgebend auch für den Platonismus der Renais-sance-Bewegungen. Einer primär theologisch ausgerichteten metaphysischen Be-sinnung und Vorstellung hatten die Ideen in ihrer Grundverfassung „schöpfe-rische Macht", wie es in der Kritik noch heißt14). Auch dieser intellectus Dei sel-ber wäre danach von Plato als „Idee" begriffen worden15).

Kants Neueinführung des „Ideal"-Begriffs für die Platonische Idee, die sichstilistisch wie eine bloße Änderung der Bezeichnung ankündigt, beruht in Wahr-heit auf dem tiefgreifenden Umschlagen von einer theologisch bestimmten, mitdem Gottesthema einsetzenden Metaphysik zu einer Philosophie, welche grund-sätzlich vom endlichen Bewußtsein ausgeht, des näheren vom menschlichen Er-

n) XVni 13 (Nr. 4862).12) Vgl. die historischen Notizen aus den Reflexionen zur Logik: „Ex principiis

pure rationalibus post scholam lonicam Eleaticam sub Anaxagora sub Melisso et parme-nide, Italicam sub Pythagora. Magnus defensor: Plato. Intelligibile oppositum sensibili.Illud: Numerus, Idea, Forma. Illud: omnium principium Optimum ...". XVI 60 (Nr.1636).

13) A 568; B 596. Vorher heißt es: das, „was ich das Ideal nenne".14) Vgl. XVII 555 (Nr. 4448): „Die idee dasjenige, wodurch a priori die Dinge nach

Regeln eines vollkommenen Willens möglich sind ... Pflantzen. Ursprung: mineralien.Zwecke".

15) § 25 der Inauguraldissertation: intuitus pure intellectualis „qualis est divinus,quem Plato vocat (!) ideam ..." Vgi. XVII 514 (Nr. 4347): „ideen, (archetypae; ...);„d. i. alle Vollkommenheit erkennen wir nur, so fern wir sie als in einem Wesen vorstellen,welches dadurch die oberste idee wird. In ihm wird alles, was die Natur enthalt, ein theilder Vollkommenheit des Garitzen. Das Vollkommenste ist nur eines ... Platonism".

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fahren und Entwerfen, Erstreben und Verstehen. Der Ideal-Begriff des 18. Jahr-hunderts, in welchem auch immer der ästhetische Gedanke mit anklingt („Idealder Einbildungskraft"), wird von Kant vorwiegend vom Moralisch-Politischenher gefaßt: orientiert immer auch an spätantiken Vorstellungen vom Ideal desWeisen und vom Strebensziel des Höchsten Gutes, entworfen und gedacht als„Muster" und „Urbild" aller unserer (menschlichen) Begriffe vom Guten, wie esin Kants Ethik-Vorlesung heißt. Von hier versteht man auch, wie Kant mit derPlatonischen Idee immer sogleich die „Platonische Republik" zusammenbringt,was ebenso im § 9 der Inaugural-Dissertation geschieht wie im Ideen-Ab schnittder Dialektik.

In doppelter Bedeutung tritt für uns das Ideal einer perfectio noumenon auf,wie es gleich bei der Einführung dieses Begriffs heißt. Dieselbe entspricht derherkömmlichen, von Kant dann neu gewendeten Einteilung der Philosophie in„Metaphysik", als deren Kern die „natürliche Theologie" galt, und „Moral"16).Der eine Hauptbezug geht auf das quae enti competunt, das heißt auf alles Seiendehinsichtlich seiner „Realitäten" oder „metaphysischen Vollkommenheiten"17);in dem anderen Daseinsbezug aber erwägen wir dasjenige, was einem Wesen perlibertatem inesse debebant; Freiheit und Sollen sind danach die maßgebendenMomente der perfectio noumenon in praktischer Bedeutung17a).

Was so an zweiter Stelle angeführt wird (entsprechend auch der späteren Ab-folge der Kritiken), hat Kant bei Plato immer (und dies mit historischem Recht)als den ersten und Grundeinsatz verstanden, wie er denn auch in der Kritik Platos

16) Vgl. XVII553 (Nr. 4446): InteUectualiavelsunttheoreticae(metaphysica) velprac-ticae cognitionis (moralia) ... Plato. Die „Grundsätze der natürlichen Theologie und derMoral" waren das Titelthema der Schrift von 1764 gewesen. — Bald nach der Publikationund dem Versand seiner Inauguraldissertation erhielt Kant einen Brief seines ehemaligenMitschülers D. Ruhnken, welcher inzwischen ein bekannter klassischer Philologe gewordenwar und der nun auch seinerseits von seiner neuen Beschäf tigung mit Plato sprach. Dabeizitiert Kants Korrespondent aus einem Briefe von Leibniz: „Doctrina Platonis meta-physica et moralis, quam pauci ex fönte hauriunt, sancta est rectaque, et, quae de ideisaeternisque veritatibus habet, admiranda. X 113. (Der Briefpassus, an Huet gerichtet, istheute in der Gerhardt-Ausgabe von Leibnizens Philosophischen Schriften Bd. III S. 17abgedruckt.) — Es mag mit von hier kommen, daß Kant Leibniz immer als Platonikergesehen und gewertet hat. Er konnte im übrigen ja auch in der Vorrede zu den Nouveauxessais von Leibnizens Berufung und Rückbezug auf Plato lesen. Daß und wie hier einKernmoment der für die kritische Philosophie so wichtigen Unterscheidung von Anlaßund Grund der Erkenntnis (Erster Satz der Kritik} in einer großen Traditionslinie vonPlato samt späteren antiken und mittelalterlichen Abwandlungen über Leibniz zu Kantführt, hat neuerdings Günther Ralfs schön dargestellt in einer Abhandlung: Plato undA.risroteles im abendländischen Bewußtsein. (In: Lebensformen des Geistesy Vorträge und Ab-handlungen, hrsg. von H. Glockner, Köln 1964. S. 56—103; bes. 76 ff.)

17) „Die metaphysische Vollkommenheit besteht in den Graden der Realität. Dietranszendentale Vollkommenheit darin, daß es alles das enthält, was zum Dinge erfordertwird. Ein Ding ist metaphysisch vollkommener, als das andere." Kants Vorlesungen überdie Metaphysik, hrsg. von Pölitz, 1821, S. 27.

17*) II 396 a: ... practice autem, si ea, quae ipsi per libertatem inesse debebant.

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„weit höheres Bedürfnis" hiermit zuerst erläutert: „Plato fand seine Ideen vorzüg-lich in allem, was praktisch ist, d. i. auf Freiheit beruht, welche ihrerseits unter Er-kenntnissen steht, die ein eigentümliches Produkt der Vernunft sind"; Grundbei-spicl die Idee der Tugend, welche, als Muster und Urbild unseres Handelns, ebendoch nie aus Erfahrungsbeispielen abgezogen werden könne, vielmehr immerschon „jeder Annäherung zur moralischen Vollkommenheit notwendig zumGrunde" liegen müsse17b).

Eben diese über alle Erfahrungswirklichkcit hinaus liegende und aller sittlichenBestimmung immer schon zugrunde liegende Vollkommenheitsidee (perfectionoumenon) wird in der Disscrtatio jeder Moralauffassung entgegengestellt, wel-che aus Erfahrungen des Sinnlichen, aus den Gegensätzen von Neigung und Ab-neigung etwa, ihre Begründung und die Kriterien entnehmen wollen. Kant be-zieht da in diese Abwehrstellung ohne weiteres ebenso den alten Epikur wie „eini-ge Neuere" ein, die englischen Moralphilosophen, von denen er Shaftesbury undseine Anhänger nennt (was Mendelssohn nicht recht verstehen konnte18)). Be-kanntlich hatte Kant, auf diesem Wege zu der großen Wendung von 1769/70, sichvon der Gefühlsmoral der Engländer wie auch Rousseaus, die ihm zunächst vielbedeutet hatte, losreißen müssen zugunsten der Einsichtskraft und grundsätzli-chen Daseinsüberlegenheit der pura ratio. Eben von hier aus (vielleicht von hier ;zuerst) bedeutete nun eben Pkto ihm den diametralen Gegensatz gegen Epikur jals „vornehmsten Philosophen der Sinnlichkeit" (wie es in der Kritik heißt) und ]damit gegen alle späteren Moralphilosophen, welche von der Beobachtung und |Vergleichung der menschlichen Natur in ihren faktischen Lebensäußerungen aus \den Sinn des Sittlichen gewinnen wollten. Plato, das „Haupt der Noologisten", ;hat zuerst gesehen, daß Maßstab und Urbild (das „Ideal") alles wahrhaft sittlichenVerhaltens und aller sicheren Beurteilung im Übersinnlichen zu suchen ist, nie inErscheinendem19).

In dieser Überzeugung, welche Kant auf Plato als den Magnus defensor desgrundsätzlichen Gegensatzes zwischen Sinnlichem (Phänomena) und „Intellek-tualem" (Noumena) zurückgreifen läßt, wird der Denker zutiefst bestimmt durchseine ethisch-religiöse Vorstellung vom Ideal menschlichen Verhaltens. In derEthik-Vorlesung, welche P. Menzer herausgegeben hat, läßt Kant die Ideale derMoralität Revue passieren. Dem alten Ideal der Kyniker (in deren Nachfolge auch

17b) A 315; B 371/2.18) Brief Mendelssohns vom 25. 12. 1770: „Den Lord Shaftesbury zehlen sie zu

denen, die dem Epikur wenigstens von ferne folgen. Ich habe bisher geglaubt, man müsseden moralischen Instinkt des Lords von der Wollust des Epikurs sorgfältig unterscheiden.Jenes ist dem Engländer blos ein angeborenes Vermögen, das Gute und Böse durch dasbloße Gefühl zu unterscheiden. Dem Epikur aber sollte die Wollust nicht nur criteriumboni,. sondern Sumum bonum selbst seyn." X 114.

