Leitartikel Neue EU-Insolvenzverordnung und Vorschlag zur...

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Zeitschrift für Europarecht Neue EU-Insolvenzverordnung und Vorschlag zur Revision des internatio- nalen Konkursrechts in der Schweiz: Behandlung des Unternehmens als wirt- schaftliche Einheit in der Insolvenz 4 Allgemeine, institutionelle und finanzielle Fragen 25 Wettbewerbsrecht 27 Steuer- recht 28 Wirtschafts- und Währungspolitik 28 Binnenmarkt- und Industriepolitik 30 Verbraucherschutzrecht 30 Europäisches Zivilprozessrecht 32 Grundrechte 33 Weitere Themen 1 / 2016 Leitartikel Herausgeber Europa Institut an der Universität Zürich und Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg

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Zeitschrift für Europarecht

Neue EU-Insolvenzverordnung und Vorschlag zur Revision des internatio - nalen Konkursrechts in der Schweiz: Behandlung des Unternehmens als wirt - schaft liche Einheit in der Insolvenz 4Allgemeine, institutionelle und finanzielle Fragen 25 Wettbewerbsrecht 27 Steuer- recht 28 Wirtschafts- und Währungspolitik 28 Binnenmarkt- und Industrie politik 30 Verbraucherschutzrecht 30 Europäisches Zivilprozessrecht 32 Grundrechte 33

Weitere Themen

1 / 2016

Leitartikel

Herausgeber

Europa Institut an der Universität Zürichund Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts-und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg

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EUZ / 18. Jahrgang / Nr. 1 JANUAR 2016

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Zeitschrift für Europarecht, EuZ

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MGC 1499

M 45

M 42

M 34 M 31

Blick auf Europa2015

Sternenhimmel über Europa im November 2015

Perseus

Auriga

Aries

Pisces

Triangulum

Orion

Lepus

Eridanus

Columba

Fornax Sculptor

Cetus

Andromeda

Pegasus

EUZ_blick auf europa _dez_15_rz.indd 1 10.12.15 14:15

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Das Wichtigste in Kürze — 3

Neue EU-Insolvenz verordnung und Vorschlag zur Revision des internationalen Konkursrechts in der Schweiz: Behandlung des Unternehmens als wirt-schaftliche Einheit in der Insolvenz — 4

Isaak Meier/Camilla Giudici

Weitere Themen:

Allgemeine, institutionelle und finanzielle Fragen — 25

EU-Kommission: Arbeitsprogramm 2016 25Teilassoziierung der Schweiz an «Horizont 2020» 25Lagebericht zur Bewältigung der Flüchtlingskrise 26EU/Schweiz: Gleichwertigkeit der Vorschriften über Solvenz von Versicherungen und Rückversicherungen 26EuG: Bürgerinitiative zur Aufhebung von Staatsschulden nicht registrierfähig 27

Wettbewerbsrecht — 27Tax rulings in Luxemburg und in den Nieder- landen aufgehoben 27

Steuerrecht — 28Automatischer Informations- austausch in Steuersachen 28

Wirtschafts- und Währungspolitik — 28

Nächste Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion 28 Einrichtung nationaler Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit 29Aussenvertretung des Euro-Währungs- gebiets in internationalen Foren 29Verordnung zur Durchsetzung der Rechte der EU aus internationalen Handels- abkommen 29

Binnenmarkt und Industriepolitik — 30

Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion 30

Verbraucher schutzrecht — 30EuGH: Safe-Harbor-Entscheidung der Kommission über Datenaustausch mit den USA ungültig 30Wegfall der Roaminggebühren ab Juni 2017 31

Europäisches Zivilprozessrecht — 32

Anwendung der VO über das Mahnverfahren 32

Grundrechte — 33EGMR: Perinçek/Schweiz und das Recht auf Meinungsfreiheit 33

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Das Wichtigste in Kürze

Sehr geehrte Leserinnen und Leser

Im Leitartikel der aktuellen Ausgabe der EuZ analy-sieren Prof. Dr. iur. Isaak Meier und Dott.ssa Camilla Giudici MLaw die revidierte Europäischen Insolvenz-ordnung, die am 25. Juni 2015 in Kraft getreten ist. Hauptziel der Verordnungsänderung ist es, internatio-nale Insolvenzen effizienter abzuwickeln und insbeson-dere Sanierungen und Restrukturierungen von Unter-nehmungen mit Vermögen, Betriebsstätten und/oder Konzerngesellschaften in mehreren EU-Staaten zu er-leichtern. Die Autoren stellen die Verordnung dem am 14. Oktober 2015 vom Bundesrat in die Vernehmlas-sung geschickten Vorentwurf für eine Änderung von Art. 166 ff. IPRG gegenüber und identifi zieren hierbei viele Parallelen. Nach Auffassung der Autoren sollte neben der betreffenden Revision des IPRG geprüft wer-den, ob die Schweiz nicht mit der EU ein Parallelüber-einkommen zur Europäischen In sol venzverordnung ab-schliessen könnte, so wie dies bei der Verordnung zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen mit dem Lugano-Überein-kommen gemacht wurde. Hierdurch würde gewähr-leistet, dass nicht nur ausländische Hauptinsolvenzver-fahren mit Vermögenswerten und Betriebsteilen in der Schweiz effizienter durchgeführt werden könnten, son-dern auch, dass schweizerische Hauptinsolvenzverfah-ren von entsprechenden Vorteilen profitieren würden.

Die Europäische Kommission hat am 27. Oktober 2015 ihr Arbeitsprogramm für das kommende Jahr bekannt-gegeben. Unter dem bezeichnenden Titel «Jetzt ist nicht die Zeit für Business as usual» will die Kom mission ver-suchen, aktuelle Herausforderungen für die Europäi-sche Union zu meistern. Zu den zentralen Vorstössen zählen Initiativen zur besseren Steuerung der Migration und Vorschläge zum Grenzmanagement, Massgaben zur Umsetzung der Strategie für einen digitalen Binnen-markt, Rechtsvorschriften zur Kreislaufwirtschaft, ein

Paket zur Körperschaftssteuer und ein Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer.

Der Rat hat Anfang Oktober 2015 eine politische Ei-nigung über einen Richtlinienvorschlag zur Transparenz bei den Zusicherungen erzielt, welche die Mitgliedstaa-ten den Unternehmen in Bezug auf die Berechnung ihrer Steuerschuld geben. Die Mitgliedstaaten einigten sich darauf, dass ein automatischer Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten über die bestehenden Regelungen hinaus hinsichtlich Steuervor-bescheiden mit grenzüberschreitender Dimension und bezüglich sogenannter Vorabverständigungsvereinba-rungen erfolgen soll. Die beschlossene Richtlinie sieht zudem vor, dass die Mitgliedstaaten, denen die Infor-mationen übermittelt werden, gegebenenfalls weitere Informationen anfordern können. Auch kann die Kom-mission ein sicheres Zentralverzeichnis einrichten, in dem die ausgetauschten Informationen gespeichert werden.

Mit seiner Empfehlung zur Einrichtung nationaler Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit will der Rat zur weiteren Stabilisierung des Euro-Währungsgebiets bei-tragen, denn eine nachlassende Dynamik der Wettbe-werbsfähigkeit kann zu einer Verringerung des Wachs-tums führen, was wiederum die Rückzahlung hoher Schulden erschwert. Da die EU nicht über eigentliche wirtschaftspolitische Kompetenzen verfügt, sollen die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets diejenigen politischen Massnahmen, die sich auf die Dynamik der Wettbewerbsfähigkeit auswirken, zumindest besser ko-ordinieren.

Die Redaktion der «Zeitschrift für Europarecht» wünscht allen Leserinnen und Lesern ein gutes und erfolgreiches Jahr 2016!

Die Redaktion

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Isaak Meier*Camilla Giudici**

Eine der grössten Herausforderungen des internationalen und europäischen Insolvenzrechts ist es, grenzüber-schreitende Einzelunternehmen und Konzerne nicht nur effizient zu liquidieren, sondern auch, wenn sie wirtschaftlich überlebensfähig sind, zu sanieren.

Neue EU-Insolvenz-verordnung und Vor-schlag zur Revision des internationalen Konkursrechts in der Schweiz: Behandlung des Unternehmens als wirtschaftliche Ein-heit in der Insolvenz

I. Einleitung

Am 25. Juni 2015 ist die revidierte Europäische Insol-venzordnung (sog. neue EuInsVO) in Kraft getreten.1 Damit sich staatliche Stellen der Mitgliedstaaten und die betroffenen Unternehmen auf die neue Regelung ein-stellen können, wird sie allerdings erst auf alle In solvenz-verfahren angewendet werden, die nach dem 26. Juni 2017 eröffnet worden sind (Art. 84 i.V.m. Art. 92 neue

1 Verordnung (EU) Nr. 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates über Insolvenzverfahren vom 20. Mai 2015. * Prof. Dr. iur. Isaak Meier ist ordentlicher Professor für Zivilprozessrecht, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, Privatrecht sowie Mediation an der Universität Zürich. ** Dott.ssa Camilla Giudici MLaw ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Professor Isaak Meier an der Universität Zürich.

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EuInsVO).2 Die neue EuInsVO wird gemäss Art. 91 die ursprüngliche EuInsVO von 20003 (sog. alte EuInsVO) ablösen.

Hauptziel der Verordnungsänderung ist es, interna-tionale Insolvenzen effizienter abzuwickeln und ins-besondere Sanierungen und Restrukturierungen von Unternehmungen mit Vermögen, Betriebsstätten und/oder Konzerngesellschaften in mehreren EU-Staaten zu erleichtern. Hierzu sind mit verschiedenen Instrumen-ten (z.B. verbesserte Koordination von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren, Einführung eines «Grup-pen-Koordinationsverfahrens» für Konzern gesell schaf-ten usw.) die Chancen gesteigert worden, dass ein Unter-nehmen auch in der Insolvenz als wirtschaftliche Einheit behandelt werden kann.4

Im Bereich des Internationalen Zivilprozessrechts hat sich die Schweiz mit dem Lugano-Übereinkommen (LugÜ) erfolgreich dem Europäischen Rechtsraum an-geschlossen.5 Im Internationalen Insolvenzrecht verfügt sie mit Art. 166 ff. IPRG jedoch nach wie vor über eine autonome Regelung,6 welche die internationalen insol-

2 Für die Anwendung der neuen EuInsVO hat der europäische Gesetz-geber drei Ausnahmen vorgesehen: – Den Mitgliedstaaten steht eine längere Zeit zur Einrichtung und Unter-

haltung in ihrem Hoheitsgebiet ein oder mehrere Register zur Verfügung, um Informationen über Insolvenzerfahren bekannt zu machen (sog. In-solvenzregister). Diese Informationspflicht gilt ab dem 26. Juni 2018 (Art. 24 i.V.m. Art. 92). Um den Inhalt dieser Insolvenzregister zu harmonisieren, hat der Europäische Gesetzgeber bestimmte Pflichtinformationen aufgelis-tet (Art. 24 Abs. 2);

– Der Europäischen Kommission steht eine längere Zeit zur Einrichtung eines dezentralen Systems durch die Vernetzung der Insolvenzregister im Euro-päischen Justizportal zur Verfügung, das für die Öffentlichkeit als zentraler elektronischer Zugangspunkt zu Informationen im System dient. Der Suchdienst des Europäischen Justizportals ist in allen Amtssprachen der Organe der Union verfügbar. Diese Vernetzungspflicht gilt ab dem 26. Juni 2019 (Art. 25 i.V.m. Art. 92). Bis dahin muss aber die Kommission die not-wendige Richtlinie für die technische Einrichtung des Europäischen Justiz-portals erlassen (Art. 25 Abs. 2). Das Justizportal — IRI, ist schon seit Juli 2014 aktiv: abrufbar unter <https://e-justice.europa.eu/content_insol vency_registers-110-de.do> (6.10.2015);

– Vor der Anwendung der neuen EuInsVO auf die künftigen Insolvenzverfah-ren müssen die Mitgliedstaaten schon ab dem 26. Juni 2016, im Rahmen des durch die Entscheidung 2001/470/EG des Rates geschaffenen Euro-päischen Justiziellen Netzes für Zivil- und Handelssachen, eine kurze Be-schreibung ihres nationalen Rechts und ihrer Verfahren zum Insolvenz-recht übermitteln (Art. 86 i.V.m. Art. 92). Den Mitgliedstaaten steht regelmässig eine Aktualisierungspflicht der übermittelten Informationen zu (Art. 86 Abs. 2).

3 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates über Insolvenzverfahren vom 29. Mai 2000.4 Contra Rodrigo Rodriguez, Rechtsvergleichende Betrachtungen de lege ferenda zum 11. Titel des IPRG, SZIER 2015, S. 402: «Die EU hat die EuInsVO gerade erst einer Revision unterzogen, eine Revision, die allerdings an den Grundpfeilern der bisherigen EuInsVO wenig ändert.»5 Christian Oetiker/Thomas Weibel in: Christian Oetiker/Thomas Weibel (Hrsg.), Basler Kommentar Lugano-Übereinkommen, Basel 2011 [zit. BSK– Bearbeiter/in], Einleitung LugÜ N 10 ff.6 Gerhard Walter/Tanja Domej, Internationales Zivilprozessrecht der Schweiz, 5. Auflage, Bern/Stuttgart/Wien 2012, S. 186 ff.; Isaak Meier, Inter-nationales Zivilprozessrecht und Zwangsvollstreckungsrecht mit Gerichts-standsgesetz, Zürich/Basel/Genf 2005, S. 170 f.

venzrechtlichen Fragen sowohl im Verhältnis zu den EU-Mitgliedstaaten als auch gegenüber anderen Staaten re-gelt. Am 14. Oktober 2015 hat der Bundesrat einen Vor entwurf für eine Änderung von Art. 166 ff. IPRG in die Vernehmlassung geschickt.7

Auch wenn dies im erläuternden Bericht zum Vor-entwurf nicht explizit zum Ausdruck kommt, verfolgt der Vorentwurf letztlich dieselben Ziele wie die neue EuInsVO. Der Vorentwurf will im Vergleich zum gelten-den Recht mit ähnlichen Bestimmungen (Erleichterung der Anerkennung ausländischer Konkursdekrete, Koor-dination von Hilfs- und Niederlassungsverfahren usw.) den Einbezug von Vermögen, Betriebsstätten, Nieder-lassungen und Konzernunternehmungen in ein auslän-disches Konkurs- und Sanierungsverfahren erleichtern und damit die Chancen für eine erfolgreiche Sanierung sowie eine effizientere Liquidation erhöhen.8

Nachfolgend werden das neue Europäische Insol-venzrecht und das schweizerische internationale Kon-kursrecht nach geltendem und geplantem Recht mitein-ander verglichen. Vorerst sind jedoch wichtige Begriffe zu klären:

– Hauptinsolvenzverfahren: Dabei handelt es sich um das Insolvenzverfahren, das beim COMI — sog. centre of main interest oder Mittelpunkt der hauptsächlichen In-teressen (gemäss neuer EuInsVO) — oder im Wohn-sitzstaat oder beim COMI des Schuldners (gemäss neuer IPRG) eröffnet wird;

– Sekundärinsolvenzverfahren: Darunter versteht man ein nachfolgend an das Hauptinsolvenzverfahren in einem andern EU-Mitgliedstaat eröffnetes Verfahren (gemäss neuer EuInsVO), in welchem Hoheitsgebiet sich Vermögen des Schuldners befindet; die Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens folgt auf Antrag des Hauptinsolvenzverwalters und ohne Überprüfung der Insolvenz des Schuldners;

– Hilfsverfahren:9 Hierunter verstehen wir das infolge der Anerkennung des ausländischen Insolvenzdekrets (gemäss Art. 166 IPRG) in der Schweiz eröffnete Insol-venzverfahren, um die in der Schweiz belegenen Ver-

7 Siehe Medienmittelung des Bundesrates unter <http://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/news/2015/2015-10-141.html> (1.11.2015).8 Vgl. Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (Konkurs und Nachlassvertrag), abrufbar unter <http://www.ejpd.admin.ch/dam/data/bj/aktuell/news/2015/2015-10-140/ vn-ber-d.pdf> (5.11.2015), S. 2.9 Da die nationale sowie die internationale Gesetzgebung über Insolvenz stark auf die Konkurs- und Liquidationszwecke des Verfahrens fokussiert war, ist das Hilfsverfahren auch unter dem Begriff des sog. Hilfskonkurses bekannt. Siehe z.B. seine Anwendung in: Anton K. Schnyder/Manuel Liato-witsch, Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2011, S. 158 ff.; Stephen V. Berti/Ramon Mabillard in: Heinrich Honsell/Nedim Peter Vogt/Anton K. Schnyder/Stephen V. Berti, Basler Kom-mentar, Internationales Privatrecht, 3. Auflage, Basel 2013, [zit. BSK-Bear-beiter/in], Vor Art. 166 ff. IPRG N 8.

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mögenswerte des ausländischen Schuldners in das ausländische Insolvenzverfahren einzubeziehen;

– Partikularverfahren: Darunter wird das selbstständige in einem Mitgliedstaat eröffnete Insolvenzverfahren (gemäss neuer EuInsVO) verstanden, wenn der Schuld-ner eine Niederlassung im Hoheitsgebiet dieses Mit-gliedstaats hat.

– Niederlassungskonkurs oder Niederlassungsverfahren: Es handelt sich um das neben dem ausländischen Hauptinsolvenzverfahren selbstständige in der Schweiz (gemäss SchKG) gegenüber dem ausländi-schen Schuld ner eröffnete Insolvenzverfahren, der hier eine Geschäftsniederlassung besitzt. Ziel ist die Be-friedigung der lokalen Gläubiger einer Niederlassung des Schuldners.

Die neue EuInsVO erstreckt sich auch auf Verfahren, die eine Schuldbefreiung oder eine Schuldenanpassung in Bezug auf Verbraucher oder Privatpersonen bzw. Privat-hausalte zum Ziel haben.10 In diesem Beitrag beschrän-ken wir uns jedoch ausschliesslich auf Insolvenz von Unternehmenshandlungen.

