Kapitel 1. Die erste Liebe: die Mutter -...

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Die Kraft der männlichen Sexualität. Lebensbilder für Männer Peter A. Schröter, Pendo 2003 ISBN 978-3-86612-029-7 Kapitel 1. Die erste Liebe: die Mutter Initiation Wenn Mütter den Jungen die Männlichkeit abzwacken, sobald sie in die Welt hinausstreben, können diese nie eine gute männliche Identität aufbauen. Deswegen haben alle Kulturen sogenannte Initiationsriten erfunden, Rituale, die die Buben den Müttern entreißen und in die Obhut der Männer geben. Nelson Mandela, der ehemalige Präsident von Südafrika, erzählt in seiner Biographie von seiner Initiation ins Mannsein. Ein Teil davon bestand darin, daß mehrere Jungen nackt nebeneinanderstehen mußten. Sie sollten beschnitten werden, das heißt, ihre Vorhaut wurde über die Eichel nach vorne geschoben und dann mit einem Messer abgeschnitten. Ein Ritual, das Männer wohl seit Menschengedenken vollziehen. Die Prüfung bestand nun darin, diesen Schnitt über sich ergehen zu lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Mandela erzählt, daß er dabei ein ganz klein wenig gezuckt und nach dem schmerzhaften Schnitt nicht laut, schnell und kräftig genug gerufen habe: »Jetzt bin ich ein Mann!« Deshalb sei er zeitlebens nicht sicher gewesen, ob er die neue Stufe nun wirklich erreicht habe. Wir haben heute diese Initiationen in die Männerwelt nicht mehr. Parzival wird später in der Geschichte in die männliche Obhut genommen, zum Ritter geschlagen und dadurch in die Männerwelt initiiert, aber wir Männer, die wir im Vollbesitz unserer körperlichen und geistigen Kräfte einer modernen Zivilisation angehören, wir wurden nie durch ein solches Ritual aus den Fängen der Mutter befreit. Wir haben vielleicht eine solche »Rest-Initiation« durchgemacht, wie sie die Kirchen für Jugendliche bereithalten, ließen uns widerwillig konfirmieren oder als Katholiken von einem Bischof am Haarwirbel berühren, um in religiösen Belangen mündig zu werden. Einige von uns haben vielleicht Drucker gelernt und sind am Ende der Ausbildung gegautscht, in einen Brunnen getaucht worden, einige sind Zimmerleute geworden und nach alter Tradition auf die Walz gegangen, viele haben die Rekrutenschule besucht und lernen müssen, sich in einer Männerclique zu behaupten und zu kämpfen, aber die großen Rituale, die uns Erfahrungen aussetzen, welche uns von Mutter lösen und den Männern anheimstellen, sie sind vergessen.

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Die Kraft der männlichen Sexualität. Lebensbilder für MännerPeter A. Schröter, Pendo 2003ISBN 978-3-86612-029-7

Kapitel 1. Die erste Liebe: die Mutter

Initiation

Wenn Mütter den Jungen die Männlichkeit abzwacken, sobald sie in die Welthinausstreben, können diese nie eine gute männliche Identität aufbauen. Deswegenhaben alle Kulturen sogenannte Initiationsriten erfunden, Rituale, die die Buben denMüttern entreißen und in die Obhut der Männer geben. Nelson Mandela, der ehemaligePräsident von Südafrika, erzählt in seiner Biographie von seiner Initiation insMannsein. Ein Teil davon bestand darin, daß mehrere Jungen nacktnebeneinanderstehen mußten. Sie sollten beschnitten werden, das heißt, ihre Vorhautwurde über die Eichel nach vorne geschoben und dann mit einem Messerabgeschnitten. Ein Ritual, das Männer wohl seit Menschengedenken vollziehen. DiePrüfung bestand nun darin, diesen Schnitt über sich ergehen zu lassen, ohne mit derWimper zu zucken. Mandela erzählt, daß er dabei ein ganz klein wenig gezuckt undnach dem schmerzhaften Schnitt nicht laut, schnell und kräftig genug gerufen habe:»Jetzt bin ich ein Mann!« Deshalb sei er zeitlebens nicht sicher gewesen, ob er dieneue Stufe nun wirklich erreicht habe.

Wir haben heute diese Initiationen in die Männerwelt nicht mehr. Parzival wird späterin der Geschichte in die männliche Obhut genommen, zum Ritter geschlagen unddadurch in die Männerwelt initiiert, aber wir Männer, die wir im Vollbesitz unsererkörperlichen und geistigen Kräfte einer modernen Zivilisation angehören, wir wurdennie durch ein solches Ritual aus den Fängen der Mutter befreit.

Wir haben vielleicht eine solche »Rest-Initiation« durchgemacht, wie sie die Kirchen fürJugendliche bereithalten, ließen uns widerwillig konfirmieren oder als Katholiken voneinem Bischof am Haarwirbel berühren, um in religiösen Belangen mündig zu werden.Einige von uns haben vielleicht Drucker gelernt und sind am Ende der Ausbildunggegautscht, in einen Brunnen getaucht worden, einige sind Zimmerleute geworden undnach alter Tradition auf die Walz gegangen, viele haben die Rekrutenschule besuchtund lernen müssen, sich in einer Männerclique zu behaupten und zu kämpfen, aberdie großen Rituale, die uns Erfahrungen aussetzen, welche uns von Mutter lösen undden Männern anheimstellen, sie sind vergessen.

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Die Kraft der männlichen Sexualität. Lebensbilder für MännerPeter A. Schröter, Pendo 2003ISBN 978-3-86612-029-7

Wir haben auf andere Weise unser Männlichkeit auszuloten begonnen, einigeMutproben bestanden, haben uns vielleicht an Hängegleitern von Bergspitzenheruntergewagt, sind mit Fallschirmen aus einem Flugzeug oder an Gummiseilen vonBrücken gesprungen, sind vielleicht Skipisten hinuntergerast, daß Mutter nur den Kopfschüttelte. Aber die rituelle, bewußte, offizielle Trennung von der Mutter, diesemännliche Initiation, die tief in der Seele die Abhängigkeit durchtrennt, ist an uns nievollzogen worden. Niemand hat uns gezeigt, wo König Artus für uns zu finden ist.Später wird noch Wichtiges zum Thema zu sagen sein.