19) XIX 177 (Nr. 6842): „Plato: Moral aus der idee, nicht den Neigungen oder denErfahrungen gemäß, auch nicht aus reflexionsbegriffen. Nur er suchte seine idee in Gott,oder er machte den Begriff von Gott aus diesen ideen."

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noch Rousseaus Naturverlangen und negative Erziehung gesehen wird), dem epi-kurischen und noch dem stoischen Ideal stellt er das „Ideal des Christen" entge-gen: als das „Ideal der Heiligkeit" des Willens. In einer Anmerkung der Kritik derpraktischen Vernunft (V, 128) sind diese Vollkommenheits-Urbilder kurz aufgezählt,wobei das Wahre und Auszeichnende der christlichen Moralvorstellung ist, daßsie ihre Gesinnungsvorschriften so einrichtet, daß sie dem Menschen das Zutrauenbenimmt, ihr je „völlig adäquat" zu sein. Und dies eben, daß keine Wirklichkeitjener Idee völlig adäquat sein könne, ist es ja, was Kants neuen Vernunftbegriffim Rahmen seiner Dialektik mit der Platonischen Idee verbindet. „Der Werteiner dem moralischen Gesetz völlig angemessenen Gesinnung" ist eben grund-sätzlich „unendlich" und darum nie in einem endlichen Verhalten wirklich, nievon einem solchen allein abzulesen. In diese Richtung aber weist eben auch, imGegensatz zu allen anderen Moralsystemen der Alten, Plato — dessen Ideal frei-lich als „mystisches" Ideal verstanden und insofern nach Kant abgewiesen werden

Die andere Grundbedeutung der perfectio noumenon gehört zum Felde der„Metaphysik", die davon handelt, was dem Seienden zukommt. Hier ist dasHöchste, das maximum perfectionis, der Sinn- und Zielgehalt der natürlichenTheologie: wo in Einem ursprünglichen Wesen alle „Realitäten" in Vollständig-keit und in einem höchsten Grade der Vollkommenheit vereint zu denken sind— „gemeinsames Maß für alles andere rücksichtlich seiner Realitäten"203). Auchdiese, nach Kants Vorstellungen schon „Platonische" Idee heißt also nun das„Ideal", Noumenon vom endlichen Verstande her gedacht. Das ist schon, imRahmen von Kants Inaugural-Dissertation, die Vorbereitung für die Behandlungder Vernunfttheologie in der Kritik unter dem neuen Titel: „Das Ideal der reinenVernunft" — wobei der Terminus denn auch erläutert wird vom Ideal des Weisenaus (welcher mit der Idee der Weisheit „völlig congruiert") oder des „göttlichenMenschen in uns, womit wir uns vergleichen . . . obgleich (wir) es niemals errei-chen können"20b). Das Ideal-Noumenon der Dissertation umgreift „das Vollkom-menste einer jeden Art möglicher Wesen" und ist damit „Urgrund aller Nachbil-der in der Erscheinung". Auch diese Vorstellung hat für Kant bleibende Bedeu-tung gehabt und ihn mit der Platonischen Idee, wie er sie sah, verbunden. So

20) A 853/4; B 881/2. Vgl. XIX 191 (Nr. 6882): „Epikur ... Zeno ... Diogenes ...Plato: transcendent .. .Wenn die hofnung der Glükseeligkeit unserer sittlichen Würdig-keit soll gemäß seyn, so ist der weise des evangelii das wahre sittliche ideal." Vgl.auch XIX 197 (Nr. 6894) und 309 (Nr. 7312). Das „mystische Ideal" Platos aber,wie es Kant überliefert schien, beanspruchte „Gemeinschaft mit Gott" durch (ehemaliges)Anschauen. So in der Vorlesung über Ethik S. 11: „Wir können uns noch ein mystischesIdeal denken, wo das höchste Gut darin besteht, daß sich der Mensch sieht in der Gemein-schaft des höchsten Wesens. Dieses ist das Platonische Ideal, welches ein phantastischesIdeal ist." — Plato galt übrigens Kant auch, nächst Anaxagoras, als Denker auf demWege zum „moralisch-bestirnten Monotheism" der Antike. XXIII 440.

2°a) § 9 der Inaugural-Dissertation.20b) A 569; B 597.

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heißt es in jenem Einführungsabschnitt der Dialektik: „... auch in Ansehung derNatur selbst sieht Plato mit Recht (1) deutliche Beweise (1) ihres Ursprungs ausIdeen. Ein Gewächs, ein Thier, die regelmäßige Anordnung des Weltbaues21)(vcrmuthlich also auch die ganze Naturordnung) zeigen deutlich, daß sie nur nachIdeen möglich sind", so „daß zwar kein einzelnes Geschöpf, unter den einzelnenBedingungen seines Daseins mit der Idee des Vollkommensten seiner Art con-gruirc (so wenig wie der Mensch mit der Idee der Menschheit, die er sogar selbstals das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt), daß gleichwohl jene Ideenim höchsten Verstände einzeln, unveränderlich, durchgängig bestimmt und dieursprünglichen Ursachen der Dinge sind, und nur das Ganze ihrer Verbindungim Weltall einzig und allein jener Idee völlig adäquat sei"22). Was hier, von Platoher, nur angedeutet wird, bildet ein Grundthema von Kants späteren Arbeitenund Entwürfen, von der Kritik der Urteilskraft bis in das Opus postumum hinein.All das wird nun gedacht im neuen Sinne von „Idee" bei Kant: nicht vorgegebenegeistige Anschauung der Sinngestalten und gar des Gesamtgefüges von Welt-architektur und -harmonie, sondern unendliche Aufgabe der forschend-strebendenVernunft, welche nach „regulativen" Entwürfen und in Antizipationen der „re-flektierenden" Urteilskraft unabsehbar fortschreitet, rein aus sich selber anhandvon immer reicher werdenden Erfahrungen die großen Richtlinien schöpfend.

Entscheidend für den Neueinsatz der Dissertation im Hinblick auf die spätereSystematik der Kritiken ist, wie D. Henrich eindringlich gezeigt hat 23), daß durchKant zum ersten Mal wieder seit Plato Ethik und Ontologie, das Sinnprinzip desHandelns und der Ausblick auf das höchste Wesen als Grund aller Seinsmächtig-keiten, auf eine und dieselbe Basis transempirischer Sinngebung und Vernunft-einsicht gestellt wurden, ohne das eine von dem ändern, das andere von dem einenabhängig zu machen. Und das geschah offenbar, wie wir hinzufügen möchten,ohne daß Kant eigentliche Kenntnis von dem Anhypotheton der „Idee des Gu-ten" im sechsten Buch des Staates gehabt hätte24).

21) „Weltbau" ist hier zweifellos astronomisch verstanden: das Ordnungsgefüge imMakrokosmischen, wie es der junge Kant schon, über Kepler und Newton hinaus, vorsich sah.

22) A 317/8; B 374/5. Vgl. XVIH 227 (Nr. 5553): „Platons hyperbolische erhebungder Ideen als Urbilder ... in der höchsten Inteligentz, ... sie sind das Richtmaas derDinge, die sich einander einschränken und ihren Zwek einzeln nicht erfüllen, so daß keineErfahrung damit congruirt."

23) D. Henrich: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum derVernunft. In: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken^ 1960.

24) In dem späten, gegen die neuesten „Neupla toniker" gerichteten Aufsatz Voneinem neuerdings erhobenen vornehmen Ton ... kommt eine Wendung vor, die an dasHöhlengleichnis erinnern könnte. „Zwar in die Sonne (des Übersinnlichen) hinein sehen,ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralischerleuchtenden Vernunft) ... zu sehen, wie der ältere Plato that, ist ganz thunlich ...".Doch knüpft Kant augenscheinlich hier nur an ein Bild der „Mystagogen" an, gegenwelche er polemisiert. VIII 399.