II. Neue EuInsVO

1. Allgemeinesa) Grundstruktur der neuen und alten EuInsVODie neue EuInsVO von 2015 ist, wie auch schon die alte Insolvenzverordnung von 2000, ein umfassendes inter-nationales Insolvenzrecht der EU-Mitgliedstaaten. Die-ses geht von folgenden Grundprinzipien aus:

– Für die Eröffnung des (Haupt-)Insolvenzverfahrens sind die Gerichte desjenigen Staates zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat (COMI). Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist, gemäss Verord-nungsdefinition, der Ort, an dem der Schuldner ge-wöhnlich und für Dritte feststellbar der Verwaltung seiner Interessen nachgeht (Art. 3 Abs. 1 EuInsVO Nr. 2015/848). Die Zuständigkeit des Gerichts bei Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wird nach neuem Recht von Amts wegen geprüft (Art. 4 Abs. 1 EuInsVO Nr. 2015/848).11

– Die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in einem Mitgliedstaat entfaltet unmittelbar Wirkungen in allen EU-Staaten, ohne dass es einer besonderen

10 Vgl. Verordnung (EU) Nr. 2015/848 (Fn. 1) E. 10 und Anhang A.11 Die Überprüfung der Zuständigkeit von Amts wegen wurde zur Harmo-nisierung der unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten-Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit eingeführt (vgl. z.B. italienische Codice di Proce-dura Civile und deutsche ZPO).

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Anerkennung bedarf (Art. 20 EuInsVO Nr. 2015/848). Konkret bedeutet dies, dass der Verwalter des Haupt-insolvenzverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat alle Befugnisse ausüben kann, die ihm nach dem Recht seines Herkunftsstaates zustehen (Art. 7 i.V.m. Art. 21 EuInsVO Nr. 2015/848), solange in dem ande-ren Staat nicht ein weiteres (Sekundär-)Insolvenz-verfahren eröffnet wird.

– Befindet sich Vermögen in einem anderen Land als dem Ort des Hauptinsolvenzverfahrens, kann auf Antrag des Hauptinsolvenzverwalters oder jeder anderen Person, welche dieses Land für ermächtigt bezeichnet (Art. 37 EuInsVO Nr. 2015/848), ein sog. Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden, welches auf das in diesem Staat liegende Vermögen beschränkt ist (Art. 34 EuInsVO Nr. 2015/848).12 Das Sekundär-insolvenzverfahren ist jedoch, anders als das schwei-zerische Hilfsverfahren nach Art. 166 Abs. 2 IPRG, nicht auf die lokalen Gläubiger beschränkt. Vielmehr können alle Gläubiger ihre Forderungen sowohl im Sekundärinsolvenzverfahren als auch im Hauptver-fahren anmelden.

– Vor der Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens kann am Ort einer Niederlassung auf Antrag eines Gläubigers, der in diesem Staat wohnt oder dessen Forderung sich auf die Niederlassung bezieht, ein sog. Partikularverfahren eröffnet werden (Art. 3 Abs. 4 EuInsVO Nr. 2015/848). Dieses Verfahren unterschei-det sich an verschiedenen Stellen vom Niederlas-sungsverfahren nach schweizerischem Recht (vgl. hinten § III. 1. dd). Im Partikularverfahren werden le-diglich zur Niederlassung gehörenden Vermögens-werten einbezogen, welche sich im Hoheitsgebiet des Staates befinden, in dem das Verfahren eröffnet wor-den ist. Das Niederlassungsverfahren umfasst grund-sätzlich alle Vermögenswerte der Niederlassung, un-abhängig davon, wo sie sich befinden. Sodann können am Partikularverfahren nicht nur wie im schweize-rischen Niederlassungsverfahren die Niederlassungs-gläubiger, sondern sämtliche Gläubiger teilnehmen. Das Europäische Partikularverfahren entspricht be-treffend dem Kreis der Gläubiger und der einbezogenen Vermögenswerten einem Sekundärinsolvenzverfah - ren nach Art. 3 Abs. 2 ff. EuInsVO Nr. 2015/848. Kon-sequenterweise wird denn auch in neuem Recht vorgesehen, dass das Partikularverfahren nach Er-öffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zum Sekun-därinsolvenzverfahren wird (Art. 3 Abs. 4 EuInsVO Nr. 2015/ 848).

12 Dieses Sekundärinsolvenzverfahren wird nicht nur zum Schutz der in-ländischen Interessen, sondern zum Schutz der Forderungen aller Gläubigern eröffnet (vgl. EuInsVO Nr. 2015/848 (Fn. 1) E. 40).

– Die (neue und alte) EuInsVO bestimmt auch in wei-tem Umfang das anwendbare Recht für das Ver-fahren, die Rechte von Dritten an Vermögenswerten des Schuldners und das Anfechtungsrecht (Art. 7 ff. EuInsVo Nr. 2015/848).

b) Die Neuerungen der EuInsVO Nr. 2015/848 im ÜberblickDas neue Europäische Insolvenzrecht versucht, fünf unterschiedliche rechtliche Aspekte der EuInsVO Nr. 1346/2000 zu verbessern:

– Anwendungsbereich: Erweiterung der ursprünglichen Definition der Insolvenz, um den Anwendungsbereich auf Verfahren in Eigenverwaltung und Vorinsolvenz-verfahren zu erstrecken;

– Gerichtliche Zuständigkeit: Verstärkung der Bedeu-tung und präzisierten Anwendung des Mittelpunkts der Interessen des Schuldners (COMI) für die Feststel-lung der Gerichtszuständigkeit;

– Sekundärinsolvenzverfahren: Verbesserung der Koor-dination zwischen Haupt- und Sekundärinsolvenz-verfahren und den zuständigen Gerichten für eine erfolgreiche Restrukturierung der Unternehmen;

– Publizität der Verfahren und Forderungsanmeldung: Erhöhung der Transparenz der grenzüberschreiten-den Insolvenzverfahren durch die Vernetzung der nationalen Insolvenzregister über das Europäische Justiz portal;13

– Unternehmensgruppen: Schaffung einer Rechtsgrund-lage für die Regelung der Insolvenz von mehreren Mitgliedern derselben Unternehmensgruppe und zur Einführung von Koordinationsmassnahmen.

Aufgrund der vorgeschlagenen Änderungen setzt die neue EuInsVO seine Ziele wie folgt: Die Effizienz des grenzüberschreitenden Insolvenzverfahrens zu verbes-sern und insbesondere eine höhere Quote von Rettun-gen wirtschaftlich bestandsfähiger Unternehmen, die sich jedoch in finanziellen Schwierigkeiten befinden, zu begünstigen und ihnen eine zweite Chance zu bieten.14

Des Weiteren sollen verschiedene Einzelprobleme gelöst werden, welche sich bei der Anwendung des Ver-fahrens ergeben haben.

13 IRI, aktiv seit Juli 2014: abrufbar unter <https://e-justice.europa.eu/content_insolvency_registers-110-de.do> (6.10.2015).14 EuInsVO Nr. 2015/848 (Fn. 1) E. 10; vgl. Stellungnahme des Europäi-schen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: «Ein neuer europäischer Ansatz zur Verfahrensweise bei Firmenpleiten und Unternehmensinsolvenzen» und dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates über Insolvenzverfahren, Amtsblatt C 271/55 E. 2.1.1.

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Meier, Giudici —

Neue EU-Insolvenz - verordnung und Vor- schlag zur Revision des internationalen Konkursrechts in der Schweiz: Behandlung des Unternehmens als wirtschaftliche Ein- heit in der Insolvenz

Diese Ziele und die entsprechenden Änderungen im neuen Europäischen Insolvenzrecht ergaben sich aus den Erfahrungen in der Anwendung der alten EuInsVO von 2000 in den letzten fünfzehn Jahren.

c) Ziel der neuen EuInsVO und Gründe für die RechtsänderungenDas Europäische Insolvenzrecht hat sich auch in der alten Fassung als erfolgreiche Lösung in grenzüber-schreitenden Insolvenzen zwischen den Mitgliedstaaten bewährt.15 Wie die zahlreichen Entscheidungen des EuGH und die Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der EuInsVO zeigen, haben sich die Grundprinzipien der EuInsVO, wie z.B. die Zuständigkeit für das Haupt-sacheverfahren am Mittelpunkt der hauptsächlichen In-teressen des Unternehmens bzw. des Schuldners oder die Anerkennung der Entscheidungen ohne besonderes Anerkennungsverfahren sowie die Befugnisse des Haupt-insolvenzverwalters ausserhalb seines Herkunftslandes usw. grundsätzlich als praktikabel erwiesen.16

Das Hauptproblem der EuInsVO von 2000 war, dass sie in erster Linie auf die effiziente Liquidation und nur sehr beschränkt auf die Sanierung eines international tätigen Unternehmens ausgerichtet war. Auch in den nationalen Insolvenzrechten stand damals noch die «klassische» Funktion des Insolvenz- und Konkurs-rechts, nämlich die Unternehmensliquidation, im Vor-dergrund. Dies hat sich in den letzten fünfzehn Jahren grundlegend gewandelt. Die nach der EuInsVO von 2000 von den Mitgliedstaaten unternommenen Änderungen der eigenen Insolvenzgesetze gehen alle in die Richtung, Sanierungsverfahren als Alternative zum Konkursver-fahren einzuführen.17 Viele Mitgliedstaaten hatten in oder vor dem Konkursverfahren (welches hingegen lediglich als Liquidationsverfahren geregelt ist) ein un-abhängiges Verfahren, sog. Stundungsverfahren (das dem Nachlassstundungsverfahren des SchKG ähnelt), eingeführt, welches dem Unternehmen Zeit und Ruhe vor den Aktivitäten der Gläubiger verschafft, um einen Sanierungsplan auszuarbeiten. 18 In der internationalen

15 Burkhardt Hess/Paul Oberhamme/Thomas Pfeiffer (Hrsg.), European in-solvency law: the Heidelberg — Luxembourg — Vienna report on the applica-tion of regulation no. 1346/2000/EC on insolvency proceedings (external evaluation JUST/2011/JCIV/PR/0049/A4), München 2014, N 34.16 EuGH C-557/13 vom 16. April 2015, Hermann Lutz v. Elke Bäurle; EuGH C-191/10 vom 15. Dezember 2011, Rastelli Davide e C. Snc v. Jean-Charles Hi-doux; EuGH C-396/09 vom 20. Oktober 2011, Interedil Srl; EuGH C-341/04 vom 6. Mai 2006, Eurofood IFSC Ltd. 17 Burkhardt Hess/Paul Oberhamme/Thomas Pfeiffer (Hrsg.) (Fn. 21) N 35.18 In den folgenden Staaten wurden unterschiedliche Formen von pre- insolvency proceedings geregelt: Österreich, Belgien, Estland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Malta, die Nie-derlande, Polen, Rumänien, Spanien, Schweden und Vereinigtes Königreich (siehe dazu EuInsVO Nr. 2015/848 (Fn. 1) Anhang A).

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rungs- und Kooperationsmassnahmen für die Verwalter der Insolvenzverfahren jedes Mitglieds vor. 24

2. Instrumente zur Verbesserung der Effektivität des Insolvenzverfahrens und zur Erhöhung der Sanierungs-chancen in der neuen EuInsVOa) Erweiterter AnwendungsbereichDas alte Recht war auf Insolvenzverfahren beschränkt, welches die Insolvenz des Schuldners voraussetzte, dem Schuldner die Verfügungsbefugnis über sein Vermögen ganz oder teilweise entzog und die Einsetzung eines Insolvenzverwalters verlangte. Damit waren dem Wort-laut nach Sanierungsverfahren ausgeschlossen, gemäss welchen, wie im schweizerischen Nachlassverfahren und im Verfahren nach chapter 11 des US Bankruptcy Codes, der Schuldner weiterhin verfügungsbefugt ist und von ihm kein Nachweis der Insolvenz verlangt wird.

Das neue Recht stellt klar, dass auch diese Verfahren erfasst sind. In Art. 1 EuInsVO Nr. 2015/848 wird die In-solvenz als Voraussetzung für die neu erfassten Verfah-ren nicht mehr genannt; es reicht bereits aus, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz besteht. Im Weiteren werden in Abs. 1 lit. b dieser Bestimmung ausdrücklich auch Gesamtverfahren genannt, die das Vermögen — ohne Entzug der Verfügungsbefugnis des Schuldners — nur einer amtlichen Aufsicht unterstellen. Welche Ver-fahren hierunter fallen, ist im Anhang der EuInsVO für jeden Mitgliedstaat ausdrücklich genannt. Damit muss, wie schon im alten Recht, die unter Umständen schwie-rige Frage, welche Verfahren letztendlich darunter fal-len, nicht beantwortet werden. Der Europäische Gesetz-geber hat die Auflistung der neuen EuInsVO mit allen Gesamtverfahren, die einen Sanierungszweck verfolgen, ergänzt. 25

Als Beispiel für ein solches Verfahren eines EU-Staa-tes, welches nunmehr ebenfalls erfasst ist, kann das italienische Concordato preventivo angeführt werden, welches zum Teil mit dem schweizerischen Nachlass-verfahren vergleichbar ist. Das Concordato preventivo ermöglicht dem Schuldner eine Sanierung seines Unter-nehmens in einer frühen Phase seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Wie für das schweizerische Nachlass-verfahren muss der Schuldner keinen besonderen Insol-venzgrund geltend machen;26 es reicht der Zustand von «impren ditore in crisi».27 Das Gesuch zur Eröffnung die-ser pre- insolvency proceeding mit Sanierungszwecken kann nach italienischem Recht lediglich vom Schuldner

24 EuInsVO Nr. 2015/848 (Fn. 1) E. 54.25 Contra Christoph G. Paulus (Fn. 13) Art. 1 N 6 ff.26 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (Sanierungsrecht) von 8. September 2010, BBl 2010 6479.27 Niccolò Abriani (a cura di), Diritto Fallimentare: Manuale breve, Milano 2013, S. 156.

Diskussion werden diese Verfahren vielfach allgemein als «pre-insolvency proceedings» bezeichnet.19

Mit der neuen EuInsVO sollte dieser Entwicklung umfassend auch im internationalen Recht Rechnung ge-tragen werden. Fast alle wichtigen Änderungen des neuen Rechts zielen darauf ab, in erster Linie die Sanie-rung eines überlebensfähigen Unternehmens zu ermög-lichen und zu fördern. Eine (effiziente) Liquidation sollte erst erfolgen, wenn diese Bemühungen gescheitert sind. Die wichtigsten Mängel des alten Rechts, welche eine Rechtsänderung erforderten, waren folgende:

Um das Ziel der Sanierung erreichen zu können, musste zunächst der Anwendungsbereich der EuInsVO erweitert werden. Neben den traditionellen Insolvenz-verfahren, in denen der Schuldner die Verfügungsbefug-nis verliert, sollten neu auch die sog. «pre-insolvency proceedings» anerkannt werden können.20

Dem Sanierungsgedanken stand auch das Sekun-därinsolvenzverfahren nach altem Recht entgegen. Nach der alten EuInsVO von 2000 war das Sekundärinsol-venzverfahren grundsätzlich als Liquidationsverfahren gedacht (vgl. Art. 3 Abs. 3 EuInsVO Nr. 1346/2000). Im Weiteren erwies sich der Umstand, dass neben dem Hauptverfahren regelmässig Sekundärinsolvenzverfah-ren in verschiedenen Staaten stattfanden, als hinderlich. Im neuen Recht wird deshalb der Anwendungsbereich des Sekundärinsolvenzverfahrens eingeschränkt; falls es sich als unvermeidbar erweist, wird das Sekundär-insolvenzverfahren mit dem Hauptinsolvenzverfahren, auch im Hinblick auf eine umfassende Sanierung des Unternehmens, besser koordiniert.21

Die EuInsVO von 2000 hat die Insolvenz einer Un-ternehmensgruppe und damit auch ihre Sanierung nicht geregelt. Das alte Recht ging vom «Prinzip von separa-ten Insolvenzverfahren der Mitglieder der Gruppe» aus. Das hat in der Praxis verschiedentlich dazu geführt,22 dass Restrukturierungen und Sanierungen von Gruppen als Ganzes nicht möglich waren und ein Auseinander-brechen der Gruppe zur Folge hatten.23 Die neue EuInsVO führt deshalb erstmals die Definition der Unternehmens-gruppe ein und sieht neue Vorschriften über Koordinie-

19 Stefania Bariatti/Robert van Galen, Study on a new approach to business failure and insolvency — Comparative legal analysis of the Member States’ re-levant provisions and practices (TENDER NO. JUST/2012/JCIV/CT/0194/A4), abrufbar unter <http://ec.europa.eu/justice/civil/files/insol_europe_report_ 2014_en.pdf> (16.11.2015).20 EuInsVO Nr. 2015/848 (Fn. 1) E. 10, 11 und Anhang A.21 Markus Fehrenbach, Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahrens: Zur sachgerechten Verfahrenskoordination bei grenzüberschreitenden Unter-nehmensinsolvenzen, Tübingen 2014, S. 301 ff.; EuInsVO Nr. 2015/848 (Fn. 1) E. 45 und 48.22 EuGH C-341/04 (Fn. 22).23 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates über Insol-venzverfahren, C7-0413/12, Strassburg 12.12.2012, S. 3 f.

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und nicht von den Gläubigern gestellt werden. Im Un-terschied zum Nachlassverfahren muss der Schuldner seinem Gesuch schon bei Antragstellung einen detail-lierten Entwurf des Nachlassvertrags beilegen, welcher seine wirtschaftliche Umsetzbarkeit samt vorgesehenen Vorteilen für die Gläubiger aufzeigen muss.28 Obwohl das Concordato preventivo eigentlich wie das Nachlass-verfahren ein eigenständiges Verfahren ist, kann der Schuldner den entsprechenden Eröffnungsantrag auch im Rahmen eines Konkursverfahrens dem Konkurs-gericht stellen.

b) Einschränkung des Sekundärinsolvenzverfahrens und Koordinierung des Haupt- und Sekundär- insolvenzverfahrens sowie Stärkung der Befugnisse des Hauptinsolvenzverwaltersaa) ProblemstellungEine effektive Sanierung oder Liquidation eines Unter-nehmens ist oft nur möglich, wenn alle wichtigen Ver-mögens- und Betriebsteile unabhängig vom Lageort ein-bezogen werden können. Dies kann namentlich durch die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens ver-unmöglicht oder erschwert werden, da es grundsätzlich zu einer Sonderbehandlung von Teilen des Unterneh-mens führt.

Schon das alte Recht hatte dieses Problem erkannt und namentlich in Art. 31 EuInsVO Nr. 1346/2000 Ko-operations- und Unterrichtspflichten zwischen Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren vorgesehen. Im neuen Recht werden diese Pflichten erweitert und präzisiert. Zudem wird das Sekundärinsolvenzverfahren nicht mehr lediglich als Liquidations- sondern nunmehr auch als Sanierungsverfahren eröffnet. Ebenso wird der An-wendungsbereich des Sekundärinsolvenzverfahrens wesentlich eingeschränkt und damit die Befugnisse des Hauptinsolvenzverwalters in jenem Staat, in dem ein Sekundärinsolvenzverfahren an sich möglich wäre, ge-stärkt.

bb) Einschränkung des SekundärinsolvenzverfahrensWie bereits erwähnt, wird in der neuen Insolvenz-verordnung, der Anwendungsbereich des Sekundär-insolvenzverfahrens eingeschränkt.

