Lenin - Werke 12

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PROLETARIER ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH! LENIN WE RK E •12

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Lenin - Werke

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PROLETARIER ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH!

LENINWE RK E

•12

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HERAUSGEGEBEN AUF BESCHLUSS

DES IX. PARTEITAGES DER KPR(B) UND DES

II. SOWJETKONGRESSES DER UdSSR

DIE DEUTSCHE AUSGABE ERSCHEINT

AUF BESCHLUSS DES ZENTRALKOMITEES

DER SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI

DEUTSCHLANDS

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INSTITUT FOR MARXISMUS-LENINISMUS BEIM ZK DER KPdSU

WI.LENINWERKE

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGENNACH DER VIERTEN RUSSISCHEN AUSGABE

DIE DEUTSCHE AUSGABE

VOM INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUSBEIM ZENTRALKOMITEE DER SED BESORGT

DIETZ VERLAG BERLIN

1959

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WI.LENINBAND 12

JANUAR-JUNI {907

DIETZ VERLAG BERLIN

1959

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Rassischer Originaltitel:

B.H.J1EHHH • C 0*111 HEHHfl

Dietz Verlag GmbH, Berlin • 1. Auflage 1959 • Printed in GermanyAlle Rechte vorbehalten • Gestaltung und Typographie: Dietz Entwarf

Verlagsbogen: 33,6 • Druckbogen: 35,25 • Lizenznummer 1Gesamtherstellung: Leipziger Volkszeitnng III18138

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VII

VORWORT

Die in Band 12 enthaltenen Arbeiten schrieb W. I. Lenin von Januarbis Juni 1907.

Eine Reihe dieser Arbeiten ist der revolutionären Taktik der SDAPRwährend der Wahlkampagne zur II. Reichsduma gewidmet - der Ver-fechtung des Linksblocks und dem Kampf gegen die menschewistischePolitik der Verständigung mit den Kadetten. Hierzu gehören: „Die Wahl-kampagne der Sozialdemokratie in Petersburg", „Wie soll man bei denWahlen in Petersburg stimmen? (Wem nützen die Märchen von einerSchwarzhundertergefahr?)", „Die zweite Duma und die zweite Welleder Revolution", „über die Taktik des Opportunismus", „Die Bolsche-wiki und das Kleinbürgertum", „Die Dumawahlen und die Taktik derrussischen Sozialdemokratie", „Die nahe bevorstehende Auseinander-jagung der Duma und Fragen der Taktik" u. a.

Der Band enthält ferner Dokumente und Artikel Lenins über die Vor-bereitung des V. Parteitags der SDAPR sowie seine Berichte und Redenauf dem Parteitag selbst, so die „Resolutionsentwürfe zum fünftenParteitag der SDAPR", den Artikel „Die Plattform der revolutionärenSozialdemokratie", den „Bericht an den V. Parteitag der SDAPR überdie Petersburger Spaltung und die damit zusammenhängende Einsetzungeines Parteigerichts", das „Referat über die Stellung zu den bürgerlichenParteien" und andere Reden.

Das „Referat auf der Konferenz der Petersburger Organisation zurFrage der Dumawahlkampagne und der Dumataktik" und die Artikel„Die Organisatoren der Spaltung über die künftige Spaltung", „Reorga-nisation und Liquidierung der Spaltung in Petersburg" zeugen von Lenins

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VIII Vorwort

Kampf um den ideologischen Zusammenschluß der Petersburger Organi-sation der SDAPR auf der Grundlage der bolschewistischen Prinzipien.

Das „Vorwort zur russischen Übersetzung der Briefe von K. Marx anL. Kugelmann" und das „Vorwort zur russischen Übersetzung des Buches,Briefe und Auszüge aus Briefen von Job.. Phil. Becker, Jos. Dietzgen,Friedrieb. Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere'" charak-terisieren die theoretische und politische Bedeutung der Briefe von KarlMarx und Friedrich Engels, die 1907 zum ersten Male in russischerSprache teilweise veröffentlicht wurden.

Der Agrarfrage gewidmet sind im vorliegenden Band der „Entwurfeiner Rede zur Agrarfrage in der zweiten Reichsduma" und „Die Agrar-frage und die Kräfte der Revolution".

Zum erstenmal sind in die Werke W. I. Lenins folgende Schriften auf-genommen worden: „Zu dem Bericht des Moskauer Bezirks der StadtPetersburg über die Wahlen zur II. Duma", „Bemerkung zur Resolutionder estnischen Sozialdemokraten" und „Der erste wichtige Schritt", worinLenin die opportunistische Handlungsweise der menschewistischen Depu-tierten in der II. Duma kritisiert.

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DIE WAHLKAMPAGNEDER SOZIALDEMOKRATIE IN PETERSBURG1

Petersburg, 18. Januar 1907

Die Wahlkampagne in Petersburg ist in vollem Gange. Es naht der ent-scheidende Augenblick: Erstens muß es sich in diesen Tagen erweisen, inwelcher endgültigen Gruppierung sich die Parteien zur Wahl stellen, wermit wem zusammengeht, wer gegen wen ist. Zweitens stehen auch schondie Wahlen selbst vor der Tür.

Die Wahlen in der Hauptstadt sind von gewaltiger Bedeutung. GanzRußland schaut jetzt auf Petersburg. Hier pulst das lebendigste politischeLeben, hier ist die Regierung stärker als irgendwo sonst. Hier befindensich die Zentralstellen aller Parteien, die besten Blätter aller Richtungenund Schattierungen, die besten Wahlredner.

Und jetzt kann man schon mit aller Bestimmtheit und Entschiedenheitfeststellen: Petersburg hält, was es versprach. Die Wahlkampagne in Pe-tersburg hat bereits eine erstaunliche Menge von politischem Aufklärungs-material erbracht und erbringt mit jedem 7ag neues. Dieses Materialmuß studiert und immer wieder studiert werden. Es muß systematisch ge-sammelt werden, und es muß dazu dienen, die Xlassengrundlagen derverschiedensten Parteien so deutlich wie möglich klarzustellen - und dieslebendige, unmittelbare, jedermann interessierende und erregende Wis-sen muß in die breitesten Arbeitermassen, in die entlegensten Dörfer ge-tragen werden.

Versuchen wir einmal das Material zusammenzustellen - in gedrängterForm natürlich. Möge der Leser zurückblicken und den ganzen Verlaufder Wahlkampagne in St. Petersburg überdenken, um sich eine begrün-dete und ideologisch klare Vorstellung von der Rolle der Sozialdemo-

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'W.O.teniif

kratie zu machen und sich nicht von den Kleinigkeiten des Tages und demKaleidoskop des politikasternden Treibens ablenken zu lassen.

Die erste Etappe. Die Sozialdemokraten rüsten theoretisch zu denWahlen. Die hervorragendsten Vertreter des rechten und des linken Flü-gels nehmen Stellung. Bei den Menschewiki gibt es anfangs die größtenSchwankungen: 1. Tscherewanin ist für Abkommen mit den Kadetten.2. Die Kadettenpresse jubelt und verbreitet die Kunde hiervon in ganzRußland. 3. Martow protestiert im „Towarischtsch"2 und tritt für reinsozialdemokratische Listen ein, wobei er den Bolschewiki (Nr. 1 des „Pro-letari"3) sogar zum Vorwurf macht, daß sie Abkommen mit den Trudo-wiki4 gegen die Kadetten allgemein für zulässig erklären. 4. Die Bol-schewiki sprechen sich für rein sozialdemokratische Listen aus, ohne Ab-kommen mit der revolutionären Demokratie grundsätzlich abzulehnen.5. Plechanow tritt in der bürgerlichen Presse für Blocks mit den Kadettenein. 6. Bei den Menschewiki herrscht allgemeines Schwanken: Larin ver-urteilt zornerfüllt Blocks mit den Kadetten als eine Schmach für die Sozial-demokratie. Nik. J-ski5 hält Blocks mit den Kadetten für zulässig, ziehtjedoch einen Block mit den Trudowiki gegen die Kadetten vor. 7. Martowund alle anderen Menschewiki machen eine Schwenkung von 180° undwechseln sämtlich auf die Seite Plechanows hinüber.

Die Gesamtrussische Konferenz der SDAPR6 fixiert zwei Richtungen:Die Menschewiki und die Bundisten treten für Blocks mit den Kadettenein, die Bolschewiki, die Polen und die Letten sind unbedingt dagegen,halten jedoch Abkommen mit der revolutionären Demokratie für zu-lässig.

Die zweite Etappe. In der Presse wird die Idee eines Blocks mit denKadetten entwickelt. Plechanow hat sich bis zu einer „machtvollkommenenDuma" verstiegen. Damit hätte er den Menschewismus ad absurdum füh-ren können. Er wünscht die Menschewiki den Kadetten näherzubringenund erzielt (infolge völliger Verkennung der politischen Lage) das Gegen-teil: er bringt die Menschewiki von den Kadetten weiter ab. Einerseitslehnt die Partei der Kadetten offiziell und feierlich die „machtvollkom-mene Duma" als revolutionäre Illusion ab und verspottet Plechanow. Eswird klar, daß die Kadetten einen ideologischen Block - die Unterord-nung der Linken unter die Führung der Kadetten, unter die antirevolu-tionäre Paktierertaktik der Kadetten - wollen und fordern. Anderseits

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trägt der blinde Eifer Plechanows Verwirrung in die Reihen der Men-schewiki: sowohl die Bundisten als auch die kaukasischen Menschewikiverurteilen öffentlich in der Presse das Auftreten Plechanows. Das ZK, indem die Menschewiki das zahlenmäßige Übergewicht haben, schweigtverwirrt und betroffen. Plechanow ist isoliert und hüllt sich ebenfalls inSchweigen.

Die dritte Etappe. Beginn der Massenaktion. Wahlversammlungen inMoskau und in Petersburg. In die muffige Atmosphäre des intelligenz-lerischen Politikastertums dringt ein frischer Luftzug von der Straße. Miteinem Schlage erweist sich die Schwarzhundertergefahr als ein Phan-tasiegebilde: Die Straße bestätigt die bolschewistische These, daß dieKadetten die Opportunisten an der Nase herumführen, indem sie voneiner Schwarzhundertergefahr zetern und so die Linksgefahr von sich ab-leiten. Der Kampf in den Wahlversammlungen entfaltet sich in beidenHauptstädten im wesentlichen zwischen den Kadetten und den Sozial-demokraten, und zwar hauptsächlich den bolschewistischen Sozialdemo-kraten. Die Kadetten zerren alle, die Straße, die Volksmenge, die Mas-sen nadh redhts, kämpfen gegen die revolutionären Forderungen und rüh-men unter dem Aushängeschild des „friedlichen parlamentarischen Weges"einen Kuhhandel mit der Reaktion. Die bolschewistischen Sozialdemo-kraten rufen die Massen nach links und entlarven die ganze Verlogen-heit der Fabeln vom friedlichen Weg, ihren ganzen eigennützigenKlassencharakter. Die Menschewiki werden kleinlaut (wie die in sieverliebte Kadettenpresse selbst zugibt); schüchtern kritisieren sie dieKadetten, nicht als Sozialisten, sondern als linke Kadetten, und ebensoschüchtern reden sie von der Notwendigkeit eines Abkommens mit denKadetten.

Die vierte Etappe. Die Konferenz der Petersburger sozialdemokra-tischen Organisation7 tritt zusammen. Gewählt von allen Mitgliedern derSozialdemokratischen Partei auf Grund einer Diskussion, d. h. nachdemalle über ein Abkommen mit den Kadetten befragt worden sind, bringtdiese Konferenz den Bolschewiki das unbedingte Übergewicht - gleich-viel, ob man die Stimmen, die von der einen oder der andern Seite ange-fochten wurden, zählt oder nicht zählt oder nach einer besonderen Normzählt. Die Menschewiki verlassen die Konferenz und beginnen die Spal-tung. Formal verstecken sie sich hinter lächerlichen und erbärmlichen

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W.lCenin

organisatorischen Vorwänden (die Bolschewiki hätten angeblich die Man-date nicht richtig bestätigt - in Wirklichkeit harten die Bolschewiki dasÜbergewicht, wie immer man auch die Mandate zählen mag; die Kon-ferenz habe es abgelehnt, sich in eine Stadt- und eine Gouvernements-konferenz zu teilen - in Wirklichkeit konnte das ZK laut Statut keinesolche Forderung aufstellen, und es hat eine derartige Teilung weder vonWilna noch von Odessa oder irgendwelchen anderen Städten verlangt).

In Wirklichkeit ist die Ursache der von den Menschewiki ins Werkgesetzten Spaltung für jedermann klar: die Opportunisten in der Sozial-demokratie laufen vom Proletariat zur liberalen Bourgeoisie, von densozialdemokratischen Arbeiterorganisationen zu parteilosen Wählerkol-lektiven ohne feste organisatorische Form über.

Die Konferenz schenkt dem Auszug der Menschewiki absolut keineBeachtung und setzt ihre Arbeit fort. In Petersburg gab es auch unterden Bolschewiki Streitigkeiten: die sogenannten reinen Bolschewiki lehnenjedwedes Abkommen mit irgendeiner anderen Partei ab. Die sogenanntenDissidenten treten für ein Abkommen mit der revolutionären Demokratie- den Trudowiki - ein, um in der Hauptstadt Rußlands die Hegemonieder Kadetten über die unentwickelte werktätige Masse zu brechen. DieserStreit zwischen den „Reinen" und den „Dissidenten" verschärfte sich ineinzelnen Fällen, dem Wesen der Sache nach aber begriffen alle Bolsche-wiki ausgezeichnet, daß diese Meinungsverschiedenheit sie nicht in Prin-zipienfragen entzweit, sondern nur dazu beiträgt, alle Wahlchancen und-aussichten gründlich und sachlich zu erörtern.

Das sozialistische Proletariat kann der nichtsozialistischen kleinbürger-lichen Masse nicht verwehren, ihm Qefolgsdhaft zu leisten, wenn es sievon dem Einfluß der Kadetten befreien will. Die Konferenz faßt nacheingehenden Debatten den Beschluß, den Sozialrevolutionären und demKomitee der Trudowikigruppe ein Abkommen auf folgender Grundlagevorzuschlagen: zwei Dumasitze für die Arbeiterkurie, zwei für die Sozial-demokraten, zwei für die Trudowiki.

Das war in Petersburg der einzig richtige und der einzig mögliche Be-schluß: die Aufgabe, die Kadetten zu schlagen, darf nicht auf die leichteAchsel genommen werden; es gibt keine Schwarzhundertergefahr bei zweilinken Wahllisten; bei einer weiteren Zersplitterung der Linken dagegenkönnte es eine solche Gefahr geben, und dann wäre es unmöglich, die

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Massen der Wähler zusammenzufassen. Und an der Vorherrschaft derSozialdemokraten hielt die Konferenz mit ihrem Vorschlag unbedingtfest; die ideologische und die politische Hegemonie der Sozialdemokratiewurde gestärkt und dabei die Reinheit ihrer Prinzipien in vollem Umfanggewahrt.

Was die Partei der Volkssozialisten betrifft, so beschloß die Konferenz,sie als eine halbkadettische Partei, die in den Grundfragen des Kampfesaußerhalb der Duma eine ausweichende Haltung einnimmt, nicht mit ein-zubeziehen. Bekanntlich hat sich diese Partei nach der Auseinanderjagungder Duma vom revolutionären Kleinbürgertum getrennt und in der legalenPresse Vorsicht und Mäßigung zu predigen begonnen.

Selbstverständlich war die revolutionäre Sozialdemokratie verpflichtet,von den Sozialrevolutionären eine eindeutige Stellung gegenüber einersolchen Partei zu verlangen und entweder durchzusetzen, daß diese Par-tei nicht mit einbezogen werde (wahrscheinlich wäre das durchaus mög-lich gewesen, wenn die Menschewiki nicht im entscheidenden Augenblickvon den Sozialisten zu den Kadetten übergelaufen wären), oder zumin-dest jede Verantwortung für soldhe „Trudowiki" abzulehnen.

Die fünfte Etappe. Die von den Menschewiki ins Werk gesetzte Spal-tung beflügelt die Hoffnungen der gesamten liberalen Bourgeoisie. Dieganze Kadettenpresse frohlockt, sie frohlockt über die „Isolierung" derverhaßten Bolschewiki, über den „mannhaften" Übergang der Mensche-wiki von der Revolution zum „oppositionellen Block". Die „Retsch"8, diediesen Ausdruck geprägt hat, nennt die Menschewiki und die Volkssozia-listen schon direkt „gemäßigt sozialistische Parteien". Man erhält wirklichden Eindruck, daß die Kadetten das ganze Kleinbürgertum (d. h. alleTrudowiki einschließlich der Sozialrevolutionäre) und den gesamten klein-bürgerlichen Teil der Arbeiterpartei, d. h. die Menschewiki, hinter sichherziehen.

Die Bolschewiki setzen ruhig ihre selbständige Arbeit fort. Wir sindfroh, erklären sie, daß wir uns von einer schmutzigen Sache, vom Verratund von der Wankelmütigkeit des Kleinbürgertums, isolieren. Wir ord-nen unsere Taktik nicht der Jagd nach Sitzen unter. Wir erklären: InPetersburg wird es in jedem 7alle drei Listen geben: die Liste derSchwarzhunderter, die Liste der Kadetten und die Liste der Sozialdemo-kraten.

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Die sechste Etappe. Wahlen in der Arbeiterkurie und Entlarvung derganzen Doppelzüngigkeit der Trudowiki.

In der Arbeiterkurie siegen die Sozialdemokraten, aber die Sozialrevo-lutionäre haben einen bedeutend größeren Anteil erhalten, als wir er-warteten. Es stellt sich heraus, daß die Sozialrevolutionäre in der Ärbeiter-kurie vorwiegend Menschewiki gesdblagen haben. Im Wiborger Bezirk, indieser Hochburg des Menschewismus, kommen, wie berichtet wird, mehrSozialrevolutionäre als Sozialdemokraten durch!

Also bestätigt sich bei uns dieselbe Erscheinung, die schon seit langemin andern Ländern zu verzeichnen ist. Der Opportunismus in der Sozial-demokratie stößt die Arbeitermasse dermaßen ab, daß diese sich der revo-lutionären Bourgeoisie in die Arme wirft. Die völlig haltlose und vonSchwankungen erfüllte Politik der Menschewiki schwächt die Sozialdemo-kratie außerordentlich und kommt in der städtischen Kurie den Kadetten,in der Arbeiterkurie den Sozialrevolutionären zugute.

Nur die revolutionäre Sozialdemokratie vermag den Anforderungender proletarischen Masse Genüge zu tun und sie nadbhaltig von »allenkleinbürgerlichen Parteien zu lösen.

Anderseits aber decken die Ereignisse auch die ganze Doppelzüngigkeitder Trudowiki auf. In der Arbeiterkurie schlagen sie (die Sozialrevolu-tionäre) uns dadurch, daß sie gegen die Menschewiki losziehen, die sichauf einen Block mit den Kadetten einlassen. Gleichzeitig treiben sie in derWahlkampagne ein ganz prinzipienloses Spiel. Sie geben als Partei keineErklärungen ab, veröffentlichen selbständig keine organisatorischen Be-schlüsse, erörtern nicht offen die Frage der Blocks mit den Kadetten. Sielöschen gewissermaßen absichtlich alle Lichter aus - wie Leute, die imDunkeln dunkle Geschäfte machen wollen.

Man sagt, die Sozialrevolutionäre hätten einen Block gebildet mit denVolkssozialisten. Niemand kennt die Bedingungen und den Charakter die-ses Blocks. Man deckt die Karten nicht auf. £s wird gesagt (vgl. „RodnajaSemlja" vom 15. Januar - an dieser Zeitung aber arbeitet Herr Tan9 mit),die Sozialrevolutionäre seien für einen Block mit den Kadetten. Niemandweiß, was daran Wahres ist. Man deckt die Karten nicht auf. In denWahlversammlungen herrscht dasselbe Durcheinander: ein Sozialrevolu-tionär fordert zusammen mit den Volkssozialisten zum Block mit den

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Kadetten auf ein anderer bringt eine Resolution durch gegen den Blockmit den Kadetten, für einen Block aller Linken gegen die Kadetten.

Die völlige Haltlosigkeit und Doppelzüngigkeit des gesamten Klein-bürgertums, selbst seines revolutionärsten Teils, tritt augenfällig in Er-scheinung, wird vor den Massen offenbar. Wenn wir keinen kleinbürger-lichen, opportunistischen Teil der Sozialdemokratie hätten, dann hättenwir eine großartige Gelegenheit, der ganzen Arbeitermasse klarzumachen,warum nur die Sozialdemokratie fähig ist, ehrlich und konsequent ihreInteressen zu verteidigen.

Die Bolschewiki betreiben ihre Agitation auf dieser Grundlage. Die Bol-schewiki verfolgen unbeirrt ihre Linie: in Petersburg wird es eine Listeder Kadetten und eine Liste der Sozialdemokraten geben. Unser Ent-schluß hängt nicht ab von den Schwankungen des Kleinbürgertums: willes unserem Ruf Folge leisten und mit dem Proletariat zusammen gegendie Liberalen gehen, um so besser für das Kleinbürgertum. Will es dasnicht - um so schlimmer für das Kleinbürgertum, wir aber werden aufjeden Tall den sozialdemokratischen Weg gehen.

Die siebente Etappe. Zerfall. Die Kadetten verstricken sich in Verhand-lungen mit den Schwarzhundertern. Die Opportunisten des Kleinbürger-tums verstricken sich in Verhandlungen mit den Kadetten. Die Bolsche-wiki verfolgen unbeirrt ihre Linie.

Die Zeitungen teilen mit: 1. daß Herr Miljukow von Herrn Stolypinin Audienz empfangen wird; 2. daß nach Meldungen ausländischer Zei-tungen die Regierung bereit ist, die Kadettenpartei unter der Bedingung,daß sie keine Blocks mit den Linken eingeht, zu legalisieren.

In die Machenschaften, die die Partei der liberalen Verräter hinter denKulissen betreibt, dringt ein Lichtstrahl. Die Kadetten fürchten sich, dasAngebot der Schwarzhunderter abzulehnen, weil diese mit der Ausein-anderjagung der Duma drohen.

Hier haben wir die wirkliche Ursache dafür, daß die Kadetten in derFrage der Abkommen zum Schrecken der Opportunisten des Kleinbürger-tums plötzlich „steinhart" werden.

Die Kadetten werden bockig. Der gesamten Linken mehr als zweiDumasitze? Um keinen Preis! In jeder Nummer stellt die kadettische„Retsch" mit vollster Deutlichkeit und geradezu schulmeisterlich klar, daß6ie bereit ist, die gemäßigten Sozialisten (zwei von sechs Sitzen) ins

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Sdhlepptau zu nehmen, um gegen die „revolutionären Illusionen" zukämpfen, um die Revolution zu bekämpfen. Mit der Revolution zusam-mengehen aber - niemals!

Die Opportunisten sind verzweifelt. Der Ton der Artikel des „Towa-rischtsch" gegen die „Retsch" wird geradezu hysterisch. Herr Bogu-tscharski, ein Renegat der Sozialdemokratie, dreht sich und wendet sich,redet der „Retsch" ins Gewissen und fordert - zusammen mit anderenSchreibern des „Towarischtsch" - das Blatt auf, sich zu besinnen usw.Wenn noch vor kurzem „Retsch" und „Towarischtsch" gemeinsam dar-über jubelten, daß die Bolschewiki isoliert waren und die gemäßigten So-zialisten sich den Liberalen untergeordnet hatten, so liegen sie sich jetztin den Haaren und beschimpfen einander. Am 7. Januar erfuhr Peters-burg von dem Beschluß der Petersburger sozialdemokratischen Konferenz.Heute ist der 18. Januar, und bis jetzt sind die Kadetten und die Oppor-tunisten zu keinem Entschluß gekommen! Heute ist der Ton der „Retsch"gegenüber dem „Towarischtsch" besonders unversöhnlich, heute ist derTon des „Towarischtsch" in seinen Glossen gegen die „Retsch" besondersscharf und betroffen.

Die Bolschewiki verfolgen unbeirrt ihre Linie. In Petersburg wird esdrei Listen geben. Wo die Kleinbürger stehen werden, ist ihre Sache, dasrevolutionäre Proletariat aber wird auf jeden Fall seine Pflicht erfüllen.

Wie sich die achte Etappe gestalten wird, wissen wir nicht. Das hängtzu guter Letzt von den Verhandlungen, von den Beziehungen zwischenden Kadetten und der Schwarzhunderterregierung ab. Ob sie sich auf derGrundlage einer sofortigen Legalisierung der Kadetten oder auf einer an-dern Grundlage miteinander „versöhnen" - isoliert werden die Kleinbür-ger sein. Werden die Kadetten und die Schwarzhunderter einstweilennicht handelseins, dann werden die Kadetten den Kleinbürgern vielleichtauch drei Sitze geben. Die Sozialdemokratie macht ihre Politik nicht da-von abhängig.

Der Gang der Ereignisse in der Petersburger Wahlkampagne gibt unsein kleines, aber vortreffliches Bild von dem gegenseitigen Verhältnis zwi-schen den Schwarzhundertern, den Kadetten und dem revolutionären Pro-letariat. Und dieser Gang der Ereignisse bestätigt wunderbar die erprobte,alte, unversöhnliche Taktik der revolutionären Sozialdemokratie.

Geradlinige Politik ist die beste Politik. Prinzipielle Politik ist die prak-

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tischste Politik. 3Vur sie vermag der Sozialdemokratie wirklich und auf dieDauer die Sympathien und das Vertrauen der Masse zu verschaffen. Nursie kann die Arbeiterpartei von der Verantwortung für die Verhandlun-gen Stolypins mit Miljukow, Miljukows mit Annenski, Dan oder Tscher-now befreien.

Die Opportunisten der Sozialdemokratie und der „Trudowikiparteien"aber werden diese Verantwortung von nun an jür immer tragen.

Nicht umsonst versuchen die schwankenden Menschewiki, sich zu ret-ten, und dabei bedienen sie sich bereits der Heuchelei. Wir sind entwederfür den Kampf gegen die Schwarzhundertergefahr oder für rein sozial-demokratische Listen, erklären die Sozialdemokraten, die die Konferenzverlassen haben (wenn man den heutigen Zeitungen glauben darf). Einekomische Ausrede, der nur ganz naive Leute Glauben schenken könnten!Es ist erwiesen, daß bei zwei linken Listen in Petersburg keine Schwarz-hundertergefahr besteht, besteht sie aber bei drei Listen? Wollen die Men-schewiki, es etwa darauj ankommen lassen?! Nein, sie klammern sich nuran einen Strohhalm, denn der Gang der Ereignisse hat sie unausweichlichvor die Wahl gestellt: entweder zu den Kadetten überzulaufen und sichder ideologisch-politischen Hegemonie der Kadetten völlig unterzuord-nen, oder den Bolschewiki zu folgen und für die sozialdemokratischenListen einzutreten, auf die auch Trudowiki gesetzt werden.