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Daß hier der Gegenstand der natürlichen Theologie zum „Ideale-Entwurfeiner nie das Eigensein des ens realissimum erreichenden endlichen ratio wird,kann man aus Kants vorheriger Entwicklung ablesen. Der Existenznachweis warfragwürdig geworden mit und seit dem Einzig möglichen Beweisgrund·, der In-halt des Begriffs aber, für welchen Leibniz schon den Nachweis der Nichtwider-sprüchlichkeit gefordert hatte, war in die Problematik der realen Gegensätze ge-raten, welche für alle Kräfte und Vermögen unserer Natur- und Selbsterfahrungals bestimmend sich erwiesen hatten. Und seit der neuen Einsicht vom bloßenErscheinungscharakter alles Raumzeitlichen war überhaupt Erfahrungswelt imganzen abgelöst von einem Sein des Seienden, das eben doch von aller „Anstek-kung" durch Naturbegriffe, durch Formen und Prinzipien des mundus sensibilis,freigehalten werden muß. In den Metaphysik-Vorlesungen (Pölitz S. 184) der 70gerJahre heißt es: „die Erkenntnisse des menschlichen Verstandes nennen wir auchcomparative Urbilder, Ideen ..., die zur Beurteilung der Dinge dienen. Alle unse-re Erkenntnisse, der Vollkommenheit nach, sind niemals empirisch, sondern siesind eine Idee, die man in sich selbst hat, ein Urbild im Kopfe, und das ist einIdeal...". Platos Idee des höchsten Seins als das principium fiendi alles Seienden(nach Kants Vorstellung von Plato) ist so für Kant das Ideal der reinen theoreti-schen Vernunft geworden. —

Der sinnotwendige Bezug der endlichen Vernunft auf Vollkommenheits-Nou-mena über und vor aller Erfahrung des Wirklichen in Natur und Menschenweltwird von Kant immer wieder rückbezogen auf die Pktonische Lehre von derWiedererinnerung. Er sah in dieser eine Vorform und Erstentdeckung dessen,was er selbst aus eigener Überzeugung und Einsicht Erkenntnis a priori nannte,— wobei er auch einmal auf das sokratisch-dialogische Moment zurückgreift25).Kant sah die Anamnesislehre nicht so sehr als mythische Schilderung, sondern alserklärende Theorie des Philosophen für eine von ihm zuerst gesehene Wesenstat-sache des Erkennens an (eine Theorie, welcher er nun eben die eigene Erklärungals Epigenesis aus eigener menschlicher Vernunft, in „ursprünglich erworbenen"Begriffen und Anschauungen, entgegenstellt)26). Nach der Plato-Uberlieferung,wie sie Kant allein zukam, hieß das: Erinnerung an ein ursprüngliches, jetzt aberdurch Bindung an Körperlichkeit und Sinne verlorenes Anschauen der Urbilderim göttlichen Schöpfergeist. Eben hierin aber mußte er sich nun von Platos Er-

25) IX 477: „Bei der Ausbildung der Vernunft muß man sokratisch verfahren.Sokrates nämlich, der sich die Hebamme der Kenntnisse seiner Zuhörer nannte, giebt inseinen Dialogen, die uns Plato gewissermaßen aufbehalten hat, Beispiele, wie man...manches aus ihrer eigenen Vernunft hervorziehen kann."

2e) „Plato ... gebrauchte seine intellektuellen Anschauungen ... zum Erklärender Aiöglichkeit eines synthetischen Erkenntnisses a priori ...", VIII 398. In der neuer-dings von G. Lehmann hrsg. Enzyklopädie-Vorlesung (Berlin 1961, S. 39) heißt es: „Dereine Teil der Philosophen behauptet, daß wir mit Erkenntnissen versehen auf die Weltkommen, daß sich der Vorrat nur allmählich entwickele ... Unter diesen war Plato dervorzüglichste ...". S. V 363: „... Idee, die ihm nur durch eine (sc. frühere) intellectuelleGemeinschaft mit dem Ursprünge aller Wesen erklärlich zu sein schien."

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klärungsart absetzen: Anschauung des Noumenalen und Ursprungsgemeinschaftmit einer intellektualen Anschauung in Gott kann die endliche Vernunft nicht fürsich beanspruchen und ausweisen27). Ferner war mit der Vorstellung solchen„ehemaligen" Anschauens ja eben der (faktisch doch mehr hellenistisch-christ-liche) Gedanke eines Abfallens der Seele verbunden28). Dagegen lag in der Philo-sophie der menschlichen Vernunft bei Kant immer die Tendenz auf Anerkennenund Auszeichnung des „fruchtbaren Bathos der Erfahrung" — ebenso im Mora-lischen wie in den Fragen der Welterkenntnis. Unsere Erkenntnis hat nicht denCharakter bloßen Hinnehmens übersinnlicher Gehalte („also nur passiv"29)) ineiner Art Hindurchschauen durch die vorhandene Wirklichkeit, sondern deneines unter Ideenaspekt spontan und aktiv sich erweiternden Eindringens inWirklichkeitsverhältnisse und deren Durchgestaltung.

Was aber Kant inhaltlich ganz entscheidend abrücken läßt von Pkto, das istsein neuzeitlich bestimmter Begriff von Wissenschaft und seine eigene Auffassungvon deren Verhältnis zur Metaphysik. Daß der antike Denker seinen vom Mora-lischen her primär erfaßten Gedanken auch auf die Welterkenntnis, auf Naturer-fassen ausdehnte, in der Absicht, zu der „architektonischen Verknüpfung" desGanzen aufzusteigen, das ist und bleibt für Kant ein Zug in dessen Metaphysik,welcher — wenn auch in einem neuen Duktus — „Achtung und Nachfolge" ver-dient293). Aber Plato dehnte seinen Leitgedanken nicht nur auf spekulative Er-kenntnisse von solcher Art aus, sondern sogar „über die Mathematik", wie es in derAnmerkung zur ersten Plato-Vorstellung der Dialektik heißt. In der Kritik derUrteilskraft wird das ausführlicher beschrieben. Kant spricht da zunächstmit Hochschätzung von dem „Eifer der alten Geometer", den Eigenschaf-

27) „Plato bemerkte richtig, daß wir durch Erfahrung nicht die Dinge kennen, wiesie an sich selbst sind ..."; unmittelbarer Kenntnis der idea archetypa aber sind wirMenschen nicht fähig. „Aus uns selbst können wir ihrer aber nicht theilhaftig werden,folglich nicht durch Mittheilung der Gottlichen Ideen. Da wir uns ihrer aber nicht blos(als) historisch ertheilt und übertragen, sondern als unmittelbar eingesehen bewust sind:so müssen es (sc. nach Plato) nicht eingepflanzte Begriffe, die geglaubt werden, sondernunmittelbare Anschauungen seyn, die wir von den Urbildern im Gottlichen Verstandehaben. Wir können diese aber nur mit Mühe entwickeln. Also sind es bloße Wieder-erinnerungen der alten Ideen aus der Gemeinschaft mit Gott." Soweit sei dies, fährt Kant(den „Akademiker Plato" absetzend von der platonistischen „Schwärmerei" neuererPhilosophen) fort, noch „bloße Erklärungsart der Möglichkeit der Erkenntnisse apriori". XVIH 434/5 (Nr. 6050).

28) Plato, „der als ein mystischer Philosoph ... nicht allein die Begriffe als angeboren,sondern auch als solche, die von der vorigen Anschauung Gottes übrig geblieben, be-trachtete, woran uns nun der Körper hindere." Pölitz-V., S. 85. Vgl. VIII 391: „UnsereAnschauung aber dieser göttlichen Ideen ... sei uns nur indirekt ... mit unserer Geburt,die aber zugleich eine Verdunklung dieser Ideen durchVergessenheit ihres Ursprungs beisich geführt habe, zu Theil geworden: als eine Folge da von, daß unser Geist (nun Seelegenannt) in einen Körper gestoßen worden, von dessen Fesseln sich allmählich loszu-machen, jetzt das edle Geschäft der Philosophie sein müsse."

29) XVIII 437 (Nr. 6051).29a) A 318; B 375.

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ten der Linien, etwa der Kegelschnitte, nachzuforschen, „ohne sich durch dieFrage,,. irre machen zu lassen, wozu denn diese Kenntnis nutzen sollte" — vonder er selbst aus eigenstem astronomischem Interesse wußte, wie hoch sich ihre Be-deutung für die neue Welterforschung erwiesen hatte. „Währenddessen, daß siehierin, ihnen selbst unbewußt, für die Nachkommenschaft arbeiteten, ergötzten siesich an einer Zweckmäßigkeit in dem Wesen der Dinge, die sie doch völlig a prioriin ihrer Notwendigkeit darstellen konnten"30). „Plato, selbst Meister in dieserWissenschaft (der Geometrie) gerieth über eine solche ursprüngliche Beschaffen-heit der Dinge, welche zu entdecken wir aller Erfahrung entbehren können, undüber das Vermögen des Gemüths, die Harmonie der Wesen aus ihrem übersinn-lichen Princip schöpfen zu können ... in die Begeisterung, welche ihn über dieErfahrungsbegriffe zu Ideen erhob ... Kein Wunder, daß er den der MeßkunstUnkundigen aus seiner Schule verwies, indem er das, was Anaxagoras aus Er-fahrungsgegenständen und ihrer Zweckverbindung schloß, aus der reinen, demmenschlichen Geiste innerlich beiwohnenden Anschauung abzuleiten dachte"31).Plato erschienen, so will Kant sagen, die geometrischen Gestalten (wie dem Py-thagoras die Zahlen und deren Harmoniegef üge) als Beschaffenheit des Seiendenals solchen, vorgezeichnet in Urbildern. Von den Ideen des Vollkommenen herdie Welt betrachtend, glaubte der alte Denker, „alle Erkenntnisse a priori seyenErkenntnisse der Dinge an sich selbst, und da wir jener theilhaftig sind, so sindwir auch dieser theilhaftig, und darunter rechnete er die Mathematik"32).

Danach entzündete sich also der Pktonische Idealismus zugleich mit demBezug auf die „Vollkommenheitsbegriffe", welche hinausliegen über alles Erfahr-bare und daher als Noumena allen Phänomenen entgegengesetzt werden, zugleichan dem „Wunder" der mathematischen Ordnungen und unserer Einsichtsfähig-keit in diese. „Plato, ebensogut Mathematiker als Philosoph, bewunderte an denEigenschaften gewisser geometrischer Figuren, z. B. des Zirkels, eine Art vonZweckmäßigkeit ... gleich als ob die Erfordernisse zur Construction gewisserGrößenbegriffe absichtlich in sie gelegt seien, obgleich sie als notwendig einge-

30) Vgl. IX 42: „Hätte man bei Cultur der Wissenschaften immer nur auf denmateriellen Gewinn, den Nutzen derselben gesehen, so würden wir keine Arithmetikund Geometrie haben ... Dieses merkte schon Plato an ... Der innere Werth, den Er-kenntnisse durch logische Vollkommenheit haben, ist mit ihrem äussern^ dem Werthe inder Anwendung, nicht zu vergleichen." In den späten Metaphysikvorlesungen (hrsg.Kowalewski, S. 83) heißt es wieder: „Zuweilen wird der Nutzen von Dingen erst nachJahrhunderten bekannt, wie z. B. die ehemals erfundenen mathematischen Figuren,Kegel, Parabel usw., jetzt mit Nutzen auf die Astronomie angewandt werden*'. Manbeachte den Ausdruck „erfunden" als Zeichen der Gegenposition gegenüber demantiken Anspruch des im Seienden Erschautseins.