Ein Sekundärinsolvenzverfahren kann vermieden werden, wenn der Verwalter des Hauptinsolvenzverfah-rens in Bezug auf das Vermögen, das sich im Mitglied-staat des Sekundärinsolvenzverfahrens befindet, eine Zusicherung des Inhalts gibt, dass er bei der Verteilung dieses Vermögens im Hauptinsolvenzverfahren die Ver-teilungs- und Vorzugsrechte der Gläubiger des betrof-fenen Mitgliedstaats nach nationalem Recht gleich be-

28 Cass. SS.UU. 23 gennaio 2013, Nr. 152 E. 2.1.

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rechts der betroffenen Mitgliedstaaten haben oder die sich stets durch nationale oder lokale Berater begleiten lassen; die letzte Option ist natürlich mit einer Steige-rung der Verfahrenskosten verbunden.

cc) Verstärkung der Koordination von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren namentlich auch im Hinblick auf eine SanierungIm neuen Recht wird hervorgehoben, dass die Verwalter der Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren vor allem auch im Hinblick auf eine Sanierung zusammenarbeiten sollten. In der EuInsVO von 2000 war das Sekundär-insolvenzverfahren grundsätzlich als Liquidationsver-fahren konzipiert (vgl. Art. 3 Abs. 3 EuInsVO Nr. 1346/ 2000).30 Zudem haben die im alten Recht geltenden Nor-men für die Koordinierung von Haupt- und Sekun-därinsolvenzverfahren in der Praxis gezeigt, dass sie für ein effizientes Koordinationssystem nicht ausreichten.31

Die beiden Verwalter der Haupt- und Sekundärin-solvenzverfahren sind verpflichtet, einander so bald wie möglich alle Informationen mitzuteilen, die für das je-weilige andere Verfahren von Bedeutung sein können, insbesondere alle Informationen über Massnahmen zur Rettung oder Sanierung des Schuldners oder zur Been-digung des Insolvenzverfahrens. Bei allfälligen Möglich-keiten einer Sanierung müssen die Verwalter nun die Ausarbeitung und Umsetzung eines Sanierungsplans koordinieren (Art. 41 EuInsVO Nr. 2015/848).

Um das ganze grenzüberschreitende Insolvenzver-fahren rasch zu erledigen, können zudem die für die zwei unterschiedlichen Verfahren zuständigen Gerichte direkt miteinander kommunizieren oder einander um Informationen und Unterstützung ersuchen (Art. 42 Abs. 1 EuInsVO Nr. 2015/848).

Der jeweilige Verwalter ist verpflichtet, jeden Teil eines Insolvenzverfahrens mit dem Gericht eines paral-lel laufenden Verfahrens zu koordinieren und sich ko-operativ zu verhalten, soweit dies keine Interessenkon-flikte nach sich zieht (Art. 43 EuInsVO Nr. 2015/848).

Die Kosten für die Zusammenarbeit und Kommuni-kation werden von jedem Gericht selbstständig getragen (Art. 44 EuInsVO Nr. 848/2015).

30 Im Rahmen eines solchen Liquidationsverfahrens war eine Infor-mations- und Kooperationspflicht, gemäss der alten Insolvenzverordnung, lediglich für die beteiligten Insolvenzverwalter der zwei Verfahren vorgese-hen und nicht auch zwischen den Gerichten (EuInsVO Nr. 1346/2000 (Fn. 3) Art. 31).31 Caterina Pasini, La relazione della Commissione sull’applicazione del Regolamento (CE) N. 1346 del 2000: Prospettive di riforma, Rivista Tri-mestrale di Diritto e Procedura Civile 2014, N 4.

rücksichtigt, wie wenn ein Sekundärinsolvenzverfahren in diesem Mitgliedstaat eröffnet worden wäre (Art. 36 Abs. 1 EuInsVO Nr. 2015/848). Die Zusicherung erfolgt in schriftlicher Form und in der Amtssprache des Mit-gliedstaats, in dem ein Sekundärinsolvenzverfahren hätte eröffnet werden können (Art. 36 Abs. 3 und 4 EuInsVO Nr. 2015/848).

Falls sog. lokale Gläubiger vorhanden sind, haben diese Gläubiger, bezüglich der Zusicherung, Mitwir-kungs- und Anfechtungsrechte. Als lokale Gläubiger gelten Gläubiger, deren Forderungen aus oder in Zu-sammenhang mit dem Betrieb einer Niederlassung ste-hen (Art. 2 Ziff. 11 EuInsVO Nr. 2015/848). Die lokalen Gläubiger müssen die Zusicherung billigen (Art. 36 Abs. 5 und 6 EuInsVO Nr. 2015/848). Vor der Verteilung der Massegegenstände und Erlöse bekommen die loka-len Gläubiger eine offizielle Benachrichtigung des Ver-walters; wenn die Benachrichtigung nicht dem Inhalt der Zusicherung oder dem geltenden Recht entspricht, können die betroffenen Gläubiger die Verteilung vor einem Gericht des Mitgliedstaats anfechten, in dem das Haupt insolvenzverfahren eröffnet wurde. Bis zur Ent-scheidung des angerufenen Gerichts findet keine Ver-teilung statt (Art. 36 Abs. 7 EuInsVO Nr. 2015/848). Zudem können die lokalen Gläubiger auch ein Gericht des Mitgliedstaats anrufen, in dem ein Sekundär insol-venz verfahren eröffnet worden wäre, damit das Gericht entsprechende einstweilige Massnahmen oder Siche-rungsmassnahmen trifft für die Gewährleistung des Inhalts der Zusicherung (Art. 36 Abs. 8 EuInsVO Nr. 2015/848).

Soweit kein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wird, umfasst das Hauptinsolvenzverfahren auch das in anderen Staaten belegte Vermögen des Schuldners.29 Entsprechend werden auch die Befugnisse des Haupt-insolvenzverwalters erweitert. Er wird immer infor-miert und angehört, sobald ein neues Gesuch zur Eröff-nung eines Sekundärinsolvenzverfahrens gestellt wird (Art. 38 Abs. 1 EuInsVO Nr. 2015/848). Er wird die ganze Masse auch für die lokalen Gläubiger verwerten, und er kann z.B. auch für die lokalen Gläubiger einen gelten-den Sanierungsplan vorschlagen. All das ist aufgrund von Art. 36 Abs. 1 EuInsVO Nr. 2015/848 mit Wahrung der Verteilungs- und Vorzugsrechte nach nationalem Recht möglich. Mit der Erweiterung seiner Befugnisse sind aber praktische Schwierigkeiten verbunden. Es muss sich nun im Rahmen von grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren um Verwalter handeln, die umfas-sende Kenntnisse des jeweiligen nationalen Insolvenz-

29 Alfred Burgstaller/Rudolf Keppelmüller, Kapitel 7 Insolvenzrecht, in: Al-fred Burgstaller (Hrsg.), Internationales Zivilverfahrensrecht, Wien 2000, N 7.86.

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c) Ansatz eines Konzerninsolvenzrechts aa) ProblemstellungUnternehmen als wirtschaftliche Einheiten sind, wenn es sich um grössere Unternehmen handelt, rechtlich re-gelmässig als Konzerne ausgestaltet. D.h., sie bilden ein Konglomerat von mehreren rechtlich selbstständigen Ge-sellschaften (Mutter und mehrere Tochtergesellschaften). Von einer Insolvenz einer Gesellschaft sind meist alle Gesellschaften betroffen. Für eine effiziente Liquidation und Sanierung einer Unternehmensgruppe ist es erfor-derlich, dass die Insolvenzverfahren der einzelnen Ge-sellschaften möglichst eng koordiniert werden können.

Währendem das alte Recht das Problem der Kon-zerninsolvenz, welches eines der häufigsten und kom-plexesten Phänomene der zeitgenössischen Wirtschaft ist, völlig unbeachtet liess,32 ist im neuen Recht nun-mehr ein weitreichendes Gruppen-Koordinationsver-fahren vorgesehen.

bb) Gruppen-Koordinationsverfahren nach Art 61 ff. EuInsVO Nr. 2015/848 Jeder Insolvenzverwalter einer Einzelgesellschaft eines Konzerns kann den Antrag auf die Eröffnung eines sog. Gruppen-Koordinationsverfahrens beim zuständigen Ge-richt eines Mitglieds der Gruppe stellen (Art. 61). Sobald ein solcher Antrag gestellt ist, erklären sich die in einem anderen Staat von einer anderen Gesellschaft später an-gerufenen Gerichte für unzuständig (Art. 62). Lediglich wenn zwei Drittel aller Insolvenzverwalter von Gesell-schaften eines Konzerns ein anderes Gericht für besser geeignet erachten, ist dieses Gericht für die Eröffnung zuständig (Art. 66 Abs. 1). Die Wahl des Gerichts erfolgt als gemeinsame Vereinbarung in Schriftform (Art. 66 Abs. 2).

Mit der Eröffnung des Gruppen-Koordinationsver-fahrens bestellt das zuständige Gericht insbesondere einen sog. Koordinator, d.h. einen Konzerninsolvenz-verwalter (Art. 68 Abs. 1 lit. a). Dieser hat alsdann die Aufgabe, einen «Gruppen-Koordinationsplan» vorzu-schlagen (Art. 72 Abs. 1 lit. b). Dieser beinhaltet unter anderem einen Sanierungsplan mit geeigneten und ge-zielten Massnahmen für den gesamten Konzern (Art. 72 Abs. 1 lit. b). Der Sanierungsplan ist allerdings für die einzelnen Insolvenzverwalter nicht verbindlich. Viel-

32 Christoph G. Paulus (Fn. 13) Einl. N 43. Die EuGH-Rechtsprechung hat diese Lücke im Urteil EuGH C-341/04 (Fn. 22) mit folgender Fiktion gefüllt. Sofern eine Tochtergesellschaft nicht im gleichen Mitgliedstaat wie die Mut-tergesellschaft ihrer statutarischen Sitz hat und keine für Dritte erkennbaren Geschäfte führt bzw. diese nur in der Umsetzung der Konzernrichtlinien be-stehen, so stellt man für die Bestimmung des COMI auf jenes der Mutter-gesellschaft ab. Dies führt dazu, dass die Tochtergesellschaft in das gegen die Muttergesellschaft bereits eröffnete Verfahren einbezogen wird. Siehe auch High Court of Justice (Chancery Division Companies Court), 15. Juli 2005 (Collins & Aikman Europe SA). — EWHC 2005, 1754 (Ch).

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sog. forum shopping34 zu vermeiden. Die Gerichtszustän-digkeit wird dadurch bei grenzüberschreitender Insol-venz klarer, was wiederum der Rechtssicherheit dient. Die neue Vorschrift stellt eine allgemeine Definition des COMI zur Verfügung, unterscheidet aber zudem zwischen dem COMI einer Gesellschaft oder juristischen Person und dem COMI einer natürlichen Person mit einer selbstständigen Tätigkeit und einer natürlichen Person als Privatschuldner.

Die allgemeine Definition des COMI unterscheidet sich vom schweizerischen Konzept35, welches auf den Begriff des Wohnsitzes oder des Sitzes (bei juris tischen Personen) abstellt. In der Europäischen Rechtsordnung wird der COMI als Ort, an dem der Schuldner für Dritte erkennbar der Verwaltung seiner Interessen nachgeht, verstanden (Art. 3 Abs. 1 EuInsVO Nr. 2015/848). Diese Diskrepanz bezüglich der Bestimmung der Zuständig-keiten für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens kann im internationalen Kontext und im Rahmen einer grenzüberschreitenden Insolvenz, die sowohl EU-Mit-gliedstaaten als auch Drittstaaten wie die Schweiz, be-trifft, zu Spannungen führen.36 Im Lichte der Rechts-sicherheit ist eine die oben genannte Unstimmigkeit der Begriffe bedenklich.

Die alte Vermutung, dass sich das COMI bis zum Beweis des Gegenteils am Ort des Sitzes einer Gesell-schaft befindet, wurde für Gesellschaften und juristi-schen Personen beibehalten; diese besondere Regel gilt aber nicht, wenn der Sitz drei Monate vor Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde. In diesem Fall kommen wieder die allgemeinen Regeln zur Anwendung.

Für eine natürliche Person mit einer selbststän-digen Tätigkeit stimmt das COMI, bis zum Beweis des Gegenteils, mit ihrer Hauptniederlassung überein. Wurde die Hauptniederlassung in den drei Monaten vor Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, kommt die allgemeine Regel wieder zur Anwendung.

Für alle anderen natürlichen Personen vermutet man das COMI, bis zum Beweis des Gegenteils, am Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts. Diese Annahme gilt allerdings nur, wenn innerhalb von sechs Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens der gewöhnliche Aufenthalt nicht in einen anderen Mit-gliedstaat verlegt wurde.

34 Darunter versteht man die Wahlmöglichkeit des Klägers «die Gerichte desjenigen Staates zu wählen, dessen IPR zu dem für ihn günstigen materiel-len Recht führt oder von dessen Rechtsordnung er sich aus anderen [prozes-sualen] Gründen eine für ihn günstigere Entscheidung verspricht» (Gerhard Walter/Tanja Domej (Fn. 6) S. 102). 35 Art. 50 ff. SchKG und Art. 166 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 Abs. 2 IPRG. 36 Hans Hanisch, Die Vollstreckung von ausländischen Konkurserkennt-nissen in der Schweiz, AJP 1999, S. 22.

mehr handelt es sich lediglich um Empfehlungen: Die Umsetzung des Gruppen-Koordinationsplans ist dem Insolvenzverwalter des einzelnen Mitglieds überlassen (Art. 70 Abs. 1 i.V.m. Art. 72). Allgemein hat der Koordi-nator das Recht, in jedem gegen die Mitglieder der Un-ternehmensgruppe eröffnete Insolvenzverfahren gehört zu werden (Art. 72 Abs. 2 lit. a). Er ist dafür zuständig, seinen Sanierungsplan den anderen Mitglieder zu illust-rieren und sie davon zu überzeugen (art. 72 Abs. 2 lit. b, c und e). Im Weiteren kann er Informationen anfordern, um die verschiedenen eröffneten Insolvenzverfahren zu koordinieren (Art. 72 Abs. 2 lit. d). Einen direkten Ein-fluss auf ein einzelnes Insolvenzverfahren kann er ledig-lich insofern nehmen, als er die Aussetzung eines Insol-venzverfahrens für sechs Monate beantragt, um die ordnungsgemässe Durchführung eines Sanierungsplans sicherzustellen (Art. 72 Ziff. 2 lit. e).

Unter bestimmten Voraussetzungen haben die In-solvenzverwalter von Konzerngesellschaften das Recht, ein Insolvenzverfahren vom Gruppen-Koordinations-verfahren auszunehmen (Art. 64 i.V.m. Art. 65). Falls sich das «Ausscheren» später als falsch erweist, kann der betreffende Verwalter später wieder ein «opt-in» beantragen (Art. 69 Abs. 2 lit. a).

Das neue Instrument des Gruppen-Koordinations-verfahrens und das Organ des Koordinators sind effi-ziente Mittel, um eine wirksame Verwaltung des Vermö-gens der Gruppenmitglieder in den Insolvenzverfahren zu ermöglichen, eine Sanierung der Unternehmens-gruppe zu begünstigen und eine positive Auswirkung für die Gläubiger zu erzielen.33 Dem Koordinator stehen zwar keine direkten Eingriffsrechte zu. Ob er seine an-spruchsvollen Aufgaben als «Konzerninsolvenzverwal-ter» erfolgreich ausüben kann, wird deshalb stets von seiner Sachkompetenz und seinem Verhandlungsge-schick abhängig sein.

3. Schaffung von Transparenz und Anpassung an Praxisbedürfnissea) COMIIn Art. 3 befasst sich die EuInsVO Nr. 2015/848 mit der Problematik des Mittelpunkts der hauptsächlichen In-teressen des Schuldners (sog. centre of main interest — COMI), welcher die Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens im internationalen Kontext bestimmt. Aufgrund der Praxisschwierigkeiten bei der Auslegung dieses Begriffs von Art. 3 in EuInsVO Nr. 1346/ 2000 hat sich der Europäische Gesetzgeber für eine de-taillierte Definition entschieden. Diese neue Definition der Zuständigkeitsanknüpfung versucht das Risiko des

33 EuInsVO Nr. 2015/848 (Fn. 1) E. 57.

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Nach der neueren Rechtsprechung des EuGH sind die drei oben genannten Vermutungen widerlegbar, wenn durch Dritte und objektive Elemente feststellbar ist37, dass das COMI tatsächlich in einen anderen Mit-gliedstaat verlegt wurde.38

Mit diesen Änderungen hat der Europäische Gesetz-geber die Ergebnisse der Rechtsprechung des EuGH in die neue EuInsVO aufgenommen. Die beiden Aspekte des COMI-Begriffs waren bereits in EuInsVO Nr. 1346/ 2000, E. 13 enthalten und wurden durch die Rechtspre-chung eingehend vertieft. Die gewöhnliche Verwaltung der Schuldnerinteressen einerseits und der Feststell-barkeit derselben für Dritte anderseits sind Teil der De-finition des COMI geworden.39

b) Einrichtung von Insolvenzregistern und VernetzungEine neue Massnahme zur Verbesserung der Koordina-tion zwischen Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren ist die Pflicht zur Einrichtung von Insolvenzregistern im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats und deren Vernet-zung (Art. 24 Abs. 1 EuInsVO Nr. 2015/848). Aus diesem Register werden alle laufenden Insolvenzverfahren, wel-che gegen einen bestimmten Schuldner eröffnet wurden, bekannt gegeben.

Die Kosten für die Anpassung oder Einrichtung des Insolvenzregisters sowie für seine Verwaltung, seinen Betrieb und seine Pflege werden von jedem Mitgliedstaat getragen (Art. 26 Abs. 2 EuInsVO Nr. 2015/848). Um diese Kosten finanzieren zu können, ist es den Mitglied-staaten erlaubt, eine angemessene Gebühr zu erheben (Art. 27 Abs. 2 EuInsVO Nr. 2015/848); gemäss Art. 24 Abs. 2 müssen sie aber die Pflichtinformationen (z.B. Datum der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, Persona-lien des Schuldners und des Verwalters usw.) gebühren-frei zur Verfügung stellen. Die Kosten für die Einrich-tung, Unterhaltung und Weiterentwicklung des ganzen Systems sowie für die Vernetzung der einzelnen natio-nalen Register werden vom Gesamthaushalt der Union getragen (Art. 26 EuInsVO Nr. 2015/848). Die Kommis-sion wird die technischen Voraussetzungen für den Aus-tausch der Pflichtinformationen bis zum 26. Juni 2019 festlegen (Art. 25 Abs. 2 EuInsVO Nr. 2015/848).