Solche Listen würden in Petersburg sicherlich sowohl die Schwarzhun-derter als auch die Kadetten besiegen. Und die revolutionäre Sozialdemo-kratie, die sofort die richtige Linie eingeschlagen hat, wird diese Linieunbeirrt verfolgen - ohne Furcht vor zeitweiligen Niederlagen im Falleeines Übergangs der Kleinbürger zu den Liberalen - , sie wird dabei neueKraft und Festigkeit aus den Schwankungen und Wankelmütigkeiten desOpportunismus schöpfen.

In St. Petersburg wird es drei Listen geben: die Liste der Schwarz-hunderter, die Liste der Kadetten und die Liste der Sozialdemokraten.

Bürger, trefft eure Wahl!

„Prostyje Retsdhi" Tir. 2, Nad] dem Jexf der21. Januar 1907. .Prostyje Retsdii".

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V O N STUFE Z U STUFE

Die Wahlen in Petersburg liefern ein wunderbar aufschlußreiches Ma-terial zum praktischen Studium des Charakters der verschiedenen Parteienund der Klassentendenzen bzw. der Klassenbedeutung ihrer Politik.

Die meiste Beachtung in dieser Hinsicht verdienen zwei Tatsachen: dieVerhandlungen der Kadetten mit dem Führer der Schwarzhunderterregie-rung, Stolypin, und die Verhandlungen der kleinbürgerlichen Parteien mitden liberalen Gutsbesitzern, den Kadetten.

über die Verhandlungen der Kadetten mit den Schwarzhundertern wis-sen wir bislang nicht viel: die Audienz Miljukows bei Stolypin - die Ver-suche, die Kadettenpartei um den Preis des Verzichts auf einen Block mitden Linken zu legalisieren. Diese Verhandlungen werden ganz geheimgeführt, und ihre Entlarvung ist eine Sache der Zukunft.

Die anderen Verhandlungen finden bis zu einem gewissen Grade voraller Augen statt. Die Rolle der opportunistischen Sozialdemokraten tritthier besonders deutlich in Erscheinung.

Warum haben sie sich von der Petersburger Sozialdemokratie abge-spalten?

Um ein Abkommen mit den Kadetten zu treffen.Die Kadetten aber lassen sich auf ein Abkommen mit den Menschewiki

allein nicht ein.TAnd siehe da, die Menschewiki bilden einen Block mit allen kleinbür-

gerlichen Parteien, d. b. mit den Sozialrevolutionären, mit den Irudowikiund mit den Volkssozialisten.

Die Opportunisten, die sich von der Sozialdemokratie abgespaltenhaben, gehen zum Kleinbürgertum!

Worin bestehen die Bedingungen dieses Blocks?

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Von Stufe zu Stufe 11

Darin, gemeinsam ein Abkommen mit den Kadetten einzugehen, wo-nach dem Linksblock drei von den sechs Dumasitzen überlassen werden.

Uns ist bekannt, daß der Vertrag der Menschewiki mit den kleinbür-gerlichen Parteien schriftlich geschlossen wurde, zumindest lag eine ge-meinsame Resolution vor. Die neuen Bundesgenossen haben anscheinendnicht die Absicht oder doch keine Eile, sie der Öffentlichkeit zu unter-breiten.

Uns ist ferner bekannt, daß an den Verhandlungen über die Bildungdieses Blocks Qen. Dan teilgenommen hat, obgleid) er hierzu weder vonder Gruppe der Petersburger Sozialdemokraten, die sich abgespaltenhaben (31 Mann), noch von irgendeiner anderen Parteiorganisation be-vollmächtigt war.

Der Verlauf der politischen Ereignisse hat unsere ständige Behauptung,daß die Menschewiki den opportunistischen, kleinbürgerlichen Teil derArbeiterpartei bilden, der sich durch dieselbe Prinzipienlosigkeit und Wan-kelmütigkeit auszeichnet wie das gesamte Kleinbürgertum überhaupt, sogut bestätigt, wie wir es uns besser nicht hätten träumen lassen.

Man überlege sich einmal wirklich, was die Menschewiki fertigbringen!Waren sie es nicht, die vor aller Welt laut beteuerten, daß sie die Klassen-reinheit der Sozialdemokratie vor den Bolschewiki bewahren, die angeb-lich zu den kleinbürgerlichen Sozialrevolutionären neigen?

Jetzt werden sie von den Ereignissen entlarvt. Die Bolschewiki schlagendem Kleinbürgertum offen vor, mit dem Proletariat gegen die liberalenBourgeois zu gehen.

Die Menschewiki lehnen das ab und bilden insgeheim (denn niemandkennt die Bedingungen ihres Blocks, und Gen. Dan war von niemand be-vollmächtigt) einen Block mit allen Kleinbürgern, sogar mit den am wei-testen rechts stehenden (den Volkssozialisten), um im Verein mit ihnendie unter ihrem Einfluß stehenden Arbeiter der Tübrung der liberalen"Bourgeoisie auszuliefern!

Sämtliche kleinbürgerlichen Parteien einschließlich der Menschewiki(nicht umsonst rechnet die „Retsch" sie schon zu dem „oppositionellenBlock", der sich von der Revolution getrennt hat, und bezeichnet die Volks-sozialisten und die Menschewiki als „gemäßigt sozialistische Parteien")ziehen es vor, mit den Liberalen zu schachern, anstatt gemeinsam mit demProletariat zu kämpfen.

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12 WJ. Lenin

Alle klassenbewußten Arbeiter Petersburgs mögen sich gut überlegen,wohin die Menschewiki die Arbeiterpartei führen!

Fragt sich nun, was ist das Ergebnis dieser Verhandlungen des Klein-bürgers mit den Liberalen?

Einstweilen wissen wir aus den heutigen Zeitungen (vom 19. Januar)nur, daß gestern in Petersburg eine Beratung von Vertretern der Sozial-revolutionäre, der Trudowikigruppe, der Volkssozialisten und der Tden-sdhewiki (d. h. des gesamten neuen kleinbürgerlichen Blocks) mit denKadetten stattgefunden hat. Laut dieser Meldung haben es die Kadettenentschieden abgelehnt, dem „Linksblock" drei Dumasitze zu geben. Der„Linksblock" aber hat es abgelehnt, zwei Sitze anzunehmen.

Die „Retsch" bemerkt dazu: „Die Vertreter der bolschewistischen So-zialdemokraten waren zur Konferenz nicht erschienen." Jawohl, wirgehen nicht hin, um gemeinsam mit Kleinbürgern die Arbeiterpartei andie Liberalen zu verraten!

Was wird weiter sein? Das weiß man nicht. Der Schacher des kleinbür-gerlichen Blocks mit den Kadetten wird wahrscheinlich noch fortgesetztwerden.

In der Partei der Sozialrevolutionäre gibt es jedoch, wie berichtet wird,ein Arbeiterkomitee, das Blocks mit den Kadetten entschieden verurteilt.Was an dieser Mitteilung Wahres ist, wissen wir nicht, denn die Sozial-revolutionäre verbeimlidhen der öfjentlidikeit vorsälzlidh sowohl die Be-dingungen ihres Blocks mit den Volkssozialisten (niemand weiß auch nur,wann und von wem dieser Block gebildet worden ist!) als auch die Strö-mungen innerhalb ihrer eigenen Partei in der Frage von Blocks mit denKadetten.

Heute (am 19. Januar) teilt die „Retsch" einen Beschluß des Peters-burger Komitees der Sozialrevolutionäre mit, der die Gerüchte bestätigt,daß der proletarische Teil der Partei der Sozialrevolutionäre nicht fürBlocks mit den Kadetten ist. Die Meldung der „Retsch" lautet:

„Das Petersburger Komitee der Partei der Sozialrevolutionäre, das einAbkommen (welches? wann? zu welchen Bedingungen?) mit der Trudo-wikigruppe und der Gruppe der Volkssozialisten geschlossen hat, hat denBeschluß gefaßt, an die Fraktionen der Sozialdemokratischen Partei -Bolschewiki und Menschewiki - mit dem Vorschlag heranzutreten, einAbkommen der sozialistischen (?) Gruppen zur zweckmäßigsten Durch-

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Von Stufe zu Stufe 13

führung der Kampagne vor (?) den Wahlen zu schließen, wobei, falls esnicht zu einem Abkommen mit beiden Fraktionen kommt, doch ein Ab-kommen mit der Fraktion der Bolschewiki getroffen werden soll. Im Falleder Schaffung eines gesamtsozialistischen Abkommens müssen sich dieVertreter der Sozialrevolutionäre einsetzen (?!?) für die Unzulässigkeiteines Abkommens mit den Kadetten und für das selbständige Auftretendes sozialistischen Blocks.

Wenn jedoch die Mehrheit der Gruppen (?) nicht ein selbständigesAuftreten, sondern ein technisches (!?) Abkommen mit den Kadettenfür zweckmäßiger erachtet, so fügt sich (!) das Petersburger Komiteeder Partei der Sozialrevolutionäre dem Beschluß der Mehrheit (einerMehrheit anderer Parteien!), macht es aber zur unerläßlichen Bedin-gung eines solchen Abkommens, daß in diesem Fall alle Sitze, die auf diesozialistischen Gruppen entfallen, ausschließlich der Arbeiterlcurie über-lassen werden."

Man kann eine Prämie von 1 Million Rubel für denjenigen aussetzen,der etwas von diesem Kauderwelsch versteht! Sich für die Vnzulässig-keit von Abkommen mit den Kadetten einsetzen und - vorher einenBlock mit den Volkssozialisten eingehen, die geschlossen hinter den Kadet-ten stehen! Von den Kadetten drei Sitze aussdbließHd) für die Arbeiter-kurie verlangen und gleichzeitig zu einer „Konferenz" mit den Kadettengehen, zusammen mit den Volkssozialisten und den Trudowiki, die solcheBedingungen nidht stellen 1 Sich mit seiner Selbständigkeit als Partei, zumUnterschied von „Gruppen", brüsten und sich gleichzeitig der „Mehr-heit", d. h. drei Gruppen (Trudowiki, Volkssozialisten, Menschewiki),unterordnenl Weiser ödipus, löse du das Rätsel!

Und die proletarischen Bevollmächtigten der Sozialrevolutionäre (Mos-kauer Bezirk) billigen einen derartigen kleinbürgerlichen Kleister, der denVerrat ihrer Interessen an die Liberalen verdeckt! Aber diese Arbeiterbringen weiter „ihre tiefe Entrüstung zum Ausdruck über die Quertreibe-reien der menschewistischen Fraktion der Sozialdemokratie gegenüberden übrigen sozialistischen Gruppen und Parteien".

O naive Sozialrevolutionäre Proletarier!Warum entrüstet ihr euch über die Menschewiki und entrüstet euch

nidht über das Petersburger Komitee der Partei der Sozialrevolutionäre?

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14 •W.lCenin

Die einen wie die andern zerren euch gleichermaßen unter die Fitticheder Liberalen.

Es ist klar, was hinter diesen Zwistigkeiten im kleinbürgerlichen Blocksteckt! Es droht der Bruch mit den Kadetten. T>ie Volkssozialisten und dieMenschewiki dürften wohl geneigt sein, zwei Sitze von den Kadetten fürsidh zu nehmen und den übrigen Teil des Kleinbürgertums ebenso zuverraten, wie die Menschewiki das Proletariat verraten haben!

Da liegt der Hund begraben!Von Stufe zu Stufe. Die Arbeiterpartei verraten und zum kleinbürger-

lichen Block übergehen. Den kleinbürgerlichen demokratischen Block ver-raten und zu den Kadetten übergehen. Viel Glück auf den Weg!

Miljukow aber unterhält sich bei der Audienz mitStolypin: „Ew. Exzel-lenz geruhen zu sehen, ich habe die Revolution gespalten und die Gemä-ßigten von ihr losgerissen! Ein kleines Trinkgeld von Ew. Gnaden . . . "Stolypin: „Tja, ich werde um Ihre Legalisierung einkommen. Wissen Sie,Pawel Nikolajewitsch, zersplittern Sie das Arbeitergesindel mit Schmei-cheleien, ich aber werde mit dem Knüppel dreinfahren. So werden wirdann also von beiden Seiten . . . Abgemacht, Pawel Nikolajewitsch!"

Qesdhrieben am 19. Januar(i. februar) 1907.

Veröfientlidht am 15. Januar 1907 Nadh dem Jext des .Troletari".im .Proletari" SVr. 4Z

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DER PROTEST DER 31 MENSCHEWIKI

Wir erhalten eben die gedruckte Flugschrift „Warum waren wir genö-tigt, die Konferenz zu verlassen? (Erklärung von 31 Konferenzteilneh-mern an das ZK)".

über die grundsätzliche Seite der Sache sagen die Menschewiki hierkein einziges Wort! Der Übergang von der Arbeiterpartei zum kleinbür-gerlichen Block (Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Trudowiki und Volks-sozialisten) und von dort zu den Kadetten, alles das soll also dem Prole-tariat gleichgültig sein, über das Wesen der Sache wünschen sich die Pro-testler nicht zu äußern, sie stehen nur auf formalem Boden.

Sehen wir uns ihre formalen Argumente an. Es sind ihrer drei: 1. DieGeschichte des Petersburger Komitees und seine undemokratische Orga-nisation. 2. Die unrichtige Mandatsbestätigung durch die Konferenz.3. Die Weigerung der Konferenz, sich in eine Stadtkonferenz und eineGouvernementskonferenz zu teilen.

Zum ersten Argument fragen wir: Was hat das Petersburger Komiteedamit zu tun? Zur Konferenz fanden doch gesonderte Wahlen statt?

Was die Menschewiki über die Geschichte des Petersburger Komiteesund seine angeblich undemokratische Organisation sagen, ist der Sachenach eine himmeUdbreiendelAnwahrbeit. Man muß es geradezu alsKurio-sum vermerken, daß z. B. der Lettische Bezirk (über dessen Aufnahme dieMenschewiki sich beschweren) nodh vor dem Vereinigungsparteitag auf-genommen wurde, d. h. zu einer Zeit, da sich das Petersburger Komiteezu gleichen Teilen aus Bolschewiki und Menschewiki zusammensetzte.Folglich haben die Menschewiki selbst aus freien Stücken vor mehr alseinem halben Jahr die Aufnahme der Letten als zu Recht erfolgt aner-

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kannt! Oder weiter: Die Menschewiki beschweren sich, daß das Peters-burger Komitee die Kooptation einer gewissen Anzahl von Mitgliedernzugelassen hat. Nun hatten es doch, wie sie hinzuzufügen vergessen, dieTAensdoewiki selbst durchgesetzt, daß eine solche Kooptation für zulässigerklärt wurde! Nach diesen Beispielen kann man darüber urteilen, wiegerechtfertigt die verspätete Kritik an der Zusammensetzung des Peters-burger Komitees ist.

Das zweite Argument. Die Konferenz, man denke doch, ist bei derMandatsprüfung nicht richtig vorgegangen. Die Menschewiki sind nichtgewillt, die Stimmen der Handelsangestellten anzuerkennen, und bezeich-nen selbst folgendes Stimmenverhältnis als allein richtig: Bolschewiki1560 Stimmen plus 180 Stimmen für die Plattform des revolutionärenBlocks, insgesamt 1740 Stimmen; Menschewiki 1589 Stimmen. Oder aufMandate umgerechnet, wobei auch die Reststimmen mitgezählt werden:Bolschewiki 35, Menschewiki 32 Mandate (siehe S. 8 der menschewisti-schen Flugschrift).

Es bleibt uns nur übrig zu betonen, daß die Bolschewiki audh naöi derMeinung unserer gestrengen Kritiker auf der Konferenz das Hbergewidhthatten und haben mußten!

Genossen, es ist doch jedermann bekannt, daß die „Dissidenten"(Plattform des revolutionären Blocks) ebenfalls Bolsehewiki sind. Und daihr anerkennt, daß die Bolschewiki, sogar wenn es Sache der Menschewikigewesen wäre, die Mandate zu bestätigen, 35 gegen 32 Mandate derMenschewiki gehabt hätten, wozu dann der ganze Lärm?

Ihr seid selbst genötigt zuzugeben, daß die Petersburger Sozialdemo-kratie eine bolschewistische Sozialdemokratie ist.

Sehen wir uns aber noch an, wie die Menschewiki die Prüfung derMandate durch die Konferenz kritisieren.

Die Angestelltenstimmen wollen sie überhaupt nicht zählen. Warum?„Unter dem Vorwand, es sei unmöglich, Versammlungen einzuberufen",lesen wir in der Flugschrift, „erhielt das führende Kollektiv der Handels-angestellten, nachdem es versucht hatte, seine Mitglieder zu befragen, unddabei insgesamt ungefähr 100 Stimmen gezählt hatte, von dem Peters-burger Komitee das Recht, 5 Vertreter zu wählen, wobei aus unbekann-ten Gründen bei insgesamt 313 organisierten Angestellten je ein Mandatauf 60 Mitglieder gerechnet wurde . . . " (S. 4.)

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Der Protest der 3i Menschewiki 17

Jedermann weiß, daß es schwierig ist, eine Versammlung der Handels-angestellten zu organisieren. Was für ein Grund besteht dann, von einem„Vorwand" zu reden? Was für ein Grund besteht, 313 organisierte Han-delsangestellte (d. h. Parteimitglieder) überhaupt zu negieren? Müßt ihrnicht selbst zugeben, daß man versucht bat, die Mitglieder zu befragen,d. h., daß das Kollektiv Maßnahmen getroffen hat, um allen Parteimit-gliedern eine Stellungnahme zu ermöglichen?

Dadurch aber, daß das Petersburger Komitee die Norm von 50 auf 60erhöhte, hat es bereits selbst den nicht völlig demokratischen Charakterdes Vertretungsmodus zugegeben.

Der Moskauer Bezirk. Die Menschewiki zählen unter den Stimmen,die angefochten wurden, 185 bolschewistische Stimmen. Dabei schreibendie Verfasser der Flugschrift doch selbst in der Rubrik „Motive der An-fechtung der Wahlen" buchstäblich folgendes.- „"Bedingt angefochten, fürden 7all, daß ähnliche Wahlen in einem andern Bezirk von den Bolsdhe-wiki nicht bestätigt werden."

Gut, nicht wahr? Die Menschewiki haben die bolschewistischen Man-date bedingt angefochten, auf jeden Fall!! Zusammenfassend erklären sieselbst, daß „die Zahl der Stimmen, die wirklich nicht bestätigt werdendurften", bei den Bolschewiki nicht 300, sondern - 115 betrug, das heißt,sie geben selbst zu, daß 185 Stimmen bestätigt werden mußten l

Also „bedingte" Anfechtung von Stimmen, die in Wirklichkeit zu be-stätigen waren - das sind die Methoden der Menschewiki!

Und diese Leute erlauben sich noch, davon zu reden, daß der Ver-tretungsmodus auf der Konferenz nicht richtig war . . .

Die Zahl der unstrittigen Stimmen beträgt selbst nach Meinung derMenschewiki bei den Bolschewiki 1376, bei den Menschewiki 795. Alsosogar bei Anwendung der unvergleichlich originellen Methode „bedingterAnfechtung" konntet ihr, liebwerte Genossen, die große Mehrzahl derbolschewistischen Stimmen nicht anfechten!

Unter den 789 menschewistischen Stimmen, die (laut Angaben derFlugschrift) von den Bolschewiki angefochten wurden, sind die 234 Stim-men aus dem Wiborger Bezirk besonders zu beachten. In der Rubrik„Motive der Anfechtung" lesen wir: „Wahlen nicht nach Plattformen,wenn auch debattiert worden war." Die Debatten beweisen nicht im ge-ringsten, daß die an der Abstimmung Beteiligten selbst sich für Blocks

2 Lenin, Werke, Bd. 12

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mit den Kadetten aussprachen, folglich hat die Konferenz es mit Rechtabgelehnt, den Anhängern von Blocks mit den Kadetten soldhe Stimmenzuzurechnen, die nicht direkt und unzweideutig dafür abgegeben waren.Für diese 234 Stimmen hat die Konferenz die Vertretungsnorm erhöht.

Ferner haben die Bolschewiki 370 Stimmen des Französisch-RussischenUnterbezirks (Stadtbezirk) angefochten. In der Rubrik „Motive der An-fechtung" lesen wir: „Ohne Plattform 100, der Rest aber (270) auf Grundvon zweistufigen Wahlen nach Debatten."

Man sieht: hinweg mit den Stimmen der Handelsangestellten, unge-achtet des „Versuchs einer Befragung". Von den Stimmen der Mensche-wiki aber müssen ausnahmslos alle anerkannt werden, obgleich die Wah-len zweistufig waren und sich in Wirklichkeit durch nichts von dem Ver-fahren unterscheiden, nach dem die Angestellten ihre Vertreter entsandthaben! Nein, Genossen Menschewiki, schlecht verteidigt ihr die mensche-wistischen Mandate!

über die Teilung der Konferenz sagen die Menschewiki ganz kurz:„Obgleich dieser Vorschlag durchaus rationell w a r . . . " , wurde er vonder Konferenz abgelehnt (S. 5). Auf der folgenden Seite aber wird dasGeheimnis dieser „Rationalität" indiskret gelüftet: „Innerhalb der eigent-lichen Stadtgrenzen gehörte die gewaltige Mehrheit (?!) den Mensche-wiki" (wenn man die Stimmen auf menschewistische Art zählt, d. h.,wenn man die Stimmen aller Handelsangestellten hinauswirft, alle Stim-men des Französisch-Russischen Unterbezirks und des Wiborger Bezirksaber mitzählt!).

Darum geht es! Es war rationell, zu teilen, um ein menschewistischesÜbergewicht zusammenzuschieben. Ganz einfache Sache. Warum aberhabt ihr vergessen, Genossen, zu erzählen, wie man „rationellerweise"z. B. den Eisenbahner-Bezirk teilen könnte? oder weshalb das ZK nichtden rationellen Vorschlag gemacht hat, die Wilnaer, die Odessaer Kon-ferenz usw. zu teilen??

Die formalen Proteste der Menschewiki sind eine leere, unernste Nör-gelei. Ernst ist ihr Entschluß, zu den Kadetten hinüberzuwechseln. Dar-über aber bewahren die 31 Protestler völliges Stillschweigen.

.Proletari" 7Jr. 12, 'Naä] dem 7ext des .Proletari"'25. Januar 1907.

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D I E W A H L E N I N P E T E R S B U R G

U N D D I E H E U C H E L E I D E R 31 M E N S C H E W I K I 1 0

Die Zeitung „Towarischtsch" veröffentlicht heute (am 20. Januar) um-fangreiche Auszüge aus dem Aufruf der 31 Menschewiki, die sich amVorabend der Wahlen in St. Petersburg von der sozialistischen Organi-sation abgespalten haben.

Erinnern wir zunächst mit ein paar Worten an die faktische Geschichteder Machenschaften, die sich die von der Sozialdemokratie abgespaltenenMenschewiki nach dem Verlassen der Konferenz geleistet haben.

1. Nachdem sie sich von den sozialdemokratischen Arbeitern abgespal-ten hatten, bildeten sie einen Blodk mit dem Kleinbürgertum (Sozialrevo-lutionären, Trudowiki und Volkssozialisten) zu gemeinsamem Mandats-schacher mit den Kadetten. Den schriftlichen Vertrag über diesen Eintrittder abgespaltenen Sozialdemokraten in den kleinbürgerlichen Block ver-beimlidhten sie vor den Arbeitern und vor der Öffentlichkeit.

Wir geben indessen die Hoffnung nicht auf, daß dieser Vertrag dochnoch veröffentlicht wird und daß das Verborgene offenbar wird.

2. Als Bestandteil des kleinbürgerlichen Blocks (der in den Zeitungenfälschlich als „Linksblock" bezeichnet wird) haben die abgespaltenenMenschewiki mit den Kadetten darum gefeilscht, daß diesem Block dreivon sechs Dumasitzen überlassen werden. Die Kadetten wollten zweiSitze geben. Man wurde nicht handelseins. Die kleinbürgerliche „Kon-ferenz" (der Ausdruck stammt nicht von uns, sondern aus den Zeitun-gen) mit den Kadetten tagte am IS. Januar. Über diese Tagung habendie „Retsch" und der „Towarischtsch" berichtet. Die „Retsch" erklärtheute, das Abkommen sei nicht zustande gekommen (wenn wir auchnatürlich darauf gefaßt sein müssen, daß hinter verschlossenen Türentrotzdem noch Verhandlungen stattfinden).

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20 W.l Centn

Die Menschewiki berichten einstweilen in der Presse nichts über dieseihre „Aktion" zum Verkauf von Arbeiterstimmen an die Kadetten.

Sie werden wahrscheinlich vor dem kleinbürgerlichen Block, von demsie während der Verhandlungen einen Teil bildeten, und nicht vor derArbeiterpartei Rechenschaft ablegen!

Sie wollen wahrscheinlich nichts darüber erzählen, weshalb Qen. Danan den Verhandlungen teilgenommen hat, obwohl er weder von derGruppe der 31 noch von irgendeiner anderen Parteiorganisation dazubevollmächtigt war.

Das sind die Juten der 31 Menschewiki.Wie aber steht es mit ihren Worten!Ihr erstes Argument besagt, daß die Bolschewiki, die das Vorhanden-

sein einer Schwarzhundertergefahr in St. Petersburg bestritten, kein Rechthätten, für ein Abkommen mit den Sozialrevolutionären und den Trudo-wiki einzutreten, da das angeblich die Beschlüsse der GesamtrussischenKonferenz verletze, die, wenn keine Schwarzhundertergefahr drohe, einselbständiges Auftreten der Sozialdemokraten verlangten.

Diese ganze Argumentation ist eine einzige Unwahrheit.Die 31 abgespaltenen Menschewiki betrügen die Leserschaft. Xeme

einzige Parteistelle hat jemals Abkommen mit den Sozialrevolutionärenund Trudowiki, falls eine Schwarzhundertergefahr nicht vorhanden ist,förmlich verboten. Ein solches Abkommen besteht z. B. in Moskau, unddas ZK hat keinen Widerspruch dagegen erhoben.

Nicht genug damit. Wie sehr die 31 Menschewiki die Wahrheit ent-stellen, wenn sie sich auf den Beschluß der Gesamtrussischen sozialdemo-kratischen Konferenz berufen, ist aus folgendem ersichtlich. Jedermannweiß, daß die Beschlüsse dieser (beratenden) Konferenz von den Men-schewiki und den Bundisten gegen die Stimmen der Bolschewiki, derPolen und der Letten angenommen wurden. Und nun haben diese selbenBundisten, die den Beschluß der Gesamtrussischen sozialdemokratischenKonferenz durchgesetzt haben, offiziell erklärt, daß sie Blocks mit denSozialrevolutionären und der revolutionären Demokratie schlechthin dannfür zulässig erachten, wenn keine Schwarzhundertergefahr, dafür abereine "Kadettengejahr besteht. Darüber liegt ein Besdbluß des ZK des„Bund" vor, der von niemand angefochten wurde. Darüber wurde auchin dem rassischen Organ des „Bund", „Nascha Tribuna" [Unsere Tri-

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Die 'Wahlen in Petersburg und die "Heuchelei der 31 Menschewiki 21

büne], berichtet, und alle russischen Sozialdemokraten, die lesen undschreiben können, wissen davon.