31) V 363.32) XVin 434 (Nr. 6050); XX 335: Unter Noumena dachten sich die Alten „alle

Gegenstände sofern sie a priori erkannt werden können und Plato zählte dazu die Eigen-schaften der Figuren ...". Dazu dann XVIU 9 (Nr. 4851): „Plato nahm alle Erkenntnisa priori für inteilectucL Leibniz auch, und kannten also nicht das sinnliche des Raums undZeit."

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sehen werden können/1 Und wie „bei Plato die Gestalten", fährt Kant fort, „soerweckten bei Pythagoras die Wunder der Zahlen .., d, i. der Anschein einer ge-wissen Zweckmäßigkeit ... die Aufmerksamkeit als auf eine Art Magie ...;welche Idee dann, auf die Himmelskörper angewandt, auch die Lehre von derHarmonie der Sphären hervorbrachte". „Es war also die Mathematik, überwelche Pythagoras sowohl als Plato philosophierten (sc. als wären es Eigenschaftender Dinge an sich selbst, des Seienden als solchen), indem sie alles Erkenntnis apriori zum Intellektuellen (zu den Noumena) zählten und durch diese Philosophieauf ein Geheimnis zu stoßen glaubten, wo kein Geheimnis ist"33).

Was Kant hier mit großem Bedenken ansieht, ist das einstige und auch in derNeuzeit immer wieder aufgekommene Verlangen, in den Gebilden der Mathema-tik geheimnisvoll-magische Wesensformen des Seienden, Formen seiner eigenstenArchitektonik und ideologischer Vollkommenheit unmittelbar zu fassen. Die„Verwunderung" als solche, und eben in Richtung auf „Zweckmäßigkeit", liegtKant durchaus nicht fern. Zu Beginn des ersten Paragraphen (§ 62) der Analytikder ideologischen Urteilskraft (V, 362) sagt Kant selbst auf der Höhe seines eige-nen Systems: „Alle geometrischen Figuren ... zeigen eine mannigfaltige, oft be-wunderte objektive Zweckmäßigkeit, nämlich der Tauglichkeit zur Auflösung vie-ler Probleme nach einem einzigen Prinzip, und auch wohl eines jeden derselben aufunendlich verschiedene Art, an sich. Die Zweckmäßigkeit ist hier offenbar objektivund intellektuell, nicht aber bloß subjektiv und aesthetisch" (d. h. wie es die Zweck-mäßigkeit des Schönen in Natur und Kunst ist). „Denn sie drückt die Angemessen-heit der Figur zur Erzeugung vieler abgezweckter Gestalten aus und wird durchVernunft erkannt." Man sieht aber schon aus den Formulierungen, daß diese„Art von Zweckmäßigkeit" für Kants Philosophie der Mathematik und derenRolle in der menschlichen Welterschließung (des Mundus sensibilis) eben nichteine solche ist, die den Begriff vom Seienden selbst in seinem Sinngefüge, alsarchitektonische Weltordnung, hergibt. Die unsere Bewunderung erregende „ge-wisse Zweckmäßigkeit" in diesen Gebilden konstruktiver Anschauung und Ein-sicht betrifft das Zusammenstimmen der so verschiedenen und für sich selbständi-gen „Stämme" unseres Erkenntnisvermögens: des Vermögens der Begriffe undBegriffs-„Erzeugung" und des Vermögens unmittelbarer sinnlicher Anschauung.Nicht ein das Seiende selbst, die Weltordnung in ihrem Grundgefüge angehendesGeheimnis drängt sich hier „dem Philosophen" auf, sondern — wie Kant erst-malig in jener Inaugural-Dissertation feststellte — die entwerfende, in immerweiteren Entwürfen sich bewegende und anschaulich erfüllende Kraft der mensch-lichen Spontaneität im Erschließen dessen, was gegeben und durch Gegebenheiterfahren werden kann. Die Anschauung, um welche es sich hier handelt, ist keineintuitio im Sinne der Platonischen Ideenlehre, kein Erschauen von Vollkommen-

33) VIII 391ff.; vgl. XXIII 205: Ordnungsverhältnisse, „über deren Möglichkeitselbst einem Plato der darüber zu philosophieren wagte(!) Verwunderung und Versuchungzu Schwärmen anwandelte".· ·

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heits-Urbüdern im göttlichen Verstande, der selber geistiges Anschauen sein soll.„Zweckmäßig" sind die Formen der Mathematik, sofern Verstand und Einbil-dungskraft hier gleichsam glückhaft-notwendig mit- und ineinander wirken —letzten Endes immer zum Behuf (als „Mittel", nicht als „Zweck") unserer Reali-tätserfahrung. Das Sinngef üge dessen, was Welt an sich ist, entzieht sich solcherMöglichkeit der konstruierenden Anschauung. Daß aber die Verhältnisse derempirischen Realität (so die Bewegungsbahnen der Gestirne) nie völlig „congru-ieren" mit den a priori entworfenen und in ihrer Eigennotwendigkeit begriffenenGestalten, das darf nach Kants Auffassung nicht auf eine Denkebene gestelltwerden mit der wesenhaften Inadäquatheit jedes Wirklichen, etwa menschlicherHandlungen und Verhältnisse, gegenüber der noumenalen Vollkommenheit des„Ideals". Die mathematischen Gebilde haben kein „ideales" Sein nach Kant; siesind vielmehr Erzeugnisse entwerfenden Vermögens in Richtung auf die Sinnen-welt und deren Formgesetzlichkeit. Als solche aber sind sie eben Mittel der „phy-sischen Nachforschung", nicht ontologische Strukturen einer „architektonischenWeltordnung"34).

„Die Mathematik ist nicht das Land der ideeny sondern der anschauend gemachtenBegriffe; sie geht nicht vom Ganzen zu den Theilen (sc. wie das bei den Zweck-gefügen der Fall sein muß, so bei der Ideal-Idee eines vollkommenen Staates),sondern vom allgemeinen zum besonderen"35). Schon in der Untersuchung überdie Deutlichkeit der Grundsätze von 1763, lange vor der Aufdeckung desspezifischen Anschauungsfaktors in der mathematischen Erkenntnis, hatte Kantdie Mathematik von der Metaphysik methodologisch dadurch unterschieden, daßjene durch „willkürliche Verbindung" von Begriffen zu ihren Gegenständen, ihrenAllgemeinbegriffen und Definitionen komme, daher auch mit Definitionen begin-nen könne — was für die Weltweisheit (Kant vorgegeben zunächst in der Metaphy-sik des Rationalismus) sich als Irrweg erwiesen habe35a); Metaphysik geht auf dieSeinsordnung, die nicht aus unseren Begriffen folgt, sondern unserem Dasein alshöhere Ganzheit vorausliegt. Aber eben in dem Vermögen selbsttätiger Konstruk-tion anschaulich notwendiger Gebilde und im Abstand dieser „reinen" Formenvon den empirisch-realen Körpergestalten und Bewegungsbahnen, die nur in denKomplikationen alles Konkreten auftreten, liegt die Verführung, sie den „Ideen"gleichzustellen, — sowie die andere Verführung, auch für Noumena Anschauung

34) Vgl. VIII S. 391/92a. Hätte Plato „damals auf das rathen können, was sich aller-erst späterhin vorgefunden hat: daß es allerdings Anschauungen a priori, aber nicht desmenschlichen Verstandes, sondern sinnliche (unter dem Namen des Raumes und derZeit) gäbe, daß daher alle Gegenstände der Sinne von uns bloß als Erscheinungen undselbst ihre Formen, die wir in der Mathematik a priori bestimmen können, nicht die derDinge an sich selbst" sind, so würde er „die reine Anschauung ... nicht im göttlichenVerstande und dessen Urbildern aller Wesen als selbständiger Objecte gesucht und so zurSchwärmerei die Fackel angesteckt haben".

8 ) XV 418 (Nr. 943).**) II 276.

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zu beanspruchen l Erst durch transzendentale Besinnung auf den Wesensunter-schicd von Formgesetzen der Phänomene gegenüber den Ideen als „Begriffen derVollkommenheit" fällt, sagt Kant, „der ganze schwärmerische Idealism, der im-mer (wie auch aus dem Plato zu ersehen) aus unseren Erkenntnissen a priori(selbst denen der Geometrie) auf eine andere (nämlich intellectuelle) Anschauungals die der Sinne schloß ..."*«).

