KOLUMNE Kreativitaet und Leukamie

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  • 7/29/2019 KOLUMNE Kreativitaet und Leukamie

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    Kultur. | Samstag, 10. November 2012 | Seite 27

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    Krankheit und Kreativitt

    ber die Entstehung des RomansDer Henker von ParisVon Claude Cueni

    Als ich in den 80er-Jahren mehrmalsmit meinem Sohn Clovis in Paris war,um die berreste des antiken Lutetia zusehen, stiess ich erstmals auf die Hen-kersdynastie der Sanson. Ich speichertedie Charaktere in meinem Archiv undschrieb spter den Roman ber denGallischen Krieg. Da war Geld ausMetall. Nachdem Vercingetorix besiegtwar, desertierte ich ins 18. Jahrhun-dert. Da war Geld aus Papier. Da ichmich seit Langem fr historischeFinanzkrisen interessiere, suchte ichJahre spter nach einem entsprechen-den Sto, der die Epoche nach JohnLaw (Vorabend der Aufklrung) wie-dergibt. Es war der rauschende Handelmit den Assignaten, dem neuen Papier-geld der Revolutionre. Hier stiess icherneut auf die Henkersdynastie derSanson, hatte doch der vierte derDynastie, Charles-Henri Sanson, ber3000Menschen guillotiniert. Ichsammelte Material fr diesen Stoundfhrte ein Casting mit allen histori-schen Figuren der damaligen Zeitdurch. Ich schrieb die erste FassungDie Henker von Paris. Mein Sohn undtglicher Lektor Clovis fragte micheines Abends: Die Dynastie zhlt sechsverschiedene Sanson in einem Zeit-raum von rund 200 Jahren. Aber werist die Hauptfigur? Um wen soll ich mirSorgen machen? Eine berechtigteFrage. Ich guillotinierte also dreiSanson und schrieb den Roman neu.Jetzt sind es noch drei, sagte meinSohn, aber wer ist die Hauptfigur?Ich beschloss, den Roman erneut zuschreiben und auf den Henker zu redu-zieren, der whrend der FranzsischenRevolution ehrfrchtig Monsieur deParis und Sanson le Grand genannt

    wurde. Dieser Charles-Henri Sansonhatte eigentlich Arzt werden wollen,doch der Familienclan zwang ihn, den

    gechteten Beruf des Vaters fortzufh-ren, um die Existenz der Familie zu

    sichern. Tten statt heilen, das schienmir eine Tragik zu sein, die den klassi-schen griechischen Tragdien in nichtsnachsteht. Man kennt sein Schicksal,kann ihm aber nicht entrinnen.Die Qualen der Opfer wurden zu denendes Henkers. Tagsber richtete Sansonam Schafott, abends spielte er Klavierund nachts sezierte er die Toten, um dieAnatomie zu erforschen.Ich begann also zum dritten Mal, denHenkerroman zu schreiben. Dannerkrankte meine Ehefrau an Krebs. Siebrauchte Pflege, schliesslich rund umdie Uhr. Bcher hatten keine Bedeu-tung mehr. Nach ihrem Tod war ichsehr erschttert und hatte kein Inter-esse mehr, mich mit dem blutigenHenkerstozu befassen. Mein Sohnberredete mich, mit ihm nach Hong-kong zu ziehen.Dort arbeitete ich im Advisory Boardeines brsenkotierten US-Unterneh-mens. Doch Sanson forderte eine litera-rische Wrdigung. Nach einem Jahrnahm ich den Henkerstoerneut inAngri. Ich hatte mittlerweile erfahren,dass Pariser Jesuiten im 18. und19.Jahrhundert ins Knigreich Siamreisten, um dem Knig Astronomie undChristentum beizubringen. Einigejunge Thailnderinnen nahmen siejeweils auf ihrer Heimreise nach Parismit. Dort studierten diese im Gymna-sium Louis le Grand. Die Episode gabmir die Idee, eine Liebesgeschichte mitdem gechteten Henker zu verknoten.Quasi eine Lichttherapie fr diesendsteren Sto. Ich schrieb nun zumvierten Mal den Roman und erkrankteaber bereits vor Ausbruch der Franzsi-schen Revolution an einer schwerenLeukmie (ALL). Am Vorabend noch

    topfit, am nchsten Tag todkrank. Ichlag dann sechs Monate auf der Isolati-onsstation der Uniklinik und erhielt die

    lebensnotwendigen Hochrisiko-Chemotherapien, die manchmal auch

    Hirnblutungen auslsen knnen. Ichhatte kein Glck, dann kam noch Pechdazu. Als ich aus dem Koma aufwachte,konnte ich mich nicht mehr an denTitel des Stoes erinnern, an dem ichzuletzt geschrieben hatte. Ich konntenicht mehr vernetzt denken, meinGedchtnis war wie ein Eiswrfelgeschmolzen und meine Augen liessenmich die Umwelt wie durch ein Kalei-doskop sehen. Es war mir so peinlich,dass ich es nur meinem Sohn erzhlte.