Die 31 Menschewiki betrügen die Arbeiter und die gesamte Leser-schaft.

Wir haben weiter auseinandergesetzt, daß die Gesamtrussische sozial-demokratische Konferenz dem ZK anheimgestellt hat, überall und aller-wärts NichtSozialdemokraten aus den sozialdemokratischen Listen auszu-schließen, d. h. zu verlangen, daß die Sozialdemokraten unbedingt selb-ständig auftreten. Noch nirgends hat das ZK von diesem seinem RechtGebrauch gemacht, und damit hat es faktisch die Autonomie des „Bund""und aller übrigen Organisationen der SDAPR anerkannt.

Ferner. Die 31 Menschewiki sind unzufrieden damit, daß die Kon-ferenz die Volkssozialisten (V. S. oder Sozialvolkstümler) von dem Blockmit den Trudowiki ausgeschlossen hat. Die 31 Menschewiki schreiben:„Jedermann weiß, daß diese drei Parteien" (Sozialrevolutionäre, Volks-sozialisten und Trudowiki - die letzteren bilden überhaupt keine Partei)„in St. Petersburg schon längst einen engen Block miteinander geschlossenhaben und gemeinsam handeln."

Wiederum unwahr. Erstens wurde nirgends und niemals offiziell er-klärt, daß dieser Block gebildet worden ist und daß seine Bedingungenihn wirklich zu einem „engen" Block machen. Es gab bisher nur ganz un-bestimmte Zeitungsnotizen, auf die man sich in ernsten Fragen des offi-ziellen Verkehrs zwischen Parteien nicht stützen kann. Zweitens, daßder Block der drei Trudowikiparteien und -gruppen nicht besonders „eng"war, wird dadurdi bewiesen, daß die Sozialrevolutionäre und das Komiteeder Trudowikigruppe, an die sich die sozialdemokratische Konferenz ge-wandt hat, die Verhandlungen mit dieser ohne die Volkssozialisten be-gonnen haben. Man kann einen Block nicht als engen Block bezeichnen,wenn er einen Teil der Blockpartner nicht daran hindert, unabhängig vondem andern Teil Verhandlungen zu führen. "Bislang ist eine offizielleAntwort der Sozialrevolutionäre, die von uns verlangt hätte, das Abkom-men auch, auf die Volkssozialisten auszudehnen, noch nicht erfolgt. Drit-tens wird auf derselben Seite des „Towarischtsch", auf der die Mitteilungder 31 Menschewiki nachgedruckt wird, „die Resolution des PetersburgerKomitees der Partei der Sozialrevolutionäre vom 16. Januar" veröffent-licht. In einer Anmerkung zu dieser Resolution heißt es: .Ein Rücktritt

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22 IV.1 Centn

der Qruppe der Volkssozialisten von diesem Abkommen (nämlich demAbkommen der Sozialrevolutionäre, der Trudowiki und der Volkssozia-listen) bebt das Abkommen nicht auj. Vier Rücktritt einer andern sozia-listischen Qruppe oder Partei aber'bebt das Abkommen auf."

Die Tatsachen haben also bewiesen, daß die 31 Menschewiki die "Un-wahrheit gesprochen haben, als sie den Trudowikiblock als eng bezeich-neten.

Die Konferenz der Petersburger Sozialdemokratie tat recht daran, dieVolkssozialisten abzusondern. Sie tat recht daran, erstens grundsätzlich,denn es unterliegt keinem Zweifel, daß die Volkssozialisten die rechteste,die unzuverlässigste Trudowikipartei sind, die den Kadetten am nächstensteht. Zweitens tat sie recht daran auch in praktisch-politischer Beziehung,denn sie hat die Trennungslinie zwischen den Trudowikiparteien, die imVerlauf der politischen Kampagne unweigerlich in Erscheinung tretenmußte, richtig gezogen. Jetzt ist es schon allen und jedem klar, daß dieSozialrevolutionäre, und nicht die Sozialdemokraten, die volle Verant-wortung für die unzuverlässigen Trudowiki tragen würden, wenn dieTrudowiki uns trotz allem die Volkssozialisten aufzwängen (es wärenatürlich lächerlich, sich vor der Aufnahme der Volkssozialisten in denTrudowikiblock zu fürchten, wenn dies zum Sieg über die Kadetten inPetersburg führen könnte). Die Arbeiterpartei hat dafür gesorgt, daß alleArbeiter, ja alle Staatsbürger den wirklichen Unterschied zwischen denzuverlässigeren und den weniger zuverlässigen Trudowiki kennenlernen,sie hat dafür gesorgt, daß die Verantwortung für die schlechten Trudo-wiki den Sozialrevolutionären, und nicht der Partei des Proletariats,zufällt.

Welcher Schluß ergibt sich aus diesen Vorfällen mit den Volkssozia-listen?

Der Schluß, daß die Menschewiki prinzipienhs handelten, als sieeinem kleinbürgerlichen Block beitraten, ohne irgendeinen Unterschiedzu machen und ohne imstande zu sein, das zu tun, was die Pflicht vonSozialdemokraten in der Wahlkampagne ist, nämlich die Massen zu leh-ren, die Parteien streng und richtig voneinander zu unterscheiden. DieMenschewiki haben sich beeilt, sich mit den Volkssozialisten, d. h. miteiner halbkadettischen Gruppe, in einem kleinbürgerlichen Block zusam-menzusetzen!

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Die Wahlen in Petersburg und die Jleudjelei der 3i JWensdhewiki 23

Die Bolschewiki haben grundsätzlich konsequent gehandelt. Sie be-gannen damit, durch eine offene Resolution, die überall im Namen eineroffiziellen sozialdemokratischen Parteistelle veröffentlicht wurde, alleund jeden davon in "Kenntnis zu setzen, daß die Volkssozialisten eine un-zuverlässige Partei sind. Und jetzt haben die Bolschewiki erreicht, daß dierevolutionärsten der Trudowiki (nämlich die Sozialrevolutionäre) selbsterklärten, die Volkssozialisten könnten aus dem Trudowikiblock aus-treten, ohne daß dieser damit zu bestehen aufhöre!

Die Bolschewiki haben erreicht, daß sich die revolutionären Trudowikivon den opportunistischen Trudowiki getrennt haben. Die Menschewikiihrerseits stecken bis zum Halse im opportunistischen kleinbürgerlichenBlock.

Die Bolschewiki haben die Trudowiki offen und für jedermann ver-nehmlich zum gemeinsamen Kampf gegen die Kadetten aufgerufen undschon jetzt unbestreitbare politische Erfolge erzielt, ohne noch irgend-einen Block mit irgend jemand gebildet zu haben. Die Menschewiki sindhinter dem Rücken der Arbeiter und prinzipienlos in einen kleinbürger-lichen Block eingestiegen, um mit den Kadetten zu schachern.

Die Arbeiter können danach beurteilen, wohin die Menschewiki siein Wirklidhkeit führen.

Das dritte und letzte Argument der 31 Menschewiki ist, daß ein Ab-kommen der Sozialdemokraten mit den Trudowiki in Petersburg dieSchwarzhundertergefahr nicht verringere, sondern vergrößere. DieseBehauptung ist so unsinnig oder so heuchlerisch, daß wir die Beweis-führung der Menschewiki ungekürzt wiedergeben wollen:

„Eine gemeinsame Liste der Sozialdemokraten und der Volkstümler wirdpopulär genug sein, den Kadetten viele Stimmen zu entreißen, sie wird jedochnicht dazu ausreichen, in ganz Petersburg einen Sieg zu erringen - sie wirdbesonders dann nicht ausreichen, wenn die Schuld an dem Nichtzustandekom-men eines Abkommens aller revolutionären und oppositionellen Parteien inden Augen der Wählermassen die Sozialdemokraten und ihre Verbündetentrifft. In diesem Fall aber wird die Tatsache, daß den Kadetten in verstärktemMaße Stimmen entrissen werden, ganz den vereinigten Schwarzhunderternzugute kommen, die sowohl die Kadettenliste als auch die linke Liste schlagenwerden."

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Diese ganze Betrachtung ist eine einzige Heuchelei, die den Mandats-schacher der Menschewiki mit den Kadetten verschleiern soll.

In der Tat, man überlege sich nur einmal, was die Menschewiki sagen:ein Abkommen der Sozialdemokraten mit den Trudowiki vergrößere dieSchwarzhundertergefahr, denn es entreiße den Kadetten viele Stimmen!Sehr gut, verehrteste Genossen! Wann aber droht nach eurer Meinungein Sieg der Schwarzhunderter mehr - dann, wenn sich die Nichtschwarz-hunderterstimmen auf zwei Listen verteilen, oder dann, wenn sie sichauf drei Listen verteilen? Nehmen wir an, die Schwarzen erhielten1000 Stimmen, alle übrigen 2100. In welchem Falle droht ein Sieg derSchwarzen mehr: dann, wenn die 2100 Stimmen sich auf zwei Listen ver-teilen, oder dann, wenn sie sich auf drei Listen verteilen?

Um diese verzwickte Aufgabe lösen zu können, mögen sich die 31 Men-schewiki an einen Schüler der ersten Gymnasialklasse um Hilfe wenden.

Wir aber werden weitergehen. Es ist noch nicht alles, daß die 31 Men-schewiki offensichtlichen Unsinn reden, wenn sie so tun, als ob sie nichtverständen, daß im Falle eines Abkommens der Sozialdemokraten mitden Trudowiki in Petersburg insgesamt zwei, falls jedoch ein Abkommennicht zustande kommt, drei Antischwarzhunderterlisten vorhanden seinwerden. Das ist noch nicht alles.

Die 31 Menschewiki zeichnen sich außerdem durch eine solche Un-kenntnis der Geschichte der ersten Wahlen aus, daß ihnen sogar dasVerhältnis der schwarzen und der kadettischen Stimmen bei den Wahlenzur ersten Duma in Petersburg unbekannt ist. Nicht umsonst haben wirdas Beispiel genommen: 1000 Stimmen für die Schwarzen, 2100 für alleübrigen Listen. Dies Beispiel war typisdh für neun von den zwölf Peters-burger Wahlbezirken bei den Wahlen zur ersten Duma!

In neun Wahlbezirken, die zusammen 114 von insgesamt 160 Wahl-männern stellen, beläuft sich die geringste Stimmenzahl, die für die Ka-detten abgegeben wurde, auf mehr als das Doppelte der höchsten Stim-menzahl, die für die Schwarzen oder für den sogenannten Rechtsblockabgegeben wurde.

Was bedeutet das?Es bedeutet, daß in Petersburg bei Aufstellung von zwei „linken"

(d. h. Nichtschwarzhunderter-) Listen keine irgendwie denkbare Zersplit-terung der linken Stimmen den Schwarzen zum Sieg verhelfen kann.

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Die Wahlen in Petersburg und die Heuchelei der 31 Menschewiki 25

Da die 31 Menschewiki offenbar in den ersten Anfängen des Rechnensnicht sattelfest sind, wollen wir es ihnen erklären: Mögen sie einmal ver-suchen, die 2100 Stimmen so in zwei Teile zu teilen, daß 1000 schwarzeStimmen sowohl den einen als auch den andern dieser beiden Teileschlagen könnten.

Mögen sich die Menschewiki über dieser Aufgabe den Kopf ebensozerbrechen wie darüber, ob die Aufstellung von drei statt von zweiListen die Schwarzhundertergefahr vergrößert oder verringert.

Anzunehmen, daß die Schwarzen in diesem Jahr bei den Wahlen inPetersburg stärker sein werden als im vorigen Jahr, dazu ist nicht dergeringste Grund vorhanden. Nicht ein einziger nüchtern denkender Poli-tiker wird das zu behaupten wagen. Jedermann sieht, daß die Schwarzensich nach Enthüllung der Lidwaliade, nach der Ermordung Herzen-steins11 usw. mit Schimpf und Schande bedeckt haben. Jedermann weiß,daß jetzt von allen Ecken und Enden Rußlands Nachrichten über Wahl-siege der Linken eintreffen.

Unter solchen Umständen ist das Gezeter von Schwarzhunderterge-fahr entweder glatte Unwissenheit oder "Heuchelei. Heucheln aber müs-sen diejenigen, die ihre wahren Ziele verbergen und hinterrücks handeln.Die Menschewiki erheben deshalb ein Gezeter von Schwarzhunderter-gefahr, weil sie die Aufmerksamkeit der Arbeiter von den Winkelzügenablenken wollen, die sie machen oder gestern machten, als sie in denkleinbürgerlichen "Block eintraten und mit den Kadetten feilschten.

Bei zwei linken Wahllisten kann keine wie immer geartete Stimmen-verteilung in Petersburg den Schwarzen zum Siege verhelfen, wenn nichtdie Stimmenzahl der Schwarzen gegenüber den vorigen Wahlen zunimmt- alle Anzeichen aber deuten nicht auf eine Zunahme, sondern auf eineAbnahme ihrer Stimmenzahl hin.

Die Menschewiki sind also nicht deshalb in den kleinbürgerlichen Blockeingetreten und haben nicht deswegen mit den Kadetten geschachert, umgegen die Schwarzhundertergefahr zu kämpfen - das ist eine kindischeErfindung, mit der man nur einen ganz unwissenden oder ganz dummenMenschen betrügen kann.

Die Menschewiki haben mit den Kadetten gefeilscht, um mit Hilfe derKadetten gegen den Willen der Arbeiter einen der ihren in die Duma zu

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26 W.l£enin

sdhmuggeln - das ist die einfache Lösung des Rätsels aller dieser Wan-derungen von den Sozialdemokraten zum kleinbürgerlichen Block undvom kleinbürgerlichen Block zu den Kadetten.

Nur ganz naive Leute sind außerstande zu sehen, was hinter diesermenschewistischen Handlungsweise steckt und was durch das Gezeter vonSchwarzhundertergefahr verschleiert werden soll.

Eben deshalb setzten sich die Menschewiki, nachdem sie in den klein-bürgerlichen Block eingetreten waren, für drei Dumasitze ein, denn siewollen auf jeden Fall ein Dumasitzchen für sid) erhalten. Wenn die Ka-detten nur zwei Sitze gäben, wäre es möglich, daß die Menschewiki nichteinen einzigen erhielten. Einen dieser Sitze wollten die Kadetten direktden Volkstümlern (den Volkssozialisten) geben, den andern aber wagtensie nicht der Arbeiterkurie wegzunehmen. Wer aber in der Arbeiterkuriesiegen wird, ist noch ungewiß.

Das ist es, weshalb die Menschewiki der Öffentlichkeit verheimlichtensowohl, auf Grund welcher Vollmacht Gen. Dan gehandelt hat, als auchworin die Bedingungen ihres Eintritts in den kleinbürgerlichen Block be-standen und was der genaue Inhalt der Debatten auf der „Konferenz"des kleinbürgerlichen Blocks mit den Kadetten war usw. usw. Nach einersolchen Handlungsweise der Menschewiki wissen wir noch heute nichtund können wir nicht wissen, wohin sie nach einer Absage der Kadettengehen werden. Werden sich die Volkssozialisten mit den Menschewikivereinigen, um bei den Kadetten zwei Sitzdien auf Kosten der Arbeiter-kurie zu erbetteln (von der Möglichkeit eines solchen Entschlusses sprachein Leitartikel der „Retsch")? Oder werden sie sich für selbständige so-zialdemokratische Listen entscheiden, d. h. für die Aufstellung von dreilinken Listen in Petersburg an Stelle von zwei? Oder werden sie nachihrem mißglückten Spaziergang in die gute Stube der Kleinbürger und indas Vorzimmer der Kadetten zur Sozialdemokratischen Arbeiterparteiund ihrem Beschluß zurückkehren?

Wenn sich die Menschewiki wirklich von der Furcht vor einer Schwarz-hundertergefahr leiten ließen, und nicht von dem leidenschaftlichenWunsch, ein Sitzchen von den Kadetten zu erhalten, hätten sie sido dannwegen der Zahl der Sitze mit den Kadetten entzweien können'}

Wenn ein Sozialist wirklich an eine Schwarzhundertergefahr glaubtund ehrlich gegen sie ankämpft, dann gibt er seine Stimme dem Libera-

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Die Wahlen in Petersburg und die Heuchelei der 3i Tdensdhewiki 17

len, ohne zu feilschen, und bricht die Verhandlungen nicht deshalb ab, weilman ihm nicht drei, sondern nur zwei Dumasitze abtritt. Bei Stichwahlenin Europa zum Beispiel kommt es vor, daß eine Schwarzhundertergefahrbesteht, wenn der Liberale, sagen wir, 8000 Stimmen, der Schwarzhun-derter oder Reaktionär 10 000, der Sozialist aber 3000 Stimmen erhaltenhat. Wenn der Sozialist glaubt, daß die Schwarzhundertergefahr einewirkliche Gefahr für die Arbeiterklasse ist, wird er für den Liberalenstimmen. Bei uns in Rußland gibt es keine Stichwahlen, es kann jedochim zweiten Wahlstadium Fälle geben, die Stichwahlen entsprechen. Wennzum Beispiel von 174 Wahlmännern 86 Schwarze, 84 Kadetten und4 Sozialisten sind, so müssen die Sozialisten ihre Stimmen dem Kandi-daten der Kadetten geben, und niemand in der ganzen Sozialdemokra-tischen Arbeiterpartei Rußlands hat das bisher bestritten.

Die Menschewiki aber wollen glauben machen, daß sie in St. Peters-burg eine Schwarzhundertergefahr fürchten, während sie gleichzeitigwegen zwei oder drei Dumasitzen mit den Kadetten brechen!

Das ist offenkundige Heuchelei, die den Zweck verfolgt, den Schacherzu verdecken, den der kleinbürgerliche Teil der Arbeiterpartei um dasbei den Kadetten erbettelte Sitzchen in der Duma getrieben hat.

Und genauso heuchlerisch sind jetzt die Redereien der Menschewikiüber die selbständige Kampagne, die die Sozialdemokraten in Petersburgohne die Trudowiki durchführen sollen. So berichtete z. B. der „Towa-rischtsch", daß Herr Lewizki — ein Menschewik - am 19. Januar imTheater Nemetti folgendes erklärt hat: „Die Sozialdemokraten habendie Selbständigkeit der Wahlkampagne nur geopfert, um die Schwarz-hundertergefahr abzuwenden. Da das nicht gelungen ist, müssen die So-zialdemokraten zumindest bestrebt sein, eine breite Agitation zu entfal-ten, deshalb also trat der Redner für ein selbständiges Vorgehen derSozialdemokraten ein."

Fragt sich, ist dieser Lewizki, wenn er bei vollem Verstand ist, dennkein Heuchler? Da es nidht gelungen ist, durch die Schaffung einer ge-meinsamen Liste aller Linken einschließlich der Kadetten „die Schwarz-hundertergefahr abzuwenden", wünscht Lewizki drei linke Eisten! eineKadettenliste, eine sozialdemokratische und eine trudowikische!

Was ist das anders als ein Zeichen völliger Kopflosigkeit eines Oppor-tunisten, der jeden Boden unter den Füßen verloren hat und glaubt,

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28 W.3. Lenin

er könne uns vergessen machen, daß die Menschewiki vorgestern indem kleinbürgerlichen Block saßen und gestern mit den Kadetten scha-cherten !

Die Menschewiki haben Verrat begangen an den Arbeitern, sind zuden Kadetten übergelaufen und wollen sich jetzt, wo ihnen diese schmut-zige Schiebung nicht gelingt, reinwaschen mit einer Phrase von selb-ständigem Auftreten der Sozialdemokraten! Das ist nämlich weiter nichtsals eine hohle Phrase, nur zur Irreführung bestimmt, denn bei Aufstel-lung von drei linken Listen könnten die Schwarzen in St. Petersburgwirklich nur infolge der Spaltung der Linken durchkommen, und dieMenschewiki haben selbst die Stellung des kleinbürgerlichen Blocks ge-stärkt, indem sie sich von der proletarischen Partei lossagten und zumgemeinsamen Schacher mit den Kadetten in diesen Block eintraten.

Die Menschewiki haben jetzt wirklich allen Grund, „sich reinzu-waschen", so sehr haben sie sich durch ihre ganze Handlungsweise in derWahlkampagne in St. Petersburg mit Schmach bedeckt. Den Mensche-wiki bleibt jetzt wirklich nichts übrig als eine hohle und tönende Phrase,denn sie glauben selbst nicht ernstlich daran, daß jetzt eine rein sozial-demokratische Liste in Petersburg möglich wäre.

Die Bolschewiki aber warnen wir aufs energischste, diesen tönendenund heuchlerischen Phrasen Glauben zu schenken.

Die Bolschewiki brauchen sich von nichts „reinzuwaschen", brauchennichts zu bereuen. Unsere anfänglich von der gesamten bürgerlichenPresse der Hauptstadt verspottete politische Linie wird jetzt großartigund anschaulich durch den ganzen Gang der Ereignisse bestätigt. Die Un-sinnigkeit der Märchen von einer Schwarzhundertergefahr tritt klar zu-tage. Was augenscheinlich wird, ist .die Kadettengefahr. Gelüftet wird derSchleier, der die Politik der Kadetten verdeckt hat, deren Führer jetzteine Audienz bei Stolypin erhält (oder erhalten hat?).

Die Bolschewiki sind nicht hinter dem Rücken der Arbeiterpartei inden kleinbürgerlichen Block eingetreten. Sie haben diesen Block nicht da-durch gefestigt, daß sie die Beteiligung der Volkssozialisten, dieser halb-kadettischen Partei unter den Trudowiki, sanktionierten. Sie haben nichteinen einzigen Schritt getan, nicht ein einziges Wort gesagt, das die klein-bürgerlichen Parteien als Verzicht der Sozialdemokraten auf selbstän-diges Auftreten deuten könnten.

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Die Wahlen in Petersburg und die Heuchelei der 3i Menschewiki 29

Während Miljukow um Stolypin scharwenzelte, während die Men-schewiki und Trudowiki aller Schattierungen um Miljukow scharwen-zelten, standen allein die Bolschewiki ganz unerschütterlich da und stell-ten auch nicht für eine einzige Minute die Tätigkeit ein, deren sich jetztaus Ärger über die Kadetten Gen. Lewizki und seinesgleichen erinnern.

Deshalb dürfen wir jetzt keinesfalls die Dummheit begehen, von derdie kopflos gewordenen und heuchlerischen Menschewiki schwatzen, wirdürfen nicht auf den revolutionären Block, auf die Unterstützung derSozialisten durch das Kleinbürgertum gegen die Kadetten verzichten.

Gerade deshalb, weil die Bolschewiki, ohne zu schwanken, sofort dierichtige Linie einschlugen, haben sie es erreicht, daß sich jetzt jedermannpraktisch von der Wankelmütigkeit der Trudowiki und der Festigkeit derArbeiterpartei (ihr opportunistisches Anhängsel natürlich ausgenommen)überzeugen konnte. Es hat sich in der Praxis gezeigt, daß gerade dassozialdemokratische Proletariat selbständig marschiert, seinen eigenenWeg geht und dabei alle übrigen Elemente gegen die Schwarzen und gegendie Liberalen lenkt, alle kleinbürgerlichen Parteien und Strömungen vondem Einfluß der Kadettenideologie und der Kadettenpolitik befreit undallen vernehmlich feststellt, in'welchem Maße die revolutionären und dieopportunistischen Gruppen unter den Trudowiki zuverlässig und brauch-bar sind.

Sich jetzt zu fürchten, alle Trudowiki ins Schlepptau zu nehmen, diemit der Gunst der Kadetten ihre bitteren Erfahrungen gemacht iabenund bereit sind, gegen die Kadetten zu kämpfen, wäre eine unverzeih-liche Kinderei und ein Zeichen von politischer Charakterlosigkeit.

Die 31 Menschewiki, die sich in den Schacher mit den Kadetten ver-strickt haben, sind jetzt selbst genötigt, gegen ihren Willen zuzugeben:„Eine gemeinsame Liste der Sozialdemokraten und der Trudowiki wirdpopulär genug sein, den Kadetten viele Stimmen zu entreißen"!...Jawohl, genau das! Und deswegen dürfen wir eben nicht die Aufgabevernachlässigen, in der "Hauptstadt, auf die die Blicke ganz Rußlands ge-richtet sind, die Hegemonie der Kadetten zu brechen.

Es genügt uns, den Kadetten in einigen Bezirken die Hälfte ihrer Stim-men plus eine Stimme mehr zu entreißen, und wir werden siegen, dennwir werden alle Vorteile ausnutzen, die die Scheidung der Schwarzhun-derterbourgeoisie und der liberal-paktiererischen Bourgeoisie uns bietet

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30 W. 1. Lenin

(eine Gefahr aber besteht hier nicht, da die Kadetten in neun Bezirkenmehr als doppelt soviel Stimmen haben wie die Schwarzen).

Von Tag zu Tag wird es klarer, daß die Menschewiki einen falschenpolitischen Kurs einschlugen, als sie von einer Schwarzhundertergefahrzu zetern begannen. Es stellt sich heraus, daß die Gesamtheit der Bevoll-mächtigten und Wahlmänner weiter links steht als im vorigen Jahr. An-statt den liberalen Gutsbesitzern unsinnige und schändliche Helfershelfer-dienste zu leisten (die nicht durch eine Schwarzhundertergefahr gerecht-fertigt werden können, da es keine solche Gefahr gibt), fällt uns eine nütz-liche und verantwortliche Rolle zu: im Kampf gegen die Unterordnungder unentwickelten Massen unter die Führung der Liberalen dem Prole-tariat die "Hegemonie über das demokratische Kleinbürgertum zu ver-schaffen.

Die ersten Dumawahlen brachten den Kadetten einen Sieg, und dieseliberalen Bourgeois bemühen sich aus Leibeskräften, ihre Hegemonie zufestigen und zu verewigen, die darauf beruht, daß die Massen abge-stumpft werden, daß sie nicht selbständig denken und keine selbständigePolitik machen.

Es ist unsere direkte Pflicht, alle Kräfte anzuspannen, um gerade inPetersburg aWe diejenigen um uns zu sammeln, die fähig sind, gegen dieSchwarzen und gegen die Kadetten zu kämpfen, sie um uns zu sammelnum der Aufgaben der Volksrevolutiori willen, um der Aktivität der Mil-lionenmassen des Volkes willen.

Und wir werden es tun, ohne auch nur ein Jota der völligen ideolo-gischen Selbständigkeit unserer eigenen sozialdemokratischen Agitationzu opfern, ohne irgendwie von unseren sozialistischen Zielen und ihreruneingeschränkten Darlegung abzuweichen, ohne auch nur für eine Minuteauf die Entlarvung aller Schwankungen und Verrätereien des Kleinbür-gertums zu verzichten.