Mit dieser Absetzung des Mathematischen von den Ideen verbindet sich beiKant die große Wandlung im Begriff der „Wissenschaft": neuzeitliche Erfahrungund Errungenschaft exakter und in stetigem Fortschritt sich bewährender Wirk-lichkeitscrkenntnis der Naturwissenschaften tritt in bewußten Gegensatz zu Pla-tos Begriff der auf Idcenschau fixierten Episteme. In seinen späten Metaphysikvor-lesungen hat Kant das ganz kurz formuliert: „Sensibilium non datur scientia warPlatos Satz. Aber wenn wir unter diesem Wort bloß Phänomene verstehen, so istdieser Satz unrichtig, und man kann im Gegenteil weit richtiger sagen: Intellec-tibilium non datur intellectus"37) — d. h. zu den Noumena, den Urbildern desSeienden und ihrer Ganzheitsordnung, dringt keine direkte Einsicht vor. Schondie Schrift von 1770 hatte im Anschluß an Überlegungen zur Geometrie und Arith-metik, als Feldern des menschlich-sinnlichen intuitus originarius mit eigener vor-bildlicher Klarheit und Deutlichkeit (summae evidentiae exemplar), die Frage be-rührt, in welcher Weise man annehmen muß, daß die Nachfolger der eleatischenSchule „eine Wissenschaft von den Phänomena abgestritten haben" (§12 Ende).In dieser Linie steht für Kant Plato. Er behauptete zwar, was Achtung und Nach-folge verdient, „den wesentlichen Unterschied des sensitiven und intellectualen,lehrte aber, daß nur das intellectuale Wissenschaft gebe"38). Gelegentlich stellt Kantin dieser Sache schon den Aristoteles (den er den „Analysten" zu nennen pflegt,gegenüber Plato dem „Enthusiasten", zugleich aber auch als bloßen Empiristen sichvorstellt — nach einem hartnäckigen Schemader Überlieferung) dem PlatonischenVorbild entgegen. Wie schon im hohen Mittelalter diese Positionen gegeneinanderabgewogen wurden, kann man z. B. ersehen aus einer Darlegung bei BonaVentura39).Da heißt es: „Weil Plato die gesamte sichere Erkenntnis auf die Welt des Geistesoder der Idee bezog, wurde er mit Recht von Aristoteles getadelt, nicht etwa,weil seine Behauptung, daß es Ideen und ewige Gründe gebe, übel gewesen wäre;in diesem Punkte lobt ihn ja Augustinus selbst" (wir fügen hinzu: auf seine Arttut eben dies auch Kant); „sondern weil er unter Verachtung der sinnlichen Weltdie gesamte Sicherheit der Erkenntnis auf jene Ideen beschränken wollte. Durchdiese Position aber schien Plato den Weg der Weisheit zu begründen ..., gleich-wohl zerstörte er den Weg der Wissenschaft, die fortschreitet nach den geschaffenenGründen", nicht nach den „ewigen". Der Weg vom hohen und späten Mittel-

3e) IV 375 a.37) Kowalewski-V, S. 526.38)~ XVI 63 (Nr. 1643).39) Zit. bei G. Ralfs, Lebensformen des Geistes, S. 82. Wir zitieren nach Ralfs Über-

tragung.

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alter in das neuzeitliche Welt- und Wissenschaftspathos hat eben diese Spannungnoch ganz wesentlich verstärkt; für Kant sind die Wege der „Weltweisheit" undin ihr der Metaphysik mit ihrem Auftrag ganz andere und anders als die Wegealler Wissenschaften vom Wirklichen in Raum und Zeit. Mit der entschiedenenAbkehr von aller despectio mundi sensibilis verbindet sich bei Kant die große Be-wunderung des neuen Wissenschaftsstromes, in dessen machtvollem Fortschreitener selber ja als Forscher seinen Platz hatte. Der Anspruch der Ideenschau war, soversteht er den Platonismus, gewesen: vom Ganzen des Weltgefüges zu den Tei-len, den einzelnen Gefügen, Formen und Arten, deren jede ihr Urbild hat, zugehen. Die mathematische Physik und Astronomie aber geht nun „vom Allgemei-nen zum Besonderen"40), von Gesetzen zu den Fakten; im großen gesehen vontranszendental-allgemeinen Grundsätzen zur Erforschung der besonderen raum-zeitlichen Zusammenhänge und Bewegungsarten. „Idee" nach ihrem ursprüng-lichen noumenalen Sinnanspruch ist „der erste Grund der Möglichkeit des Gan-zen ..., eine Einheit, aus der die Teile bestimmbar sind"41). Die Aufgabe^ diedarin liegt, bleibt auch für Kant bestehen; aber der menschliche Verstand, wesen-haft diskursiv, in Analysen und Synthesen schrittweise sich den Weg erkämpfend,hat eben kein Intuitionsvermögen für das ursprüngliche Gesamtgefüge und diedarin beschlossenen Archetypen. Es ist immer erst „reflektierende Urteilskraft",welche, im Aufsteigen von schon erkannten Teilgesetzlichkeiten, den Übergangzu den umfassenderen versucht und damit, aus eigener Initiative heraus, „heauto-nom", in Richtung auf Gesamtheitswissen forttreibt. Wenn Kant in der Kritiksagt, man dürfe nicht unter lauter Ideen herumwandeln, über die man „darum amberedtestenist, weil man davon nichts weiß", und eben dagegen die „Nachforschungder Natur "stellt, wenn er der menschlichen Vernunft nicht erlauben will, „idea-lischen Erklärungen der Naturerscheinungen nachzuhängen und darüber die phy-sische Nachforschung zu verabsäumen"42) — dann stehen ihm als extreme Posi-tionen einerseits die alte Zahlenmystik und -magie oder die Kosmologie nachgeometrischen Gestaltvollkommenheiten und andererseits der strikte „Empiris-mus" einer Kausalforschung allein nach dem Modell des neuzeitlichen Mechanis-mus vor dem Sinn. Von dem, was G. Martin Platos „ideale" Astronomie genanntund der neuzeitlichen Astronomie entgegengestellt hat43), konnte Kant wohlkeine bestimmtere Vorstellung haben. Es mag ihm auch kaum bekannt gewordensein, wie der Weg des von ihm immer so rühmend genannten Kepler von eineridealen Konzeption der harmonice mundi gleichsam unvermerkt übergegangenwar auf die neue Weise der Gesetzesentdeckung auf Grund unzähliger Teübeob-

40) S. o. Anm. 35.41) Pölitz-V. S. 200: „Die Welt ist nur ein Ganzes, welches der Idee gemäß ist, in der

die Teile unvollständig sind, aber im ganzen zur Vollkommenheit gehören."42) A 472/3; B 500/1.43) G. Martin, Allgemeine Metaphysik, ihre Probleme und ihre Methode, 1965. § 39 und

§53.

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achtungen und Analogien der Erfahrung44). Nach Kants Grundintention mußin der Naturphilosophie beides erwogen und betrieben werden: das reflektierendeHinarbeiten auf eine sich vom Besonderen her erfüllende „Idee" vom Weltganzennach seiner Ordnung und Sinnverknüpfung, — und die Bestimmung des je Be-sonderen und Einzelnen vom Allgemeinen der Gesetze her. „Ich muß suchen,alles aus Ursachen herzuleiten, so viel es nur immer geht; und dann auch ein We-sen annehmen, welches alles zweckmäßig eingerichtet hat"46).

„Die Alten" aber wollten immer nur das Ganze überschauen; so „ergötztensie sich an einer Zweckmäßigkeit in dem Wesen der Dinge, die sie doch völliga priori in ihrer Notwendigkeit darstellen" zu können vermeinten. „Plato... gerietüber eine solche ursprüngliche Beschaffenheit... und über das Vermögen des Ge-müths, die Harmonie der Wesen aus ihrem übersinnlichen Prinzip schöpfen zukönnen..., in die Begeisterung ... "45aj? welche ihn dann veranlaßte, solche Ideen-schau als einzigmögliches und einzigwahres Wissen anzusehen. Für Kant, der aufdem Boden der neuzeitlichen exakten Wissenschaft und ihrer immer weiter vor-dringenden Entdeckung von Gefüge-Analogien auf Grund unzähliger Erfahrungensteht, verlagert sich die Bewunderung der Seins-Zweckmäßigkeit auf eine nähernicht zu fassende Zusammenstimmung des ins Unendliche verfolgbaren Gegebenender Natur und ihrer Eigengesetzlichkeiten mit der in unserer Vernunft gelegenenTeleologie.

Gegenüber einer durch Rückerinnerung vergegenwärtigten Schau ewiger Ge-stalten, welche als für sich seiende, in sich ruhende vorausgesetzt werden, verbun-den in einer durchsichtigen Harmonie und Sinnvollkommenheit, ist bei Kant eineErkenntnisvorstellung mächtig geworden, welche im empirisch Gegebenen des

44) Aus einem rein geometrischen Idealprinzip (5 reguläre Körper) glaubte Keplerdie Abstände der Planeten von der Sonne bestimmen zu können; indem aber sein „Sinnfür Induktion" (Apelt) Bestätigung durch empirische Messungen forderte, kam er von derIdee der Schönheit des Weltbaus (Kants „architektonische Verknüpfung") her in dieBewegung seiner Entdeckung des Dritten Gesetzes und damit auch schon zu Gedanken,welche faktisch die Richtung auf das kosmische Phänomen der Gravitation einschlugen. —Hiervon hat Kant schon in seiner Frühzeit gewußt: In der Allgemeinen Naturgeschichte von1755 berichtet er: Die Geometrie der Ellipsen tat „mit Hilfe der Keplerischen Analogie...mit untrüglicher Gewißheit dar: daß eine Kraft den Planet in dem ganzen Kreislauf gegenden Mittelpunkt der Sonne treiben müßte. Diese Senkungskraft, die durch den ganzenRaum des Planetensystems herrscht und zu der Sonne hinzielt, ist also ein ausgemachtesPhänomenen der Natur...". 1244. — Es ist mehr als wahrscheinlich, wie hier angemerktsei, daß Kants zentraler Terminus in der Grundsätze-Lehre der Kritik: „Analogien der Er-fahrung" von „Keplers Analogien" (so öfters im Opuspostumurn) her sich ausgebildet hat.Diese Analogien waren, als „Bewegungs^/<?/^", „insgesamt mechanisch" (XXII 528)und nicht ideal-architektonisch entdeckt worden. Auch Kants eigene astrokosmologischeKonzeption bewegte sich bewußt in „Analogien" (so der Terminus dort) zur astrono-mischen „System"-Erfahrung Keplers und Newtons.