    Bloss nicht noch mehr Behandlungen.Mein Sohn klrte mich auf: keinProblem, vllig normal nach einerSchdelperforation. Er erzhlte mir dieGeschichte des Henkers. Mir schien derStointeressant zu sein, aber mir fehlteeinfach die Kraft. Die Buchhalterin derStation besuchte mich regelmssig unddrngte mich mit freundlicher Hartn-ckigkeit, den Roman zu Ende zu schrei-ben. Da ich nun bereits eine Leserin aufsicher hatte, setzte ich mich erneut anden Henkersto. Das war nicht ganzeinfach, denn wenn ich zwei Seitengeschrieben hatte, konnte ich michnicht mehr an die vorhergehende Seiteerinnern, und manchmal realisierteich, dass ich auf den Bildschirm starrteund nur in Gedanken geschriebenhatte. Da die Chemotherapien dieLeukmie nicht besiegen konnten,musste ich wohl oder bel akzeptieren,dass es vorbei war. Ich schrieb nur noch

    ein Testament. Der Roman war erneutkein Thema mehr. In dieser Zeit kammeine Freundin aus Hongkong in die

    Schweiz, doch sie traf nicht den putz-munteren Kerl aus Asien, sondern ein

    krperliches Wrack, dynamisch wie einalter Veloschlauch. Die geplanteEuropareise beschrnkte sich auf diezwanzig Quadratmeter meines Isola-tionszimmers in der Hmatologie. Siebeschloss, an meiner Seite zu bleiben,bis ich gesund bin. (Da sich dies mitt-lerweile ber drei Jahre in die Lngezieht, haben wir geheiratet.) Aberzuvor erfolgte noch eine Knochenmark-transplantation. Leukmie war an-schliessend nicht mehr nachweisbar.Ich denke, wenn man in der Hmatolo-gie des Basler Unispitals behandeltwird, ist man trotz Leukmie einGlckspilz und hat die bestenberlebenschancen.Ich konnte endlich nach Hause und dasBuch beenden. Vor der Haustr war einPaket aus den USA. Ich hatte ganzvergessen, dass ich vor zwei Jahren einReplikat der franzsischen Guillotine inAuftrag gegeben hatte. Da ich nochgengend Humor hatte, fasste ich esnicht als schlechtes Omen auf. Ichsetzte mich erneut an den Sto. Dankden hohen Kortisondosen war esanfangs nicht so schwierig. Ich warstndig auf 180, brauchte nur wenigeStunden Schlaf. Bis schliesslich dietglichen Krmpfe in Hnden undFssen meine Arbeit erneut sabotier-ten. Chronische GvH und Nervensch-digungen: die Zellen des lebensretten-den Knochenmarkspenders grienmeine Organe an und begannen Hautund Lunge abzustossen. Erschwerendkamen die zahlreichen Nebenwirkun-gen der anfangs ber 20 Pillen dazu,die ich tglich einnehmen muss. MeineAugen konnten nicht mehr akkomodie-ren, und ich deckte ein Auge ab. Untermeinen Fingerngeln bildeten sich

    eitrige Entzndungen. Ich zog Chirur-genhandschuhe an. Kaum bewegte ichmich in den Pariser Gassen des

    18.Jahrhunderts, rissen mich Spasmenin den Hnden in die Realitt zurck

    und jeder Finger benahm sich so, alshtte er eine Erektion. Unmglich zutippen. Aufgrund der tglichen Spas-men und nchtlichen Krmpfe war ichmittlerweile ziemlich bermdet.Meine Situation war derart grotesk,dass ich es mittlerweile als sportlicheHerausforderung annahm. Ein Spieldauert 90Minuten, manchmal gibtseine Verlngerung, manchmal wirdman frhzeitig ausgewechselt. Wer einschwieriges Leben hinter sich hat, kannSchwieriges besser akzeptieren. Gelingtnatrlich nicht immer. Ich flchtetenoch so gerne ins 18. Jahrhundert undbegleitete Sanson aufs Schafott. Dortoben vergass ich meine Krankheit undmeine Zukunftsaussichten. Ich warberzeugt, dass ich nicht sterbenwrde, bevor der Roman zu Ende war.Widrige Arbeitsbedingungen habenkeinen Einfluss auf die Kreativitt. Esbraucht weder gregorianische Gesngenoch den Duft eines Apfels. Was zhlt,ist eine zwanghafte Besessenheit freinen Sto. Ich beendete schliesslichnach zahlreichen Zwangspausenund Rckschlgen die FranzsischeRevolution und liess den Henker nach3000Guillotinierten in den Ruhestandtreten.In diesem Sinn ist Der Henker vonParis nicht nur eine beklemmendeCharakterstudie ber den berhmtes-ten Henker der Geschichte, sondernauch mein Survival-Buch, meinComeback-Buch. Ausgerechnet einHenkerroman.