Nur die revolutionäre Sozialdemokratie steht festen Fußes auf demunerschütterlichen Standpunkt des Kampfes für die Freiheit und desKampfes für den Sozialismus.

Geschrieben am 20. Januar (2. Jebruar) 1907.

"Veröffentlicht 1007 als Broschüre. Nach dem 7ext der Broschüre.TAntersdmft: 74. Lenin.

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Erste Seite des „Srenije" Nr. 1—1907ftrfcbfiurt

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33

WIE SOLL MAN BEI DEN WAHLENIN PETERSBURG STIMMEN?

(Besteht die Gefahr eines Sieges der Schwarzhunderterbei den Wahlen in Petersburg?)

In der Stadt Petersburg stehen die Wahlen zur Reichsduma vor derTür. Die städtischen Wähler, deren Zahl ungefähr 130 000 beträgt, müs-sen insgesamt 160 Wahlmänner wählen. Dann werden diese 160 Wahl-männer zusammen mit den 14 Wahlmännern der Arbeiter 6 Deputiertein die Duma wählen.

Wen soll man nun in die Duma wählen?Bei den Wahlen in Petersburg kämpfen miteinander drei Hauptpar-

teien: die Schwarzhunderter (die Rechtsparteien), die Kadetten (die Par-tei der sogenannten Volksfreiheit) und die Sozialdemokraten.

Es ist möglich, daß sich die kleinen Parteien und Richtungen (Trudo-wiki, Parteilose, Volkssozialisten, Radikale usw.) teils der Liste der Ka-detten, teils der sozialdemokratischen Liste anschließen. Endgültig stehtdas noch nicht fest.

Jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, daß es in Petersburg drei Kan-didatenlisten geben wird: die Liste der Schwarzhunderter, die Liste derKadetten und die Liste der Sozialdemokraten.

Alle Wähler müssen deshalb genau wissen, wen sie in die Dumaschicken:

- Sdbwarzbunderter, d. h. die Rechtsparteien, die für die Regierungder Standgerichte, für Pogrome und Gewalttaten sind?

- Kadetten, d. h. liberale Bourgeois, die in die Duma gehen, um einegesetzgeberische Tätigkeit auszuüben, d. h. mit den Herren Gurko zupaktieren, die sowohl legislative Rechte als auch das Rechf haben, einenicht genehme Duma auseinanderzujagen?

3 Lenin, Werke, Bd. 12

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34 W.3.£enin

- Sozialdemokraten, d. h. die Partei der Arbeiterklasse, die an derSpitze des ganzen Volkes für volle Freiheit und für den Sozialismus, fürdie Befreiung aller Werktätigen von Ausbeutung und Unterdrückungkämpft?

Möge jeder Wähler wissen, daß die Wahl getroffen werden muß zwi-schen drei Parteien. Man muß sich entscheiden, wem man seine Stimmegeben will: dem Verteidiger der Polizeiwillkür und der Gewalttaten oderdem liberalen Kapitalisten, der durch Vermittlung der Herren Kutler mitden Herren Gurko feilscht, oder dem Verteidiger der Interessen derArbeiterklasse und aller Werktätigen?

Bürger, Wähler! Man sagt euch, daß ein Abkommen der Kadetten undder Sozialdemokraten, die Aufstellung einer gemeinsamen Liste, mög-lich sei.

Bas ist nidbt wahr. Ihr sollt alle wissen, daß es in Petersburg unterallen Umständen drei Listen geben wird, die Liste der Schwarzhunderter,die Liste der Kadetten und die Liste der Sozialdemokraten.

Man sagt euch, daß die Kadetten und die Sozialdemokraten bei Auf-stellung von zwei verschiedenen Listen ihre Stimmen zersplittern und sozum Siege der Schwarzhunderter beitragen können.

Das ist nicht wahr. Wir werden euch gleich beweisen, daß sogar imallerungünstigsten Fall einer Stimmenzersplitterung, d. h. sogar wenn sichdie Stimmen in allen Bezirken Petersburgs zu gleichen 3 eilen auf Kadettenund Sozialdemokraten verteilen, ein Sieg der Schwarzhunderter bei denWahlen in Petersburg unmöglich ist.

Es ist allgemein bekannt, daß es bei den Wahlen zur ersten Duma inPetersburg zwei Hauptlisten gab: die Kandidatenliste der Kadetten unddie der Schwarzhunderter (oder den sogenannten Block, das Bündnis derRechtsparteien). Die Kadetten siegten in allen Bezirken Petersburgs.

Jetzt wird es drei Listen geben: die der Schwarzhunderter, die derKadetten und die der Sozialdemokraten. Die Sozialdemokraten rechnenalso darauf, den Kadetten einen Teil der Stimmen abzunehmen und die-jenigen Wähler für sich zu gewinnen, die sich an den Wahlen zur erstenDuma nicht beteiligt haben.

Man sagt euch, daß diese Teilung der kadettischen und sozialdemokra-tischen Stimmen den Schwarzhundertern zum Siege verhelfen könne,denn zusammen seien die Kadetten und die Sozialdemokraten stärker als

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Wie soll man bei den Wahlen in Petersburg stimmen? 35

die Schwarzhunderter, getrennt aber könnten sie sich als schwächer er-weisen, d. h. geschlagen werden.

Um nachzuprüfen, ob das möglich ist, wollen wir die Stimmenzahlenbei den Wahlen zur ersten Duma für alle Bezirke Petersburgs nehmen.Wir wollen sehen, wie sich in den verschiedenen Bezirken die Stimmenauf Kadetten und Schwarzhunderter verteilt haben. Dabei wollen wirüberall die ungünstigsten Fälle nehmen, d. h. die kleinste Stimmenzahlfür den Kadetten (da die verschiedenen Kandidaten eine verschiedene An-zahl von Stimmen erhielten) und die größte Stimmenzahl für denSchwarzhunderter.,

Wir wollen weiter die kleinste Stimmenzahl für den Kadetten in zweigleiche leih teilen in der Annahme, daß die Sozialdemokraten genaudie Hälfte der Stimmen abspalten (das wäre der ungünstigste Fall füruns, der beste für die Schwarzhunderter).

Vergleichen wir jetzt nach Bezirken diese Hälfte der kleinsten Stim-menzahl, die für den Kadetten abgegeben wurde, mit der größten Stim-menzahl für den Schwarzhunderter. Wir erhalten folgende Zahlen:

Abstimmung in Petersburg bei den Wahlen zur ersten T>uma

Wahlbezirke

NiedrigsteStimmenzahl

'ür die Liste derKadetten

Hälftedavon

HöchsteStimmenzahl

für die Liste derRechtsparteien

Zahlder

Wahl-männer

AdmiralitätAlexander-Newski . . .KasanerNarwaerWiborgerPetersburgerKolomnaerMoskauerSpasskiLitejnyRoshdestwenskiWassiljewski-Ostrow

1395

2929

2135

3486

1853

4788

2141

4937

4873

697

1464

1067

1743

926

2394

1070

2468

2436

668

1214

985

1486

652

1729

969

2174

2320

5

16

9

18

6

16

9

20

15

3414

3241

3540

1707

1620

1770

209720662250

151417

Aus diesen Zahlen ist klar ersichtlich, daß sogar bei der allerungün-stigsten Teilung der Kadettenstimmen in zwei Teile die Schwarzhunderter

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36 W. 7. Centn

bei den Wahlen im Jahre 1906 nur in drei von zwölf Bezirken gesiegthätten. Sie hätten nur 46 von 174 Wahlmännern (160 in der Stadt und 14von den Arbeitern) gehabt. Das bedeutet, daß die Schwarzhunderter beiden Wahlen zur ersten Duma sogar dann nicht in die Duma hättengelangen können, wenn sich die Kadettenstimmen in sämtlidhen Bezir-ken zu zwei gleichen Teilen auf die Kadettenliste und die sozialdemo-kratische Liste verteilt hätten.

Wer also den Wähler schrecken will mit der Möglichkeit eines Siegesder Sdbwarzhunderter im Tolle der Teilung der Stimmen zwischen "Ka-detten und Sozialdemokraten, der betrügt das Volk.

Durch eine Teilung der kadettischen und sozialdemokratischen Stim-men können die Schwarzhunderter nicht siegen.

Die Kadetten verbreiten vorsätzlich falsche Gerüchte von einer„Schwarzhundertergefahr", um die Wähler davon abzuhalten, für dieSozialisten zu stimmen.

Bürger, Wähler! Glaubt nidit den Fabeln, daß eine Teilung der kadet-tischen und sozialdemokratischen Stimmen den Schwarzhundertern zumSieg verhelfen könnte. Stimmt frei und entschlossen nach eurer Über-zeugung: für die Schwarzhunderter, für die liberalen Bourgeois oder fürdie Sozialisten.

Vielleicht aber werden die Kadetten, die durch die Zeitungen „Retsch",„Towarischtsch", „Sewodnja", „Rodnaja Semlja", „Rus", „Strana"12

usw. usf. falsche Gerüchte von einer „Schwarzhundertergefahr" ver-breiten, vielleicht werden sie versuchen, noch andere Argumente, nochandere Ausflüchte ins Feld zu führen?

Untersuchen wir alle denkbaren Argumente.Vielleicht werden sich die Kadettenstimmen nicht auf zwei, sondern

auf drei Listen zersplittern? Dann werden doch die Schwarzhunderter inallen Bezirken siegen und. in die Duma kommen?

Nein. Die Kadettenstimmen können sich nicht auf drei Listen zersplit-tern, weil es in Petersburg insgesamt nur drei Listen geben wird. Außerden Schwarzhundertern, den Kadetten und den Sozialdemokraten wirdkeine einzige Partei von irgendwelcher Bedeutung selbständige Listen auf-stellen.

Page 45: Lenin - Werke 12

"Wie soll man bei den "Wahlen in Petersburg stimmen? 37

Alle Parteien, die es in Rußland gibt, haben in Petersburg ihre Ver-treter. Alle Parteien und alle Richtungen haben zu den Wahlen sdbonStellung genommen. "Keine einzige Partei außer den drei von uns obengenannten Hauptparteien, kein einziges Grüppchen denkt daran, bei denWahlen selbständig aufzutreten. Alle kleinen Parteien, alle Jlidbtungenaußer den drei 'Hauptparteien schwanken nur zwischen diesen drei Li-sten. Alle Parteien und Grüppchen, die fortschrittlich sind und mit derFreiheit sympathisieren, schwanken nur zwischen den Kadetten und denSozialdemokraten.

Keine einzige der „7rudott;(k»"parteien, weder die Sozialrevolutio-näre noch das Komitee der Trukowikigruppe, noch die Volkssozialistenhaben den Wunsch geäußert, selbständige Listen aufzustellen. Im Gegen-teil, alle diese Jrudowikiparteien führen Verhandlungen über den An-schluß entweder an die Kadettenliste oder an die sozialdemokratischeListe.

Wer also behauptet, daß sich die Kadettenstimmen auf drei Listen zer-splittern könnten, der betrügt das Volk. In Petersburg wird es alles inallem drei Hauptlisten geben: die Liste der Schwarzhunderter, die Listeder Kadetten und die Liste der Sozialdemokraten.

Das zweite mögliche Argument. Man sagt, die Senatserläuterungen13

hätten die Zahl der Wähler verringert, besonders die Zahl der Wähleraus den armen Bevölkerungsschichten, und infolgedessen sei es möglich,daß die Kadetten nicht soviel Stimmen aufbringen werden wie bei denWahlen zur ersten Duma.

Das ist nicht wahr. Bei den Wahlen zur ersten Duma gab es in Peters-burg insgesamt ungefähr 150 000 Wähler, während es jetzt ungefähr130 000 gibt. An der Abstimmung beteiligten sich jedoch im vorigenJahr insgesamt nur ungefähr 60 000-70 000 Wähler. Es ist also nichtder geringste Grund zu der Befürchtung vorhanden, Stimmungen undAnsichten der Wählermassen könnten sich verändert haben. Es kannnicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß die Mehrzahl der 130 000Petersburger Wähler den minderbemittelten Sdhidbten der Bevölkerungangehört, die nur aus Mißverständnis, aus Unwissenheit, nur infolgeihrer Vorurteile einen Kapitalisten einem Arbeiter vorziehen könnten.

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38 W.l Lenin

Wenn alle Sozialisten in der Agitations- und Aufklärungsarbeit unterden städtischen Massen ihre Pflicht erfüllen, so können sie von den130 000 Wählern sicherlich nicht nur 10 000 Stimmen, sondern ein Viel-faches davon erwarten.

Das dritte mögliche Argument. Man sagt, die Schwarzhunderter könn-ten aus den diesjährigen Wahlen stärker hervorgehen, und man könnenicht nach den vorjährigen Zahlen urteilen.

Das ist nicht wahr. Aus allen Zeitungsmeldungen, aus dem ganzenVerlauf der Versammlungen, aus den Angaben über die Stellung derverschiedenen Parteien ergibt sich, daß die Schwarzhunderter in Peters-burg nicht stärker, sondern wahrscheinlich bedeutend schwächer sind alsim vorigen Jahre. Das Volk ist bewußter geworden, die Oktobristen14

holen sich in jeder Versammlung eine Niederlage, die Auseinanderjagungder Duma aber und die Gewaltpolitik der Regierung, die Politik derGurko-Lidwal stoßen die Wähler endgültig von der Regierung ab. Beiden ersten Wahlen haben sich die Schwarzhunderter noch aufgespielt,jetzt aber, wo der Tag der Abstimmung naht, sind sie schon ganz klein-laut geworden.

Das vierte mögliche Argument. Man sagt, die Regierung gebe an Links-parteien keine Wahlzettel aus, erlaube ihnen weder Versammlungen nochZeitungen usw., und infolgedessen sei es aussichtsreicher und sicherer,wenn sich alle Linken zu einer Liste mit den Kadetten zusammen-schließen.

Das ist nicht wahr. Wenn die Regierung zur Gewalt und zur Verlet-zung des Gesetzes, zur Verletzung der Wahlfreiheit greift, so festigtsich hierdurch die Stimmung der Wählermassen. Wir Sozialdemokratenverlieren bei Versammlungen nicht in den Augen der Wähler, sonderngewinnen dadurch, daß die Polizei die Versammlungen am häufigstenwegen unsrer Reden auflöst. Und was den Kampf gegen Gesetzesver-letzungen durch die Regierung angeht — was hilft hiergegen ein Ab-kommen mit den Kadetten? Es würde nicht helfen, sondern schaden,denn die Kadetten sind die feigste und am meisten zum Verrat neigendeOppositionspartei. Wie kann man denn gemeinsam mit einer Partei, in

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Wie soll man bei den Wahlen in Petersburg stimmen? 39

der ein ehemaliger Spießgeselle Wittes und Durnowos, der frühere Mini-ster Kutler, sitzt, wie kann man denn mit dieser Partei wirksam gegenGesetzesverletzungen durch die Minister kämpfen?? Im Gegenteil, ge-rade weil die Herren Kutler den Herren Durnowo und Stolypin vielnäher stehen als der Masse der Arbeiter und Angestellten, gerade des-halb müssen wir im Interesse des Kampfes für die Freiheit uns unab-hängig halten von der Partei der Herren Kutler, von der Partei der Ka-detten.

Angenommen, die Regierung hätte beschlossen, linke Wahlmännerfestnehmen, in Haft setzen zu lassen. Hilft da etwa ein Abkommen mitden Kadetten? Oder sollen die Sozialisten sich wirklich darauf verlassen,daß der Kadett Kutler sich bei seinen Spießgesellen von gestern, den Mi-nistern Stolypin und Gurko, für Revolutionäre einsetzt?

Die Zeitungen berichteten vor kurzem, daß Herr Miljukow, der Füh-rer der Kadetten, bei Stolypin eine Audienz zu Verhandlungen über dieLegalisierung der Kadettenpartei erhält.* Sollen sich die Sozialisten viel-leicht darauf verlassen, daß die Herren Kadetten die Legalisierung derTrudowikipartei, der Sozialrevolutionäre und der Sozialdemokraten „er-wirken"?

Ein Sozialist, der noch Scham und Gewissen hat, wird niemals aufeiner gemeinsamen Liste mit den Kutler und Miljukow kandidieren.

Können die Sozialdemokraten bei den Wahlen in Petersburg siegen?Die Kadettenzeitungen machen es sich zunutze, daß die Regierung die

Herausgabe von sozialdemokratischen Zeitungen nicht erlaubt, und ver-suchen in allen Tonarten, den Lesern einzureden, daß von einem Wahl-sieg der Sozialdemokraten ohne die Kadetten überhaupt keine Redesein könne.

* In der Wahlversammlung, die am 22. Januar in der Tenischew-Schulestattfand, erklärte Herr Wodowosow, daß Herr Miljukow bei Stolypin warund mit ihm eine Abmachung getroffen hat und daß die Partei der Volksfrei-heit für ihre Führer verantwortlich ist. Herr Gredeskul leugnete diese Tatsachenicht und erklärte, wenn Herr Miljukow auch bei Stolypin gewesen ist, so seidas im Interesse des Landes und der Partei geschehen.

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40 W.I.Lenin

Das ist nicht wahr. Ein Sieg der Sozialdemokraten in Petersburg gegendie Schwarzhunderter und gegen die Kadetten ist durchaus möglich.

Die Kadetten tun so, als ob sie das nicht wüßten, und vergessen dabeiabsichtlich, daß durch eine Teilung der Stimmen jede Partei gewinnenkann, und keineswegs allein die Schwarzhunderter. Die Schwarzhunder-ter können drei von zwölf Bezirken gewinnen, wenn sich die Stimmen zugleichen Teilen auf die Kadetten und die Sozialdemokraten verteilen.

Die Sozialdemokraten können zwölf von zwölf "Bezirken gewinnen,wenn sich die Stimmen zwischen Kadetten und Schwarzhundertern ver-teilen.

Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur einen Blick auf dieoben angeführten Zahlen zu werfen. Sie zeigen, daß wir in ganz Peters-burg siegen können, wenn wir in jedem Wahlbezirk eine Stimme mehrerhalten als die "Hälfte der "Kadettenstimmen (bei den vorigen Wahlen).

Zu diesem Zweck müssen wir in den neun „sicheren" Bezirken Peters-burgs (ausschließlich der drei Bezirke, in denen die Schwarzen siegenkönnen) mindestens ii 274 Stimmen erhalten.

Ist es etwa unmöglich, daß die Sozialdemokraten in Petersburg i5 000bis 20 000 Stimmen erhalten?

In Petersburg gibt es allein 30 000-50 000 Handelsangestellte undKontoristen, die wahlberechtigt sind. Die Gewerkschaftszeittmg der Han-delsangestellten „Golos Prikastschika"15 wurde in sozialdemokratischemGeiste geleitet. Wenn alle Sozialisten einmütig unter den Handlungs-gehilfen Agitationsarbeit leisteten und es dabei nicht ablehnten, auchTrudowiki in ihre Liste aufzunehmen, dann könnten schon allein dieseHandels- und Industrieangestellten der gemeinsamen Liste der Sozial-demokraten und Trudowiki zum Siege verhelfen.

Außerdem gibt es ja auch noch sehr, sehr viele arme Mieter, die durch-aus imstande sind zu begreifen, daß die Sozialisten ihre Interessen besserverteidigen als die liberalen Haus- und Grundbesitzer, reichen Advo-katen und Beamten, die Petrunkewitsch, Roditschew, Winawer undKutler.

Seht euch die Wahlversammlungen in Petersburg an. Sogar die Ka-dettenzeitungen, die die Versammlungsberichte zugunsten der Kadettenentsetzlich fälschen, sind zu dem Eingeständnis genötigt, daß ein ernsterKampf zwischen Kadetten und Sozialisten geführt wird und durchaus

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Wie soll man bei den Wahlen in Petersburg stimmen? 41

nicht etwa zwischen den Rechten und den Linken. Die Wahlversamm-lungen in Petersburg beweisen untrüglich, daß die Sozialdemokraten, be-sonders im Bündnis mit den Trudowiki, in Petersburg stärker sind als dieKadetten.

Wieviel Wähler besuchen Wahlversammlungen? Vorsichtige Leuteschätzen, daß es nicht mehr als ein Zehntel der gesamten Wählerschaftsind. Nehmen wir sogar diese niedrigste Zahl. Wir erhalten 13 000 Wäh-ler. Man kann ferner mit Sicherheit annehmen, daß jeder Wähler, derVersammlungen besucht hat, zu den Wahlen nicht weniger als zwei Wäh-ler mitbringt, die keine Versammlungen besucht haben. Von.diesen 39 000Wählern werden, nach allen Angaben und Beobachtungen zu urteilen,20 000 für die Sozialdemokraten stimmen, die sich die Trudowiki an-gegliedert haben.

Auch aus diesen Tatsachen erhellt also, daß in Petersburg ein Sieg derSozialdemokraten gegen die Kadetten und gegen die Schwarzhunderterdurdbaus möglich ist.

Mögen also alle Wähler Petersburgs wissen, daß es ganz von ihnen ab-hängt, ob die Kadetten oder die Sozialdemokraten siegen.

Die Sozialisten führen die Wahlkampagne in Petersburg vor allem undhauptsächlich, um die Massen aufzuklären und zusammenzuschließen.Die Sozialisten wollen erreichen, daß sich die Massen selbst völlig klar-werden über die Aufgaben, vor denen das Volk jetzt im Kampfe für dieFreiheit steht. Die Liberalen dagegen suchen nur Dumasitzchen zu er-gattern, ohne dafür zu sorgen, daß die Wähler selbst klare und deutlicheVorstellungen gewinnen.

Die Liberalen, d. h. die Kadetten, und die wankelmütigen und schwan-kenden Leute, die ihnen Gefolgschaft leisten, nehmen manchmal in denWahlversammlungen Abstimmungen vor und setzen in manchen von die-sen Versammlungen mit erdrückender Mehrheit den Beschluß durch, einAbkommen aller Linken für notwendig zu erklären, wonach die Kadet-ten zwei von sechs Petersburger Dumasitzen erhalten sollen.

Wer aber einen solchen Antrag stellt oder für ihn stimmt, beweistkeine politisch klare Einstellung zu den Wahlen in Petersburg. Ein Ab-kommen „aller Linken" in Petersburg wird es und kann es nicht geben.

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42 W.O. Centn

In Petersburg wird es drei Listen geben: die Liste der Schwarzhunderter,die Liste der Kadetten und die Liste der Sozialdemokraten.

Ferner ist es überhaupt lächerlich, darüber abzustimmen, ob die Ka-detten zwei von sechs Dumasitzen erhalten sollen. Wer wirklich ein sol-ches Wahlergebnis will, der muß begreifen, daß es durch einen Pakt mitden Kadetten nicht erreicht werden kann. Erreichen läßt es sich, aber nurdadurch, daß man für die Sozialdemokraten stimmt.

In der Tat, wenn die Sozialdemokraten in Petersburg einen Teilsiegerringen, dann - und nur dann - könnte das für manche erwünschte Re-sultat eintreten (sechs linke Mandate, davon zwei für die Kadetten). Neh-men wir zum Beispiel an, die Sozialdemokraten würden nur in vier Be-zirken siegen, sagen wir im Spasski-, im Moskauer, im Petersburger undim Wiborger Bezirk. Sie erhalten dann 60 Wahlmänner, zusammen mitder Arbeiterkurie 74. Die Schwarzen (nehmen wir den schlimmsten Fall,der sehr, sehr unwahrscheinlich ist) erhalten 46 Wahlmänner (imLitejny-, Roshdestwenski- und Wassiljewski-Ostrow-Bezirk). Die Ka-detten erhalten die übrigen 54 Wahlmänner. Auf diese Weise könnteman wirklich durchsetzen, daß Petersburg linke Abgeordnete in die Dumaschickt, von denen die Mehrzahl weiter links steht als die Kadetten.Durch Schacherei mit den Kadetten, wie unkluge und schwankende Leutesie betreiben, läßt sich das nicht erreichen.

Wiederholen wir kurz unsere Schlußfolgerungen.In Petersburg kämpfen bei den Wahlen nur die drei Hauptparteien,

und die Wähler werden drei Kandidatenlisten vor sich haben: die Listeder Schwarzhunderter, die Liste der Kadetten und die Liste der Sozial-demokraten.

Die Gefahr eines Sieges der Schwarzhunderter in Petersburg ist einealberne Erfindung und Lüge.

Sogar bei ungünstigster Verteilung der Kadettenstimmen zwischen Ka-detten und Sozialdemokraten ist ein Sieg der Schwarzhunderter un-möglich.

Das Märchen von einer „Schwarzhundertergefahr" in Petersburg wär-men die Kadetten absichtlich auf, um die ihnen wirklich drohende Ge-fahr, daß die Sozialisten siegen, von sich abzuwenden.

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"Wie soll man bei den Wahlen in Petersburg stimmen'} 43

Die Trudowiki, die Sozialrevolutionäre und einige kleine Gruppenhaben sich noch nicht entschieden, ob sie mit den Kadetten oder mit denSozialdemokraten gehen wollen.• In Petersburg ist ein völliger Sieg der Sozialdemokraten sowohl gegendie Schwarzhunderter als auch gegen die Kadetten durchaus möglich.

Die Wähler müssen ihre Stimmen abgeben gemäß ihrer Überzeugungund Neigung und nicht aus Furcht vor einer vorgespiegelten Schwarz-hundertergefahr.

Für die Regierung, für die liberalen Bourgeois oder für die Sozial-demokraten?

Bürger, trefft eure Wahl!

.Srenije" "Nr. i, Nadh dem ü"ext des „Srenije".25. Januar 1907.

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44

DIE WAHLEN IN PETERSBURGUND DIE KRISE DES OPPORTUNISMUS

Am 6. Januar trat die Petersburger Stadtkonferenz zusammen. Siehatte über die Frage zu entscheiden, ob in der Hauptstadt Abkommen mitden Kadetten getroffen werden sollen oder nicht.

Trotz der im „Towarischtsch" veröffentlichten Aufrufe Plechanows andie „Genossen Arbeiter", trotz der hysterischen Artikel der Frau J. Kus-kowa, trotz der Drohungen Plechanows, die Arbeiter in die Liste der„Feinde der Freiheit" eintragen zu wollen, wenn es ihnen einfallen sollte,einen selbständigen sozialdemokratischen Standpunkt zu vertreten, trotzder mehr oder minder verlockenden Versprechungen der Kadetten hatsich das organisierte und klassenbewußte Petersburger Proletariat alspolitisch so reif erwiesen, daß es sich nach den Diskussionen und Ab-stimmungen in seiner Mehrheit gegen alle wie immer gearteten Abkom-men mit den Kadetten ausgesprochen hat. Es war klar, daß auch die Kon-ferenz, die von organisierten Arbeitern - nach Diskussionen und Ab-stimmungen auf Grund einer Plattform* - gewählt worden war, sich indemselben Sinne aussprechen würde.