37 Das Urteil EuGH C-396/09 (Fn. 22) erklärt in E. 49, welche als durch Dritte erkennbare objektive Elemente zu verstehen sind: «Diesem Erforder-nis der Objektivität und dieser Möglichkeit der Feststellung ist Genüge getan, wenn die zur Bestimmung des Ortes, an dem die Schuldnergesellschaft ge-wöhnlich ihre Interessen verwaltet, berücksichtigten konkreten Umstände bekannt gemacht wurden oder zumindest so transparent sind, dass Dritte, d. h. insbesondere die Gläubiger dieser Gesellschaft, davon Kenntnis haben konnten».38 Carla Garlatti, Regolamento del Parlamento europeo e del Consiglio re-lativo alle procedure di insolvenza (rifusione), il Fallimento 2015, S. 511; siehe dazu auch EuGH C-396/09 (Fn. 22) E. 59.39 EuGH C-341/04 (Fn. 22) E. 31 ff. und EuGH C-396/09 (Fn. 22) E. 47 ff.

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vor, dass den Arbeitnehmern des Konzernes ein sog. In-solvenzgeld oder eine Insolvenzentschädigung bezahlt wird. Die in den Mitgliedstaaten für die Auszahlung sol-cher Ansprüche zuständige Behörde gilt in Bezug auf die Zusicherung des eröffneten Hauptinsolvenzverfahrens als lokaler Gläubiger (Art. 36 Abs. 11 EuInsVO Nr. 2015/ 848). Mittels dieser Sonderanknüpfung versucht die neue EuInsVO die Vorrechte der Arbeitnehmer im Rah-men grenzüberschreitender Insolvenz auf europäischer Ebene zu gewährleisten.

III. Art. 166 ff. IPRG und Vorentwurf zur Revision dieser Bestimmungen im Lichte der neuen EuInsVO

1. Allgemeinesa) Konzept des (geltenden) schweizerischen inter-nationalen Konkursrechts im Vergleich zur EuInsVOaa) Das schweizerische internationale Konkursrecht als autonomes RechtDas schweizerische internationale Insolvenzrecht ist im Wesentlichen im nationalen Recht geregelt. Abgesehen von zwei alten bilateralen Staatsverträgen42 existiert kein Staatsvertragsrecht.

Wie es für ein autonomes Insolvenzrecht typisch ist, bestimmt das schweizerische Recht, in welchen schwei-zerischen Insolvenzfällen mit Auslandbezug ein Haupt-insolvenzverfahren eröffnet wird und wie in diesem Verfahren Tatbestände mit Auslandsberührung behan-delt werden. Im Weiteren regelt das schweizerische Recht, ob und mit welchen Folgen ausländische Insol-venzverfahren anerkannt werden, falls sich Vermögen und Betriebsteile des insolventen Unternehmens in der Schweiz befinden.

Die Rechtsgrundlagen des schweizerischen inter-na tionalen Insolvenz rechts sind das SchKG43 und das

42 Übereinkunft zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und der Krone Württemberg von 1825 betreffend die Konkursverhältnisse und gleiche Behandlung der beiderseitigen Staatsangehörigen in Konkursfällen vom 12. Dezember 1825/13. Mai 1826 (LS 283.1); Übereinkunft zwischen den schweizerischen Kantonen Zürich, Bern, Luzern, Unterwalden (ob und nid dem Wald), Freiburg, Solothurn, Basel (Stadt- und Landteil), Schaffhausen, St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt, Wallis, Neuenburg, Genf sowie Appenzell AR und dem Königreich Bayern über gleichmässige Behandlung der gegenseitigen Staatsangehörigen in Konkursfällen vom 11. Mai/27. Juni 1834 (LS 283.2); Übereinkunft zwischen den schweizerischen Kantonen Zürich, Bern, Luzern, Uri, Schwyz, Zug, Freiburg, Solothurn, Basel (beide Landesteile), Schaffhausen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt, Wallis, Neuenburg und Genf sowie Appenzell der äussern Rhoden einerseits und dem Königreich Sachsen anderseits über die gleichmässige Behandlung der gegenseitigen Staatsangehörigen in Konkursfällen vom 4./18. Februar 1837 (LS 233.23).43 Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1989.

Die neue Vernetzungssystematik ist dann durch die öffentliche Bekanntmachung der Entscheidung zur Er-öffnung des Insolvenzverfahrens in jedem anderen Mit-gliedstaat, in dem sich eine Niederlassung des Schuld-ners befindet, verstärkt (Art. 28 EuInsVO Nr. 2015/848). Der Insolvenzverwalter ist diesfalls verpflichtet, die Bekanntmachung der Eröffnung des Hauptverfahrens beim Mitgliedstaat des Sekundärinsolvenzverfahrens zu beantragen.

Obwohl die Daten in einer Europäischen Vernetzung zur Verfügung stehen, bleiben die Mitgliedstaaten für ihren Schutz verantwortlich (Art. 82 i.V.m. Art. 83 EuInsVO Nr. 2015/848).

c) ArbeitsverträgeDie Problematik der Auflösung der Arbeitsverhältnisse in insolventen Konzernen und des Schutzes der Arbeit-nehmer als privilegierte Gläubiger ist ein sehr aktuelles Thema, welchem sich der Europäische Gesetzgeber in der neuen EuInsVO angenommen hat.

Für die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf einen Arbeitsvertrag und auf ein Arbeitsverhältnis ist immer noch ausschliesslich das Recht der Mitgliedstaa-ten anzuwenden.40 Der Europäische Gesetzgeber hat sich aber um die Arbeitsverhältnisse von insolventen Konzernen gekümmert und hat dafür neue, klare Be-stimmungen erarbeitet. Die neuen Bestimmungen der EuInsVO sorgen sich um die Verbesserung der Vorrechte der Arbeitnehmer auf europäischer Ebene.41 Wenn in einem Hauptinsolvenzverfahren Arbeitsverhältnisse von in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Betrieben aufgelöst oder abgeändert werden sollen, muss das zu-ständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbe-hörde des betroffenen Mitgliedstaats seine Zustimmung erteilen und zwar unabhängig davon, ob ein Sekun-därinsolvenzverfahren eröffnet worden ist oder nicht (Art. 13 Abs. 2 EuInsVO Nr. 2015/848). Es wird somit für die Auflösung von sämtlichen Arbeitsverträgen im Kon-zern die Anwen dung des nationalen Arbeitsrechts sicher-gestellt. Das Erfordernis der Zustimmung der Gerichte und der Verwaltungsbehörden gemäss Art. 13 Abs. 2 EuInsVO Nr. 2015/848 garantiert auch, dass die nationa-len Vorschriften über die Massenentlassungen wie z.B. die Pflicht zum Abschluss eines Sozialplans eingehalten werden müssen.

Falls gestützt auf eine Zusicherung nach Art. 36 EuInsVO Nr. 2015/848 auf die Eröffnung eines Sekun-därinsolvenzverfahrens verzichtet wird, kann die Be-gleichung von Lohnforderungen verringert oder einge-schränkt werden. Viele Mitgliedstaaten sehen deshalb

40 Vgl. Art. 10 EuInsVO Nr. 1346/2000 und Art. 13 EuInsVO Nr. 2015/848.41 EuInsVO Nr. 2015/848 (Fn 1) E. 22.

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IPRG44. Das Hauptinsolvenzverfahren sowie der Nieder-lassungskonkurs sind im SchKG, das Hilfsverfahren in Art. 166 ff. IPRG geregelt.

bb) Schweizerisches Hauptinsolvenzverfahren bei Insolvenzen mit AuslandsbezugEin Hauptinsolvenzverfahren wird grundsätzlich in der Schweiz eröffnet, wenn der Schuldner Sitz oder Wohn-sitz in der Schweiz hat (Art. 46 SchKG).

Es gilt ein weitgehend uneingeschränktes Prinzip der Universalität. Das heisst insbesondere: Grundsätz-lich umfasst die Masse auch im Ausland gelegenes Ver-mögen (Art. 197 SchKG i.V.m. Art. 27 Abs. 1 KOV45). Es werden alle Gläubiger unabhängig von ihrem Wohnsitz oder Sitz zugelassen. Aus schweizerischer Sicht kann der Konkursverwalter auch im Ausland Handlungen vornehmen, soweit dies das ausländische Recht er-laubt.46

Wie es für ein autonomes internationales Konkurs-recht typisch ist, kann diese Universalität allerdings nur insoweit verwirklicht werden, als das betroffene aus-ländische Recht hierfür Hand bietet und sie nicht ein-schränkt.

cc) Anerkennung von ausländischen Hauptverfahren und damit verbundene Rechtsfolgen in Hilfsverfahren nach IPRGBefinden sich in der Schweiz Vermögenswerte eines Schuldners, über den hier kein Hauptinsolvenzverfah-ren eröffnet werden kann, ist die schweizerische Be-hörde bereit, ein ausländisches Hauptinsolvenzverfah-ren anzuerkennen (Art. 166 IPRG). Die Anerkennung erfolgt jedoch anders als in der EuInsVO nicht automa-tisch. Vielmehr ist hierzu eine gerichtliche Entschei-dung über die Anerkennung notwendig.

Voraussetzungen für die Anerkennung sind nach geltendem Recht: (1) Erlass des Konkurserkenntnisses am Sitz oder Wohnsitz des Schuldners;47 (2) kein Ver-

44 Bundesgesetz über das internationale Privatrecht vom 18. Dezember 1987.45 Verordnung über die Geschäftsführung der Konkursämter vom 13. Juli 1911.46 Isaak Meier (Fn. 6) S. 196.47 Gemäss der schon erwähnten Diskrepanz-Problematik zwischen der Zuständigkeit in der Schweiz und derselben in Europa (siehe oben § II. 3. a), ist mit Wohnsitz der tatsächliche Sitz gemeint (BSK–Stephen V. Berti/Ramon Mabillard (Fn. 9) Art. 166 IPRG N 17.

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Im Hilfsverfahren werden die in der Schweiz ge le-genen Vermögenswerte des Schuldners admassiert (Art. 170 Abs. 1 IPRG). Von den Gläubigern werden le-diglich die Pfandgläubiger und die privilegierten Gläu-biger in das Verfahren einbezogen (Art. 172 Abs. 1 IPRG). Ergibt sich nach Befriedigung dieser Gläubiger ein Über-schuss, wird dieser der ausländischen Konkursmasse bzw. dem ausländischen Verwalter herausgegeben, wenn die Gläubiger mit Wohnsitz in der Schweiz im auslän-dischen Kollokationsplan «angemessen» berücksich-tigt worden sind und dieser damit anerkannt werden kann (Art. 173 Abs. 2 und 3 IPRG).

Wird hingegen kein Antrag für ein Hilfsverfahren nach Art. 166 IPRG gestellt oder wird die Anerkennung aufgrund von fehlenden Voraussetzungen verweigert, steht den Gläubigern und dem ausländischen Insol-venzverwalter keine direkte Befugnis in der Schweiz zu. Das Konkursamt kann die zur ausländischen Kon-kursmasse gehörenden Rechte nur im Rahmen eines Hilfsverfahrens ausüben. Um sein in der Schweiz lie-gendes Vermögen liquidieren zu können, kann aber der Gemeinschuldner etwas unternehmen. Gemäss den ihm nach ausländischem Insolvenzverfahren ver-bliebenen Befugnissen kann er den ausländischen Insol-venzverwalter als Vertreter seiner Befugnisse bevoll-mächtigen.56

dd) Niederlassungskonkurs Neben einem Hauptkonkursverfahren kann in der Schweiz gegenüber ausländischen Schuldnern, die hier eine Geschäftsniederlassung besitzen, ein selbstständiger Niederlassungskonkurs eröffnet werden (Art. 50 Abs. 1 SchKG). Dieses Verfahren ist in doppelter Hinsicht be-schränkt: Am Konkurs können lediglich diejenigen (in- und ausländischen) Gläubiger teilnehmen, deren Forde-rungen aus der Tätigkeit der Niederlassung resultieren. Im Weiteren gehören zur Konkursmasse nur die (im In- und Ausland gelegenen) Vermögenswerte, die organisato-risch zur Geschäftsniederlassung gehören. Das Nieder-lassungsverfahren nach IPRG ist zum Teil (siehe oben § I. 1. a) das Äquivalent des Partikularverfahrens nach Art. 3 Abs. 4 lit. b Ziff. i) EuInsVO Nr. 2015/848.

Zwischen Hilfsverfahren nach Art. 166 ff. IPRG und Niederlassungskonkurs besteht keinerlei Koordination. D.h., ein Niederlassungskonkurs kann auch dann noch beantragt werden, wenn bereits ein Hilfsverfahren zur Umsetzung des anerkannten ausländischen Hauptver-fahrens durchgeführt wird.

Da der Niederlassungskonkurs mit dem Zweck er-öffnet wird, den Niederlassungsgläubigern eine Liqui-dation nach Niederlassungsregeln zu sichern, ähnelt er

56 Franco Lorandi (Fn. 62) S. 564.

stoss gegen den ordre public;48 (3) der Herkunftsstaat des Insolvenzentscheides gewährt Gegenrecht.49

Das schweizerische Recht ist unter diesen Voraus-setzungen nicht nur bereit Konkursverfahren, sondern alle mögliche Formen von Insolvenzverfahren, insbe-sondere auch Sanierungsverfahren anzuerkennen. In Art. 175 IPRG heisst es nämlich, dass in der Schweiz neben Konkursdekreten auch «eine von der zuständi-gen Behörde ausgesprochene Genehmigung eines Nach-lassvertrags oder eines ähnlichen Verfahrens» anerkannt wird. Hierzu gehören etwa auch die amerikanischen Sanierungsverfahren nach chapter 11 oder 13 des US Bankruptcy Codes.50

Die Hilfeleistung zugunsten des ausländischen In-solvenzverfahrens bei dessen Anerkennung besteht ins-besondere in der Eröffnung eines Hilfsverfahrens nach IPRG. Ob und in welchem Umfang der ausländische Konkursverwalter darüber hinaus befugt ist, in der Schweiz Rechtshandlungen vorzunehmen, wenn und solange kein Hilfsverfahren eröffnet worden ist, ist sehr umstritten.51 Das Bundesgericht steht klar auf dem Standpunkt, dass die ausländische Konkursverwaltung grundsätzlich lediglich ein (Rechts-)Hilfsverfahren be-antragen kann.52 Der ausländische Verwalter hat jedoch, nach erfolgter Anerkennung des ausländischen Kon-kursdekrets — abgesehen von der Befugnis zur Erhe-bung von Anfechtungsklagen gemäss Art. 285 SchKG, sofern das schweizerische Konkursamt und die kollo-zierten Gläubiger darauf verzichtet haben53 — keinerlei Befugnisse,54 selber Rechtshandlungen zur Admassie-rung von in der Schweiz gelegenen Vermögenswerten vorzunehmen.55

48 Die Anerkennung des ausländischen Konkursdekrets wird sogar von Amtes wegen verweigert, falls diese Voraussetzung nicht erfüllt wird (BSK– Stephen V. Berti/Ramon Mabillard (Fn. 9) Art. 166 IPRG N 28).49 BGE 126 III 105 f., E. 2.d = Pra 2001 N 53 «Secondo la dottrina bisogna interpretare senza eccessiva rigidezza l’esigenza di reciprocità; quest’ultima deve essere ammessa quando il diritto dello Stato estero riconosce gli effetti di un fallimento straniero in misura sensibilmente equivalente — e non a condizioni rigorosamente identiche — al diritto svizzero; […] è sufficiente che il diritto straniero riconosca una decisione svizzera in un’ipotesi identica a condizioni che non siano sensibilmente più sfavorevoli a quelle poste dal diritto svizzero per il riconoscimento di un decreto straniero di fallimento.»50 ZR 94 (1995) Nr. 63 S. 193 ff.51 BGE 139 III 238 f, E. 4.2.; BGE 137 III 575; Daniel Staehelin, Konkurs im Ausland — Drittschuldner in der Schweiz, in: Hans Michael Riemer/Moritz Khun/Dominik Vock/Myriam A. Gehri (Hrsg.), Schweizerisches und Interna-tionales Zwangsvollstreckungsrecht, Festschrift für Karl Spühler zum 70. Ge-burtstag, Zürich 2005, S. 408.52 BGE 135 III 40 E. 2.5.1; BGE 134 III 366 = Pra 2008 N 144; BGE 130 III 620; BGE 129 III 683.53 BGE 137 III 374 E. 3; BGE 135 III 40 E. 2.5.1; BGE 129 III 683 E. 5.3.54 Er kann z.B. keine Betreibungshandlungen vornehmen, keine Klage gegen einen angeblichen Schuldner des Konkursiten erheben oder im Kon-kurs des Schuldners in der Schweiz keine Forderung eingeben (BGE 137 III 573 E. 2; BGE 135 III 40 E. 2.4 und 2.5; BGE 134 III 366 E. 9).55 Franco Lorandi, Handlungsspielraum ausländischer Insolvenzmassen in der Schweiz, AJP 2008, S. 561.

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dem Europäischen Sekundärinsolvenzverfahren, wel-ches auch nach den Konkursregeln des Mitgliedstaats des belegenen Vermögens eröffnet und geführt wird. Der grosse Unterschied ist, dass zum Niederlassungsverfah-ren lediglich die Niederlassungsgläubiger zugelassen (und befriedigt) werden, während im Sekundärinsolvenz-verfahren jedoch alle angemeldeten Gläubiger ohne Pri-vilegierung zugelassen sind (Art. 45 EuInsVO Nr. 2015/ 848). Dieses System privilegiert insbesondere die Nie-derlassungsgläubiger, welche, aufgrund einer fehlenden Koordination zwischen den Insolvenzverfahren,57 noch allfällige Ausfälle im Hauptinsolvenzverfahren geltend machen können. Die neue Regelung schafft die Pa-rallelität von Niederlassungsverfahren und Sekun-där insolvenzverfahren ab, da mit der Eröffnung des Haupt verfahrens das Niederlassungsverfahren (sog. Partikularverfahren) in ein Sekundärinsolvenzverfahren um gewandelt wird (Art. 3 Abs. 4 EuInsVO Nr. 2015/848).

b) Vorentwurf zur Revision von Art. 166 ff. IPRGAm 14. Oktober 2015 hat der Bundesrat den Vorentwurf zur Änderung des Bundesgesetzes über das Interna-tionale Privatrecht (IPRG) im Bereich Konkurs und Nachlassverfahren in die Vernehmlassung geschickt. Die Vernehmlassung dauert bis zum 5. Februar 2016.