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    Walser weistVorwrfe zurckSchriftsteller droht mit Klage

    berlingen. Der Schriftsteller MartinWalser (85) hat Antisemitismus-Vor-wrfe des jdischen Publizisten MichelFriedman scharf zurckgewiesen. Ichkann mir berhaupt nicht denken, wor-auf sich Herr Friedman bezieht. Sollteer das nicht widerrufen, werde ich ihnwegen Beleidigung verklagen. Fried-man (56) hatte Walser sowie GnterGrass (85) in einem Interview mit demKlner Stadt-Anzeiger Antisemitis-mus und Rassismus vorgeworfen. InWalsers Werk meinen manche Kritikerseit Jahren antisemitische Tendenzenzu erkennen. LiteraturnobelpreistrgerGrass war in jngster Zeit wegen einesIsrael-kritischen Gedichts ins Kreuz-feuer der Kritik geraten. DPA

    Der Spassvogel bleibt sich treuJoseph Haydns Apotheker als Regiedebt des Komikers Massimo Rocchi

    Von Sigfried Schibli

    Basel. In der komischen Oper zwischenHaydn und Donizetti gibt es zwei Be-rufsgruppen, die meist als geldgierigeSchlitzohren gezeichnet werden: dieVertreter des Gesundheitswesens unddie Anwlte. Darber, inwiefern dieseZuordnung heute noch stimmt, ist andieser Stelle nicht zu urteilen. In JosephHaydns Dramma giocoso Lo Spezialeist es die Titelfigur des reichen Apothe-kers Sempronio, der uns als unentwegtZeitung lesender Faulpelz vorgefhrtwird, bis man ihn als Freier der jungenGrilletta kennenlernt. Da auch derApothekengehilfe Mengone und dergeckenhafte Stammkunde Volpino einAuge auf das hbsche Ding geworfenhaben, ist der Konflikt programmiert.

    Haydns perchen von 1768 ist imdritten Akt unvollstndig berliefert,was Auhrungen des Werks nicht ver-hindert und berdies dem RegisseurMassimo Rocchi Anlass fr einen lusti-gen bertitel liefert: Die gerade erklin-gende Musik, heisst es da, sei gar nichtvon Haydn, sondern vom HerausgeberHarold C. Robbins Landon. Rocchi hatdie im Musiktheater mittlerweile fastschon obligatorischen bertitel alsvierte Ebene neben der Handlung, derMusik und dem Theaterspiel entdeckt.

    Licht im Medien-DunkelIn seiner Auhrung wird der ge-

    sungene Text nicht bersetzt, sondernironisch kommentiert. So heisst es zuVolpinos Presto-Arie in g-Moll im erstenAkt: Eine typische Rachearie, dieHaydn oft an dieser Stelle einsetzt. An-derswo werden die Personen knappcharakterisiert, manchmal flimmert rei-ner Nonsens ber die Bildleiste.

    Lustig, wie Oper sich da ber Operamsiert, frei und komisch erfundenwie die ganze Inszenierung von Massi-mo Rocchi, der diese frhe Bua-Operauch fr Aktualisierungen nutzt. Der

    News-Junkie (bertitel) Semprioneliest hier nicht Zeitung, sondern hlteinen Tablet-Computer in der Hand.Und wenn Mengone und Volpino imzweiten Akt als verkleidete Anwlte dasGlck auf ihre Seite zu bringen versu-chen, tun sie das in den Masken vonMarkus Somm und Roger Kppel, wh-rend Semprione eine Christoph-Blocher-Maske trgt. Womit der politischeSpassvogel Rocchi ein neues Licht aufdie Basler Medienszene wirft: Sind diedrei populren Polit-Akteure am Endenicht Verbndete, sondern Rivalen wieim Stck von Haydn nach Goldoni?

    Jugend auf der BhneEin zwlfkpfiges Instrumentalen-

    semble unter Leitung von David Cowansorgt auf der Kleinen Bhne des Thea-ters Basel fr die Plattform, auf der sichdie Sngerleistungen entfalten knnen.Die junge Andrea Suter spielt und singtGrilletta, das Objekt der allgemeinenBegierde, mit klangvollem, koloratu-rensicherem Sopran und hohem Kr-pereinsatz. Ebenfalls noch Mitglied vonOperAvenir ist Markus Nyknen, derseinen substanzreichen Tenor zuneh-mend gewinnbringend in den Dienstder Darstellung des Mengone stellt.

    Anne-May Krger in der Hosenrolledes Volpino ist von hchster Beweglich-

    keit bis in die Zungenspitze und ge-winnt den Verzierungen Haydns einigeEleganz ab, whrend Andrew Murphyin der Titelpartie mit seinem kernigenBass ein angemessen komischer, tn-zelnder Alter ist, der auch vor sportli-chen Einlagen nicht zurckschreckt.

    Grosser Premierenjubel nach dernur rund 80-mintigen Auhrung undein Kaugummi kauender Regisseur, dermit diesem gelungenen Wurf mgli-cherweise sein zweites Leben als Thea-terregisseur begonnen hat.

    Theater Basel, Kl Bh. nchstauffhru: 12., 14., 25., 26. 11. 2012.www.theater-basel.ch

    Die Umworbene. adr Sutr dr Prt dr grlltt, Mrkus nyk lsFoto Smo Hllstrom

    Auf dem Schafottvergass ich meineKrankheit und meineZukunftsaussichten.

    07.01.2013 BASEL

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