Wir haben nicht genügend Platz im „Proletari", um auf die Verhand-lungen der Konferenz, über die zudem bereits nicht wenig geschriebenworden ist, ausführlich einzugehen. Hier ist es jedoch wichtig, festzu-stellen, daß unsere Opportunisten in ihrer bürgerlich-paktiererischen Po-litik so weit gegangen sind, daß der Beschluß der Konferenz für sie un-annehmbar wurde. Gleich von der Eröffnung der Konferenz an war es

* Eine Ausnahme bildeten der menschewistische Wiborger Bezirk und dermenschewistische Französisch-Russische Unterbezirk, wo nicht nach Plattfor-men abgestimmt wurde.

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Die Wahlen in Petersburg und die Krise des Opportunismus 45

klar, daß sich die Petersburger Menschewiki, unterstützt vom Zentral-komitee, dem Beschluß der Konferenz nicht fügen würden. Die Freundeder Kadetten suchten nur einen Anlaß zum Bruch mit der revolutionärenSozialdemokratie. Recht oder schlecht, ein Anlaß mußte gefunden wer-den. Da es nicht gelang, die Konferenz wegen der Frage der Mandate zuverlassen, machten sich die Menschewiki die Empfehlung des ZK, Fragender Wahltaktik durch die unmittelbar an ihnen interessierten Wahlein-heiten zu entscheiden, zunutze, um die Konferenz wegen der Frage zuverlassen, ob sich die Konferenz in zwei Teile teilen sollte: eine spe-zielle Stadtkonferenz und eine Bezirkskonferenz. Die Unterteilung derParteiorganisationen sollte durch die administrativ-polizeiliche Gliede-rung ersetzt werden. Wollte man den Weisungen der Menschewiki fol-gen, so hätte man nicht nur den Landbezirk aus der Konferenz heraus-lösen, sondern auch bisher einheitliche Bezirke zerschlagen müssen, wiez. B. den Newski-Bezirk, den Moskauer Bezirk, den Narwaer Bezirk,man hätte die Partei reorganisieren müssen, und zwar nicht so, wie esfür die Partei, sondern so, wie es für die Administration vorteilhaft wäre.

Außerdem war es klar, daß sich die Mehrheit der Konferenz - wieimmer auch über die Frage der Teilung der Konferenz entschieden wer-den würde - gegen Abkommen mit den Kadetten aussprechen würde.Die Menschewiki verließen die Konferenz und beschlossen zur Freudeder gesamten bürgerlichen Presse, in Petersburg eine selbständige Kam-pagne zu betreiben, einen Kampf zu führen gegen ihre eigenen Partei-genossen, das Petersburger Proletariat zu spalten wegen eines Abkom-mens mit einer bürgerlichen und monarchistischen Partei, der Partei der„Volksfreiheit".

Wie hätte da die bürgerliche Presse nicht frohlocken sollen! Das Boule-vardblatt „Sewodnja" erklärte feierlich in einem besonderen Leitartikel,die Menschewiki hätten durch ihren Beschluß Rußland gerettet, und dasoffizielle Organ der Kadetten, die „Retsch", versprach den Menschewikizur Belohnung, den Platz in der Arbeiterkurie einem „Menschewik" undkeinesfalls einem „Bolschewik" zu geben.

Erstes Ergebnis des selbständigen Vorgehens der Menschewiki: DieBourgeoisie hat begonnen, der Arbeiterkurie ihren Willen zu diktieren.

Inzwischen hatte die Konferenz, die nach dem Auszug der Mensche-wiki weitertagte, unter der Bedingung einer bestimmten Verteilung der

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46 W. 1 Lenin

Sitze (2 für die Arbeiterkurie, 2 für die Sozialdemokraten, 1 für dieSozialrevolutionäre, 1 für die Trudowiki) den Beschluß gefaßt, ein Ab-kommen mit den Sozialrevolutionären und den Trudowiki einzugehen.Sie ging dabei davon aus, daß es eine Schwarzhundertergefahr in Peters-burg nicht gibt und daß es notwendig ist, die Hegemonie der Kadetten zubrechen und das demokratische Kleinbürgertum von ihrem Einfluß zubefreien.

Die bürgerliche Presse frohlockte: Die Trudowiki und die Sozialrevo-lutionäre haben einen Block mit den Volkssozialisten geschlossen, dieserBlock sucht Annäherung an die Kadetten, die Menschewiki haben sichabgesondert - die Bolschewiki sind isoliert! Die revolutionäre Taktik istverurteilt, die „friedlichen Mittel" triumphieren, es lebe die Verständi-gung mit der Monarchie, nieder mit dem Weg der kämpfenden Volks-massen.

Nachdem die Kadetten die Sozialdemokraten gespalten und die revo-lutionäre Hydra des Proletariats geschwächt hatten, trafen sie, ohne sichzu genieren, eine Abmachung.. . mit Herrn Stolypin. Laut Zeitungs-meldungen erhält Miljukow in diesen Tagen eine Audienz beim Mini-sterpräsidenten, der Ministerpräsident stellt für die Legalisierung derKadettenpartei die Bedingung: keine Blocks mit den Linken. Die Kadet-ten geben dem ganzen „Links"block - der in Wirklichkeit ein klein-bürgerlicher Block ist (Volkssozialisten, Sozialrevolutionäre, Trudowikiund Menschewiki) — insgesamt nur 2 von den 6 Petersburger Sitzen. Umder „Galerie" entgegenzukommen, erklären sich die Kadetten bereit,dem aufdringlichen kleinbürgerlichen Block zwei Sitze hinzuwerfen,überzeugt, daß der Linksblock sich darauf nicht einlassen wird, führendie Kadetten Verhandlungen mit dem Haupt der Schwarzhunderter,Stolypin.

Das Bild ändert sich. Die Wahlkampagne beginnt. Es werden Wahl-versammlungen veranstaltet. Die Menschewiki, die nur sehr, sehr seltenin Versammlungen auftreten, stammeln schüchtern: Abkommen mit denKadetten. Die Bolschewiki, die in allen Versammlungen auftreten, rufendie Proletarier und Halbproletarier auf, sich der einheitlichen Arbeiter-partei - der Sozialdemokratischen Partei - anzuschließen, rufen allerevolutionären und demokratischen Wähler auf, sich dem einheitlichenrevolutionären Block gegen Schwarzhunderter und Kadetten anzuschlie-

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Die Wahlen in Petersburg und die Krise des Opportunismus 47

ßen. Die Kadetten läßt man nicht reden; den Bolschewiki spendet manBeifall. Die städtische Demokratie - die proletarische Demokratie und diekleinbürgerliche Demokratie - geht nach links und schüttelt das Joch derKadetten von sich ab.

Das Bild ändert sich: Die „Paktierer" wüten und toben. Sie sprechenvon den Bolschewiki mit Schaum vor dem Munde. Nieder mit den Bol-schewiki! In trauter Eintracht ziehen „Nowoje Wremja"16 und „To-warischtsch", Oktobristen und Kadetten, die Wodowosow und Gromanin einen heiligen Krieg gegen das rote Gespenst des Bolschewismus. Wennder Bolschewismus jemals eine Rechtfertigung für seine revolutionäreKlassentaktik nötig hatte, so hat er sie in der Wut gefunden, mit der sichdie gesamte bürgerliche Presse auf ihn stürzt. Wenn die kleinbürgerlicherevolutionäre Demokratie, die ehrlich die Verwirklichung ihrer Losungenerstrebt, einen Anschauungsunterricht nötig hatte, so hat sie ihn in derVerachtung gefunden, die die große und die mittlere Bourgeoisie ihr ent-gegenbrachte, in der (mit der Regierung) paktierenden Politik, die dieKadetten hinter dem Rücken des Volkes betreiben.

Die revolutionäre Sozialdemokratie erklärt der gesamten demokrati-schen - städtischen und dörflichen - Armut: Nur im Bunde mit demProletariat, nur in der Befreiung von der Vormundschaft der Kadetten,nur im entschlossenen und konsequenten Kampfe gegen die Selbstherr-schaft wirst du deine Rettung finden. Wenn du reif genug dafür bist,wirst du dem Proletariat Gefolgschaft leisten. Wenn du nicht dafür reifbist, wirst du unter der Vormundschaft der Kadetten bleiben, das Prole-tariat aber geht seinen eigenen, revolutionären Klassenweg und wird ihngehen, wie immer auch die Wahlkampagne, wie immer auch euer Man-datsschacher enden mag.

Der Menschewismus macht eine schwere Prüfung durch. Die Wahl-kampagne ist zum Eckstein seiner opportunistischen Taktik geworden.Ein Teil der Sozialdemokratie ist unter die Hegemonie bürgerlicher Ideo-logen geraten. Die bürgerlichen Ideologen traktieren die Menschewikierbarmungslos als „gemäßigte Sozialisten" (Ausdruck der „Retsch"), aufdie man sich immer verlassen kann. Ihre Freunde von rechts rechnennicht mit ihnen u n d . . . rechnen nur darauf, daß sie treu den Kadettendienen. Ein Teil der Sozialdemokratie hat die Schande so weit getrieben,daß die liberale Bourgeoisie ihn wie ihr williges Werkzeug behandelt und

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48 W.J.Lenin

daß das revolutionär gesinnte Proletariat es vorzieht, eher für die Sozial-revolutionäre zu stimmen (wie das bei der Wahl der Bevollmächtigtenin der Hochburg des Menschewismus, dem Wiborger Bezirk, der Fallwar) als für solche Sozialdemokraten.

Die Krise des Opportunismus naht. Der Pakt mit den „Paktierern"versetzt dem Menschewismus einen entscheidenden Schlag. Die Wassil-jew, Malischewski und Larin haben den Weg geebnet zum . . . Friedhof.In den Reihen der Menschewiki sind Bestürztheit und gegenseitiger Aus-schluß an der Tagesordnung. Martow vertreibt die Wassiljew und Mali-schewski aus der Partei. Mögen die Arbeiter ihrerseits den Geist desMenschewismus aus der Partei austreiben!

„Proletari" "Nr. u, 5Vad> dem 7ext des „Proletari".25. Januar 1907.

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49

DIE WAHLEN IN DER PETERSBURGERARBEITERKURIE

Die Wahlen der Bevollmächtigten der Arbeiter sind ein außerordent-lich wichtiges Ereignis im politischen Leben Rußlands und in der Ge-schichte unserer Arbeiterbewegung, das noch lange nicht nach Gebührgewürdigt worden ist.

Zum erstenmal sind alle Parteien, die auch nur irgendeinen Rückhaltim Proletariat haben, nicht mit allgemeinen Programmen oder Losungenvor die Masse der Arbeiter getreten, sondern mit einer bestimmtenpraktischen Frage: den "Kandidaten welcher Partei vertraut die Arbeiter-masse die Vertretung ihrer Interessen an? Natürlich ist das Wahlsystemin der Arbeiterkurie, wie allgemein bekannt, sehr, sehr weit entfernt voneiner regelrechten demokratischen Vertretung. Immerhin aber tritt dieArbeitermasse bei den Wahlen auf. Und der Kampf, den die Parteien,und zwar als bestimmte politische Parteien, führen, findet in Rußlandzum erstenmal vor der breiten Arbeitermasse statt.

In vielen Ortschaften Rußlands sind die Arbeiterbevollmächtigten be-reits gewählt worden. Einigermaßen vollständige und genaue Angabenüber den Kampf der Parteien bei diesen Wahlen liegen jedoch nicht vor.Die Zeitungen bringen nur ganz allgemeine, überdies näherungsweise,„nadb Augenmaß" gezogene Schlüsse. Wenn die Parteiarbeiter und ins-besondere die fortgeschrittensten Arbeiter selbst nicht das notwendigeund äußerst wichtige Werk in Angriff nehmen, den Verlauf und die Er-gebnisse der Wahlen in der Arbeiterkurie zu studieren, so kann man mitSicherheit sagen, daß uns ein außerordentlich wertvolles und für dieweitere Entwicklung der Parteiarbeit und der Parteiagitation notwendi-ges Material verlorengeht.

4 Lenin, Werke, Bd. 12

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50 W.3. Centn

Alle Zeitungen formulieren ihren allgemeinen Eindruck von den Wah-len in der russischen Arbeiterkurie folgendermaßen: voller Sieg der äußer-sten Linken, vor allem der Sozialdemokratie, dann auch der Sozialrevo-lutionäre.

Die Hauptthese der Sozialdemokratie ist durch die Wahlen glänzendbestätigt worden: Das Proletariat als Klasse ist revolutionär. Die proleta-rische TAasse ist in ihren Bestrebungen und Sympathien sozialdemokra-tisch. Das Proletariat ist die revolutionärste aller Klassen Rußlands.

Das Gerede, daß die Sozialdemokratische Partei in Rußland keineArbeiterpartei sei, ist durch die Wahlen praktisch widerlegt. Nur Libe-rale, die bewußt die Unwahrheit sprechen, oder Opportunisten, die leicht-fertig in den Tag hinein reden, können jetzt den proletarischen TAassen-dharakter der russischen Sozialdemokratie bezweifeln.

Wenn man von dieser allgemeinen Schlußfolgerung zu spezielleren Fol-gerungen übergeht, so muß man zuerst den Vorbehalt machen, daß nodbkeine einigermaßen vollständigen Materialien vorliegen. Wir halten esjedoch nicht nur für zulässig, sondern sogar für unbedingt notwendig,eine ganze Reihe von weiteren Schlüssen vorzumerken, und zwar durch-aus nicht, weil wir darauf Anspruch erheben, die betreffende Frage zulösen, sondern weil wir eine 7rage von gewaltiger Wichtigkeit vor allenGenossen zur Erörterung stellen und einen Gedankenaustausch, dieSammlung von Material usw. anregen wollen.

Was nach den ersten Zeitungsmeldungen ins Auge springt, ist derUnterschied zwischen dem eigentlichen Rußland und dem industriell, kul-turell und politisch viel höher entwickelten Polen. In Rußland, zumindestin St. Petersburg und in Moskau, gibt es keine offen bürgerlichen Parteien,die sich auch nur zum Teil auf das Proletariat stützten. Die Sozialdemo-kraten haben das erdrückende Übergewicht, bedeutend geringeren Einflußgenießt die äußerste Linke der bürgerlichen Demokratie, die sich fürsozialistisch hält, die Partei der Sozialrevolutionäre. Kadetten gibt es unterden Arbeitern nicht oder jedenfalls nur in ganz verschwindend geringerZahl.

In Polen dagegen gibt es eine offen bürgerliche Partei, die bei denWahlen fühlbar in Erscheinung getreten ist: die rechts von den Kadettenstehende Partei der "Narodowzen (Narodowy-demokraty, Nationaldemo-kraten)17. Diese Tatsache läßt sich nicht mit der Heftigkeit der polizei-

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Die Wahlen in der Petersburger Arbeiterkurie 51

liehen und militärischen Verfolgungen erklären. Die Bourgeoisie, die inPolen die nationale Unterdrückung aller Polen, die religiöse Unterdrük-kung aller Katholiken geschickt ausnutzt - die Bourgeoisie sucht und findeteine gewisse Stütze in den Massen. Von der polnischen Bauernschaftbraucht man.gar nicht erst zu reden.

Es versteht sich jedoch von selbst, daß es unsinnig wäre, aus diesem Un-terschied urtümliche Vorzüge der russischen Rückständigkeit abzuleiten.Nein, die Sache ist einfacher, sie erklärt sich aus den historisch-ökonomi-schen und nicht aus den nationalen Unterschieden. In Rußland gibt es inden unteren Volksschichten, im Dorfe, im Agrarsystem unvergleichlichmehr Überbleibsel der Leibeigenschaft und infolgedessen viel mehr pri-mitiven, unmittelbaren revolutionären Geist in der Bauernschaft und dereng mit ihr verbundenen Arbeiterklasse. In diesem revolutionären Geistist zweifellos weniger proletarisches Klassenbewußtsein und mehr allge-mein-demokratischer (und das bedeutet: dem Inhalt nach - bürgerlich-demokratischer) Protest enthalten. Außerdem ist bei uns die Bourgeoisieweniger entwickelt, weniger bewußt, im politischen Kampf weniger er-fahren. Sie vernachlässigt die Arbeit unter dem Proletariat nicht so sehrdeshalb, weil sie keinen Teil des Proletariats von uns losreißen könnte,als vielmehr deshalb, weil sie sich überhaupt nicht auf das Volk zu stützenbraucht (wie in Europa und in Polen); es genügt ihr einstweilen, sich aufihre Privilegien, auf Bestechungen, auf die rohe Gewalt zu stützen. Auchbei uns werden noch Zeiten kommen, wo alle möglichen Abkömmlingeder Bourgeoisie sowohl Nationalismus als auch irgendeinen christlichenDemokratismus als auch Antisemitismus und sonstigen Unrat in dieArbeitermasse tragen werden!

Wenden wir uns dem eigentlichen Rußland zu. Bemerkenswert vorallem ist der Unterschied zwischen Petersburg und Moskau. In Moskauist ein voller Sieg der Sozialdemokraten über die Sozialrevolutionärezu verzeichnen. Laut einigen Meldungen - die allerdings noch nichtvöllig geprüft sind - zählt man dort ungefähr 200 sozialdemokratischeBevollmächtigte gegenüber etwa 20 Sozialrevolutionären!

In Petersburg ist es umgekehrt: Jedermann ist erstaunt über den uner-wartet hohen Prozentsatz von Sozialrevolutionären Bevollmächtigten. DieSozialdemokraten haben natürlich das Übergewicht über die Sozialrevo-lutionäre, aber es ist kein erdrückendes Übergewicht. Man zählt unge-

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52 -W.J.Cenin

fähr 33 Prozent und sogar (obwohl das kaum wahr sein dürfte) unge-fähr 40 Prozent Sozialrevolutionäre. Gleichviel, ob wir einstweilen, bisausführliche Angaben zusammengetragen sind, die eine oder die andereZahl nehmen - jedenfalls wird es verständlich, warum die einfachen Mit-glieder der Sozialdemokratie in Petersburg gewissermaßen das Gefühlhaben: in der Arbeiterkurie „sind wir geschlagen". Sogar ein Drittelsozialrevolutionärer Bevollmächtigter bedeutet in der Hauptstadt bereitswirklich eine Niederlage der Sozialdemokratie - eine Niederlage im Ver-gleich mit dem, was wir im übrigen Rußland sehen, und im Vergleichmit dem, was wir als Sozialdemokraten alle für normal und notwendighalten.

Dies ist eine Tatsache von gewaltiger Wichtigkeit... In Petersburg hatdie äußerste Linke der bürgerlichen Demokratie die Sozialisten in derArbeiterkurie aus deren erdrückender Vormachtstellung verdrängt! Es istunsere direkte Pflicht, dieser Erscheinung die größte Aufmerksamkeit zuschenken. Alle Sozialdemokraten müssen sich bemühen, diese Erschei-nung gründlich zu studieren und sie richtig zu erklären.

Der allgemeine Eindruck der Petersburger Sozialdemokraten, die vondem Ergebnis der Wahlen vom 7. und 14. Januar verblüfft sind, läßt sichzusammenfassen wie folgt: 1. Gerade in den größten Betrieben, denHochburgen des klassenbewußtesten, revolutionärsten Teils des Proleta-riats, ist die Niederlage, die die „Sozialrevolutionäre" den Sozialdemo-kraten beigebracht haben, ganz besonders empfindlich. 2. Die „Sozial-revolutionäre" haben vorwiegend und hauptsächlich mensdbewistischeSozialdemokraten besiegt. Wo ein Kandidat der -Sozialrevolutionäre undein Kandidat der bolschewistischen Sozialdemokraten gegeneinanderkämpften, ist der Sieg viel häufiger und sogar in der Mehrzahl der 7älleder Sozialdemokratie zugefallen.

Man kann leicht erkennen, daß beide Schlußfolgerungen die größteBedeutung haben. Deswegen müssen wir unbedingt dafür Sorge tragen,daß es nicht bei einfachen Eindrücken bleibt, sondern daß aus genauem,geprüftem Material, das zwei Deutungen nicht zuläßt, wirkliche Schlüssegezogen werden. Es ist natürlich äußerst unwahrscheinlich, ja sogar fastunmöglich, daß die einheitliche Ansicht der sozialdemokratischen Partei-arbeiter der verschiedensten Petersburger Bezirke verkehrt ist. Es wärenatürlich lächerliche Pedanterie, von Revolutionären, die gerade jetzt mit

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Die "Wahlen in der "Petersburger Arbeiterkurie 53

einer Unmasse von Wahlarbeit überhäuft sind, eine exakte und akkurateStatistik zu verlangen, und doch kann und muß man das grundlegendeMaterial, die wichtigsten Zahlen und Angaben sammeln, weil das auflange Zeit für unsere ganze sozialdemokratische Arbeit in St. Petersburgnötig ist.

Weiter unten werden wir diese Frage ausführlicher behandeln (sieheden Artikel „Der Kampf der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutio-näre bei den Wahlen in der St.-Petersburger Arbeiterkurie"). Hier be-schränken wir uns darauf, die politische Bedeutung dieser relativen Nie-derlage der Sozialdemokratie bei den Wahlen zur Arbeiterkurie inSt. Petersburg zu bewerten.

Vor allem muß festgestellt werden, daß das zahlenmäßige Übergewichtder sozialdemokratischen Bevollmächtigten eindeutig hinweist auf das zah-lenmäßige Übergewicht derjenigen Betriebe, in denen die Sozialdemo-kraten Organisationszellen haben. Ausführlichere Angaben werden sicher-lich die Beobachtung bestätigen, die die Sozialdemokraten bereits in denFreiheitstagen vom Oktober gemacht haben, daß nämlich die Sozialrevo-lutionäre keine gründliche und dauernde, keine ernste, organisatorischeArbeit im Proletariat leisten, sondern, wenn man so sagen darf, von Zeitzu Zeit mit Schneid vorgehen: sobald die Stimmung sich hebt, sind sieflink bei der Hand mit Resolutionen in Versammlungen, jede Belebungnutzen sie aus, um mit schmetternden und effektvollen „revolutionären"Phrasen und Reden auch Mandate „einzuheimsen".

Dieses Element des Sozialrevolutionären Sieges wird aller Wahrschein-lichkeit nach auch bei jeder gewissenhaften Untersuchung der Wahlen,die jetzt in der St.-Petersburger Arbeiterkurie stattgefunden haben, fest-gestellt werden. In letzter Instanz handelt es sich darum, daß eine „revo-lutionäre" kleinbürgerliche Partei zu solider und hartnäckiger proletari-scher Arbeit unfähig ist - bei dem geringsten Stimmungsumschwung ver-schwindet sie spurlos von der Bildfläche der Arbeitervororte. Nur dannund wann gelingt es ihr, die noch geringe politische Schulung der Massenauszubeuten, indem sie diese durch ihre scheinbar großzügige Fragestel-lung (die in Wirklichkeit verschwommen und intelligenzlerischer Flitter-kram ist) „betört", auf das noch unentwickelte Klassenbewußtsein speku-liert, demagogisch die traditionelle „Liebe zur Scholle" ausnutzt, wo nochVerbindungen mit dem Dorf vorhanden sind, usw. usf.

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54 W.3. Lenin

Der bürgerliche Charakter der Revolution führt naturgemäß dazu, daßdie Arbeiterviertel von Zeit zu Zeit plötzlich von Schwärmen radikalerund „echt-revolutionärer" bürgerlicher Jugend „überfallen" werden, diekeinen Klassenstützpunkt unter ihren Füßen fühlt und instinktiv zumProletariat als der einzigen ernstlich für die Freiheit kämpfenden Massekommt, wenn ein neuer Aufschwung, ein neuer Ansturm der Revolutionin der Luft liegt. Sozialrevolutionäre Redner in Arbeiterversammlungensind eine Art Sturmvögel, die anzeigen, daß sich im Proletariat die Stim-mung hebt, daß das Proletariat sich nach den Niederlagen, die es erlittenhat, schon ein wenig erholt und Kräfte gesammelt hat, daß im Proletariatwieder eine breite und tiefe Gärung beginnt, die zu neuem Kampf gegendie alte Ordnung führt.

Wenn man die Oktoberperiode und die „Duma"periode mit den gegen-wärtigen Wahlen vergleicht und eine einfache Aufstellung macht überdie fest verankerten Organisationszellen der Sozialrevolutionäre, wirdman zweifellos diese Erklärung bestätigt finden.

Es wäre aber natürlich der größte Leichtsinn, sich auf diese Erklärungzu beschränken und die Augen vor der Tatsache zu verschließen, daß dieSozialrevolutionäre gerade in den größten Betrieben mit der klassen-bewußtesten und kampferprobtesten Arbeiterschaft die Sozialdemokratenbesiegt haben. Zum Glück wissen wir jedoch jetzt schon, daß die äußersteLinke der bürgerlichen Demokratie in Wirklichkeit durchaus nicht dieSozialdemokratie, sondern die opportunistische Verfluchung der Sozial-demokratie besiegt hat.

Die revolutionäre bürgerliche Demokratie hat vor der revolutionärenSozialdemokratie die Segel gestrichen und tatsächlich nur diejenigen be-siegt, die im Schlepptau der nichtrevolutionären Bourgeois schwimmen,die für Blocks mit den Kadetten sind. Hiervon zeugen ganz unzweideutigsowohl die Berichte der sozialdemokratischen Funktionäre über denCharakter der Sozialrevolutionären Wahlreden als auch die Angabenüber den Zeitpunkt des Sozialrevolutionären „Sieges" über die Men-schewiki.

Die Wahlen fanden in Petersburg am 7. und 14. Januar statt. Am7. Januar hatte das proletarische Petersburg gerade erfahren, daß sichdie 31 Menschewiki von der sozialdemokratischen Konferenz abgespaltenhatten, um mit den Kadetten Mandatsschacher zu treiben. Die ganze dar-

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Die "Wahlen in der Petersburger Arbeiterkurie 55

auffolgende Woche frohlockte und lärmte die gesamte bürgerliche PresseSt. Petersburgs, lobte die Menschewiki, placierte sie neben den Kadetten,zollte ihrer Absage an die Revolution und ihrem Übergang zum „oppo-sitionellen "Block", zu den „gemäßigt sozialistischen Parteien", Beifall usw.usf.

Die Niederlage der Menschewiki in den Großbetrieben ist die ersteWarnung, die die proletarischen Massen den schwankenden intelligenz-lerischen Opportunisten erteilt haben!

Die Menschewiki sind zu den Kadetten umgeschwenkt - das Peters-burger Proletariat hat den Menschewiki den Rücken gekehrt.