45)_. Pölitz-V., S. 44. Die Weise solchen „Annehmens" ist in der KantischenPhilosophie näher bestimmt in den späteren Paragraphen der Kritik der ideologischenUrteilskraft.

45*) V 363; vgl. oben Anm. 31.

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Mundus sensibilis raumzeitliche Formgesetze des Werdenden, zeitlich Geschehen-den aufzudecken und die Gesetzlichkeiten wieder aufeinander zu beziehen hat.Das eigentliche Muster wirklicher Erkenntnis ist nicht die Überschau von einemvorentworfenen, vollständigen und vollkommenen Ganzen her, sondern es istgegeben in der „Methode Newtons", welche Kant schon bei Kepler am Werkefand: „ausgemachte Phänomena" der Natur auf ihre Formgesetzlichkeit und Be-stimmbarkeit durch mathematische Konstruktionen zu befragen46). — In dieserWissenschaft vom Erscheinungswirklichen gibt es, im Gegensatz zu der „Ideen"-Kosmologie, wirkliche Kriterien, welche das Wahre, als das in Anschauungskon-struktionen und Berechnungen Faßbare, in Beobachtungen und Experimentensich Bewährende, vom bloß Erdachten und angeblich Erschauten eindeutig ab-heben. Die philosophische Grundlegung dafür liegt in der „transzendentalen De-duktion", welche Kant nun an die Stelle jener „mystischen Deduktion" (auch hierheißt „Deduktion": Nachweis der Geltungsberechtigung!), welche er bei Platoannimmt47), setzte48). Die Bindung aller wissenschaftlichen Erkenntnis an sinn-liche Anschauung und Erfahrung entspricht, mit aller ihrer Einschränkung („soenge Schranken"), jenem Luftwiderstande, welcher den Flug der Taube einzigmöglich macht und also nicht Behinderung („so viele Hindernisse") genanntwerden darf. Die menschliche Erkenntnissituation darf nicht als Abfallen ausursprünglicher unmittelbarer Schau gedeutet, sie muß vielmehr aus ihren eigen-sten positiven Möglichkeiten heraus begriffen werden. „Ideen" unserer Vernunftsind nicht gegebene Gehalte, sondern regulative, alle Schritte des geduldigenErf orschens ins Unabsehbare hinaus leitende Prinzipien. Daß keine Anschauungoder Erfahrung, so umfänglich sie sein mag, ihnen je „adäquat" sein könne, dashat nun einen ganz anderen Sinn als bei dem Abstand der Phänomena zu den Nou-mena in Platos Lehre.

Das gilt nicht nur auf allen Bereichen der Welterkenntnis, sondern auch aufdem weiten Felde menschlicher Handlungen und Wirklichkeitsgestaltung, vonwelchem Platos „Idee"-Begriff ja seinen Ausgang nahm. Das Welt-„Ideal" derreinen praktischen Vernunft (Kant nennt es das „Reich der Zwecke") ist ein alle

4e) Welche Bedeutung faktisch eben die Überlieferung des Platonismus in der metho-dischen Besinnung der neuen Wissenschaft, vor allem bei Kepler und Galilei, gehabt hat,davon hatte Kant kaum genauere Kenntnis; es war in unserem Zeitalter der Kantianismusder Marburger Schule, welcher diesen Zusammenhang und damit die Verbindung zuKant betonte. Die Bedeutung der überlieferten Anamnesislehre für Kepler, Galilei undDescartes hat neuerdings L. Oeing-HanofF in einer eindringlichen Studie Zur Wirkungs-gescbicbte der platonischen Anamnesislehre dargelegt (in: Collegium Pbilösophicum, Studien J.Ritter ?um 60. Geburtstag 1965, S. 62 S.); Kant und der deutsche Idealismus, S. 266 ff.

47) A315a;B371a.48) Nur auf Wegen „jener mühsamen Deduktion", welche die Kritik leistete, kann

verhütet werden, reine Verstandesbegriffe „mit Plato für angeboren zu halten und daraufüberschwengliche Anmaßungen mit Theorien des Übersinnlichen, wovon man kein Endeabsieht, zu gründen ...". V 141. „Die intellectualia des Plato waren angeboren, weil sieintuitus sind ..." XVIII 22 (Nr. 4894).

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empirische Realität transzendierendes, aber für unsere Vernunft sinnotwendigesPrinzip, welches alle freie Wirksamkeit des Menschen in der Sinnenwelt regulierensoll. Es ist, sehr anders als das „mystische Ideal" Platos (nach Kants Vorstellungvom Platonismus), jener Idee einer schauenden „Vereinigung mit dem höchstenWesen" im Absehen von aller Wirklichkeit der Phänomene, — das oberste Prin-zip für Aufgaben der Dascinsgcstaltung durch praktische Vernunft, welche ge-leitet wird von Ideen, die nicht „schöpferische", aber „praktische Kraft" (wie es inder Kritik heißt) haben48*). Die „Idee der Tugend" etwa liegt „jeder Annäherungzur moralischen Vollkommenheit" (perfectio noumenon) nothwendig zum Grun-de, so weit auch die ihrem Grade nach nicht zu bestimmende Hindernisse in dermenschlichen Natur uns davon entfernt halten mögen"49). Auch hier sind diese„Hindernisse" nicht das für den freien Flug der Taube etwa Entbehrliche; siestellen vielmehr das konkrete Material für alle Form- und Gesetzesverwirklichungunseres vernünftigen Wesens dar; auch die sittliche Lebenserfüllung darf nicht alsFlug im luftleeren Raum vorgestellt werden. —

In diesen Rahmen stellt sich nun auch für Kant die „platonische Republik".Jener Passus der Kritik, wo er den alten Meister der Philosophie gegen abschätzi-ge Beurteilung in dieser Sache in Schutz nimmt und seine Zeitgenossen auffordert,„diesem Gedanken mehr nachzugehen und ihn (wo der vortreffliche Mann unsohne Hülfe läßt) durch neue Bemühung in Licht zu stellen"60), will jenen altenStaatsentwurf verstehen lehren von einer „notwendigen Idee" her, einem Ideal-gedanken der Vernunft („Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nachGesetzen.. ,").Dannwirdmannichteine„erträumte" Vollkommenheit für irgend-eine Gegenwart darin sehen, sondern den einstigen Versuch, ein Leitprinzipethisch-politischer Wirklichkeitsgestaltung im Fortgang zeitlich-geschichtlichenWerdens vor den Sinn zu stellen. Kant hat die Platonische Staatslehre immer ineinem Sinnzusammenhang gesehen ebenso mit Rousseaus Contrat social wie mitden „Utopie"-Entwürf en der Neuzeit — und auch noch mit der Idee des „ewigenFriedens", welche ja für ihn auch nicht „erträumte Vollkommenheit" bedeutete,sondern ein hohes, Menschheit in der Geschichte verpflichtendes Leitprinzipder praktischen Vernunft in deren Anwendung auf Staatenwirklichkeit. Wir gebendazu einige Notizen Kants, aus denen ohne weiteres solche Zusammenordnungabzulesen ist. „Es gibt auch schwärmerische, aber gute Köpfe. Das schwärmeri-sche Genie übertreibts in Ideen, das Enthusiastische in Handlungen nach an sichwahren Ideen ... Rousseau ist ein Achtungswürdiger Schwärmer; Plato schwärmtmit Ideen überhaupt. St. Pierre." (Der letztere ist bekanntlich der Verfasser jenesPro je t pour rendre la paix eternelle en Europe^ 1713/16, auf den sich Kant für denGedanken eines allgemeinen Völkerstaats bezieht, ausgehend von einem „Rechts-prinzip ..., wie das Verhältniß unter Menschen und Staaten sein ?//"51). „St.

4*a) A 569; B 579. Ethik-Vorlesung S. 11.49) A 315; B 372.50) A 316; B 372/3.6l) XV 406; VIII 313. * '

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Pierre, Plato, Rousseau" steht in einem Sinnzusammenhang unter dem Titel:„Phantasten der Vernunft" — nicht müßigen Träumens52). Und noch die Staats-romane und Utopien werden von hier mit in den Blick genommen: „Platos At-lantica, Morus' Utopia, Harringtons Oceana ..." schildern Lebensverfassungen,welche „nie .., auch nur versucht worden" sind. „Ein Staätsproduct, wie man eshier denkt, als dereinst, ... vollendet zu hoffen, ist ein süßer Traum; aber sich ihmimmer zu nähern, nicht allein denkbar, sondern, soweit es mit dem moralischenGesetze zusammen bestehen kann, Pflicht .. ,"53). — So soll Platos Staatslehrealso verstanden werden von der Idee her, welche uns „Ideal" geworden ist, wasim Felde praktischer Daseinsgestaltung heißt: Aufgabe der Gestaltung im ge-schichtlichen Prozeß des Menschheitswerdens. Allmähliche Aufklärung undDurchbildung im Vorgriff auf mögliche Zukunft tritt jenem Mythos und Gedan-ken von der Rückerinnerung entgegen. So sagt Kant einmal (in einem Brief anF. H. Jacobi) von der Idee der Freiheit, diesem „übersinnlichen Vermögen" unse-rer Einwirkung auf die Sinnenwelt, daß, wenn „das Evangelium die allgemeinesittliche Gesetze in ihrer ganzen Reinigkeit nicht vorher gelehrt hätte, die Vernunftbis jetzt sie nicht in solcher Vollkommenheit würde eingesehen haben, obgleich,da sie einmal da sind, man einen jeden von ihrer Richtigkeit und Gültigkeit (anjetzt)durch die bloße Vernunft überzeugen kan"54). —

Soviel zu dem, was Kant von der Lehre Platos, wie er ihn verstand, als derAchtung und Nachfolge in hohem Maße würdig, der philosophischen Besinnungfür sein Zeitalter und die Folgezeit empfahl — mit großer nachhaltiger Wirkung;große Denker im Gefolge Kants haben ihn immer, jeder auf besondere Weise, ineinem Plato-Zusammenhang gesehen.