Es werden folgende Neuerungen vorgeschlagen (die folgenden erwähnten Artikel beziehen sich auf die neue Fassung):58

– Verzicht auf das Erfordernis des Gegenrechtes: Auf das Erfordernis, dass der Herkunftsstaat des Konkursent-scheides ebenfalls bereit ist, ein schweizerisches Kon-kurserkenntnis anzuerkennen (Art. 166 Abs. 1 lit. c IPRG), wird verzichtet.

– Erleichterung der Anerkennung durch Erweiterung der indirekten Zuständigkeit: Nach Art. 166 Abs. 1 lit. c Ziff. 1 und 2 IPRG sollen nicht nur am Sitz oder Wohn-sitz, sondern auch am Mittelpunkt der hauptsächli-chen Interessen des Schuldners ergangene Entscheide anerkannt werden, wenn der Schuldner nicht Sitz oder Wohnsitz in der Schweiz hat.

– Koordination zwischen Hilfs- und Niederlassungsver-fahren: Ein Niederlassgungsverfahren kann lediglich solange eröffnet werden, als noch kein Antrag auf Anerkennung eines ausländischen Verfahrens gestellt wird (nämlich solange kein Antrag zur Eröffnung eines Hilfsverfahrens gestellt wird, Art. 166 Abs. 2 IPRG). Diese Regelung wird jede Doppelbefriedigung der privilegierten Niederlassungsgläubiger vermeiden.

57 Art. 172 Abs. 2 IPRG gilt lediglich im umgekehrten Fall.58 Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über das Inter-nationale Privatrecht (Konkurs und Nachlassvertrag) (Fn. 8) S. 5 f.

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nicht in der Schweiz seinen Sitz oder Wohnsitz hat. Beide Vorschläge sind u.E. sehr zu begrüssen.

Dass der Herkunftsstaat ausreichend Gegenrecht gewährt, war oft nicht einfach nachzuweisen,60 verur-sachte eine Verzögerung des Anerkennungsverfahrens aufgrund der Prüfungspflicht von Amtes wegen und führte zu zusätzlichen Kosten des ganzen Insolvenzver-fahrens. Zudem macht es u.E. keinen Sinn, die im Inter-esse von Gläubigern und — im Falle der Sanierung — oft auch von Arbeitnehmern liegende Anerkennung ab-zulehnen, um den Staat zu «bestrafen», welcher kein Gegenrecht gewährt.

Wichtig ist auch die Angleichung des schweize ri schen Rechts an die neue EuInsVO betreffend die indirekte Zuständigkeit. Die Mehrzahl der in der Schweiz anzu-erkennenden Insolvenzeröffnungen dürfte aus einem EU-Mitgliedstaat stammen.61 Entsprechend ist es wich-tig, dass die Schweiz die Voraussetzungen schafft, dass diese Entscheidungen, welche nach der EuInsVO am In-teressenmittelpunkt des Schuldners ergehen, uneinge-schränkt anerkannt werden können.

Die Erleichterung der Anerkennung und damit die Eröffnung des Hilfsverfahrens erhöhen die Chancen der Sanierung bzw. der effektiven Liquidation des betref-fenden Unternehmens. Das Hilfsverfahren sichert die in der Schweiz gelegenen Vermögenswerte und Betriebs-teile zugunsten aller Gläubiger und gestattet eine Ko-ordination von Sanierung oder Liquidation mit dem ausländischen Hauptverfahren (vgl. hierzu Funktion des Sekundärinsolvenzverfahrens gemäss Art. 34 ff. EuInsVO Nr. 2015/848).

Ohne bzw. vor der Anerkennung eines Insolvenz-entscheides besteht in der Schweiz betreffend die hier gelegenen Vermögenswerte ein weitgehend «recht-loser» Zustand. Ohne Anerkennung entfaltet die aus-ländische Konkurserkenntnis in der Schweiz keiner-lei Wirkungen. Dies bedeutet, dass die Gläubiger in diesem Stadium uneingeschränkt berechtigt sind, das Vermögen des Schuldners mit Arrest62 zu belegen und Einzelzwangsvollstreckungen durchzuführen, um die inländische Belegenheit des Vermögenswerts zu si-chern.63 Ebenso kann der Schuldner, über den ein Insolvenz verfahren eröffnet worden ist, aus der Sicht

60 BSK-Stephen V. Bert/Ramon Mabillard (Fn. 9) Art. 166 Abs. 2 IPRG N 39.61 Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über das Inter-nationale Privatrecht (Konkurs und Nachlassvertrag) (Fn. 8) S. 5.62 Beim Arrest in der Schweiz (Art. 271 SchKG) seitens ausländischer Gläubiger ist nach neuerer Rechtsprechung notwendig, dass das Schuldver-hältnis in der Schweiz begründet wurde oder abzuwickeln ist; es genügt nicht, dass die Vermögenswerte des Schuldners sich einzig in der Schweiz befinden (BGE 135 III 608 = Pra 2010, N 63). 63 BSK-Stephen V. Bert/Ramon Mabillard (Fn. 9) Art. 166 Abs. 2 IPRG N 48.

– Verzicht auf Durchführung eines Hilfsverfahrens nach IPRG: Um das Hauptinsolvenzverfahren zu erleich-tern und das in der Schweiz gelegene Vermögen sofort der ausländischen Konkursmasse zuführen zu kön-nen, wird auf die Durchführung eines Hilfsverfahrens verzichtet, wenn keine privilegierten Gläubiger mit Wohnsitz in der Schweiz vorhanden sind (Art. 174a Abs. 1 IPRG).

– Erweiterung der Handlungsbefugnisse des ausländi-schen Konkursverwalters: Ist das ausländische Kon-kursdekret anerkannt und wird kein Hilfsverfahren eröffnet, wird der ausländische Insolvenzverwalter alle privatrechtlichen Befugnisse ausüben können, die dem Schuldner vor Konkurseröffnung zustanden (Art. 174a Abs. 2 IPRG).

– Erstellung eines koordinierten Systems: Werden meh-rere Parallelverfahren gegen denselben Schuldner er-öffnet, können die unterschiedlichen Insolvenzver-walter und die angerufenen Gerichte oder andere betroffene Behörden ihre Handlungen untereinander koordinieren und gegenseitig ihre Informationen austauschen (Art. 174b IPRG).

– Anerkennung von konkursnäheren Entscheidungen: Um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, wird explizit darauf hingewiesen, dass nicht nur Konkursdekrete, sondern auch Entscheide bzw. Anfechtungsklagen oder Haftungsansprüche, die im Zusammenhang mit dem Konkursverfahren stehen, anerkannt werden (Art. 174c IPRG).

c) Fortgang der UntersuchungNachfolgend sollen die im Vorentwurf vorgeschlagenen Neuerungen nach denselben Gesichtspunkten unter-sucht werden, wie vorhin die Neuerungen der EuInsVO von 2015. D.h., es ist zunächst abzuklären, ob und falls ja welche Neuerungen in welchem Masse zur Erhöhung der Sanierungschancen und /oder der Chancen für eine optimale Liquidation der Masse beitragen. Hierauf wer-den die übrigen Neuerungen kurz besprochen.

2. Erhöhung der Sanierungschancen und optimale Liquidation durch die vorgeschlagenen Änderungena) Erleichterung der Anerkennung von ausländischen Insolvenzverfahren aa) GrundsatzLaut dem Vorentwurf soll, wie schon erwähnt, auf das Erfordernis des Gegenrechts verzichtet werden. Des Wei-teren soll die Anerkennungsfähigkeit dadurch erweitert werden, dass nicht nur am Wohnsitz oder Sitz,59 sondern auch am Mittelpunkt der Interessen ergangene Insol-venzentscheide anerkannt werden, wenn der Schuldner

59 BGE 108 II 398 E. 3. a) und c) = Pra 1983 N 61.

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des schweizerischen Rechts (wohl) weiterhin unein-geschränkt über sein Vermögen verfügen.64

bb) Auslegung des Begriffs «Mittelpunkt der haupt-sächlichen Interessen des Schuldners» (COMI) in Art. 166 Abs. 1 lit. c Ziff. 1 und 2 IPRGEine interessante Frage ist, wie der Begriff des Interes-senmittelpunkts des Schuldners in Art. 166 Abs. 1 lit. c Ziff. 2 IPRG zu verstehen und auszulegen ist. U.E. ist er zunächst genauso zu verstehen wie derselbe Begriff in der neuen EuInsVO mit all seinen oben genannten Auslegungsproblematiken (siehe oben § II. 3. a). Mit der vorgeschlagenen Änderung des Gesetzes sollte ja gerade sichergestellt werden, dass die in einem EU-Mitglied-staat eröffneten Insolvenzverfahren uneingeschränkt anerkannt werden können.

Mit der Aufnahme des Europäischen Begriffs COMI (siehe oben § II. 3. a) in das schweizerische IPRG hat der Bundesrat versucht, die Inkorporations- mit der Sitz-theorie65 in Einklang zu bringen. U.E. stellt sich nach dieser Änderung mithin die Frage, inwieweit die Syste-matik von Art. 154 IPRG, welcher in Abs. 1 primär auf die Inkorporationstheorie abstellt und sekundär auf die Sitztheorie zurückgreift, anzupassen ist. Die tatsächliche Verwaltung der Gesellschaft i.S.v. Art. 154 Abs. 2 IPRG wird nun nicht mehr als subsidiäre Anknüpfung66 ver-standen. Wie in der Lehre festgestellt wurde, wird nun der COMI-Begriff in Anlehnung an die Inkorporations-theorie mit Fiktionsvorbehalt definiert.67

Da Art. 166 IPRG nicht nur das Verhältnis gegenüber EU-Mitgliedstaaten, sondern auch gegenüber den übri-gen Drittstaaten regelt, muss dieser Begriff noch über denjenigen der EuInsVO hinausgehen. U.E. geht es da-rum, ausländische Insolvenzverfahren gegen Schuld-ner, welche keinen Sitz oder Wohnsitz in der Schweiz haben, im Zweifelsfall anzuerkennen oder lediglich zu verweigern, wenn der Mittelpunkt der Interessen des Schuldners offensichtlich in einem anderen Staat liegt.

b) Anerkennungsfähige Arten von Insolvenzverfahren (Konkurs- und Sanierungsverfahren) und ihre Folgen für die Ausgestaltung des HilfsverfahrensWie das Sekundärinsolvenzverfahren in der alten EuInsVO ist das Hilfsverfahren nach Art. 166 ff. IPRG in erster Linie auf die Liquidation des in der Schweiz gelegenen Vermögens und nicht auf den Erhalt der Vermögens-

64 Peter Gottwald, Grenzüberschreitende Insolvenzen, München 1997, S. 25.65 Dazu siehe Anton K. Schnyder/Manuel Liatowitsch (Fn. 9) N 874; BSK-Stephan Eberhard/Andreas von Planta (Fn. 9) Art. 154 IPRG N 2 und 3. 66 BSK-Stephan Eberhard/Andreas von Planta (Fn. 9) Art. 154 Abs. 2 IPRG N 12.67 Rodrigo Rodriguez (Fn. 4) S. 404.

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ist es sodann erforderlich, dass dieses möglichst umfas-send mit dem Hauptinsolvenzverfahren koordiniert wird. Zur Erreichung der genannten Ziele wäre es noch besser, wenn statt der Eröffnung eines Hilfsverfahrens direkt dem Hauptinsolvenzverwalter die Befugnis ge-geben würde, im betreffenden Land zu handeln.

Die neue EuInsVO geht in diesen Bestrebungen sehr weit. Nach neuem Recht kann immer dann auf ein Se-kundärinsolvenzverfahren verzichtet werden, wenn der Hauptinsolvenzverwalter die Zusicherung abgibt, dass die betroffenen Gläubiger genau gleich behandelt wer-den, wie wenn ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet worden wäre (Art. 36 EuInsVO). Der Hauptinsolvenz-verwalter kann alsdann im betreffenden Land dieselben Befugnisse ausüben, die ihm nach dem Recht des eige-nen Staates zustehen. Insbesondere kann er Vermögens-werte in die Masse überführen (Art. 21 Abs. 1 EuInsVO Nr. 2015/848); diese Vorschrift muss aber i.V.m. Art. 21 Abs. 3 EuInsVO Nr. 2015/848 gelesen werde, welche die Ausübung der Befugnisse des Verwalters unter Berück-sichtigung des nationalen Rechts vorschreibt.72 Dabei muss er allerdings für eigentliche Vollstreckungshand-lungen, insbesondere für die Verwertung, das örtliche Recht berücksichtigen. Im Weiteren darf er keine Zwangs-mittel anwenden (Art. 21 Abs. 3 EuInsVO Nr. 2015/848).

Nach geltendem schweizerischem Recht hat der aus-ländische Hauptinsolvenzverwalter grundsätzlich keiner-lei Befugnisse, in der Schweiz selber Handlungen vorzu-nehmen (siehe oben § III. 1. a) cc). Laut dem Vorentwurf soll jedoch der Hauptinsolvenzverwalter weitreichende Befugnisse erhalten. Nach Anerkennung des auslän-dischen Insolvenzverfahrens kann, gemäss Antrag des ausländischen Insolvenzverwalters, dann auf ein Hilfs-verfahren nach IPRG verzichtet werden, wenn keine pri-vilegierten Gläubiger vorhanden sind, was meist der Fall sein dürfte. Bei einem Verzicht kann der Hauptinsolven-zverwalter sämtliche Befugnisse ausüben, die, wie der Vorentwurf wörtlich sagt, «… dem Schuldner vor der Kon-kurseröffnung zustanden, insbesondere das Vermögen ins Ausland verbringen und Prozesse führen» (Art. 174a Abs. 2 IPRG).73 Der Bundesrat hat sich mit dieser Anpassung für umfassendere Befugnisse des ausländischen Haupt-insolvenzverwalters entschieden, da nun das in der Schweiz liegende Vermögen direkt der ausländischen Konkursmasse zur Verfügung gestellt wird.

72 Es ist aber nicht klar, in welchem Umfang ein ausländischer Verwalter seine Befugnissen nach öffentlichem Recht ausüben kann. Sicher ist, dass die Bestimmungen einer Europäischen Verordnung unmittelbar in jedem Mit-gliedstaat gelten (Art. 288 Abs. 2 AEUV).73 Siehe diesbezüglich neuere Rechtsprechung BGer 4A_380/2012.

werte im Hinblick auf die Sanierung des Unternehmens ausgerichtet. Die Art. 166 bis 174 IPRG beschreiben die Vorgehensweise bei konkursrechtlicher Liquidation der Vermögenswerte. Gerade einmal in einem Artikel, näm-lich in Art. 175 IPRG, wurde lediglich am Rande erwähnt:

«Eine von der zuständigen ausländischen Behörde ausge-sprochene Genehmigung eines Nachlassvertrages oder eines ähnlichen Verfahrens wird in der Schweiz anerkannt. Die Art. 166—170 und Art. 174a—174c gelten sinngemäss. Die Gläubiger mit Wohnsitz in der Schweiz werden ange-hört.» In Lehre und Praxis ist unbestritten, dass gestützt auf diese Bestimmung in der Schweiz alle Sanierungs-verfahren anerkannt werden können,68 welche auch unter die weite Umschreibung der neuen EuInsVO fallen (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Anhang A).69 Völlig offen ist jedoch, wie bei der Anerkennung eines Sanierungsverfahrens vorzugehen ist und wie z.B. eine inzidente Anerkennung mit jener Anerkennung eines ausländischen Sanierungs-verfahrens zu koordinieren ist.70

Nach dem Vorentwurf wird sich an diesem Rechts-zustand nichts ändern. U.E. wäre es zur Förderung der Sanierung eines Unternehmens sinnvoll, wenn der schweizerische Gesetzgeber wenigstens folgende Punkte klarstellen würde: (1) Anerkennungsfähig sind nicht nur (gerichtlich genehmigte) Nachlassverträge und Sanie-rungspläne, sondern auch schon Moratorien und Nach-lassstundungen, welche dem Schuldner Zeit und einen rechtlichen Rahmen für eine Sanierung schaffen wollen. (2) Umschreibung der Voraussetzungen, unter denen ein Nachlass- oder Sanierungsplan anerkannt werden kann und soll.71

c) Einschränkung des Hilfsverfahrens zugunsten eines direkten Handels des Hauptinsolvenzverwalters im Land, wo sich Vermögen oder Betriebsteile des Schuldners befindenaa) Rechtslage nach neuer EuInsVO und der Vorentwurf zur Revision von Art. 166 ff. IPRGIm Hinblick auf eine effektive Sanierung und Liquida-tion eines insolventen internationalen Unternehmens ist es, wie wir gesehen haben, zunächst wichtig, dass ein Hauptinsolvenzverfahren in einem anderen Staat aner-kannt wird. Wird ein Hilfsverfahren nach IPRG eröffnet,

68 Lukas Bopp, Sanierung im Internationalen Insolvenzrecht der Schweiz, Basel 2004, zugl. Diss. Univ. Basel, 2004, S. 184. Siehe auch eine ausführliche Auflistung in: Paul Volken, Zürcher Kommentar, zum IPRG, 2. Auflage, Zü-rich/Basel/Genf 2004, [zit. ZK–Bearbeiter/in], Art. 175 IPRG N 12.69 BGE 140 III 379; BGE 115 III 148.70 Lukas Bopp (Fn. 75) S. 231 f.; in der Rechtsprechung wurde z.B. die An-sicht vertreten, dass «die Anerkennung einer im Ausland gewährten Nach-lassstundung nicht ohne Weiteres die Eröffnung eines Hilfskonkurses in der Schweiz bewirkt»; ein Hilfsverfahren wäre dann, im Fall der Anerkennung einer ausländischen Nachlassstundung, lediglich notwendig, wenn privile-gierte Gläubiger sich gemeldet haben (BGE 137 III 139 E. 2.2 = Pra 2011 N 85).71 BSK-Lukas Bopp (Fn. 9) Art. 175 IPRG N 6.

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bb) Beurteilung des Vorschlags im Vorentwurf zu Revision des IPRGDer Vorschlag zur Einschränkung des Hilfsverfahrens zugunsten einer direkten Handlungsbefugnis des aus-ländischen Hauptinsolvenzverwalters ist, wie gesagt, sehr zu begrüssen. U.E. nach könnte der Vorschlag unter Berücksichtigung der EuInsVO noch in folgender Hin-sicht präzisiert und verbessert werden:

Laut dem Vorentwurf setzt der Verzicht auf ein Hilfs-verfahren nach IPRG voraus, dass die Gläubiger mit Wohnsitz in der Schweiz im ausländischen Verfahren angemessen berücksichtigt werden (Art. 174a Abs. 1 IPRG). Ein solcher Entscheid steht nun im Ermessen des Gerichts,74 welches zur Anhörung der Gläubiger ver-pflichtet ist (Art. 173 Abs. 3 IPRG).