Die Sozialrevolutionäre haben den Augenblick der Spaltung in derSozialdemokratie ausgenutzt, haben die Empörung der Arbeiter über diekadettenhaften Menschewiki ausgenutzt, haben sie geschickt und beden-kenlos ausgenutzt. In den Vororten zogen sie über die Sozialdemokratenwegen der Blocks mit den Kadetten her (wobei sie sich über die Bolsche-wiki und das Petersburger Komitee der SDAPR ausschwiegen), in derStadt aber feilschten sie selbst mit den Kadetten! Jetzt begreift man,warum sie ihre Ansichten und ihre Beschlüsse über Blocks mit den Kadet-ten, ihre Blocks mit den Volkssozialisten usw. usw. usf. so eifrig geheim-hielten und geheimhalten.* Alle Sünden des Menschewismus begehen sieinsgeheim selbst, vor den Arbeitern aber ziehen sie über den Mensche-wismus her, um dafür Beifall einzuheimsen und Mandate zu ergattern!

Der Organisator des Semjannikowschen Unterbezirksverbands derSDAPR, dessen Bericht wir weiter unten benutzen, schreibt in seinemBericht über die Wahlen in dem riesigen Semjannikow-Werk: Trotz derProteste der Bolschewiki stellten die Menschewiki die Kandidatur desGen. X.18 auf. „In der Wähler-Versammlung der Fabrik ergriff ein sozial-revolutionärer Intellektueller das Wort und unterzog die menschewisti-schen Argumente, mit denen Gen. X. die Notwendigkeit von Abkommenmit den Kadetten begründete, einer schonungslosen Kritik, und Gen. X.setzte sich, wie die Arbeiter sagten, in die Tinte." Die Menschewiki erlit-ten bei der Masse eine vollständige Niederlage. „Als die Masse erfuhr",lesen wir in demselben Bericht, „daß die sozialdemokratischen Kandidatenfür Abkommen mit den Kadetten eintreten und daß diese Kandidaten

* Sie veröffentlichten die Resolution ihres Petersburger Komitees erst nachden Wahlen in der Arbeiterkurie.

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Menschewiki sind, da wurde gleich hier (in der Fabrik) geradeheraus er-klärt, man werde nidbt für die Menschewiki stimmen."

Hieraus erkennt man ganz klar, warum die Menschewiki bei den Wah-len zur sozialdemokratischen Konferenz dagegen waren, daß nachPlattformen abgestimmt wurde, d. h. dagegen waren, daß die Mas-sen selbst unmittelbar zur Frage von Blocks mit den Kadetten Stellungnahmen!

. . . „In einem Fabrik-Unterbezirk der Menschewiki, der Newski-Stearin-fabrik, erklärte der Arbeiter N. M., den man als Bevollmächtigten wählenwollte, ganz offen: .Nachdem ich erfahren habe, daß die Sozialdemokratenfür Abkommen mit den Kadetten sind, gehe ich zu den Sozialrevolutionärenüber.' lind er ging wirklich zu ihnen über und wurde als bevollmächtigtergewähltU"

Solche Schande haben diese kläglichen Opportunisten, die es fertig-bringen, sich am Vorabend der Wahlen von der Arbeiterpartei abzuspal-ten, um mit den Kadetten Mandatsschacher zu treiben, über die Sozial-demokratie gebracht!

Jeder Sozialdemokrat, dem die Ehre und der gute Name der proletari-schen Partei teuer sind, kann daraus nur einen Schluß ziehen: erbar-mungsloser Kampf gegen den Menschewismus in Petersburg. Wir müs-sen den Arbeitern die Augen öffnen über die Leute, die die Arbeiter durchihre Kadettenpolitik vom Sozialismus zur revolutionären Bourgeoisietreiben.

Die Sozialrevolutionäre haben den Menschewiki die größten Betriebeentrissen. Wir müssen sie den Sozialrevolutionären wieder entreißen. Wirmüssen neue agitatorische Kräfte, neue revolutionäre sozialdemokratischeSchriften gerade in die größten Betriebe schicken, um den Arbeitern klar-zumachen, wie sie aus den Händen der kadettenfreundlichen Mensche-wiki in die Hände der kadettenfreundlichen Sozialrevolutionäre geratensind!

Der ganze Gang der Wahlkampagne in Petersburg, alle Angaben überdie endlosen Schwankungen der Menschewiki, über ihre Bemühungen(nach ihrer Abspaltung von der Arbeiterpartei), dem konterrevolutionärenKadettenblock beizutreten, darüber, wie sie im Verein mit den Sozial-revolutionären mit den Kadetten um Mandate geschachert haben - allesdies gibt uns überaus reiches Material für den Kampf, den wir in den

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Die Wählen in der Petersburger Arbeiterkurie 57

Petersburger Großbetrieben sowohl gegen die !Mensd>ewiki als auch gegendie Sozialrevolutionäre führen müssen.

Die revolutionäre Sozialdemokratie muß und wird die Großbetriebe zuihren festen, sowohl für die Opportunisten als auch für die revolutio-nären Kleinbürger uneinnehmbaren Stützpunkten machen.

„Prostyje Retsdoi" Nr. 3, "Nach dem Text der30. Januar i907. ,Prostyje Retsdhi".Wntersdirift: "N. Lenin.

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DER KAMPF DER SOZIALDEMOKRATENUND DER SOZIALREVOLUTIONÄRE

BEI DEN WAHLENIN DER ST.-PETERSBURGER ARBEITERKURIE

Der große Erfolg, den die Sozialrevolutionäre bei den Wahlen in derArbeiterkurie erzielten, hat viele Sozialdemokraten in eine niedergeschla-gene Stimmung versetzt. Indessen ist dieser Erfolg der Sozialrevolutionäreeine sehr bezeichnende Tatsache, die auf einen von den Sozialdemokratenbegangenen ernsten Fehler hinweist und eine ernste Untersuchung erfor-dert. Wir dürfen nicht mutlos sein, nicht den Kopf hängen lassen, sondernmüssen die verflossenen Wahlen studieren, um den Ursachen des rela-tiven Mißerfolges bei den Wahlen auf den Grund zu kommen und zugewährleisten, daß die weitere Arbeit der Sozialdemokraten unter derArbeiterschaft richtig organisiert wird.

Vorzügliche Unterlagen für dies Studium der Wahlen der Arbeiter-bevollmächtigten liefert der „Bericht des Semjannikowschen Unterbezirks-verbands des Newski-Bezirks" des Petersburger Komitees der SDAPRüber die Zeit vom 15. November 1906 bis zum 15. Januar 1907.

Wir wollen diesen „Bericht" nicht vollständig wiedergeben, sondernihm nur genaue Zahlen über den Kampf entnehmen, den die mensche-wistischen und bolschewistischen Sozialdemokraten bei den Wahlen derBevollmächtigten in 23 Werken und Fabriken einer der größten (undhistorisch namhaftesten) Arbeitervorstädte Petersburgs gegen die Sozial-revolutionäre geführt haben.

Wir wollen diese Zahlen für alle Werke oder Fabriken einzeln anfüh-ren, damit jeder unterrichtete Parteiarbeiter unsere Angaben prüfen undberichtigen kann, wobei wir die Betriebe einteilen in solche, wo dieKandidaten Bolschewiki waren, und in solche, wo die Kandidaten Men-

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Der Kampf der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre 59

Betriebe, in denen bolschewistischeKandidaten aufgestellt wurden

Von den gewähltenBevollmächtigten sind

Sozial-demokraten

mit denSozial-

demokratenSympathi-sierende

Sozial-revolutio-

näre

Russisdi-Amerik. Maschinenfabrik . . . .ArmaturenwerkOffenbacherUpenekSchwellen-Imprägnierungs-FabrikFabrik vorm. OnufrijewDachsparrenfabrikPablWenaAt la s . . . .Alexandrowsche WaggonfabrikEisengießerei

Insgesamt in 12 'Betrieben

Betriebe, in denen mcnschewistischeKandidaten aufgestellt wurden

11

Semjannikow-WerkMaxwellThorntonGromowNaumanGrappAlexejewNewski-StearinfabrikWarguninObudiow-WerkeSpielkartenfabrik

Insgesamt in u Betrieben

ein Bev. mit ungeklärter Stellung

6 | - | 12undl Bev.mitungeklärterStellung

Insgesamt in 23 Werken und Fabriken 17 | 1 I 14und 1 Bev. mit ungeklärter Stellung

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60 W.O. Centn

schewiki waren. Die eindeutigen Großbetriebe, d. h. diejenigen, diemehr als einen Bevollmächtigten gewählt haben, sind im Druck hervor-gehoben.

Aus diesen Zahlen ist vor allem ersichtlich, daß im allgemeinen dieSozialdemokraten die Sozialrevolutionäre besiegt haben. Die Sozialdemo-kraten haben 18 Bevollmächtigte (wobei wir den einen mit der Sozial-demokratie Sympathisierenden zu den Sozialdemokraten zählen) durch-gebracht, die Sozialrevolutionäre jedoch nur 14.

Weiter ist aus diesen Zahlen klar ersichtlich, daß 1. in den größ-ten Betrieben im großen und ganzen die Sozialrevolutionäre gesiegthaben; 2. daß die Sozialrevolutionäre im allgemeinen die mensche-wistischen Sozialdemokraten besiegt haben,- 3. daß die bolschewisti-schen Sozialdemokraten im allgemeinen die Sozialrevolutionäre besiegthaben.

In der Tat, wenn wir die vier größten Betriebe nehmen, d. h. diejeni-gen, die mehr als einen Bevollmächtigten gewählt haben, so erhalten wirfolgendes Ergebnis: Insgesamt wurden in diesen Betrieben 14 Bevollmäch-tigte gewählt (also von 14 000 Arbeitern), von denen i i Sozialrevolutio-näre und 3 Sozialdemokraten sind. In den übrigen 18 kleineren Betrie-ben wurden 15 Sozialdemokraten und 3 Sozialrevolutionäre gewählt. DieGesamtzahl der in diesen Betrieben beschäftigten Arbeiter ist uns unbe-kannt, sie mag mehr als 18 000 betragen, denn Betriebe mit weniger als2000 Arbeitern entsenden einen Bevollmächtigten, sie kann jedoch auchweniger als 18 000 betragen, denn alle Betriebe, die 50 und mehr Arbeiterbeschäftigen, wählen je einen Bevollmächtigten.

Folglich müssen wir unseren allgemeinen Schluß hinsichtlich des Siegsder Sozialdemokraten über die Sozialrevolutionäre im Newski-Bezirkändern: in den größten Betrieben haben die Sozialrevolutionäre die Sozial-demokraten besiegt! Die Angaben über die Zahl der Bevollmächtigten rei-chen noch nicht für eine genaue Schlußfolgerung aus: man braucht dieZahlen für die einzelnen Betriebe, außerdem Angaben über die Zahl derArbeiter in jedem Betrieb und über die Zahl derjenigen, die sich in jedemBetrieb an der Abstimmung beteiligt haben.

Ferner ist aus den angeführten Daten klar ersichtlich, daß der Sieg derSozialrevolutionäre voll und ganz von den Menschewiki verschuldet ist.Die Menschewiki haben an die Sozialrevolutionäre volle 12 Sitze abge-

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Der Kampf der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre 61

geben, 12 von 18, die Bolschewiki aber haben insgesamt nur 2 Sitze(von 14) abgegeben.

In den bolschewistischen Betrieben (wobei wir nicht diejenigen als bol-schewistisch bezeichnen, wo überhaupt Bolschewiki arbeiten, sondern die-jenigen, wo gegen die Sozialrevolutionäre bolschewistische Kandidatenaufgestellt waren) sind die Sozialrevolutionäre eindeutig geschlagen wor-den; das gilt insbesondere für den größten Betrieb, Pahl, wo die Bolsche-wiki zwei von drei Bevollmächtigten durchgebracht haben. Wenn man inBetracht zieht, daß uns keine Unterlagen darüber zur Verfügung stehen,wo die Sozialrevolutionäre überhaupt Kandidaten aufgestellt haben, daßfolglich aller Wahrscheinlichkeit nach die Sozialrevolutionäre auch in derRussisch-Amerikanischen Maschinenfabrik, in der Alexandrowschen Wag-gonfabrik, im „Atlas" usw. eine Niederlage erlitten haben, so gelangtman zu dem Schluß: Im allgemeinen haben die "Bolschewiki die Sozial-revolutionäre besiegt.

In den menschewistischen Betrieben hingegen wurde die Sozialdemo-kratie geschlagen: die Sozialrevolutionäre eroberten 12 Sitze, die Sozial-demokraten nur 6. Es unterliegt keinem Zweifel, daß im allgemeinen die •Sozialrevolutionäre die Menschewiki bei der Masse des Proletariats be-siegen.

Wieweit man die Schlüsse, die sich aus den Angaben über den Newski-Bezirk ergeben, auf ganz Petersburg ausdehnen kann, können wir nichtgenau sagen. Auf Grund der Tatsache jedoch, daß „das ganze sozial-demokratische Petersburg" von den unerwarteten Siegen der Sozialrevo-lutionäre in den Großbetrieben spricht, die Gesamtzahl der sozialdemo-kratischen Bevollmächtigten aber offenbar bedeutend größer ist als dieGesamtzahl der Sozialrevolutionären Bevollmächtigten - auf Grund dieserTatsache kann man annehmen, daß die Zahlen des Newski-Bezirks mehroder minder typisch sind. Im Bezirk Wassiljewski-Ostrow haben dieSozialrevolutionäre, wie berichtet wird, in einer Hochburg des Mensdbe-wismus, der Baltischen Werft, die Menschewiki mit riesiger Stimmenzahlgeschlagen: sie erhielten an die 1600 Stimmen, die Menschewiki jedochweniger als 100. In demselben Bezirk hingegen haben in der großenGeschoßfabrik die Sozialrevolutionäre ebenfalls ungefähr 1600 Stimmen,die Bolschewiki aber ungefähr 1500 Stimmen aufgebracht, wobei die Bol-schewiki die Wahlen angefodbten haben, da sie wegen der Zertrümme-

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62 W. 1. Lenin

rung einer Wahlurne nicht ordnungsgemäß verlaufen sind, und verlan-gen, daß die Wahlen für ungültig erklärt werden. Oder ein andererBericht: In dem Französisch-Russischen Werk, aus dem die menschewisti-schen Intellektuellen ganz ungeniert 370 Stimmen - ausschließlichmensdiewistisdie - zur Petersburger sozialdemokratischen Konferenz„mitbrachten", wurden als Bevollmächtigte ein "Bolsdjewik und ein Sozial-revolutionär gewählt. In dem Wiborger Bezirk, dieser Zitadelle desMenschewismus, haben die Sozialrevolutionäre die menschewistischenSozialdemokraten besiegt, usw. usf.

Damit alle diese Mitteilungen geprüft, damit genaue Angaben gewon-nen werden können, ist es unbedingt erforderlich, und zwar auf jedenfall, bevor der Eindruck der Wahlen verblaßt ist, Unterlagen über alleFabriken und Werke zusammenzubringen, die Bevollmächtigte gewählthaben. Für die örtlichen sozialdemokratischen Parteiarbeiter ist es eineKleinigkeit, die Zahlen über jeden Betrieb gesondert zu sammeln und auf-zuschreiben. Die Zusammenstellung dieser Zahlen aber braucht die So-zialdemokratie, damit sie bewußt zu den Wahlen Stellung nehmen kann- damit sie ihre Fehler und Mängel nicht kleinmütig vertuscht, sondernsie einer parteilichen Kritik unterzieht und alle Anstrengungen daraufrichtet, diese Mängel zu beseitigen.

Es ist unmöglich, in St. Petersburg eine zielbewußte sozialdemokra-tische Arbeit durchzuführen, wenn man nicht mit aller Aufmerksamkeitden Verlauf der Abstimmung der Arbeitermassen für die Kandidaten dereinen oder der anderen Partei verfolgt. Für die bürgerlichen Parteien istnur die Ergatterung von soundso viel Mandaten wichtig. Uns kommt esdarauf an, zu erreichen, daß sich die Massen selbst klarwerden über dieLehre und die Taktik der Sozialdemokratie zum Unterschied von allenkleinbürgerlichen Parteien, auch wenn sie sich selbst als revolutionäre,sozialistische Parteien bezeichnen. Wir sind deshalb verpflichtet, uns ge-naue und vollständige Angaben über die Abstimmungen und Wahlen inder St.-Petersburger Arbeiterkurie zu verschaffen.

Wir wenden uns daher an alle örtlichen sozialdemokratischen Partei-arbeiter in den Bezirken und Unterbezirken von St. Petersburg mit derdringenden Bitte, genaue Angaben ungefähr nach folgendem Programmzu beschaffen: 1. Bezirk; 2. Name des Betriebs; 3. Zahl der Arbeiter;4. Zahl der an der Abstimmung Beteiligten; 5. Richtung der konkur-

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"Der Xatripf der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre 63

rierenden Kandidaten: Sozialrevolutionär, Bolschewik, Menschewik, an-dere Parteien; 6. Zahl der Stimmen, die für jeden einzelnen Kandidatenabgegeben wurden. Die Zusammenstellung dieser Daten wird uns einefeste Grundlage bieten für die Bewertung der verschiedenen Seiten dersozialdemokratischen Arbeit und für die Beurteilung unserer Erfolge oderMißerfolge bei den nächsten Wahlen.

„Vrostyie Retsdbi" Nr. 3, Nadh dem Jext der30. Januar 1907. mTrosty\e Retsdbi".

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64

WIE SOLL MAN BEI DEN WAHLENIN PETERSBURG STIMMEN?

(Wem nützen die Märchen von einer Schwarzhundertergefahr?)

Die Sozialdemokraten der revolutionären Richtung erklären schon seitlangem, daß die Märchen von einer Schwarzhundertergefahr von denKadetten vorsätzlich ausgedacht und verbreitet werden, um die ihnenvon links drohende Qefabr von sich abzuwenden.

Man hat auf die Sozialdemokraten nicht gehört. Die liberale Pressezeterte und zetert im Chor von einer Schwarzhundertergefahr. Die klein-bürgerlichen Radikalen, die Volkstümler, plapperten naiv die Worte derLiberalen nach. Die opportunistischen Sozialdemokraten schwammenebenfalls im Fahrwasser der Liberalen und sanken zuweilen (wie z. B. inPetersburg) so tief, daß sie gegenüber dem Proletariat glattweg zu Streik-brechern wurden.

Nun sehe man sich an, was die Wahlen zeigen.Jedermann sieht jetzt, daß sich die Stimmung der Wähler nach links

gewendet hat. Die Schwarzhunderter haben bei den Wahlen eine unver-gleichlich schwerere Niederlage erlitten als im vorigen Jahre. Die revolu-tionären Sozialdemokraten haben recht behalten. Daß bei den Wahleneine Schwarzhundertergefahr drohe, ist ein Märchen, in die Welt gesetztvon den Kadetten, die hinter dem Rücken des Volkes mit Stolypin scha-chern. Bekanntlich hat sich in Petersburg Herr Wodowosow, der im vori-gen Jahre für die Kadetten stimmte, jetzt von ihnen abgewandt und istmit Enthüllungen über Miljukows Visite bei Stolypin an die Öffentlichkeitgetreten! Und Miljukow mußte diese Tatsache zugeben. Nur verheim-licht er dem Volke nach wie vor, welche Bedingungen ihm Stolypin für dieLegalisierung der Kadetten gestellt hat!

Die Kadetten schreiben sich jetzt in ihren Zeitungen die Finger wund,

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Wie sott man bei den Wahlen in Petersburg stimmen? 65

um Stolypin ihre Mäßigung, Bescheidenheit, Loyalität, ihre Unabhängig-keit von den „Linken", ihre Bereitschaft zum Kampf gegen die Linkenzu beweisen.

Eine vorteilhafte und bequeme Politik, nicht wahr? Bei Stolypin undseinen Freunden, d. h. den Schwarzhundertern, schmeichelt man sich da-durch ein, daß man sich von den „Linken" lossagt, daß man in der Presse,in den Versammlungen und bei den Wahlen gegen die Linken kämpft.Bei den Linken aber - oder, richtiger, bei den Einfaltspinseln und Streik-brechern unter den Linken - schmeichelt man sich ein mit dem Gezetervon einer Schwarzhundertergefahr: Stimmt für die Kadetten, um eineZersplitterung der Stimmen zu vermeiden!

Eben diese Politik haben die Kadetten auch in Moskau betrieben. HerrKokoschkin, früheres Dumamitglied und einer der bekanntesten Kadetten,schrieb am Wahltag in den „Russkije Wedomosti"19:

„Für jeden ist klar, daß der Linksblock nicht die Stimmen derjenigen Par-teilosen auf sich vereinigen kann, die zwischen den ,Oktobristen' und den.Kadetten' schwanken; er kann dem ,Verband vom 17. Oktober' keine einzigeStimme entreißen. Er kann jedoch der Partei der Volksfreiheit Stimmen ent-reißen und dadurdo zum Jriumpb der Reaktion beitragen, und das alleinwird das wirkliche Ergebnis sein, wenn seine Tätigkeit erfolgreich ist."

So schrieb Herr Kokoschkin am Morgen des Wahltages. Und die Wah-len zeigten, daß Herr Kokoschkin eine grobe Unwahrheit gesagt hatte.Das Ergebnis der Tätigkeit des Linksblocks zeigte, daß ein Jriumph derRechten in Moskau unmöglich war, wieviel Stimmen wir audo den Ka-detten entrissen hätten I

Die Moskauer Wahlen haben bewiesen, daß das Märchen von einerSchwarzhundertergefahr eine kadettisdhe Züge ist, die von jetzt ab nurbewußte Streikbrecher unter den Linken wiederholen können.

Man nehme die Stimmenzahlen nach Bezirken. Wir veröffentlichen sievollständig in der Notiz „Die vorläufigen Ergebnisse der Wahlen in Mos-kau". Diese Zahlen zeigen, daß in ii von i6 "Bezirken* die Zahl der

* Insgesamt gibt es in Moskau 17 Wahlbezirke, über den 17., den Pjat-nizki-Bezirk, liegen noch keine vollständigen Angaben vor. Die Kadettenhaben hier mindestens 1488 Stimmen erhalten, die Oktobristen anscheinendetwa 600, der Linksblock anscheinend etwa 250.

5 Lenin, Werte, Bd. 13

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66 W.l£enin

Stimmen, die für die Oktobristen abgegeben wurden, weniger als die"Hälfte der Stimmen ausmachte, die Kadetten und Linke zusammen er-hielten. 3n i4 Bezirken konnten die Linken also durch ihr selbständigesAuftreten keinesfalls „zum 7riumph der Reaktion beitragen".

Herr Kokoschkin hg, als er den Linksblock als Helfershelfer der Reak-tion verleumdete!

Herr Kokoschkin suchte den Wählern durch das Trugbild der Schwarz-hundertergefahr Angst einzujagen, um sie davon abzuhalten, für denLinksblock zu stimmen.

Herr Kokoschkin fürchtet sich ebenso wie die Petersburger Kadetten,auch nur dem Zensuswähler eine Frage vorzulegen, die den "Kern derSache betrifft, die Frage, ob er grundsätzlich mit der Partei der Ge-sprächspartner Stolypins oder mit der Sozialdemokratie und den Trudo-wiki sympathisiere. Die Herren Kokoschkin rechnen ebenso wie diePetersburger Kadetten nicht auf das Bewußtsein des Wählers, sondern aufdie Angst des Spießbürgers, der vom Geheul der liberalen Lakaienpressevon einer Schwarzhundertergefahr betäubt ist.

Und die Moskauer Wahlen waren wirklich Wahlen verängstigter Spieß-bürger. Eine Bestätigung hierfür finden wir in einer Quelle, die sicherlichniemand einer Sympathie mit den „Bolschewiki" verdächtigen wird.

Die „Birshewyje Wedomosti"20 veröffentlichten am 29. Januar denBrief eines von ihnen entsandten Sonderberichterstatters: „Moskau wähltWahlmänner". Dieser Berichterstatter schreibt:

„Aus der Menge herausgetreten, gehen die Wähler weit abseits und be-ginnen ihre Eindrücke auszutauschen.

,Nun, hast wohl für Gringmut gestimmt, nicht wahr?' fragt ein Kontraktorden von ihm beschäftigten Meister.

,Aber nein doch, Sergej Petrowitsch, wir sind für die Kadetten', antworteteder Meister, der klein und rundlich wie ein Faß ist.

,Aber weshalb nicht für den Linksblock?' versucht der Kontraktor heraus-zukriegen.

,Ist gefährlich, die Stimmen würden sich zersplittern', antwortet derMeister."

Das ist der Grund, weshalb die Masse der städtischen Kleinbürger inMoskau für die Kadetten gestimmt hat! Der Kleinbürger hat gegen die

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Wie soll man bei den. 'Wahlen in "Petersburg stimmen? 67

Linken gestimmt nidht aus Antipathie gegen sie, sondern deshalb, weiles „gefährlich" ist, weil „sidb die Stimmen zersplittern würden", d. h.,weil er den kadettisdben Lügnern geglaubt hat, die das Monopol der libe-ralen Tageszeitungen zur Verdummung des Kleinbürgers ausgenutzthaben.

Die Moskauer Wahlen vom 28. Januar haben gezeigt, daß sich dieStimmen bei vier Listen nicht so zersplittern konnten, daß die Qefahreines Sieges der Sdhwarzen gedroht hätte.

Die Kadetten haben in Moskau den erschrockenen Kleinbürger an derNase herumgeführt. Mögen das die Petersburger Wähler wissen, mögensie nicht ein zweites Mal den mit Stolypin schachernden Kadetten aufden Leim gehen!

Wir lenken die Aufmerksamkeit der Leser noch auf die Gegenüber-stellung der Daten (für neun Moskauer Bezirke - vollständigere Datenhaben wir leider nicht zur Hand) von 1906 und von 1907. Bekanntlichwehklagen alle Nachbeter der Kadetten und Streikbrecher unter den Lin-ken über die Senatserläuterungen, die angeblich beweisen, daß man sichnicht auf die Daten von 1906 stützen dürfe, daß man bei den Wahlenvon 1907 ein schlechteres Ergebnis erwarten müsse, daß es jetzt eineSchwarzhundertergefahr gebe.

Was aber hat Moskau gezeigt? Im Jahre 1906 wurden in neun Bezir-ken für die Kadetten 13 220 Stimmen abgegeben, für die Rechten 5669(Oktobristen) plus 690 (Monarchisten), insgesamt 6359 Stimmen (viel-leicht sogar etwas mehr, denn aus den von uns angeführten Zahlen istersichtlich, daß aus einigen von diesen neun Bezirken über die Stimmen-zahl der Monarchisten überhaupt keine Angaben vorliegen).

Im Jahre 1907 wurden in denselben Bezirken gegen die Schwarzen14 133 Stimmen abgegeben (davon 11451 Stimmen für die Kadettenund 2682 für die Linken), für die Schwarzen dagegen 5902 Stimmen(davon 4412 für die Oktobristen und 1490 für die Monarchisten).

Also ungeachtet der Senatserläuterungen ist die Zahl der abgegebenenStimmen im Jahre 1907 sogar etwas größer gewesen als im Jahre 1906(20 035 gegen 19 579). Die Zahl der Stimmen gegen die Schwarzen istgrößer als im Jahre 1906 (14 133 gegen 13 220); die Zahl der Stimmenfür die Schwarzen ist kleiner als im Jahre 1906 (5902 gegen 6359).