Überall aber, wo Kant „mildernde Auslegung" und auch entschiedene Abkehrnötig schien, tritt das Wort „Schwärmerei" auf, und Abwehr gegen die „Mystik"des Platonismus. Für Kant war Plato nicht in allem der „erhabene Philosoph";sondern zugleich sah er in ihm, von der geschichtlichen Auswirkung schon imAltertum her, den „Vater aller Schwärmerei mit der Philosophie" und den „Vateraller mystiker" in ihr55). „Der Ursprung aller philosophischen Schwärmerei liegt

62) XV 210 (Nr. 488).53) VQ92a.54) XI 73 f.55) XVI 48 u. ö. Enzyklopädie-Vorlesung: „Plato folgte dem freien Lauf seines

Genies. Nicht die Spekulation der Analysis (sc. wie bei Aristoteles) ... sticht bei ihmvor ...". „Plato sagte, der Sitz der menschlichen Seele ist ursprünglich in der ewigenGottheit gewesen. Er redet vom Körper wie von einem Kerker ... Seine Philosophiewar Mystik. Mystisch sind alle Begriffe, die sich auf eine geistige Anschauung gründen."S. 35, 41. XIX 108: „Das mystische ideal der intellectuellen Anschauung des Plato", wosich der Mensch in der Gemeinschaft des höchsten Wesens sehen will. XIX 95: „Plato-nische moralphilosophie mystisch ... terminus ad quem (sc. das „Ideal") ist mit dem aquo ... verwechselt".

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in Platos ursprünglichen göttlichen Anschauungen aller möglichen Objekte..."").

Schon in der Zeit des ersten Plato-Einsatzes nahm Kant Abstand gegen eine„mystische" Auswirkung des altüberlieferten Platonismus in der Neuzeit. Im§ 22 der Inauguraldissertation spricht er von Malebranches Lehrmeinung: nosomnia intucri in Deo; und in dem großen Brief an Marcus Herz, der das Problemder transzendentalen Deduktion zuerst anschneidet, kommt er abweisend aufdiese Lehre wiederum zurück67). Der bloße Gedanke der Anamnesislehre, soheißt es in einer Reflexion der Spätzeit, ist noch nicht die eigentliche Schwärmerei,sondern kann vielmehr „als bloße Erklärungsart der Möglichkeit der Erkenntnissea priori" verstanden werden. „Aber nun kommt die Vermuthung, auch noch jetztdieser Gemeinschaft mit Gott und der Unmittelbaren Anschauung dieser Ideenteilhaftig zu werden (Mystische Anschauung), auch wohl, darin den unmittel-baren Gegenstand aller seiner Neigungen zu finden, ... (mystische Liebe Got-tes)"68). Wenn Kant von Malebranche noch sagt, er kenne nur „Das Licht derÜberzeugung" als Merkmal der Gewißheit (also nicht eigentliche Vernunftkrite-rien der Wahrheit)69), so könnte man darin vielleicht eine Ahnung von dem histo-rischen Zusammenhang mit dem christlichen Platonismus Augustins (illumina-tio) vermuten.

Besonders aktuell aber wurde nun die für Kant vom ersten Einsatz seiner Plato-Rezeption an mit der Hochwertung der Ideenlehre verbundene Abwehr gegen dieplatonistischen Gefahren — in der Spätzeit, in den zwei Jahrzehnten nach Er-scheinen der Kritik: wo nun vielfältige Rückbezüge und Berufungen auf denalten Denker auch von außen her an Kant herantraten, z. T. auch schon anknüp-fend an Kants eigenen Preis des griechischen Philosophen. Und dabei wendetesich neue „Schwärmerei" im Namen Platos auch geradezu gegen die kritischePhilosophie und ihre nüchterne, die Grenzen menschlicher Erkenntnis heraus-arbeitende Reflexionsart. Hauptdokument für Kants Auseinandersetzung mitdieser „neueren mystisch-platonischen Sprache" und Denkart sind die primärgegen Schlosser und Stolberg gerichteten Partien der späten Aufsätze: Von einemneuerdings erhobenen vornehmen Ton In der Philosophie und: Verkündigung des nahen Ab-schlusses eines Traktats ^um ewigen Frieden in der Philosophie (beide 1796), sowie nochdie Von der philosophischen Schwärmerei handelnden ausführlicheren Reflexionen die-ser Zeit60). Es darf dabei erwähnt werden, daß die auch bei Brucker (vermutlichder Hauptquelle für Kants Platokenntnis) vorkommende ganz vage Rückbezie-

) XVHI 437 (Nr. 6051).57) II410; X 131. Vgl. XVII492 (Nr. 4275): „Plato und Malebranche (sc. erklärten

die Grundsätze der Vernunft) aus dem intuitu intellectuali, wir nach der epigenesis ausdem Gebrauch der natürlichen Gesetze der Vernunft."

58) XVIII 435 (Nr. 6050).59) XVI 454 (Nr. 2658).eo) VIII 389 ff., 419 f.; XVin 434—438 (Nr. 6050 und 6051).

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hung der platonischen Philosophie auf angeblich uralte Mysterien bei manchenZeitgenossen nun ins Kraut schoß; Kant wurde damit unmittelbar befaßt, schonzwei Jahre nach dem Erscheinen der Kritik, durch einen der Briefe F.V. L. Ples-sings, des hypochondrischen Phantasten, der uns sonst bekannt ist durch denBezug in Goethes Harzreise im Winter („aber abseits wer ist's"). Da heißt esdenn61), er, Plessing, habe „in der platonischen Philosophie die Philosophie undTheologie der alten Ägypter entdeckt (!), die in ihren höhern Mysterien gelehrtwurde: der Platonismuss in Absicht der Ideen, da die Seele als Ausfluss aus dem

betrachtet wird, die durch Entsagung des Körpers und der Sinnlichkeitwieder mehr in ihren ersten Ur-Zustand der Vollkommenheit zurückversetztund dadurch mit dem vereinigt wird ... Der Osiris der Ägypter ist der

des Plato und der der Christen"; auch „die ganze Geschichte vomSündenfall im Alten Testament" wird da hineingebracht! Man kann sich lebhaftvorstellen, mit welchem Widerwillen Kant dergleichen Unkraut eines neuen selbst-gewissen Plato-Enthusiasmus um sich herum aufsprießen sah, und wie ihm nunerneut daran liegen mußte, den Klassiker der Philosophie von den Phantastereiendieser neuen „Neuplatoniker", dieser philosophierenden „Propheten" mit ihrenOrakelsprüchen abzusetzen. Dieser Art „geniemäßigen" Philosophierens setztKant erneut den Geist der „Aufklärung" entgegen, wie er jetzt in den Wissen-schaften walte, welche „Arbeit erfordern", forschende Bemühung — wobei Kant,eben wegen der gründlicheren Kenntnis des echten Plato, auch „alte Geschichteund Sprachkunde" nennt62). Es ist in diesem Zusammenhang, daß Kant das eigenePhilosophieren allen solchen „Philosophen der Anschauung" entgegenstellt alsdie „herculische Arbeit des Selbsterkenntnisses" der menschlichen Vernunft, dienicht im „Überfliegen" der Erscheinungswelt und in „Apotheose von oben her-ab" demonstrierend Wahrheiten verkündet, sondern „von unten hinauf", durch„methodische Entwicklung und systematische Zusammenstellung der Begriffe", zuden Ideen aufsteigt63). —

Kant hat aber auch große Systemkonzeptionen in der Metaphysik der Neuzeit,gegen welche sich seine kritische Systematik wenden mußte, mit dem Platonismusin Zusammenhang gebracht. So den heftig bekämpften Spiritualismus Berkeleysmit seiner „schwärmerischen Absicht"64). Wie auch dieser Bezug von der Umwelther sich Kant aufdrängen wollte, zeigt etwa der Brief eines holländischen Kantver-ehrers aus dem Jahre 1790, wo es bei hohem Preisen aller Schriften von Berkeley

61) X291L.62) Vin 390, 398 f. Ein Jahrzehnt später begann die für das Platoverständnis ent-

scheidend wichtige Erschließung Platos in Schleiermachers Ubersetzungstätigkeit, nach-dem noch in Kants Lebenszeit (80er Jahre) die neue Ausgabe der Bipontiner samt zu-gehörigen Analysen Tiedemanns erschienen war.

6a) 390.64) Prolegomena, Anhang, IV 375a. Mit der Arbeit der Vernunftkritik „fällt nun

der ganze schwärmerische Idealism, der immer (wie auch schon aus dem Plato zu ersehen)aus unseren Erkenntnissen a priori...".

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(auch dcrst/r/r) heißt, vielleicht habe „niemand den Parmenides des Plato so gutals er verJandcn"65).