Da es sich bei internationalen Verfahren (wohl) überwiegend um Insolvenzverfahren aus EU-Mitglied-staaten handelt, könnte vom Hauptinsolvenzverwalter als Voraussetzung für das Absehen von einem Sekun-därinsolvenzverfahren direkt eine analoge Gleichbehand-lungszusicherung nach Art. 36 EuInsVO Nr. 2015/848 verlangt werden. Entsprechend könnte Art. 174a Abs. 1 IPRG (sinngemäss) mit folgendem Satz ergänzt werden: «Soweit möglich lässt das Gericht vom ausländischen Konkursverwalter zusichern, dass die Gläubiger mit Wohnsitz in der Schweiz gleichbehandelt werden, wie wenn ein Sekundärinsolvenzverfahren durchgeführt worden wäre». Das würde die Befugnisse des ausländi-schen Insolvenzverwalters noch erweitern, den lokalen Gläubigern eine effektive Zusicherung gewähren und die Anhörungszuständigkeit des schweizerischen Gerichts abstellen.

Eine schwierige Frage ist u.E. auch, ob es sach-gerecht und ausreichend wäre, wenn der ausländische Insolvenzverwalter zusätzlich zu den ihm nach aktuel-lem Recht bereits eingeräumten Befugnissen auch alle Handlungen, welche vor der Konkurseröffnung dem Schuldner zustanden, vornehmen könnte (so der Vor-schlag in Art. 174a Abs. 2 IPRG). U.E. ist zunächst klar, dass der ausländische Insolvenzverwalter nicht privat-rechtlich, sondern mit gesetzlicher Befugnis «hoheit-lich» handelt.75 Im Weiteren ist es u.E. nicht sachge-recht und nicht ausreichend, dieses hoheitliche Handeln nur in dem Umfange zuzulassen, wie auch privatrechtli-che Organe handeln könnten. Wenn sich beispielsweise

74 Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über das Inter-nationale Privatrecht (Konkurs und Nachlassvertrag) (Fn. 8) S 13.75 Gemäss der neuen Formulierung vom Art. 174 Abs. 2 IPRG ist es nicht klar, ob es sich um privatrechtliche Befugnisse handelt. Es wurde aber im Er-läuternden Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (Konkurs und Nachlassvertrag) (Fn. 8) ausgeführt, dass «die aus-ländische Konkursverwaltung […] alle privatrechtlichen Befugnisse ausüben kann», S. 14. Er sieht aber keine Koordinationsmassnahmen mit dem natio-nalen Privatrecht vor.

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schen Hauptinsolvenzverwalter die Möglichkeit ge geben werden, die Durchführung eines Niederlassungskon-kurses zu verhindern, wenn dies im Interesse aller Gläu-biger liegt und die Befriedigung der Niederlassungs-gläubiger ausreichend sichergestellt ist.

e) Allgemeine Befugnis zur Kooperation und Koordination nach Art. 174b IPRGIm Vorentwurf wird allgemein gesagt, dass schweizeri-sche Insolvenzverfahren aller Art, die in einem sachli-chen Zusammenhang stehen, untereinander sowie mit ausländischen Behörden und Organen koordiniert wer-den können (Art. 174b IPRG). Auch diese Bestimmung geht u.E. in die richtige Richtung. Sie ist jedoch unserer Meinung nach zu zurückhaltend und zu wenig konkret formuliert. Im Gegensatz zum Europäischen Gesetz-geber getraut sich der Bundesrat bisher nicht, detail-lierte Bestimmungen wie in der Europäischen Rechts-ordnung zu erlassen.78

Die Koordination sollte nicht nur als Befugnis, son-dern als Pflicht statuiert werden. Wünschenswert wäre auch, wenn die Koordination von Insolvenzen von Mit-gliedern eines Konzernes oder einer Unternehmens-gruppe ausdrücklich genannt würde. Im Weiteren sollte sodann in einem ergänzenden Absatz beschrieben wer-den, wie diese Koordination konkret aussehen könnte. Denkbar wäre etwa: Pflicht zur Anhörung des ausländi-schen Insolvenzverwalters; Befugnis des ausländischen Insolvenzverwalters, einen Gesamtsanierungsplan für mehrere Konzerngesellschaften vorzuschlagen; Einrich-tung von entsprechenden online überprüfbaren Insol-venzregistern usw.

IV. Schlussbemerkungen Die neue EuInsVO und der Vorentwurf für eine Revi-

sion von Art. 166 ff. IPRG streben in begrüssenswerter Weise an, Unternehmen mit Vermögen und Betriebs-teilen in mehreren Ländern auch in der Insolvenz als wirtschaftliche Einheit zu behandeln und dadurch die Chancen für eine Sanierung und effiziente Liquidation zu erhöhen. Dabei geht das IPRG naturgemäss weniger weit, handelt es sich doch bei der EuInsVO um ein überna tionales Recht für die EU-Mitgliedstaaten und beim schweizerischen Recht lediglich um ein autono-mes Recht für die Schweiz.

Es lassen sich jedoch viele Parallelen feststellen: Zu erwähnen sind insbesondere Einschränkung des Sekun-därinsolvenzverfahrens nach Europäischem Recht bzw.

78 Vgl. EuInsVO Nr. 2015/848 (Fn. 1) Art. 24 und 25 i.V.m. Art. 41 ff.

in den Räumlichkeiten der insolventen ausländischen Gesellschaft Vermögenswerte mit Drittansprachen be-finden, wäre es wünschenswert, dass der ausländische Insolvenzverwalter zur Abklärung der Drittrechte nach den Regeln von Art. 242 SchKG vorgehen müsste. Könnte der Insolvenzverwalter wie ein privatrechtliches Organ handeln, wäre er ohne Weiteres befugt, die betreffen-den Vermögenswerte trotz Drittansprache ins Ausland zu ver bringen. U.E. sollte deshalb statuiert werden, dass der ausländische Insolvenzverwalter sinngemäss nach den Regeln des SchKG vorzugehen habe. Wie in Art. 21 Abs. 3 EuInsVO wäre lediglich vorzusehen, dass der ausländische Verwalter für Zwangsmassnahmen die Hilfe der schweizerischen Behörden in Anspruch neh-men müsste.

d) Koordination von Niederlassungskonkurs und Hilfsverfahren nach revidiertem IPRGSehr zu begrüssen ist auch der Vorschlag im Vorentwurf, den Niederlassungskonkurs mit dem Hilfsverfahren in dem Sinne zu koordinieren, dass der Erstere nur solange beantragt werden kann, als nicht ein Antrag auf An-erkennung gestellt ist (Art. 166 Abs. 2 IPRG).

U.E. muss man sich allerdings die Frage stellen, ob nicht noch eine weitreichendere Koordination erfolgen soll.

Zwar ist es nicht möglich, analog Art. 3 Abs. 4 EuInsVO Nr. 2015/848 festzulegen, dass das Niederlas-sungskonkursverfahren nach Eröffnung des Hauptinsol-venzverfahrens automatisch zu einem Hilfsverfahren nach Art. 166 ff. IPRG umgewandelt werde. Obwohl der Gesetzeswortlaut nicht klar ist,76 ist es wegen der unter-schiedlichen Gläubigerschaft im Niederlassungskonkurs-verfahren und Hilfsinsolvenzverfahren ausgeschlos-sen, nachträglich ein Niederlassungskonkursverfahren in ein Hilfskonkursverfahren zu überführen.

Immerhin könnte im Vorentwurf zur Revision des Art. 166 Abs. 2 IPRG statuiert werden, dass der Antrag eines Niederlassungsgläubigers auf ein Verfahren nach Art. 50 Abs. 1 SchKG lediglich stattgegeben werden kann, wenn der Hauptinsolvenzverwalter nicht innert angemessener Frist den Antrag auf Eröffnung eines Hilfsverfahrens stellt und das Hauptinsolvenzverfahren bereits eröffnet ist.77 Des Weiteren sollte dem ausländi-

76 Der Vorentwurf zur Revision des Art. 166 Abs. 2 IPRG besagt, dass ein Niederlassungskonkursverfahren nur zulässig sei, «solange kein Antrag nach Absatz 1 (auf Anerkennung des ausländischen Hauptverfahrens) gestellt wurde». D.h., theoretisch könnte dies so ausgelegt werden, dass ein bereits eröffnetes Niederlassungskonkursverfahren nachträglich unzulässig wird, wenn später ein Anerkennungsverfahren eingeleitet wird. 77 Diese Formulierung würde keinen zusätzlichen Auslegungsbericht wie im jetzigen Fall benötigen (vgl. Erläuternder Bericht zur Änderung des Bun-desgesetzes über das Internationale Privatrecht (Konkurs und Nachlassver-trag) (Fn. 8) S. 10).

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Hilfsverfahren nach IPRG zugunsten einer erweiterten Befugnis des Hauptinsolvenzverwalters zum Handeln in Ländern, wo sich Vermögen und Betriebsteile befinden, stärkere Koordination der Verfahren, Übernahme des «COMI» als alternative indirekte Zuständigkeit im IPRG.

Die beabsichtigte Revision des IPRG ist vom Bundes-rat bewusst als «sanfte» Revision gedacht, mit welcher lediglich die gravierendsten Mängel korrigiert werden sollten. U.E. wäre es jedoch begrüssenswert, wenn die Revision insbesondere in folgenden Punkten noch wei-ter gehen könnte:

– Konkretisierung von Art. 175 IPRG betreffend die An-erkennung von Sanierungsplänen und vorangehen-den Stundungen und Moratorien;

– Detaillierte Umschreibung der Befugnis des auslän-dischen Insolvenzverwalters bei der Vornahme von Handlungen in der Schweiz. Statt dem Insolvenzver-walter die Befugnis zu geben, wie ein privatrecht-liches Organ ausserhalb des Insolvenzverfahrens zu handeln, sollte ihm vorgeschrieben werden, nach den Regeln des SchKG vorzugehen;

– Konkretisierung der Pflicht von Insolvenzverwaltern und Gerichten, welche für ein in der Schweiz eröffne-tes Verfahren aller Art zuständig sind, das Verfahren mit zusammenhängenden ausländischen Verfahren zu koordinieren.

U.E. sollte neben der Revision von Art. 166 ff. IPRG geprüft werden, ob die Schweiz nicht mit der EU ein Pa-rallelübereinkommen zur EuInsVO abschliessen könnte, so wie dies bei der Verordnung zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Han-delssachen (EuGVVO)79 mit dem LugÜ gemacht wurde.80 Mit der neuen EuInsVO verfügt die EU über ein moder-nes internationales Insolvenzrecht, von dem auch die schweizerische Wirtschaft sowie die schweizerischen Unternehmen und ihre Stakeholder (Gläubiger und Ar-beitnehmer) profitieren könnten. Im Gegensatz zum gegenwärtigen IPRG wäre damit insbesondere garan-tiert, dass nicht nur ausländische Hauptinsolvenzver-fahren mit Vermögenswerten und Betriebsteilen in der Schweiz effizienter durchgeführt werden können, son-dern auch, dass schweizerische Hauptinsolvenzverfah-ren von entsprechenden Vorteilen profitieren könnten.

79 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel I-Verordnung).80 Übereinkommen vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zustän-digkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen).

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Allgemeine, institutionelle und finanzielle FragenEU-Kommission: Arbeitsprogramm 2016 Die Europäische Kommission hat am 27. Oktober 2015

ihr Arbeitsprogramm für das kommende Jahr bekannt gegeben. Unter dem bezeichnenden Titel «Jetzt ist nicht die Zeit für Business as usual» will die Kommission ver-suchen, die akuten Herausforderungen für die Euro-päische Union zu meistern. Zu den Schlüsselinitiativen zählen:

– Initiativen zur besseren Steuerung der Migration und Vorschläge zum Grenzmanagement;

– Umsetzung der Strategie für einen digitalen Binnen-markt, Folgemassnahmen zur Binnenmarktstrategie, eine Weltraumstrategie für Europa und ein Euro-päischer Aktionsplan im Verteidigungsbereich;

– Rechtsvorschriften zur Kreislaufwirtschaft, nächste Schritte für eine nachhaltige Zukunft Europas und Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Energieunion;

– eine Europäische Agenda für neue Qualifikationen, ein Neubeginn für erwerbstätige Eltern und eine Säule der sozialen Rechte im Rahmen einer Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion;

– ein Paket zur Körperschaftssteuer und ein Aktions-plan im Bereich der Mehrwertsteuer.

Weitere Schlüsselinitiativen für 2016 betreffen die Um-setzung der europäischen Sicherheitsagenda, Folgemass-nahmen zur Handels- und Investitionsstrategie und zum Bericht der fünf Präsidenten über die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion und einen Beitrag der Kommission zur globalen Strategie für die Aussen- und Sicherheitspolitik.

Darüber hinaus enthält das Arbeitsprogramm auch Massnahmen, mit welchen gewährleistet werden soll, dass die Rechtsvorschriften der EU zweckmässig bleiben und die angestrebten Ergebnisse bewirken. Sie werden einen Beitrag zu den bereits erwähnten Initiati-ven leisten, z.B. zur Vereinfachung der EU-Finanzvor-schriften oder zur Überprüfung der Rechtsvorschriften in den Bereichen Steuern und Energie.

Schliesslich sollen 20 anhängige Gesetzgebungs-vorschläge geändert oder zurückgenommen werden, die den politischen Prioritäten der Kommission nicht entsprechen, bei denen keine Aussicht auf Annahme besteht oder die durch das Rechtssetzungsverfahren

verwässert wurden und daher die ursprünglichen politi-schen Ziele nicht mehr erfüllen. Diese Vorschläge sollen innerhalb von sechs Monaten bis April 2016 zurückge-nommen werden.

KOM (2015) 610 endg. vom 27. Oktober 2015. (WU)

Teilassoziierung der Schweiz an «Horizont 2020»

Die Europäische Union hat am 28. Oktober 2015 eine Mitteilung über das Inkrafttreten des Assoziierungs-abkommens zwischen der Schweiz und der EU am For-schungsrahmenprogramm «Horizont 2020» veröffent-licht. Damit wird das offizielle Ratifizierungsverfahren vonseiten der EU abgeschlossen. Im Einzelnen gibt die Mitteilung bekannt, dass das «Abkommen für wissen-schaftliche und technologische Zusammenarbeit zwi-schen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenos-senschaft zur Assoziierung der Schweizerischen Eidge-nossenschaft an das Rahmenprogramm für Forschung und Innovation ‹Horizont 2020› und an das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft für Forschung und Ausbildung in Ergänzung zu ‹Horizont 2020› sowie zur Regelung der Beteiligung der Schweizerischen Eidge-nossenschaft an den ITER-Tätigkeiten von ‹Fusion for Energy›» (im folgenden Abkommen, ABl. L 370 vom 30.12.2014, S. 3.) am 8. Oktober 2015 in Kraft getreten ist. Dieses Abkommen wurde am 5. Dezember 2014 un-terzeichnet und ist seit dem 15. September 2014 vor-läufig anwendbar.

Die derzeit geltende Teilassoziierung ermöglicht es Forschenden in der Schweiz, sich als assoziierte und da mit gleichberechtigte Partner an allen Aktivitäten des ersten Pfeilers von «Horizont 2020» zu beteiligen und hierfür finanzielle Unterstützung direkt von Beiträ-gen der EU zu erhalten. Der erste Pfeiler umfasst insbe-sondere die ERC-Grants, die Marie-Skłodowska-Curie-Mass nah men, die Future and Emerging Technologies (FET) und Forschungsinfrastrukturen. Bei allen übrigen Ausschreibungen von «Horizont 2020» (v.a. jene des zweiten und dritten Pfeilers) verbleibt die Schweiz im Drittstaat modus. Die vorläufige Anwendung des Über-einkommens gilt bis zum 31. Dezember 2016.

Die Mitteilung über das Inkrafttreten des Überein-kommens hat insbesondere keine Auswirkungen auf die Fortsetzung des Abkommens ab dem 1. Januar 2017, denn diese wird gemäss Art. 13 Abkommen von zwei Voraussetzungen abhängig gemacht. Einerseits gilt nach

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Art. 13 Abs. 4, dass falls das Freizügigkeitsabkommen aufgekündigt werden sollte, das Assoziierungsabkom-men an demselben Tag seine Gültigkeit verliert. Ande-rerseits weist Art. 13 Abs. 6 darauf hin, dass das Abkom-men rückwirkend ab dem 31. Dezember 2016 seine Gültigkeit verliert, sollte die Schweiz das Protokoll über die Ausdehnung auf Kroatien nicht bis zum 9. Februar 2017 ratifizieren.

ABl. L 282 vom 28. Oktober 2015, S. 1 (WU)

Lagebericht zur Bewältigung der Flüchtlingskrise

Die Europäische Kommission hat am 14. Oktober 2015 in einer Mitteilung an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat eine Zwischenbilanz zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen in Zu-sammenhang mit der Flüchtlingskrise gezogen. Die Kommission stellt noch zu Beginn ihres Berichts klar, dass die Europäische Union «vor einer Bewährungs-probe» stünde und dass der Umgang mit den schon 710 000 Flüchtlingen, die von Januar bis Mitte Oktober 2015 in die EU gekommen sind, eine Gesamtstrategie für die Steuerung der Migration erforderlich mache. Aus diesem Grund wurde bei einer informellen Tagung der Staats- und Regierungschefs vom 23. September 2015 eine Liste prioritärer Massnahmen verabschiedet. Diese Liste umfasst (1) sofort zu ergreifende operative Mass-nahmen (Hotspots, Umsiedlung, Rückkehr), (2) haus-haltspolitische Massnahmen und (3) Massnahmen zur Anwendung des EU-Rechts.