Die Moskauer Erfahrung beweist faktisdh, daß man sich durdbaus auf

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68 "W. 1 Lenin

die Daten vom Jahre 1906 stützen kann, denn die Daten vom Jahre 1907zeigen einen Schritt zum Besseren.

Und was besagen die Petersburger Zahlen von 1906? Diese Zahlenbesagen, daß in neun Bezirken, die 114 Wahlmänner stellen, die hödbsteStimmenzahl der Schwarzen im Jahre 1906 um mehr als die Hälfte klei-ner war als die niedrigste Zahl der Kadettenstimmen.*

In Petersburg kann also eine Verteilung der sich gegen die Schwarzenaussprechenden Stimmen auf Kadetten und Linke unmöglich einen Siegder Rechten zur 7olge haben.

Sogar die Wahlen der Wahlmänner durch die städtischen Wähler imPetersburger Landkreis, die am 29. Januar stattgefunden haben, zeigen,daß die Schwarzhundertergefahr ein kadettisches Lügenmärchen istSogar von diesen Wählern, für die es besonders schwierig war, sichListen zu beschaffen und den Weg zur Wahlstelle zurückzulegen, erhiel-ten die Schwarzen so wenig Stimmen, daß ihr Sieg ausgeschlossen war,wie immer auch sieb die Stimmen verteilt hätten. Für die Kadetten wur-den mindestens 1099 Stimmen, für die Sozialdemokraten 603, für dieOktobristen 652, für den Bund des russischen Volkes -20 Stimmenabgegeben. Wieviel Stimmen wir hier auch den Kadetten entrissen hät-ten, die Rechten hätten nicht durchkommen können!

Deshalb erklären wir jetzt mit aller Bestimmtheit: Wer in Petersburgmit Berufung auf eine Schwarzhundertergefahr dazu auffordert, für dieKadetten zu stimmen, um eine Zersplitterung der Stimmen zu vermeiden,der lügt bewußt und betrügt den Wähler. Wer in Petersburg, sei es auchnur in einem Bezirk, mit Berufung auf eine Schwarzhundertergefahr denWahlen fernbleibt, der lügt bewußt und betrügt den Wähler, um seineStreikbrecherrolle gegenüber dem Linksblock zu bemänteln.

In Petersburg besteht ebensowenig wie in Moskau eine Schwarzhun-dertergefahr, wohl aber besteht eine Kadettengefahr. Es besteht die Ge-fahr, daß der unwissende und eingesdiüchterte Kleinbürger seine Stimmedem Kadetten gibt, nicht aus Antipathie gegen den Linksblock, gegenSozialdemokraten und Trudowiki, sondern aus der ihm von der lügneri-

* Diese Zahlen sind vollständig enthalten im „Srenije" Nr. 1. (Siehe denvorliegenden Band, S. 35. Die Red.*) Wir bringen sie weiter unten noch einmalzum Abdruck, damit alle Petersburger Wähler sie kennenlernen.

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Wie soll man bei den Wahlen in Petersburg stimmen? 69

sehen Kadettenpresse eingeimpften Furcht vor der Zersplitterung derStimmen.

Gegen diese „Gefahr" muß jeder kämpfen, der will, daß die Wählerin Petersburg wohlüberlegt abstimmen.

In Petersburg gibt es keine Schwarzhundertergefahr, sondern eineKadettengefahr. Deshalb ist es unverzeihliches Streikbrechertum gegen-über den Linken, wenn man in denjenigen drei Bezirken (Wassiljewski-Ostrow, Roshdestwenski und Litejny), wo bei Zersplitterung der Stim-men (nach den Wahlergebnissen von 1906 zu urteilen) ein Sieg derSchwarzen möglich ist, der Abstimmung fernbleibt. Diese drei Bezirkestellen 46 von insgesamt 174 Wahlmännern (160 für die Stadt und 14von der Arbeiterkurie). Also können diese Bezirke den Ausgang derWahlen nicht beeinflussen. Sie können aber sehr viel bedeuten für denSieg der Linken oder der Kadetten. Angenommen, die Sozialdemokratenund Trudowiki siegen in vier Bezirken - Spasski-, Moskauer Bezirk,Petersburger und Wiborger Bezirk (wir greifen sie aufs Geratewohl her-aus). Dann erhalten die Linken 74 Wahlmänner (60 von der Stadt und 14von den Arbeitern). Wenn die Kadetten in allen übrigen Bezirken siegen,dann erhalten sie 100 Wahlmänner und bringen alle ihre "Deputierten indie T)umal Wenn jedoch in den drei obengenannten Bezirken Schwarzegewählt werden (46 an der Zahl), dann erhalten die Kadetten nur54 Wahlmänner und werden gezwungen sein, sich mit den Linken zuvereinigen, wobei die Kadetten zwei von sedbs Dumasitzen erhalten.

Wer also in den drei „schwarzen" Bezirken Petersburgs der Abstim-mung fernbleibt, der dient insgeheim den "Kadetten, der verübt Streik-bruch am Linksblock!

Bürger! Wähler! Glaubt nicht den Betrügern, die euch von einer Ge-fahr der Stimmenzersplitterung in Petersburg reden. Glaubt nicht denLügenmärchen von einer Schwarzhundertergefahr in Petersburg.

In Petersburg gibt es keine Schwarzhundertergefahr. In Petersburgkönnen die Rechten auch dann nicht siegen, wenn sich die anderen Stim-men auf Kadetten und Linke verteilen.

Trefft eure Wahl nicht aus Furcht vor einer „Gefahr", die die kadet-tischen Lügner (die über die Hintertreppe zu Stolypin laufen) ersonnenhaben, wählt nach eurem Gewissen und nach eurer Überzeugung.

Für die liberalen Bourgeois, die den Bauern den sie ruinierenden Los-

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70 W. 3. Lenin

kauf aufzwingen wollen, die die Sache der Bauern verraten und in dieHände der liberalen Gutsbesitzer legen, die im geheimen mit Stolypinschachern, mit den Schwarzhundertern Verhandlungen führen?

Oder für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, für die Partei desProletariats, das von allen Parteien der Trudowild unterstützt wird?

Bürger, stimmt für den Linksblock!

„Srenije" JVr. 2, 5Vad> dem 7ext des „Srenije".4. Tehruar i907.llntersdhrift: N. Lenin.

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71

DIE V O R L Ä U F I G E N ERGEBNISSE

DER W A H L E N IN M O S K A U

Die liberalen und die vor den Liberalen liebedienernden Zeitungenzetern immer noch über eine Schwarzhundertergefahr in Moskau undPetersburg.

Um zu zeigen, in welchem Maße verlogen dies Gezeter und diese Phra-sen sind, bringen wir eine systematische Zusammenstellung aller bisherin den Petersburger Zeitungen veröffentlichten Angaben über die Mos-kauer Wahlen.

Zum Vergleich wollen wir auch die Ergebnisse der Wahlen von 1906in der Stadt Moskau aus der Zeitung „Nascha Shisn"21 vom28. März 1906 wiedergeben.

Über die Bedeutung der einen und der anderen Angaben, die nochein übriges Mal die ganze Verlogenheit der Fabeln von einer „Schwarz-hundertergefahr" beweisen, sprechen wir an anderer Stelle.

Die Stimmen, die 1907 bei den Wahlen in der Stadt Moskau abge-geben wurden, verteilen sich folgendermaßen:

Wahlbezirke der Stadt MoskauKonst.Dem.

1348934643938

13311183

6377

Okto-bristen

514462266631551538

2962

Monar-chisten

154113107244191161

970

Links-block

ArbatskiBasmannyInnenstadtLefortowskiMjasnizkiPretschistenski

Übertrag

21415561

190191175

986

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71 "W.3. Lenin

Wahlbezirke der Stadt MoskauKonst.Dem.

Okto-bristen

Monar-chisten

Links-block

' ÜbertragPresnenskiRogoshskiSerpudiowskiSretenskiSuschtschewskiChamownitscheskiJakimanskiTwerskoiJausskiMeschtschanski

3n i6 Bezirken

6377

1196

1565

469

1239

2061

1011

1153

1730

1117

1839

2962

550

963

189

403

700

647

552

680

299

838

970

187

267

69

106

398

197

171

189

75

262

986

458

286

101

303

841

297

241

313

162

689

19757 8783 2891 4677

^Moskauer Wahlen von i906

Wahlbezirke der Stadt MoskaaKonst.Dem.

Okto-bristen

Monar-chisten

Links-block

ArbatskiSuschtschewskiPresnenskiPretschistenski.TwerskoiInnenstadt . . . .SretenskiJausskiBasmanny

12692867166218101810

5711368

6001263

700930646734850362640300507

o193150

?1745040?83

On 9 Bezirken 13220 5669 690In denselben 9 'Bezirken 1907 11451 4412 1490 2682

Die Wahlen in Moskau beweisen somit die Verlogenheit der Märchenvon einer Schwarzhundertergefahr. Wir erinnern noch einmal daran, daßauch das Petersburger Wahlergebnis von 1906 dasselbe bewiesen bat-.

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Die vorläufigen Ergebnisse der Wahlen in 7Wosk.au 73

Abstimmung in Petersburg bei den Wahlen zur ersten Duma

Wahlbez i rke

Niedrigste

zahl für dieListe derKadetten

139529292135348618534788214149374873341432413540

Hälftedavon

697146410671743

9262394107024682436170716201770

HöchsteStimmen-

zahl für dieliste derRechts-parteien

6681214

9851486

6521729

96921742320209720662250

Zahl derWahl-

männer

AdmiralitätAlexander-Newski . . .KasanerNarwaerWiborgerPetersburgerKolomnaerMoskauerSpasskiLitejnyRoshdestwenskiWassiljewski-Ostrow.

.Srenije" Ttfr. 2,4. Jebruar 1907.

c

— 16— 9— 18— 6— 16— 9— 20— 15+ 1522

+ 14+ 17

TJaäi dem 7ext des „Srenije"

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74

EINE POLITISCHE LIDWALIADE

Im Saale der Zivilingenieure hat sich bei der Versammlung am 24. Ja-nuar laut Bericht des „Telegraf"23 (vom 26. Januar) folgender Vorfallereignet.

„Auf die Bühne tritt W. W. Wodowosow und erinnert die Versammlungan den Zwischenfall im Theater Nemetti. ,Ich fragte dort, ob es richtig sei,daß Miljukow hinter dem Rücken der Wählerschaft mit Stolypin verhandle.Als Antwort ertönten Rufe: „Lüge! Verleumdung!", und Professor Gredeskulantwortete, daß Miljukow ein Ehrenmann sei, dem die Partei unbedingt ver-traue. Ich zweifle nicht im geringsten an der persönlichen EhrenhaftigkeitMiljukows, aber diese Verhandlungen haben stattgefunden. Das leugnet auchMiljukow nicht. Heute schreibt er in der Zeitung „Retsch", daß er mit Stoly-pin über die Legalisierung der Partei der Volksfreiheit gesprochen habe,wobei ihm unannehmbare Vorschläge gemacht worden seien. !Miljukow ver-heimlicht jedodh, was für Vorschläge es denn waren. Waren sie infam, somuß man sie bekanntgeben, muß man sie öffentlich... an den Sdhandpfahlnag ein 1'

,Ich schließe die Versammlung!' verkündet der Polizeioffizier.Lärmend und pfeifend begeben sich die Versammlungsbesucher zum Aus-

gang. Die Veranstalter der Versammlung richten gegen Wodowosow scharfeVorwürfe, der Polizeioffizier aber schickt für alle Fälle ein paar Schutzleutezur Bühne."

Herr Wodowosow hat für seine Versuche, die Verhandlungen Milju-kows mit Stolypin ans Licht tu ziehen, nicht scharfe Vorwürfe, sondernAnerkennung verdient. Deswegen einem Politiker Vorwürfe machen kön-nen nur entweder Spießbürger, die die Pflichten eines Staatsbürgersnicht begreifen, oder Leute, die die Machenschaften der Kadetten vor

Page 83: Lenin - Werke 12

Eine politische Cidwaliade 75

dem Volke verheimlichen wollen. Wir wissen freilich nicht, zu welchervon diesen Kategorien die Veranstalter der Versammlung, in der der Ka-dett Nabokow der Referent war, gehörten.

Die Frage der Verhandlungen Miljukows mit Stolypin ist von unge-heurer Bedeutung. Tausendmal unrecht haben diejenigen, die geneigt sind,diese Frage geringschätzig zu behandeln, achselzuckend über sie hinweg-zugehen, die Verhandlungen als kleine Skandalaffäre zu bezeichnen, diekeine Bedeutung habe. Wer einen Skandal fürdhtet, der begreift nicht,daß es seine Bürgerpflicht ist, politische Lidwaliaden aufzudecken.

Die Verhandlungen Miljukows mit Stolypin aber sind gerade ein Stück-chen politischer Lidwaliade, nur daß wir es anstatt mit strafrechtlich zubelangender Gewinnsucht und Betrügerei mit dem politisch gewissenlosenund verbrecherischen Schachergeschäft einer Partei zu tun haben, die dasgroße Wort „Volksfreiheit" mißbraucht.

Wir haben bereits in der Zeitung „Trud"24 darauf hingewiesen, daßMiljukow vor dem Volke verheimlicht, worin die „Bedingungen" Stoly-pins bestanden. Er verheimlicht ferner, ob es sich um eine oder um meh-rere Audienzen handelte und wann sie stattgefunden haben. Er verheim-licht weiter, ob Stolypin ihn hatte rufen lassen oder ob er, Miljukow, umeine Audienz gebeten hatte. Schließlich verheimlicht er auch, ob das'Petersburger Komitee und das Zentralkomitee der Kadetten Beschlüssedarüber gefaßt und ob die Zentralstelle die Provinz unterrichtet hat.

Man erkennt unschwer, daß hiervon das Endurteil über die kadettischeSubatowiade abhängt. Man verheimlicht dem Volke nur üble Dinge. HerrWodowosow hat recht, wenn er sagt, daß man sie bekanntgeben müsse.Und Herr Wodowosow ist verpflichtet, seine Enthüllungen fortzusetzen,wenn er will, daß die Bürger, die sich ihrer politischen Pflichten bewußtsind, ihn als einen ehrlichen und überzeugungstreuen, standhaften Poli-tiker und nicht als sensationslüsternen kleinen Journalisten betrachten.Handelt es sich um Infamien in Angelegenheiten des ganzen Volkes, soist es die Pflicht des Bürgers, diejenigen, die sie geheimhalten wollen, zumReden zu zwingen.

Wer etwas über diese Gemeinheiten weiß und seine Bürgerpflicht er-füllen will, der muß die Miljukows zwingen, ihn wegen Verleumdung zuverklagen, der muß vor Qeridht den Kadettenführer entlarven, der hinterdem Rücken des Volkes, mitten im Wahlkampf, den das Volk gegen das

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76 W.lCenht

alte Regime führt, über die Hintertreppe zum Führer des alten Regimesläuft!

Wir stellen Herrn Miljukow und der Partei der Kadetten folgendeoffene Fragen:

1. Wann hat die Audienz oder wann haben die Audienzen Miljukows(und seiner freunde?) bei Herrn Stolypin stattgefunden?

2. Hat Stolypin Miljukow zu sich eingeladen? Und war nicht hierbeiHerrn Miljukow irgend etwas bekannt von den (nach den Worten desHerrn Wodowosow) „infamen" Bedingungen, über die Stolypin mitMiljukow reden wollte?

3. Wann hat eine Beratung des Petersburger Komitees und des Zen-tralkomitees der Kadetten (oder beider Komitees zusammen) über dieVorsdhläge Stolypins stattgefunden? Ist dort nicht beschlossen worden,diesen Vorschlägen ein paar Schritte entgegenzukommen? Wurde hier-über nicht irgend etwas in die Provinz geschrieben?

4. Wie hängen die Audienz Miljukows bei Stolypin und überhaupt diepaar Schritte, die diese beiden Männer einander entgegengekommen sind,zusammen mit der Art des Verhaltens der Kadetten auf der „Konferenz"vom 18. Januar mit dem kleinbürgerlichen Block?

Wir werden noch - und wahrscheinlich mehr als einmal - auf die Ent-hüllungen über die „Audienz" des Kadetten bei dem Schwarzhunderterzurückkommen. Wir werden noch an Hand sämtlicher Dokumente, dieeinem diesen Dingen fernstehenden Menschen zugänglich sind, beweisen,daß gerade diese Verhandlungen der Kadetten mit den Schwarzhunder-tern die Ursache davon waren, daß ein gemeinsamer Block der „Linken"und der Kadetten, den viele herbeiwünschten und gegen den wir immergekämpft haben, nicht zustande gekommen ist.

Einstweilen aber sagen wir:Mögen Herr Miljukow und die Partei der Kadetten wissen, daß nicht

Wodowosow allein, sondern noch sehr, sehr viele Leute alle Anstrengun-gen aufbieten werden, um diese politische £idwaliade zu entlarven!

,Srenije" 3Vr. 2, Nadh dem Jext des „Srenije".4.7ebruar 1907.

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77

DIE ERGEBNISSE DER WAHLENIN DER PETERSBURGER ARBEITERKURIE

Obwohl die Beschaffung genauer Materialien über den Verlauf derWahlen in der Arbeiterkurie nur langsam fortschreitet (die Bolschewikihaben einen gedruckten Fragebogen herausgegeben und verbreitet), istder allgemeine Charakter der Wahlergebnisse doch schon klargeworden.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Sozialrevolutionäre stärker ge-worden sind, als wir erwartet haben. Das geben sogar die Menschewikizu („Nasch Mir"25 Nr. 1). In der Arbeiterkurie des Gouvernementshaben sie 4 von 10 Wahlmännern gewonnen. In der Arbeiterkurieder Stadt wurden sie von den Sozialdemokraten besiegt, die sämtliche14 Wahlmänner gewonnen haben. Aber es hat sidi erwiesen, daß dieZahl der Stimmen, die für die Kandidaten der Sozialrevolutionäre ab-gegeben worden sind, recht erheblich ist (110-135 für die Sozialrevolu-tionäre; 145-159 für die Sozialdemokraten bei 269 abgegebenen Stim-men).

Weiter. Die Tatsache, daß die Sozialrevolutionäre uns vor allem in dengrößten Betrieben besiegt haben, wird ebenfalls von niemand geleugnet.

Die Menschewiki leugnen die folgende Tatsache, die für die Klarstel-lung der Ursache unserer Mißerfolge ganz besonders wichtig ist, daßnämlich die Sozialrevolutionäre hauptsächlich Menschewiki besiegt haben.

In Nr. 1 von „Nasch Mir", in einem speziell den Wahlen in der Ar-beiterkurie gewidmeten Artikel, schweigen sie sich aus über diese Frage,berufen sich heuchlerisch auf die Schwächung der Sozialdemokratie durchden Fraktionskampf und suchen zu vertuschen, daß es gerade die Men-schewiki waren, die diesen Fraktionskampf bis zur Spaltung und bis zueinem „Kadettismus" in ihrer Taktik getrieben haben, der die fort-geschrittenen Arbeiter abgestoßen hat.

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78 W J.Lenin

Aber sogar die bisher ermittelten Daten beweisen immer mehr dieRichtigkeit unserer ursprünglichen Schlußfolgerung (Nr. 12 des „Prole-tari"), daß nämlich die Sozialrevolutionäre die Menschewiki besiegthaben.*

Für den Newski-Bezirk wird der Beweis hierfür durch die Wahlergeb-nisse der einzelnen Betriebe erbracht, die wir in Nr. 12 des „Proletari"veröffentlicht haben. Die entgegengesetzte, durch keine Tatsachen er-härtete Erklärung in Nr. 1 von „Nasch Mir" ist einfach kurios.

Für den Moskauer Bezirk wird der Beweis durch eine in der vorliegen-den Nummer veröffentlichte Zuschrift26 erbracht.

Für den Wiborger Bezirk geben die Menschewiki selbst („Nasch Mir"Nr. 1) folgende Zahlen an: in der Stadt 17 (menschewistische) Sozial-demokraten, 12 Sozialrevolutionäre und 2 Wahlmänner, die sich fürkeine Partei entschieden haben. Im Qouvernementsttil des Bezirks, wonur Bolschewiki gearbeitet haben, sind 7 Sozialdemokraten und kein ein-ziger Sozialrevolutionär gewählt worden.

Diese Zahlen sind noch kein endgültiger Beweis. Im großen und gan-zen aber bestätigen sie vollauf unsere Schlußfolgerung, daß nämlich dieMenschewiki von den Sozialrevolutionären geschlagen worden sind. DerVersuch von „Nasch Mir", sich darauf zu berufen, daß im Gouverne-mentsteil des Wiborger Bezirks die Sozialrevolutionäre überhaupt nichtaufgetreten sind und daß „folglich keine Konkurrenz vorhanden war",ist offensichtlich nicht stichhaltig. Erstens ergibt sich die Frage, warumgerade in diesem Vorort St. Petersburgs die Sozialrevolutionäre nicht auf-getreten sind, wohl aber in den anderen. Hat da nicht die Tatsache eineRolle gespielt, daß eine „Konkurrenz" der Sozialrevolutionäre hier vonvornherein dank der Arbeit, die vorher geleistet wurde, ausgeschlossenwar? Zweitens machen die Menschewiki keine genauen Angaben dar-über, wer der Kandidat war. Daten nach Betrieben geben sie ebenfallsnicht. Drittens wissen wir aus den Zeitungen, daß die Sozialrevolutionäregerade im Wiborger Bezirk in Versammlungen die Menschewiki wegenihres „Kadettismus" geschlagen haben.

So berichtet die „Retsch" vom 24. Januar über die Versammlung vom21. Januar im Nobel-Haus (Nystadtskaja 11). Nach dem Bericht der

* Siehe den vorliegenden Band, S. 52. Die Hed.

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Die Ergebnisse der Wahlen in der Petersburger Arbeiterkurie 79

„Retsch" sprach der Sozialdemokrat Gurwitsch, der die äußersten linkenParteien des Boykotts der Duma bezichtigte (die „Retsch" berichtet inKursivschrift über diese Hilfe, die den Kadetten in einer Versammlungder Linken erwiesen wurde!). Gurwitsch beschuldigte die Volkstümler„kleinlicher Jeilsdbereien", die den Block mit den Kadetten gesprengt hät-ten. Der Volkstümler Bikerman antwortete Gurwitsch und nannte „dieErklärung des Vorredners über die kleirilidben 7eilsdbereien eine Ver-leumdung". Der Volkstümler Smirnow wies nach, daß der MenschewikGnrwitsch „sich durch nichts von einem Kadetten unterscheide". Smir-now berief sich darauf, daß der Kadett Gredeskul den Gurwitsch öffent-lich „gelobt" habe.

So lautet der Bericht der „Retsch". Aus ihm ist klar ersichtlich, daß dieSozialrevolutionäre die Menschewiki gerade wegen ihrer Haltung zu denKadetten bei den Arbeitern ausgestochen haben.

Der Erfolg der Sozialrevolutionäre im Newski-, im Moskauer und imWiborger Bezirk ist allen besonders aufgefallen. Und gerade für dieseBezirke wird jetzt die Ursache dieses Erfolges klar: die opportunistischenSozialdemokraten schädigen das Ansehen der Sozialdemokratie beimfortgeschrittenen Proletariat.

Wenn uns aber die rechten Sozialdemokraten den Verlust von 4 der10 Sitze der Gouvernements-Arbeiterkurie einbrachten, so haben wirdiesen Verlust in der städtischen Arbeiterkurie wieder wettgemacht.

Wir haben ihn, wie aus dem Nachstehenden zu ersehen, eben daduräowettgemacht, daß wir vor allen Bevollmächtigten die Taktik der revolu-tionären Sozialdemokratie und nicht die der opportunistischen Sozial-demokratie vertraten.

Insgesamt gab es in der Stadt 272 Arbeiterbevollmächtigte. Unter die-sen zählte man 147 Sozialdemokraten und Sympathisierende, d. h. mehrals die Hälfte. Von den übrigen waren nur ein Teil ausgesprochene Sozial-revolutionäre (54), ein Teil unentschiedene (55), Parteilose (6), 1 Kedb-ter und 9 Trudowiki, „Linke" (zwei von ihnen Kadetten) usw.

Das Petersburger Komitee hat unter den Bevollmächtigten eine außer-ordentlich energische Tätigkeit entfaltet. Es wurde die jedermann inter-essierende Frage der Wahlen in St. Petersburg, die Frage der Taktik zurErörterung gestellt: mit den Kadetten oder gegen die Kadetten? Die Ver-treter des Petersburger Komitees der SDAPR klärten die Bevollmächtig-

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80 'W.J.Lenin

ten über den Standpunkt der revolutionären Sozialdemokratie auf, dieMenschewiki verteidigten ihre Taktik.

Am 28. Januar fand die entscheidende Versammlung der Bevollmäch-tigten aller Parteien statt. Es waren 200-250 Personen anwesend. DurchMehrheitsbeschluß gegen 10-12 Stimmen, wurde eine Resolution ange-nommen, die vorbehaltlos die bolschewistische Taktik billigt, zur Unter-stützung des Linksblocks auffordert und sich direkt gegen die TAensche-wiki richtet, gegen die „versteckte" Unterstützung der Kadetten.

Hier der Wortlaut dieser Resolution:

„In der Erwägung:1. daß der Erfolg der linken Listen, die bereits von den Sozialdemokraten,

den Sozialrevolutionären, den Trudowiki und Volkssozialisten aufgestellt wor-den sind, und den Listen der Schwarzhunderter und der Kadetten entgegen-gestellt werden, in der städtischen Kurie von außerordentlicher politischerWichtigkeit ist;

2. daß dieser Erfolg nur möglich ist, wenn die linken Listen einmütig vonallen Linksparteien unterstützt werden —

fordert die Versammlung der Bevollmächtigten der Arbeiter verschiedenerFabriken und Werke alle Linksparteien auf, gemeinsame linke Listen zuunterstützen und keinesfalls, in keinem einzigen Bezirk Petersburgs, irgend-welche getrennten Listen aufzustellen und auch nicht in versteckter Formdie Kadetten zu unterstützen.

Die Versammlung der Bevollmächtigten spricht, gestützt auf die Meinungder Massen, den Wunsch aus, daß die sozialdemokratischen Genossen Men-schewiki dem Abkommen der Linken beitreten und mit dazu beitragen, derlinken Liste bei den Wahlen in Petersburg zum Erfolg zu verhelfen."

Also haben in der Stadt Petersburg, die die Menschewiki von demGouvernement trennen wollten, die Vertreter des gesamten Proletariatsdie Taktik der Menschewiki verurteilt I

Das Übergewicht der klassenbewußten Petersburger Arbeiter, die mitder bolschewistischen Taktik sympathisieren, ein Übergewicht, das sichbereits auf der sozialdemokratischen Konferenz deutlich gezeigt hat, wirddurch diesen Beschluß der Bevollmächtigten endgültig bewiesen.