Vor allem aber tritt nun, veranlaßt durch F. H. Jacobis Briefe über die Lehredes Spinoza**), die Metaphysik dieses Denkers noch mit in den Zusammenhangeiner am Platonismus sich entzündenden Philosophie der „mystischen Anschau-ung". An vielen Stellen des Opus poitumum ist in abwehrender Wendung vonSpinozismus die Rede — wo man nach allem früheren bei Kant den Namen Male-branchcs erwarten würde. Diese zunächst überraschende Tatsache läßt sich voneinem der Fragmente über die philosophische Schwärmerei her aufklären. Eswerden da drei Stufen unterschieden. Der erste Ursprung liegt in Plato und der„ncuplatonischcn Schule"; der „zweite Schritt des Mystizismus" geschah durchdie Annahme, „alles noch jetzt in Gott anzuschauen" (,,... alle Dinge nach ihrerwahren Natur nur in Gott als ihrer Ursache und in seinen Ideen als Urbildern an-schauen"). Der dritte „und höchste Grad der Schwärmerey" aber ist dann: „daßwir selbst in Gott sind und in ihm unser Dasein fühlen oder anschauen", so wie beiSpinoza*7).

Wie es auch um das historische Recht stehen mag, Spinozas Alleinheitslehreauf Platonismus irgendwie rückzubeziehen — der Sache nach kann man in einemder Momente, wegen derer Kant sich von Pkto absetzte, den Grund sehen fürjene Konsequenzen des Spinozismus, welche Kant vor allem bekämpfte: den„Fatalismus" als die Lehre, wonach alles in der Welt mit absoluter Notwendigkeitaus dem Seinswesen folgt, so wie die Figuren der Geometrie aus dem unendlichenRaum, — und die Erklärung aller endlichen Dinge, also auch unserer selbst, zubloßen Modi (Kant sagt: „inhaerierende Akzidenzen") in der göttlichen Substanz,welche zugleich die Natur ist. Daß Plato auch die geometrischen Gebilde zu den

) XI 190 f.; „Oft glaubte ich ihm in der Kritik d. r. V. zu begegnen"; der Autorverdiene aber ein „weitläufigeres Examen". Kann nicht der Kantsche mundus vereexistens (der äußeren Natur) „verschwinden ohne Nachtheil für Ihr System ?" S. 197/8.

6e) Jacobis in jenen Jahren so großes Aufsehen erregende und für die Spinoza-Rezeption besonders der nachkantischen Idealisten folgenreiche Schrift von 1785 warbekanntlich der Anlaß zu Kants Aufsatz: Was beißt: Sich im Denken orientieren!', worinKant denn auch die dem Hauptstück bei Jacobi angefügten Schriften nennt. Von vielenseiner Korrespondenten, zuerst vom Hauptbeteiligten, Mendelssohn, wurde Kant mitder Kontroverse und dadurch eben mit der. Philosophie Spinozas befaßt. 1789 bestätigter Jacobi den Empfang der Zweiten Ausgabe.

e7) XVIII 437 f. (Nr. 6051); 435 (Nr. 6050): „Endlich der Spinozism (Theosophiedurch Anschauen)". Nach der absteigenden Schilderung des letzten Abschnitts vor Nr.6052 heißt es: „Nun zurück vom niedrigsten Grade zum höchsten: Spinoza". — Schonin früher Zeit scheint Kant Neigung gehabt zu haben, Spinoza mit dem Platonismus inZusammenhang zu bringen. In den Pölitz-Vorlesungen (S. 60) hat der Nachschreibernotiert: „Spinoza sagt: Es ist nur ein Wesen, und alle übrigen sind Modifikationen deseinen Wesens. Der dogmatische Idealismus ist mystisch und kann heißen der platonischeIdealismus". Dabei wird merkwürdigerweise Spinoza in Nähe zu Berkeley gebracht. Esheißt da wenig später: „Behaupte ich denkende Wesen, von denen ich intellektuelle An-schauung habe, so ist das mystisch"; und Spinozas Reduktion auf Ein Urwesen wird,seltsam genug, auf Solipsismus („Egoismus") gedeutet.

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Noumena stellte und geometrische Anschauung nicht als bloß „sinnliche" undnur Erscheinungswelt angehende erkannte, hat Kant, wie. wir gesehen haben,immer als Fehlgriff und als Grundgegensatz zur eigenen Position betont. Nunwurde eben in Spinozas Intuitio ausdrücklich das Räumliche, der Raum selber mitdem Ens realissimum ineins gesetzt. So wie die geometrischen Gebilde und Ver-hältnisse nichts sind als Einschränkungen des Einen schlechthin unendlichenRaumes, so sollten alle Einzelwesen als bloß modale Limitationen des Urseins, inihm beschlossen, angesehen werden. Kant hat in seinen späten Metaphysikvorle-sungen zur Bekräftigung der eigenen Position gesagt: „Wenn wir den Raum alsreal betrachten, nehmen wir Spinozas System an. Er glaubte nur eine Substanzund alle Substanzen in der Welt hält er für dieser göttlichen inhaerierende Be-stimmungen". Und noch an anderer Stelle: „die Handlungen der Seele wärengöttliche Handlungen, die Substanzen Akzidentien, die der Gottheit inhaerie-ren"68).

Gegen solche Identitätsphilosophie, die sozusagen Metaphysik und Geometrieauf einer Ebene zusammennimmt, konnte Kant übrigens, wie seinen eigenen, soauch den Platonismus Leibnizens ins Feld führen. Auch diesen großen Vorgängersuchte er von seiner wichtigsten Intention her besser zu verstehen, als er ihm sonstüberliefert war. In den Metaphysischen Anfangsgründen sagt er einmal, die rechtverstandene Monadologie, welche den Raum nicht zur intelligiblen Welt, sondernnur als „correspondierend" (in den Phänomenen) ansieht, sei ein „an sich richtigerplatonischer Begriff von der Welt"69).

Daß also nun Spinoza im Opus postumum als eine äußerste Form jener Artmystischer Schwärmerei betrachtet wird, deren Ursprung Kant im Platonismusgegeben schien, kann man von jenen Vorgängen und Auseinandersetzungen inder Spätzeit des Denkers her verstehen. „Spinoza's Begrif von Gott u. Menschnach welchem der Philosoph alle Dinge in Gott anschaut ist schwärmerisch"70).Äußerster Gegenpol dazu ist Kants Lehre vom Ideal der Vernunft und von derFreiheit des Menschen nach der Idee des Reichs der Zwecke. —

In Spannungen, wie sie hier dargelegt wurden, bewegte sich Kants „Plato-nismus", mit dem Bemühen, den großen Autor der antiken Weltweisheit auf dashin auszulegen, was Nachfolge herausfordert. Kant hat den klassischen Denkerauch als „Genie" gepriesen — welchen Titel er nicht nur, wie in der Kritik derästhetischen Urteilskraft, dem vorbildprägenden Menschen künstlerischer Phantasiezusprach. In den Notizen zur Anthropologie werden zu solchen „Ursprünglichendes Geistes" neben Dichtern und „Autoren des Geschmacks" sowie den techni-

e8) Kowalewski-V., S. 586, 627. Vgl. auch die Stelle in der Kritik der praktischenVernunft, welche da sagt, ohne die Lehre der transzendentalen Ästhetik sei der Spinozis-mus unvermeidlich. V 101/2.

e9) IV 507/8. — Kant hat Leibniz an vielen Stellen mit Plato in Zusammenhanggebracht („Anhänger Platos", „der platonischen Schule angehörend", „dem platonischenIdealismus zugetan"). Vgl. z. B. VIII 331, 391; XVIII 240; Pölitz-Vorlesungen, S. 60.

70) XXI 15, 19; Vgl. noch XXII 54.

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sehen Erfindern auch Denker gerechnet, denen eine entscheidende „Vermehrungder Erkenntnis des Verstandes und der Vernunft" verdankt wird71). Und wenn esda heißt, „das schwärmerische Genie übertrcibts in Ideen", so ist das ebenso imHinblick auf Rousseau gedacht wie auf Plato; und aus der eigensten Erfahrung desDenkers heraus sagt er da noch: „Vom schwärmenden Genie kann ich wirklichlernen." — Zwei kurze Reflexionen aus der Werkstatt Kants sollen diese Betrach-tung abschließen; man möchte denken, sie seien nicht ohne Rückbezug auf KantsPlatoerfahrung niedergeschrieben. Die eine lautet: „Es giebt keinen Fortschrittdes Geistes, keine Erfindung, ohne das, was man schon kennt, in neuer Beziehungnachzuahmen ... Die Nachahmung ist der bescheidene und sichere Gang desgcnics, welches den Weg, den es unternimmt, nach denen Versuchen beurtheilt,die andere gemacht haben. Es gab keinen großen Meister, der nicht nachahmete ...Alles steht im Gesetze der continuitaet"72). Die andere Notiz sagt aus: „Wennman erfinder seyn will, so verlangt man der erste zu seyn; will man nur Wahrheit,so verlangt man Vorgänger"73).

71) XV 407, 410, 412. „Genies haben Einsichten hinterlassen, welche den allge-meinen Schatz vergrößerten."

72) XV 340 (Nr. 778). Auf Kants Platoverhältnis könnte man auch den Satz bezogendenken: „Wer fortsetzt, kan den ersten Urheber weit übertreffen, wie Newton den Kepler.Wir Deutsche sind zum Fortsetzen der Erfindung der Vernunft gemacht". XV 393(Nr. 898).

73) XVI 255 (Nr. 2159): '

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