In ihrer Mitteilung gibt die Kommission einen Über-blick über den Stand der Umsetzung dieser vorrangigen Massnahmen. Hinsichtlich der sofort zu ergreifenden operativen Massnahmen berichtet die Kommission von jeweils einem ersten operativen Hotspot auf Lampedusa (Italien) und auf Lesbos (Griechenland), vom Beginn der Umverteilung der Asylbewerber auf andere Mitglied-staaten (bislang 19 Eritreer) und ersten einsatzbereiten Teams zur Unterstützung der Migrationssteuerung. Ziel ist es, bis Jahresende insgesamt sechs operative Hot-spots in Italien und fünf operative Hotspots in Grie-chenland einzurichten. Darüber hinaus werden die Mit-gliedstaaten aufgefordert, Experten und Ausrüstung bereitzustellen, damit die Teams zur Unterstützung der Migrationssteuerung voll eingesetzt werden können, und mitzuteilen, wie viele Umsiedlungs- und Neuansied-lungsplätze sie anbieten und wie ihre Aufnahmekapa-zitäten beschaffen sind. Ferner hat die Kommission in-

zwischen Berichtigungshaushalte zur Aufstockung der für die Flüchtlingskrise bestimmten Finanzmittel um weitere 1,7 Mrd. EUR für 2015 und 2016 vorgelegt. Damit stehen für die Bewältigung der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 insgesamt 9,2 Mrd. EUR zur Verfügung. Schliess-lich hat die Kommission seit August Verwaltungsschrei-ben an fünf Mitgliedstaaten in Bezug auf die Eurodac-Verordnung für den Abgleich von Fingerabdruckdaten und an zehn Mitgliedstaaten wegen der ordnungsge-mässen Umsetzung der Rückführungsrichtlinie gesandt.

KOM (2015) 510 endg. vom 14. Oktober 2015 (WU)

EU/Schweiz: Gleichwertigkeit der Vorschriften über Solvenz von Versicherungen und Rückversicherungen Die EU anerkennt ab 1. Januar 2016 die Schweizer

Regulierung und Aufsicht betreffend Privatversicherer (u.a. Swiss Solvency Test, SST) als gleichwertig mit eu-ropäischem Recht. Der formelle Beschluss über die Äqui-valenzanerkennung wurde im September im Amtsblatt der EU veröffentlicht und ist am 14. Oktober 2015 in Kraft getreten. Der Äquivalenzentscheid wird die Tätig-keit von Schweizer Versicherungs- und Rückversiche-rungsgruppen in der EU vereinfachen.

Mit der Gleichwertigkeit der Versicherungsregulie-rung und -aufsicht anerkennt die EU die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht FINMA als globalen Gruppenauf-seher. EU-Gruppen können zudem für die Gruppensol-venz die Resultate des schweizerischen Solvenztests SST einbeziehen. Positiv wirkt sich die Äquivalenzanerken-nung auch auf die Rückversicherer aus. Sie können ihre Kunden in der EU direkt aus der Schweiz bedienen, wobei sie nicht schlechter gestellt sein dürfen als Rück-versicherer aus der EU.

ABl. L 248 vom 27. September 2015, S. 95. (AS)

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EuG: Bürgerinitiative zur Aufhebung von Staatsschulden nicht registrierfähig

Das EuG hat entschieden, dass eine Europäische Bürgerinitiative zur Aufhebung der Schulden von Län-dern in Notlage nicht registriert werden kann. Die von einem griechischen Staatsangehörigen bei der Kommis-sion eingereichte Initiative verlangte, im Unionsrecht einen «Grundsatz der Notlage» festzuschreiben, der es erlaubt, die Rückzahlung von Schulden zu verweigern, wenn die finanzielle und politische Existenz eines Staa-tes durch die Rückzahlung unerträglicher Schulden ge-fährdet ist.

Als Rechtsgrundlage für die Initiative wurde von den Initianten die Wirtschafts- und Währungspolitik (Art. 119—144 AEUV) angeführt. Das Gericht hielt dem entgegen, dass gestützt auf die Wirtschafts- und Wäh-rungspolitik (und insbesondere die in Art. 122 Abs. 1 AUEV enthaltene Solidaritätsklausel) kein finanzieller Beistand der Union möglich sei. Ein einseitiger Be-schluss eines sich in Schwierigkeiten befindlichen Mit-gliedstaates, seine Schulden nicht zurückzuzahlen, sei darauf gestützt nicht möglich. Eine Berufung auf Art. 122 Abs. 2 AEUV, der finanzielle Unterstützung der EU bei Naturkatastrophen oder ähnlichen Ereignissen ermög-licht, sei ebenfalls unzulässig, da es sich hierbei nicht um einen Mechanismus zum Erlass von Schulden han-delt. Auch Art. 136 AEUV zur Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten falle als Rechtsgrundlage für den von der Bürgerinitiative verfochtenen Grundsatz der Notlage ausser Betracht. Gemäss dieser Vorschrift erlässt der Rat Massnahmen, um die Koordinierung und Überwachung der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten der Eurozone zu verstärken und für diese Staaten Grundzüge der Wirt-schaftspolitik auszuarbeiten; eine Anwendung dieser Vorschrift ist laut EuG ausgeschlossen, da die Festschrei-bung eines «Grundsatzes der Notlage» nicht die Koordi-nierung der Haushaltsdisziplin zum Gegenstand habe und auch nicht unter die Grundzüge der Wirtschafts-politik falle.

EuG, Urteil vom 30. September 2015, Rs. T-450/12. (JR)

WettbewerbsrechtTax rulings in Luxemburg und in den Nieder- landen aufgehoben

Die Kommission hat in zwei beihilferechtlichen Verfahren mitgliedstaatliche Steuervorbescheide («tax rulings») aufgehoben, weil diese aus ihrer Sicht je-weils unzulässige staatliche Beihilfen darstellten und deshalb den Wettbewerb im Binnenmarkt beeinträch-tigten. Die eine Entscheidung betrifft einen Steuervorbe-scheid, welchen Luxemburg einer Finanzierungsgesell-schaft des Fiat-Konzerns erteilt hatte, die andere einen Steuervorbescheid, den eine niederländische Steuerbe-hörde gegenüber einem Kaffeeröstunternehmen des Starbucks-Konzerns erlassen hatte.

Laut den Feststellungen der Kommission bewirkten die Steuervorbescheide in beiden Fällen, dass die von den Gesellschaften der Konzerne insgesamt zu entrich-tenden Steuerbeträge künstlich verringert wurden. Mit den beiden geprüften mitgliedstaatlichen Steuervorbe-scheiden seien für die Ermittlung der steuerpflichtigen Unternehmensgewinne künstliche und komplexe Me-thoden genehmigt worden, welche die wirtschaftliche Realität der Unternehmensgewinne unberücksichtigt gelassen hätten. So seien im Steuervorbescheid aus den Niederlanden gegenüber der Starbucks-Rösterei für be-stimmte Kaffeebohnen, die andere Gesellschaften der Starbucks-Gruppe an die Rösterei verkauften, sowie für Lizenzgebühren, welche das Unternehmen an andere Gesellschaften der Starbucks-Gruppe zu zahlen hatte, (zu hohe) Verrechnungspreise festgelegt worden. Diese Preise hätten nicht den realen Marktbedingungen ent-sprochen, sodass auf diese Weise der Grossteil der Ge-winne der Starbucks-Kaffeerösterei ins Ausland verla-gert worden sei, wo sie ebenfalls nicht besteuert worden seien. Im Fall von Fiat seien falsche Methoden zur Be-rechnung der Höhe des Eigenkapitals festgelegt worden, sodass das Eigenkapital der besteuerten Fiat-Finanzie-rungsgesellschaft künstlich verringert worden sei.

Soweit diese Entscheidungen nicht angefochten werden, müssen Luxemburg und die Niederlanden die Steuervorbescheide aufheben und jeweils die Fehlbeträge einfordern. Laut Kommission müsse jedes der beiden Un-ternehmen etwa 20 bis 30 Mio. Euro nachzahlen. Wei-tere vergleichbare beihilfenrechtliche Verfahren, etwa gegen mitgliedstaatliche Vorbescheide, welche Apple und Amazon erteilt wurden, laufen derzeit noch.

IP/2015/5880 vom 21. Oktober 2015. (DB)

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SteuerrechtAutomatischer Informations- austausch in Steuersachen

Der Rat hat Anfang Oktober 2015 eine politische Ei-nigung über einen Richtlinienvorschlag der Kommis-sion erzielt, mit dem die Transparenz bei den Zusiche-rungen, die die Mitgliedstaaten den Unternehmen in Bezug auf die Berechnung ihrer Steuerschuld geben, verbessert werden soll. Den dem Ratsentscheid zu-grunde liegenden Richtlinienvorschlag hatte die Kom-mission erst im März 2015 vorgelegt. Dieser Vorschlag ist Kernelement der Agenda der Kommission zur Be-kämpfung von «Steuervermeidung» durch interna-tional agierende Unternehmen und von schädlichem Steuerwettbewerb in der EU.

Im Einklang mit dem Kommissionsvorschlag einig-ten sich die Mitgliedstaaten im Rat nun darauf, dass ein automatischer Informationsaustausch zwischen Steuer-behörden der Mitgliedstaaten über die bestehenden Re-gelungen hinaus hinsichtlich Steuervorbescheiden mit grenzüberschreitender Dimension und bezüglich soge-nannter Vorabverständigungsvereinbarungen erfolgen soll. Die beschlossene Richtlinie sieht des Weiteren vor, dass die Mitgliedstaaten, denen die Informationen über-mittelt werden, gegebenenfalls weitere Informationen anfordern können. Nach der Richtlinie kann die Kom-mission zudem ein sicheres Zentralverzeichnis einrich-ten, in dem die ausgetauschten Informationen gespeichert werden. Dieses Verzeichnis soll allen Mitgliedstaaten sowie — soweit dies für die Überwachung der ordnungs-gemässen Umsetzung der Richtlinie erforderlich ist — auch der Kommission zugänglich sein. Der Richtlinie-nentwurf verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Vorgaben bis zum 31. Dezember 2016.

IP/2015/5780 vom 6. Oktober 2015. (DB)

Wirtschafts- und WährungspolitikNächste Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion

Die Europäische Kommission hat in einer Mitteilung weitere Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion dargelegt. Vorgesehen ist ein neuer Ansatz beim Europäischen Semester, dem jährlichen Zyklus der wirtschaftspolitischen Koordinierung auf EU-Ebene. Insbesondere soll eine Fokussierung auf Beschäftigung und Soziales und die Förderung von Re-formen durch die Europäischen Struktur- und Inves ti-tionsfonds einen ganzheitlichen Ansatz bei der Durch-führung des Semesters ermöglichen.

Die wirtschaftspolitische Steuerung soll durch die Einführung eines nationalen Ausschusses für Wettbe-werbsfähigkeit (s. Artikel unten) und eines beratenden Europäischen Fiskalausschusses verbessert werden. Letzterer wird von der Kommission eingesetzt und soll beratend zur multilateralen Überwachung im Euro-Währungsgebiet beitragen.

Des Weiteren ist eine einheitlichere Vertretung des Euro-Währungsgebiets bei internationalen Organisatio-nen vorgesehen (s. Artikel unten). Dies gilt insbeson-dere für den Internationalen Währungsfonds, wobei der Euro-Raum durch den Präsidenten der Euro-Gruppe vertreten würde. Weitere Schritte sieht die Kommission im Hinblick auf eine Finanzunion vor, insbesondere die Errichtung eines europäischen Einlagensicherungs-systems.

Schliesslich sollen wirtschaftspolitische Dialoge zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat sowie der Kommission und der Euro-Gruppe stattfin-den und zur Erhöhung der demokratischen Rechen-schaftspflicht des europäischen Systems der wirt-schaftspolitischen Steuerung beitragen.

KOM (2015) 600 endg. vom 21. Oktober 2015. (JR)

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Einrichtung nationaler Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit

Mit seiner Empfehlung zur Einrichtung nationaler Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit will der Rat zur weiteren Stabilisierung des Euro-Währungsgebiets bei-tragen, da eine nachlassende Dynamik der Wettbe-werbsfähigkeit seiner Ansicht nach zu einer Verringe-rung des Wachstums führen könne, was wiederum die Rückzahlung hoher Schulden erschwere.

Da die EU nicht über eigentliche wirtschaftspoliti-sche Kompetenzen verfügt, sollen die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets diejenigen politischen Mass-nahmen, die sich auf die Dynamik der Wettbewerbs-fähigkeit auswirken, zumindest besser koordinieren. Hierzu empfiehlt der Rat die Einrichtung nationaler Ausschüsse, die die Entwicklungen und Massnahmen im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit überwachen sollen. Dadurch soll die Wissensbasis verbessert werden, auf die sich die unionsweite wirtschaftspolitische Koordi-nierung im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit stützen kann. Die Ausschüsse sollen insbesondere folgende Auf-gaben wahrnehmen:

– Überwachung der Entwicklungen im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit;

– Bereitstellung einschlägiger Informationen für die Lohnbildungsprozesse;

– Mitwirkung an der Ex-post-Bewertung politischer Massnahmen sowie die

– Bewertung politischer Herausforderungen und For-mulierung politischer Empfehlungen zum Thema Wettbewerbsfähigkeit.

Die Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit sollen struk-turell unabhängig und funktionell eigenständig gegen-über den Behörden sein, die im betreffenden Mitglied-staat für Fragen der Wettbewerbsfähigkeit zuständig sind.

KOM (2015) 601 endg. vom 21. Oktober 2015. (DT)

Aussenvertretung des Euro-Währungsgebiets in internationalen Foren

Im Rahmen einer Mitteilung skizziert die Kommis-sion ihren Fahrplan für die Verbesserung der Aussenver-tretung des Euro-Währungsgebiets in den internationa-len finanzpolitischen Foren. Zur Begründung weist die Kommission auf das wirtschaftliche und finanzielle Ge-wicht des Euro-Währungsgebiets im globalen Kontext und auf das Bestehen einer einheitlichen Geld- und Wechselkurspolitik hin.

Primär strebt die Kommission eine einheitliche Ver-tretung des Euro-Währungsgebiets im Internationalen Währungsfonds (IWF) an. Die hierzu erforderlichen Massnahmen sollen bis spätestens 2025 umgesetzt wer-den. Darüber hinaus setzt sich die Kommission für wei-tere Verbesserungen bei der gegenseitigen Abstimmung in sämtlichen internationalen Foren ein. Dies soll ins-besondere Bereiche betreffen, in denen sich eine Vertie-fung der Wirtschafts- und Währungsunion vollzieht, wie etwa in für die Bankenunion relevanten Belangen. Die vorgeschlagenen Massnahmen stellen für die Kom-mission einen wichtigen Schritt dar, um dem Euro-Währungsgebiet in der Weltwirtschaft grösseres Ge-wicht zu verschaffen.

KOM (2015) 602 endg. vom 21. Oktober 2015. (DT)

Verordnung zur Durchsetzung der Rechte der EU aus internationalen Handelsabkommen

Damit die Wirtschaft der EU von Handelsabkommen profitieren kann, muss sichergestellt werden, dass die Handelspartner der EU die vereinbarten Regeln einhal-ten. Mit einer neuen Verordnung soll die EU in die Lage versetzt werden, auf illegale handelspolitischen Mass-nahmen in anderen Ländern zu reagieren, um die Inter-essen der Wirtschaft der EU-Mitgliedländer und der Be-schäftigten besser zu schützen. Die Kommission hatte am 18. Dezember 2012 einen entsprechenden Vorschlag zuhanden des Parlaments und des Rates unterbreitet, welcher am 6. Oktober 2015 mit geringfügigen Ände-rungen als Verordnung angenommen wurde.

Die neue Verordnung legt einen Rechtsrahmen über Vollzugsmassnahmen der Kommission für Fälle fest, in welchen Handelsinteressen der EU auf dem Spiel stehen. Stellt ein Gremium für internationalen Handel — ein

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WTO-Panel oder ein Streitbeilegungsgremium im Rah-men eines Freihandelsabkommens — fest, dass sich ein Handelspartner der EU nicht an internationale Handels-regeln hält, kann die Kommission nunmehr im Rahmen eines vereinfachten Verfahrens Handelssanktionen be-schliessen. Der Rückgriff auf langwierige Gesetzge-bungsverfahren, die sich für die rasche Verabschiedung wirksamer Durchsetzungsmassnahmen kaum eignen, ist dann nicht mehr notwendig. Die Kommission kann im Wege eines Durchführungsbeschlusses Zölle erhö-hen, ein Einfuhrkontingent festlegen oder den Zugang zu öffentlichen Aufträgen in der EU beschränken, um das betreffende Land zur Rücknahme der rechtswidri-gen Massnahmen zu veranlassen.

ABl. L 272 vom 16. Oktober 2015, S. 1. (AS)

Binnenmarkt und IndustriepolitikAktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion

Die Europäische Kommission hat am 30. September 2015 ihren Aktionsplan für die Kapitalmarktunion vor-gestellt, mit dessen Hilfe ein echter Kapitalbinnenmarkt für alle 28 Mitgliedstaaten geschaffen werden soll. Als Beitrag zur Priorität der Juncker-Kommission, EU-weit mehr Arbeitsplätze, Wachstum und Investitionen zu schaffen, ist die Kapitalmarktunion eine tragende Säule der Investitionsoffensive. Ihr Ziel ist es, die Investitions-schwäche anzupacken, indem sie die Finanzierungs-quellen für europäische Unternehmen und langfristige Projekte mehrt und diversifiziert. Der Aktionsplan ba-siert auf folgenden zentralen Grundsätzen:

– Schaffung von mehr Anlagemöglichkeiten: Die Kapi-talmarktunion soll dazu beitragen, Kapital in Europa zu mobilisieren und allen Unternehmen, insbeson-dere KMU, sowie den für Wachstum und Arbeitsplatz-schaffung notwendigen Infrastrukturprojekten zu-zuführen. Sie sollte den privaten Haushalten bessere Möglichkeiten zur Verwirklichung ihrer Altersversor-gungsziele eröffnen.

– Bessere Verknüpfung von Finanzierung und Realwirt-schaft: Die Mitgliedstaaten sollen von einer besseren Kanalisierung von Kapital und Investitionen in ihre Projekte profitieren.

– Förderung eines stärkeren und krisenfesteren Finanz-systems: Die Erschliessung einer grösseren Vielfalt an Finanzierungsquellen und mehr langfristiger Inves-titionen wird dafür sorgen, dass die EU-Bürger und -Unternehmen für Finanzmarkterschütterungen künftig nicht mehr so anfällig sind wie während der Krise.

– Vertiefung der Finanzintegration und Stärkung des Wettbewerbs: Die Kapitalmarktunion sollte zu mehr grenzübergreifender Risikoteilung und liquideren Märkten führen, was die Finanzintegration vertiefen, Kosten senken und die Wettbewerbsfähigkeit Europas erhöhen soll.

Die Kommission benennt mehrere prioritäre Massnah-men, zu denen sie zeitgleich mit dem Aktionsplan be-reits Dokumente veröffentlicht hat: ein Rahmenwerk für Verbriefungen, Änderungen für Versicherer in Bezug auf die Risikokalibrierung für Anlagen in Infrastruktur und europäische langfristige Investmentfonds, Änderungen der Verordnungen über europäische Fonds für soziales Unternehmertum und über europäische Risikokapital-fonds, ein europäisches Rahmenwerk für gedeckte Schuldverschreibungen und eine Analyse der Auswir-kungen der Finanzmarktregulierung auf Investitionen.

Jährliche Berichte und eine umfassende Bestandes-aufnahme im Jahr 2017 sollen sicherstellen, dass die Marschrichtung eingehalten wird. Die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament sollen durch die Kom-mission regelmässig über die Fortschritte informiert werden.

KOM (2015) 468 endg. vom 30. September 2015. (JR)

Verbraucher-schutzrechtEuGH: Safe-Harbor-Entscheidung der Kommission über Datenaustausch mit den USA ungültig

Mit Urteil vom 6. Oktober 2015 erklärte der EuGH die sog. Safe-Harbor-Entscheidung der Europäischen Kommission bezüglich der Übermittlung personenbe-zogener Daten aus der EU in die USA für ungültig. Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

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Maximillian Schrems, ein österreichischer Staatsan-gehöriger, nutzt seit 2008 Facebook. Wie bei den übri-gen Nutzern mit Wohnsitz in der Union werden die Daten, die Herr Schrems Facebook liefert, von der iri-schen Tochtergesellschaft von Facebook ganz oder teil-weise an Server übermittelt, die sich im Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten befinden, und dort gespeichert. Herr Schrems legte eine Beschwerde bei der irischen Datenschutzbehörde ein, da seiner Ansicht nach das Recht und die Praxis in den Vereinigten Staaten in Anbe-tracht der von Edward Snowden im Jahr 2013 enthüllten Tätigkeiten der Nachrichtendienste der Vereinigten Staaten (insbesondere der National Security Agency, NSA) keinen wirklichen Schutz dagegen bieten, dass der amerikanische Staat die in dieses Land übermittelten Daten überwacht. Die irische Behörde wies die Be-schwerde u.a. mit der Begründung zurück, dass die Kommission in der Entscheidung 2000/520/EG vom 26. Juli 2000 das von den Vereinigten Staaten im Rah-men der als «sicherer Hafen» bezeichneten Regelung («Safe-Harbor») gewährleistete Schutzniveau der über-mittelten personenbezogenen Daten als angemessen eingestuft habe. Die US-amerikanische Safe-Harbor-Regelung enthält ihrerseits eine Reihe von Grundsätzen über den Schutz personenbezogener Daten, denen sich amerikanische Unternehmen freiwillig unterwerfen können. Der mit der Rechtssache befasste irische High Court wollte im Rahmen eines Vorabentscheidungsver-fahrens vom EuGH wissen, ob die betreffende Entschei-dung der Kommission eine nationale Kontrollstelle daran hindert, eine Beschwerde zu untersuchen, mit der geltend gemacht wird, dass ein Drittland kein angemes-senes Schutzniveau gewährleiste, und die beanstandete Übermittlung von Daten gegebenenfalls auszusetzen.

Der Gerichtshof stellt in seinem Urteil zunächst fest, dass die Existenz der Safe-Harbor-Entscheidung die Be-fugnisse der nationalen Kontrollstellen nach der Richt-linie 95/46/EG über die Verarbeitung personenbezoge-ner Daten weder beseitigen noch auch nur verringern kann. Gemäss dieser Richtlinie ist die Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland zulässig, wenn dieses ein angemessenes Schutzniveau für diese Daten gewährleistet. Die Kommission kann nach der Richtlinie feststellen, dass ein Drittland ein angemessenes Schutz-niveau gewährleistet. Sobald die Kommission eine Ent-scheidung in diesem Sinne erlassen hat, kann die Über-mittlung personenbezogener Daten in das betreffende Drittland erfolgen. Laut EuGH müssen die nationalen Datenschutzbehörden aber auch nach Ergehen eines entsprechenden Kommissionsentscheids weiterhin in völliger Unabhängigkeit prüfen, ob bei der Übermitt-lung von Personendaten in Drittländer die in der Richt-linie aufgestellten Grundsätze gewahrt sind.

Im Hinblick auf die Sicherheit der Übermittlung von Personendaten in die USA stellt der EuGH fest, dass die Kommission im Rahmen ihrer Entscheidung hätte fest-stellen müssen, dass die USA aufgrund ihrer innerstaat-lichen Rechtsvorschriften oder internationalen Verpflich-tungen tatsächlich ein Schutzniveau der Grundrechte gewährleisten, welches dem in der EU entspricht. Die betreffende Safe-Harbor-Regelung, auf welche sich die Kommissionsentscheidung bezieht, gelte allerdings nur für amerikanische Unternehmen, die sich ihr unter-werfen, nicht hingegen für Behörden in den USA. Ge-rade im Falle von Fragen der internationalen Sicherheit geht der EuGH davon aus, dass die Safe-Harbor-Rege-lungen nicht zur Anwendung kommen. Eingriffe in Da-tenschutzrechte durch amerikanische Behörden blieben daher möglich. Zudem seien die Eingriffsmöglichkeiten nicht auf das Notwendigste beschränkt, wenn sie gene-rell die Speicherung aller personenbezogenen Daten sämtlicher Personen, deren Daten aus der EU in die USA übermittelt werden, gestattet, ohne irgendeine Diffe-renzierung, Einschränkung oder Ausnahme anhand des verfolgten Ziels vorzunehmen.

Des Weiteren verletze eine Regelung, die keine Mög-lichkeit für den Bürger vorsieht, mittels Rechtsbehelf Zugang zu den ihn betreffenden Daten zu erlangen oder deren Löschung zu erwirken, den Wesensgehalt des Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz.

Entsprechend erklärt der EuGH die Safe-Harbor-Entscheidung der Kommission für ungültig. Das Urteil hat zur Folge, dass die irische Datenschutzbehörde die Beschwerde von Herrn Schrems mit Sorgfalt prüfen und dann entscheiden muss, ob nach der Richtlinie die Übermittlung der Daten der europäischen Nutzer von Facebook in die Vereinigten Staaten auszusetzen ist, weil die USA kein angemessenes Schutzniveau für personen-bezogene Daten bietet.

EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2015, Rs. C-362/14. (TB)

Wegfall der Roaminggebühren ab Juni 2017 Das Parlament hat am 27. Oktober 2015 in zweiter

Lesung einen Vorschlag des Rates zur Änderung der Roamingverodnung (EU) Nr. 531/2012 ohne Änderungs-anträge angenommen. In der Sache geht es um eine schrittweise Abschaffung der Roaminggebühren ab April 2016 und um die erstmalige Verankerung von Netzneutralität im EU-Recht.

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Laut Änderung der Roamingverordnung soll es vom 15. Juni 2017 in der EU keine Roaminggebühren mehr geben. Die Verbraucher in der EU werden unabhängig von ihrem Aufenthalt innerhalb der EU denselben Preis für Anrufe, Textnachrichten und Mobilfunkdaten be-zahlen. Bereits ab April 2016 wird bereits Roaming güns-tiger: Telekommunikationsdiensteanbieter können auf die national geltenden Tarife nur noch geringe zusätzli-che Gebühren erheben; diese betragen (ohne Mehrwert-steuer) 0.05 Euro pro Minute für einen Anruf, 0.02 Euro für jede gesendete SMS und 0.05 Euro pro Daten-MB.

In der Vereinbarung vom 27. Oktober 2015 wird auch erstmals der Grundsatz der Netzneutralität im EU-Recht verankert: Die Nutzer erhalten freien Zugang zu den In-halten ihrer Wahl, sie werden nicht mehr blockiert oder ihre Geschwindigkeit gedrosselt. Ein bevorzugter Zu-gang gegen Bezahlung wird verboten. Dies hat beispiels-weise zur Folge, dass der Zugang zur Website eines neuen Start-up-Unternehmens nicht mehr verlangsamt wer-den kann, um einem Grossunternehmen Vorrang zu geben. Auch Dienstleistungen sollen nicht mehr blo-ckiert werden können, weil Anbietern von Internet-diensten keine zusätzlichen Gebühren gezahlt werden. Es wird keine Filterfunktionen mehr geben, von denen es abhängt, wozu die Bürgerinnen und Bürger Zugang haben. Gleichzeitig haben die Anbieter von Internetzu-gängen weiterhin die Möglichkeit, spezielle Dienste hö-herer Qualität wie z.B. Internetfernsehen oder neue, in-novative Anwendungen anzubieten, solange diese Dienste nicht auf Kosten der Qualität des «offenen In-ternets» erbracht werden. Die EU erhält damit die welt-weit strengsten und umfassendsten Vorschriften für «offenes Internet», die durch gestärkte Rechte für End-nutzer sicherstellen, dass die Teilnehmer auch erhalten, wofür sie bezahlen. Die Regeln gelten EU-weit für alle Mitgliedstaaten ab dem 16. April 2016.

Durch diese gemeinsamen EU-weit gültigen Inter-net- und Telekommunikationsvorschriften wird eine Zersplitterung des Binnenmarkts vermieden, Rechts-sicherheit für Unternehmen geschaffen und die grenz-übergreifende Kommunikation erleichtert. Der Text wird noch im Amtsblatt der EU veröffentlicht.

IP/15/5927 vom 27. Oktober 2015. (AS)

Europäisches ZivilprozessrechtAnwendung der VO über das Mahnverfahren

Mit der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 zur Einfüh-rung eines Europäischen Mahnverfahrens verankerte die EU erstmals ein vereinheitlichtes Zivilprozessver-fahren im Unionsrecht. Ziel war die Erleichterung der grenzüberschreitenden Durchsetzung unstreitiger For-derungen. Das Europäische Mahnverfahren ist ein ein-stufiges, nichtbeweispflichtiges Verfahren. Das Recht des Antragsgegners auf eine wirksame Verteidigung ist dadurch gewährleistet, dass dieser innerhalb von 30 Tagen nach Erlass eines Zahlungsbefehls Einspruch einlegen kann. Gläubiger sind aber nicht auf ein Vor-gehen nach europäisiertem Recht beschränkt, sondern können ihre Ansprüche weiterhin aufgrund nationaler Bestimmungen verfolgen. Ein auf diesem Wege erworbe-ner Titel kann anschliessend als Europäischer Vollstre-ckungstitel bestätigt werden. Die mitgliedstaatlichen Mechanismen zur Beitreibung unbestrittener Forderun-gen werden durch die Verordnung somit weder ersetzt noch harmonisiert. Vielmehr stehen Gläubigern unbe-strittener Geldforderungen mit grenzüberschreitendem Bezug in der EU derzeit verschiedene Alterna tiven zur Verfügung, mit denen sie ihre Forderung gerichtlich durchsetzen können.

In ihrem Bericht über die Anwendung der Verord-nung kommt die Kommission zu dem Schluss, dass das Europäische Mahnverfahren im Allgemeinen zuverlässig und zufriedenstellend funktioniert. Es habe massgeb-lich zu einer verbesserten, beschleunigten und einfa-cheren Bearbeitung unbestrittener Geldforderungen bei grenzüberschreitenden Streitigkeiten beigetragen. Eine Änderung der grundlegenden Parameter des europäi-schen Verfahrens hält die Kommission daher zum jetzi-gen Zeitpunkt für nicht angebracht. Allerdings habe die Evaluation gezeigt, dass die Verordnung bei Unterneh-men, Bürgern, Fachleuten und Gerichten immer noch nicht ausreichend bekannt ist. Die Kommission fordert deshalb weitere Aufklärung sowohl auf europäischer Ebene als auch in den Mitgliedstaaten. Darüber hinaus könne die Funktionsweise des Verfahrens durch eine elektronische und zentralisierte Bearbeitung der Fälle verbessert werden.

KOM (2015) 495 endg. vom 13. Oktober 2015. (DT)

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EUZ / 18. Jahrgang / Nr. 1 JANUAR 2016

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GrundrechteEGMR: Perinçek/Schweiz und das Recht auf Meinungsfreiheit

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte sich in dem Verfahren Perinçek gegen die Schweiz mit der Frage zu befassen, wie weit das Grund-recht auf Meinungsfreiheit reicht und wo dessen straf-rechtliche aber auch moralische Grenzen liegen. Die Grosse Kammer des EGMR stellte mit 10:7 Stimmen in ihrem Urteil vom 15. Oktober 2015 fest, dass die Schweiz mit der Verurteilung des türkischen Staatsangehörigen Dogu Perinçek das Recht auf freie Meinungsäusserung (Art. 10 EMRK) verletzt habe. Das Urteil ist endgültig und bestätigt damit das in der gleichen Sache gefällte Urteil einer Kammer des EGMR vom 17. Dezember 2013.

Der Beschwerdeführer Perinçek ist türkischer Staats-angehöriger und promovierter Jurist. Er war infolge dreier öffentlicher Auftritte in der Schweiz am 9. März 2007 im Kanton Waadt zu einer Geldstrafe und einer Busse verurteilt worden. Das Urteil wurde auf die Anti-rassismusstrafnorm des Schweizerischen Strafgesetz-buches Art. 261bis StGB gestützt, weil er mehrfach den Genozid an den Armeniern geleugnet hatte und den Völkermord als eine «internationale Lüge» bezeichnet. Das Waadtländer Kantonsgericht und das Bundesge-richt wiesen die Beschwerden gegen die Verurteilung ab. Eine Kammer des EGMR stellte mit Urteil vom 17. Dezember 2013 fest, dass die Verurteilung das Recht des Beschwerdeführers auf Meinungsfreiheit verletzt habe. Daraufhin ersuchte die Schweiz am 17. März 2014 um eine Neubeurteilung durch die Grosse Kammer.

In ihrem 130 Seiten starken Urteil prüft die Grosse Kammer des EGMR, ob der Eingriff in die Meinungs-äusserungsfreiheit nach Art. 10 Abs. 2 EMRK gerecht-fertigt sein könnte. Dies wäre hier dann der Fall, wenn es sich um eine (1) gesetzlich vorgesehene und (2) in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Mass-nahme handelt, die (3) zum Schutz der Rechte anderer notwendig war. Schwierig war insbesondere die Beur-teilung, ob die Massnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, denn an dieser Stelle blickte der EGMR auf seine bisherige Rechtsprechung zur Leugnung des Genozids an den Armeniern sowie zur Leugnung des Holocausts. Indem der EGMR einer-seits den «Charakter der getätigten Aussagen» be-wertete und andererseits zu sätzliche «geographische, historische und zeitliche Faktoren» heranzog, kam er zu dem Ergebnis die Verurteilung des Beschwerdefüh-rers sei in der demokratischen Gesellschaft der Schweiz

nicht notwendig gewesen. Insoweit stellte der EGMR fest, dass die getätigten Aussagen keinen Aufruf zu Ge-walt, Hass und Intoleranz darstellten. Demgegenüber seien die anerkannten Verbote der Holocaustleugnung in Deutschland, Österreich und Belgien vor dem Hinter-grund der unmittelbaren Betroffenheit aus geografi-scher, historischer und zeitlicher Perspektive anders zu bewerten, als die Beziehung zwischen der Schweiz und dem armenischen Volk.

Hingewiesen sei insoweit insbesondere auf die ab-weichenden Meinungen der sieben Richter, die sich ins-besondere wegen ebendieser (örtlichen und zeitlichen) Relativierung gegen das ergangene Urteil ausgesprochen hatten. In ihrer zum Teil abweichenden Argumentation stimmte Richterin Nussberger zwar für eine Verletzung von Art. 10 EMRK, weil die Schweizer Regelung nicht deutlich mache, welche Aussagen erlaubt und welche verboten sind, widersprach aber inhaltlich der unter-schiedlichen Behandlung der Holocaustleugnung und der Leugnung des Genozids in Armenien.

EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015, App. No. 27510/08. (WU)

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Judicial Review of Fines in EU Competition LawArbeiten aus dem Iuristischen Seminar der Universität Freiburg Schweiz, Band 355

Jun Zheng

This doctoral thesis, delivered at the University of Fribourg, examines judicial review standard in view of future developments of competition law in EU and China.Part one of the thesis analyses fining problems arising from the EU Courts’ judicial review practice and proposes an appropriate standard of judicial review. Part two explores the EU Courts’ review of the facts, the fining guidelines in general and the factors for fixing the level of fines in practice. Part three proposes three steps for the EU to improve the enforcement of EU competition law and the judicial review thereof.With a focus on EU competition law, the present thesis further examines China’s practice in judicial review of fines and lessons to be learnt from the EU experience.

Die Europäische Idee neu denkenReferate zu Fragen der Zukunft Europas 2014

Europa Institut an der Universität Zürich, Band 165

Andreas Kellerhals (Hrsg.)

Der vorliegende Band umfasst einen Beitrag zum Thema «Der Staat im 3. Jahrtausend», worüber im Rahmen einer Special Churchill Lecture (Fürst Hans-Adam von und zu Liechtenstein) diskutiert wurde. Im Weiteren gab es Referate zum Thema «Globalization and the Law» (Justice Antonin Scalia), zu «Krise als Chance» (Dr. Josef Ackermann), zu Turkey and the Rule of Law (Prof. Dr. Samim Ünan), zur Europäischen Idee (Dr. Jacques Santer), zur inneren und äusseren Verfassung Europas (Bundestagspräsident Norbert Lammert), zu «The Republic of Croatia in the European Union and South East Europe» (President Ivo Josipovic), zur Wirtschaftsfreiheit und die Rolle der Gerichte in Russland (Michail Chodorkowski), zu geldpolitischen Perspek ti ven in Europa (Prof. Dr. Ewald Nowotny), zum Thema «Regiert Geld die Welt?» (Dr. Norbert Blüm) u.a.

Arbeiten aus dem Iuristischen Seminar der Universität Freiburg

Europa Institut Zürich

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Der Verlag zu RechtSchulthess Juristische Medien AG Zwingliplatz 2 8001 Zürich www.schulthess.com

Neuerscheinung

Aktuelle Entwicklungen im EU-Recht mit Bezug zur Schweiz

Herausgeberinnen/Herausgeber:

Prof. Dr. iur. Astrid Epiney

Dr. iur. Markus Kern, LL.M.

Lena Hehemann, LL.M.

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Stämpfli Verlag, Bern

Die Annahme der sog. «Masseneinwanderungsinitiative», deren

Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen sowie die «Institu-

tionellen Fragen» stehen weiterhin im Fokus der politischen und

rechtlichen Diskussionen zwischen der Schweiz und der EU. Das

Jahrbuch erörtert vor diesem Hintergrund die aktuellen Entwick-

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zwischen EU-Recht und schweizerischem Recht sowohl auf wis-

senschaftlich-theoretische als auch auf praxisorientierte Art und

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Verwaltung und Praxis und erlaubt, sich umfassend über die Ent-

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L’acceptation de l’initiative « contre l’immigration de masse », ses

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loppements récents du droit de l’UE et met l’accent sur les aspects

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