Am 28. Januar haben die Vertreter der Arbeitermassen die Mensche-wiki zum letztenmal aufgefordert, die Taktik der „versteckten" Unter-stützung der Kadetten, die Taktik des Streikbruchs gegenüber demLinksblock aufzugeben.

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Die Ergebnisse der Wahlen in der Petersburger Arbeiterkurie 81

Die Menschewiki haben sich aber auch jetzt nicht dem Willen des Pro-letariats gefügt. Am 1. Februar erschienen in der „Retsch" Auszüge ausihrem Aufruf, in dem sie dem Linksblock Knüppel zwischen die Beinewerfen. Am 29. Januar, spät in der Nacht, lösten die parteilosen Pro-gressisten des Kolomnaer Wahlbezirks ihren schriftlichen Vertrag mitden Menschewiki, nachdem ihnen alle Vertreter des Linksblocks klar-gemacht hatten, daß die menschewistische Bedingung („Handlungsfrei-heit" für die Wahlmänner, d. h. Freiheit des Hinüberwechseins zu denKadetten!) unannehmbar ist.

Am 30. Januar fand eine Versammlung von Arbeiterbevollmächtigtenstatt, die der SDAPR angehören oder mit dieser Partei sympathisieren.Von diesen Bevollmächtigten war die Mehrzahl - 98 Personen - an-wesend. Der Vertreter des Petersburger Komitees der SDAPR, GenosseW., schlug vor, die Frage der Unterordnung der künftigen sozialdemo-kratischen Wahlmänner bei der Wahl der Mitglieder der Reidisdumaunter die Direktiven des Petersburger Komitees zu behandeln. Er er-klärte, daß diese Frage unter gewöhnlichen Verhältnissen Zweifel oderMeinungsverschiedenheiten nicht hervorrufen könnte, da natürlich dieDirektiven des Petersburger Komitees für alle Mitglieder der Petersbur-ger Organisation verbindlich seien. Gegenwärtig jedoch sei ein bedeuten-der Teil der Organisation, die Mehrzahl der Menschewiki, abgespaltenund habe erklärt, daß sich die menschewistischen Wahlmänner Hand-lungsfreiheit vorbehalten. Der Vertreter des Petersburger Komitees hobhervor, daß es die Vollendung der von den Menschewiki begonnenenSpaltung bedeuten und dem mit erdrückender Mehrheit gefaßten Be-schluß der Vollversammlung der Bevollmächtigten, der die Unterstützungdes Linksblocks im Wahlkampf verlangt, widersprechen würde, wennsich die Wahlmänner der Arbeiter dieser Weisung des abgespaltenenTeils der Organisation unterordneten, der juristisch noch keine Form ge-funden habe. Dieser Ansicht widersprachen die menschewistischen Mit-glieder des Petersburger Komitees, die Genossen M. und A., die daraufdrangen, daß die Wahlmänner der Arbeiter nur der Meinung der Bevoll-mächtigten Rechnung tragen sollten. Mit erdrückender Mehrheit wurdeeine im Namen des Petersburger Komitees vorgeschlagene Resolution fol-genden Inhalts angenommen: „Die Versammlung erklärt es als für alle

6 Lenin, Werke, Bd. 12

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82 W.J.Cenin

Wahknänner obligatorisch, sich bei den Wahlen den Direktiven desPetersburger Komitees unterzuordnen."

Die Menschewiki wehrten sidb aus Leibeskräften gegen diese Resolu-tion. Die namhaftesten und verantwortlichsten Menschewiki schämtensich nicht, sogar in einem solchen Augenblick, am Vorabend der Wahlen,gegen das Petersburger Komitee vorzugehen. Sie stellten einen „Abände-rungsantrag" : an Stelle von Petersburger Komitee „Petersburger Orga-nisation" zu sagen.

Die Arbeiter haben jedoch bereits die menschewistische Taktik derSpaltung zugunsten der Kadetten begriffen. Den menschewistischen Red-nern wurde zugerufen: „Genug!" Der Abänderungsantrag, der daraufgerichtet war, die Spaltung insgeheim zu rechtfertigen, wurde mit er-drückender Mehrheit abgelehnt.

Hierauf schritt man zur Aufstellung von Wahlmänner-Kandidaten derSDAPR. Das Petersburger Komitee unterbreitete der Versammlung zurErörterung eine Liste, in der es 14 von den 21 Kandidaten empfahl, diein den Bezirksversammlungen der Bevollmächtigten nominiert wordenwaren. Es wurde vorgeschlagen, diese Liste als Grundlage zu nehmen,was auch ungeachtet des Widerspruchs der Menschewiki, die hierin einen„Druck von oben" erblickten, mit überwältigender Mehrheit beschlossenwurde,- hierbei setzte der Vertreter des Petersburger Komitees, GenosseW., auseinander, daß von einem Druck von oben keine Rede sein könne,daß das Petersburger Komitee nur insofern Autorität besitze, als dasorganisierte sozialdemokratische Proletariat Petersburgs sie ihm durchsein Vertrauen verliehen habe, und wenn es eine Liste vorlege, deren An-nahme es empfehle, so erfülle es nur eine Pflicht, die ihm als der leiten-den Zentralstelle der Organisation obliege. Alle Kandidaturen wurdenerörtert, wobei einer der Kandidaten auf Vorschlag des Vertreters desPetersburger Komitees durch einen anderen ersetzt wurde, und dannschritt man zur Abstimmung, die ergab, daß die gesamte Liste desPetersburger Komitees mit erheblicher Stimmenmehrheit angenommenwurde.

Die Liste des Petersburger Komitees wurde am Vorabend der Wahlenin allen Zeitungen veröffentlicht.

Die Wahlen (vom 1. Februar) erbrachten einen Sieg der geschlossenauftretenden Sozialdemokraten. Die ganze Liste des Petersburger

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Die Ergebnisse der Wahlen in der Petersburger Arbeiterkurie 83

Komitees wurde bis auf den letzten Mann gewählt. Sämtliche 14 Wahl-männer sind Sozialdemokraten!

Von diesen 14 Wahlmännern sind acht Bolschewiki, vier Menschewiki(von denen einer eigentlich kein Menschewik, sondern Syndikalist ist)und zwei fraktionslose Sozialdemokraten, die für den dnksblodk ein-treten.

In der städtischen Arbeiterkurie machten die Bolschewiki den Verlustwieder gut, den die Sozialdemokratie in der Arbeiterkurie des Gouver-nements erlitten hat.

Möge jetzt die „Retsch" (siehe die Nummer vom 3. Februar) toben,soviel sie will, möge sie ruhig sagen, die Bolschewiki hätten den Sozial-revolutionären nicht einmal eine ihrer Stärke entsprechende Minderheitgegeben.

Wir haben den Sozialrevolutionären niemals Proportionalität verspro-chen - und bisher hat ja auch noch niemand ein entsprechendes Stimmen-verhältnis nachgewiesen, denn es liegen keine Angaben über die Stimmen-zahl vor. Erst wir haben ja begonnen, diese Angaben zu sammeln.

Wir haben uns in der Arbeiterkurie volle Freiheit des Kampfes gegenalle anderen Parteien vorbehalten.

Und dank dem Auftreten der revolutionären Sozialdemokratie sindvon allen Wahlmännern der Arbeiter in Petersburg und im PetersburgerGouvernement nur 4 Sozialrevolutionäre neben 20 Sozialdemokraten.

Bei den nächsten Wahlen werden wir alle Sitze für die Sozialdemo-kratie erobern.

„Troletari" Tir. 13, Nadh dem Text des „Vroletari".ii. 7ebruar 1907.

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84

ZU DEM BERICHTDES MOSKAUER BEZIRKS DER STADT PETERSBURG

ÜBER DIE WAHLEN ZUR II. DUMA27

Wir machen die Leser darauf aufmerksam, daß die Angaben über dieWahl der Bevollmächtigten durch die Arbeiter in St. Petersburg immermehr enthüllen, auf welche Weise sich die Menschewiki die Stimmen fürdie sozialdemokratische Konferenz zusammengeholt haben. So „brach-ten" sie zur Konferenz aus dem Französisch-Russischen Unterbezirk370 menschewistische Stimmen „mit". Die Bolschewiki erkannten hierkeine einzige Stimme als wirklichen Willensausdruck der Partei an. Undwas hat sich herausgestellt? Als Bevollmächtigter des Französisch-Russi-schen Werkes kam ein Bolschewik durch, der jetzt auch als Wahlmanngewählt worden ist!

Von dieser Seite also erfolgte eine unerwartete Entlarvung der Men-schewiki.

Weiter. Die menschewistische Wochenschrift „Nasch Mir" (Nr. 1,28. Januar) hatte den . . . Mut, über den Moskauer Bezirk zu schreiben:„In zwei bolschewistischen Bezirken - Newski- und Moskauer Bezirk -wurden zu Bevollmächtigten durchweg Sozialrevolutionäre gewählt."(S. 14.) Bereits in Nr. 12 des „Proletari" wurde nachgewiesen, daß dasin bezug auf den Newski-Bezirk, Wo die Sozialrevolutionäre gerade dieMenschewiki geschlagen haben, eine himmelschreiende £üge ist.

Nehmen wir den Moskauer Bezirk. Die Menschewiki zählen ihn jetzt,wo es gilt, die Verantwortung für die Niederlage von sich abzuwälzen,als bolschewistischen Bezirk! Doch sollten die Menschewiki nicht verges-sen, daß man sie diesmal kontrollieren kann. Nehmen wir die offizielleErklärung der 31 Menschewiki an das ZK über die Gründe, die sie be-wogen, die Konferenz zu verlassen (die gedruckte Flugschrift, die wir in

Page 93: Lenin - Werke 12

Zu dem Beriefet des Moskauer Bezirks der Stadt Petersburg 85

Nr. 12 des „Proletari"* untersucht haben). Unter den 31 Unterschriftenlesen wir: „Tünf vom Tdoskauer Bezirk".

Die Konferenz bestätigte jedoch für den Moskauer Bezirk die Man-date von 4 Bolschewiki und 4 Menschewiki.

Nicht wahr, das ist aufschlußreich?Wenn es gilt, menschewistische Stimmen für die Konferenz zusammen-

zubringen, dann zählen die Menschewiki fünf Menschewiki gegenüber3 oder 4 Bolschewiki. "Dann möchten sie das Übergewicht haben.

Wenn es aber gilt, die politische Verantwortung von sich abzuwälzen,dann wird der Moskauer Bezirk für „bolschewistisch" erklär t . . .

Die Bolschewiki zählten im Moskauer Bezirk 185 Stimmen für sich,und die Menschewiki geben in der gleichen Flugschrift selber zu, daß siediese Stimmen nur „bedingt" angefochten haben, daß diese Stimmen inWirklichkeit bestätigt werden müssen (S. 7 derselben Flugschrift).

Die Menschewiki zählten im Moskauer Bezirk 48 plus 98 plus 97 Stim-men für sich, insgesamt 243 Stimmen. Davon wurden 195 Stimmen an-gefochten, die Menschewiki selbst jedoch erklärten damals hartnäckig(S. 7 ihrer Flugschrift), daß sämtliche 243 Stimmen bestätigt werdenmüßten!

Folglich waren die Menschewiki der Meinung, daß sie im MoskauerBezirk ein starkes Übergewicht haben: 243 Stimmen gegen 185 . . . Ja,„Nasch Mir" ist sehr unvorsichtig gewesen: aus seinen Worten ist er-sichtlich, daß die Menschewiki auf der Konferenz unehdidh gehandelthaben.

Zum Schluß möchten wir den Genossen, der uns den Bericht über denMoskauer Bezirk gesandt hat, daran erinnern, daß es äußerst wichtig ist,vollständige Angaben zu machen über jeden einzelnen Betrieb, über dieWahl der Bevollmächtigten und über die Zahl der Stimmen, die die ver-schiedenen Kandidaten erhalten haben.

J>To\etari" 3Vr. 13, Nach dem 7ext des J>ro\etari".ii. Jebruar 1907.

Siehe den vorliegenden Band, S. 15-18. Die Red.

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86

EINIGE ANGABEN ÜBER DIE WAHLENIN DER ARBEITERKURIE SÜDRUSSLANDS

Unsere Aufforderung an alle russischen Sozialdemokraten, die Samm-lung von genauen Angaben über die Wahlen in der Arbeiterkurie zuorganisieren, ist nicht ergebnislos geblieben. Wir haben bereits 93 aus-gefüllte gedruckte Fragebogen erhalten, die wir unter den PetersburgerGenossen verteilt hatten. Diese 93 Fragebogen verteilen sich folgender-maßen auf die einzelnen Bezirke: Petersburger Seite 7, Wassiljewski-Ostrow 22, Wiborger Bezirk 18, Moskauer Bezirk 18, Stadtbezirk 28.Wir bitten die Genossen, sich mit der Einreichung der übrigen Frage-bogen zu beeilen, damit das Material, besonders über die Großbetriebe,vollständig wird. Wir werden dann die Ergebnisse veröffentlichen.

Aus der Provinz haben wir Angaben über sechs Betriebe des Gouver-nements Jekaterinoslaw erhalten. Wir geben diese in Form einer kleinenTabelle wieder, um den Genossen zu zeigen, welche Daten die Parteiinteressieren und welche Schlüsse wir aus der Erfahrung der ersten Wah-len, die in der Arbeiterkurie nach Parteilisten vorgenommen wurden,ziehen müssen.

Wir wissen selbstverständlich nicht, wieweit diese Zahlen typisch sindund wieweit man die Schlüsse, die sich aus ihnen ergeben, auf das ganzeGouvernement Jekaterinoslaw ausdehnen kann. Man muß vollständigeAngaben sammeln, um endgültige Schlüsse ziehen zu können.

Einstweilen lassen sich nur zwei Umstände feststellen. Die Wahlbetei-ligung der Arbeiter war nicht hoch. Anscheinend geht die sozialdemokra-tische Arbeit nicht tief genug, erfaßt nicht genügend die Massen. Im all-gemeinen hat sich weniger als ein Drittel aller Arbeiter an den Wahlenbeteiligt. Am niedrigsten war die Wahlbeteiligung im Röhrenwalzwerk:

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Einige Angaben über die 'Wählen in der Arbeiterkurie Südrußlands 87

NameUCS DculcDcS

Esau-Werke . . .

Lokomotivwerk-stätte

Lokomotivdepot

Nagelfabrik

R öhren Walzwerk

Brjansker Schie-nenwalzwerk . . .

Insgesamt in6 Betrieben

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350

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Als Bevollmächtigte

gewänlt wurden

Sozialdemokrat,Menschewik

Sozial demokra.-ten,Menschewiki

Sozialdemokrat

Sozialdemokrat,Bolschewik

Sozialdemokrat,Menschewik

Sozialrevolut.

6 Sozialdemokr.4 Sozialrevolut.

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Zahl der Stimmen, dieabgegeben worden für:Sozialde-mokratenü•63• 3 *cq

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200 von 850, d. h. weniger als ein Viertel. Am höchsten war sie in denEsau-Werken: 130 von 350, d. h. mehr als ein Drittel.

Die Konkurrenz der Sozialrevolutionäre macht sich geltend in zweiBetrieben: in den Esau-Werken und im Brjansker Schienenwalzwerk. Inletzterem haben die Sozialrevolutionäre die Menschewiki besiegt] Dergrößte Betrieb wählte vier Sozialrevolutionäre als Bevollmächtigte.

Die ersten (allerdings noch sehr unvollständigen) Angaben über denSüden bestätigen also den Schluß, der für den Norden gilt: die Sozial-revolutionäre schlagen die Menschewiki - gerade als ob den Opportuni-sten eine Lektion erteilt werden sollte! gerade als ob die Leute belehrtwerden sollten, die mit unverzeihlichem Leichtsinn die revolutionäre bür-gerliche Demokratie links liegenlassen und der liberal-monarchistischenbürgerlichen Demokratie nachtrotten!

Von der Gesamtzahl der Bevollmächtigten (40) machen die Sozial-revolutionäre 40 Prozent aus, d. h. zwei Fünftel. Die Gesamtzahl der

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88 TV. 1 Lenin

Stimmen jedoch, die für die Sozialrevolutionäre abgegeben wurden, be-trägt weniger als ein Drittel, 815 von 2710. Es verdient hervorgehobenzu werden, daß die Sozialrevolutionäre ungeachtet ihres Sieges in demgrößten Betrieb verhältnismäßig weniger Stimmen erhalten haben, als sieBevollmächtigte durchgebracht haben. Das zeigt, wie unbegründet undhaltlos die Prätentionen der Petersburger Sozialrevolutionäre waren, dieglauben machen wollten, ihr Stimmenanteil müsse größer sein als ihr An-teil an den Bevollmächtigten. Ohne dokumentierte statistische Angabenüber die Zahl der in den einzelnen Betrieben abgegebenen Stimmen darfman solche Behauptungen nicht aufstellen.

Wir wollen hoffen, daß die Genossen in ganz Rußland die Sammlungvon Angaben nach den beigebrachten Mustern fortsetzen, damit die ge-samte Partei sich ein klares und genaues Bild von den Ergebnissen ihrerKampagne machen kann und erkennen lernt, was ihre relativen Miß-erfolge verursacht hat.

.Proletari" 7ir. 13, JVad; dem 7ext des „Troletari"'.11. 7ebruar 1907.

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89

DIE BEDEUTUNGDER WAHLEN IN PETERSBURG

Die Petersburger Wahlkampagne nähert sich ihrem Ende. Bis zu denWahlen bleiben noch drei Tage, und wenn der Leser diese Zeilen vor sichhaben wird, werden bereits die Ergebnisse der Petersburger Abstimmungbekannt sein.

Man könnte meinen, daß es keinen Zweck habe, vor Abschluß derPetersburger Wahlen über ihre Bedeutung zu sprechen. Aber das ist nichtder Fall. Die Wahlkampagne in Petersburg hat eine so lange Geschichte,diese Kampagne hat eine solche Menge von ungewöhnlich aufschluß-reichem politischem Material ergeben, daß ihre Bedeutung schon jetzt völ-lig klar ist Welche Ergebnisse diese Wahlen auch haben werden - diePetersburger Wahlkampagne von 1906-1907 bildet schon jetzt zweifel-los eine bedeutende und selbständige Etappe in der Geschichte der rus-sischen Revolution.

Eine in der Petersburger Wahlkampagne erzielte unvergängliche Errun-genschaft der Revolution ist vor allem die Tatsache, daß die Wechsel-beziehungen der politischen Parteien, die Stimmung (und folglich auchdie Interessen und die ganze politische Lage) der verschiedenen Klassengeklärt wurden, daß ferner die verschiedenen Antworten, die auf dieGrundfragen der sozialdemokratischen Taktik in der bürgerlichen rus-sischen Revolution gegeben worden sind, in der Aktion, der großen,offenen Aktion der Massen erprobt wurden.

Die Hauptereignisse der Wahlkampagne in Petersburg haben sich mitSturmgeschwindigkeit abgespielt. In diesem Sturmwind, in dem man umjeden Preis und sofort handeln mußte, ist die wahre Natur und das Wesender verschiedenen Parteien und Strömungen so klar wie niemals zutage

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90 W.3. Lenin

getreten. In diesem Sturmwind haben sich keine formalen Bindungen,keine Parteitraditionen behauptet - Organisationen wurden gespalten,Versprechungen gebrochen, Beschlüsse und Stellungen gewechselt, jederTag brachte die größten Neuigkeiten. Die Zusammenstöße der verschie-denen Parteien und der verschiedenen Strömungen waren außerordent-lich heftig, die Polemik, die auch zu gewöhnlichen Zeiten scharf ist, artetein Schlägereien aus. Und das nicht deshalb, weil der russische Menschsich nicht beherrschen könnte, nicht deshalb, weil er durch die Illegalitätverdorben wäre, nicht deshalb, weil wir nicht gut erzogen wären - nurPhilister können die Sache so erklären.

Nein, die Ursache der heftigen Zusammenstöße und des wütendenKampfes lag in der 7iefe der Klassenunterschiede, im Antagonismus dersozialen und politischen Tendenzen, die unter dem Einfluß der Ereignisseunerwartet schnell hervortraten, von jedermann sofortige „Schritte" ver-langten, alle zum Zusammenstoß trieben, alle zwangen, ihren wirklichenPlatz und ihre wahre Linie im Kampfe zu behaupten, sie auszu-kämpfen*.

In Petersburg befinden sidi die Zentralstellen aller Parteien. Peters-burg ist der Brennpunkt des politischen Lebens Rußlands. Die Presse hatnicht örtliche, sondern gesamtnationale Bedeutung. Es war deshalb un-vermeidlich, daß der Petersburger Wahlkampf der Parteien ein Sym-ptom von größter Wichtigkeit wurde, ein Wahrzeichen und Vorbild fürviele weitere parlamentarische und außerparlamentarische Schlachten undEreignisse der russischen Revolution.

Ursprünglich stand eine scheinbar geringfügige, zweitrangige Frage,die „technische" Frage der Abkommen aller oppositionellen und revolu-tionären Parteien gegen die Schwarzhundertergefahr auf der Tagesord-nung. Unter der Hülle dieser „einfachen" Frage verbargen sich in Wirk-lichkeit die politischen Grundfragen: 1. nach der Stellung der Regierungzu den Liberalen, den Kadetten,- 2. nach den wahren Tendenzen derKadetten; 3. nach der Hegemonie der Kadetten in der russischen Frei-heitsbewegung; 4. nach den Tendenzen der kleinbürgerlichen Trudowiki-parteien,- 5. nach der klassenmäßigen Gemeinsamkeit und der politischenVerwandtschaft der gemäßigten Volkssozialisten und der revolutionärenSozialrevolutionäre; 6. nach dem kleinbürgerlichen oder opportunisti-

* „auskämpfen" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg 91

sehen Teil der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei; 7. nach der Hege-monie des Proletariats in der Freiheitsbewegung; 8. nach der Bedeutungder sichtbaren, offenen und der nicht sichtbaren, versteckten Elementeund „Potenzen" der revolutionären kleinbürgerlichen Demokratie inRußland.

Und diesen ganzen wunderbaren Reichtum an politischen Fragen hatdas Leben selbst, der Verlauf der Wahlkampagne selbst aufgeworfen undgelöst. Diese Fragen wurden gegen den Willen und unabhängig vom Be-wußtsein vieler Parteien aufgeworfen - gelöst wurden sie „gewaltsam"bis zum Bruch mit allen Traditionen - , und das Endergebnis kam für diegroße Masse der an der Kampagne beteiligten Politiker völlig uner-wartet.

- Den Bolschewiki hat der Zufall in die Hände gearbeitet, sagt derSpießbürger und schüttelt den Kopf über alle diese unerwarteten Ereig-nisse. - Sie haben Glück gehabt!

Solche Reden erinnerten mich an eine Stelle aus den kürzlich veröffent-lichten Briefen von Engels an Sorge. Am 7. März 1884 schrieb Engels anSorge:

„Vor 14 Tagen hatte ich einen Neffen aus Barmen hier, Freikonser-vativer, dem sagte ich: Wir sind jetzt in Deutschland so weit, daß wirdie Hände in den Schoß legen können und unsere Feinde für uns arbeitenlassen. Ob ihr das Sozialistengesetz abschafft, verlängert, verschärft odermildert, ist einerlei, was ihr auch tut, es arbeitet uns in die Hände. - Ja,sagte er, die Umstände arbeiten merkwürdig für euch. - Allerdings, sagteich, das täten sie auch nicht, wenn wir sie nicht schon vor 40 Jahren rich-tig erkannt und danach gehandelt hätten. - Keine Antwort."28

Die Bolschewiki können sich natürlich nicht auf 40 Jahre berufen - wirvergleichen hier etwas Kleines mit etwas sehr Großem - , sie können sichjedoch berufen auf Monate und Jahre der von ihnen bereits im vorausdefinierten sozialdemokratischen Taktik in der bürgerlichen Revolution.Die Bolschewiki haben praktisch im Laufe der wichtigsten und entschei-dendsten Etappen der Petersburger Wahlkampagne die Wände in denSchoß gelegt, und die 'Umstände haben für uns gearbeitet. Alle unsereFeinde, von dem ernst zu nehmenden und erbarmungslosen Feind Stoly-pin bis zu den „Feinden" mit papiernem Schwert, den Revisionisten,haben für uns gearbeitet.

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92 TV.I.Lenin

Die gesamte Opposition, alle Linken waren bei Beginn der Petersbur-ger Wahlkampagne gegen die Bolschewiki. Alles Mögliche, alles Erdenk-liche wurde gegen uns unternommen. Aber es kam, wie wir es voraus-gesehen hatten.

Warum? Weil wir seit langem (bereits in den „ZweiTaktiken"*, 1905,in Genf) die Stellung der Regierung zu den Liberalen und die Stellungder kleinbürgerlichen Demokratie zum Proletariat viel richtiger einge-schätzt haben.

Welche Ursache hat den fast fertigen Block der Kadetten mit allen„Linken", außer den Bolsdhewiki, gesprengt? Die VerhandlungenMiljukows mit Stolypin. Stolypin winkte - und der Kadett wandte sichvom Volk ab und kroch wie ein Hündchen zu seinem Schwarzhunderter-herrn.

War das ein Zufall? Nein, es war eine Notwendigkeit, denn die libe-ral-monarchistische Bourgeoisie wird durch ihre Grundinteressen in jedementscheidenden Augenblick vom revolutionären Kampf, gemeinsam mitdem Volke, zur Verständigung mit der Reaktion getrieben.

Welche Ursache hat die völlige 'Unbeständigkeit und Charakterlosig-keit aller kleinbürgerlichen Parteien (der Volkstümler- und Trudowiki-parteien) und des kleinbürgerlichen Teils der Arbeiterpartei, der Men-schewiki, hervorgerufen? Warum waren sie wankelmütig und schwankten,warfen sich nach rechts und nach links, liefen den Kadetten nach undschworen auf die Kadetten?

Das geschah nicht kraft persönlicher Eigenschaften Sidors oder Karps**,sondern kraft der Tatsache, daß der Kleinbürger unweigerlich dazu neigt,in die Fußtapfen des Liberalen zu treten, ihm nachzutrotten, da er nichtan sich selbst glaubt, zeitweilige „Isolierung" nicht zu ertragen vermag,nicht ruhig und fest dem Geheul der bürgerlichen Köter zu begegnenvermag, nicht an den selbständigen revolutionären Kampf der Massen,des Proletariats und der Bauernschaft, glaubt, auf die Rolle des Führersin der bürgerlichen Revolution verzichtet, auf seine eigenen Losungenverzichtet, sich den Miljukow anpaßt und es ihnen nachtut . . .

Die Miljukow aber tun es Stolypin nach!Die Bolschewiki haben selbständig ihre Linie bestimmt und rechtzeitig

* Siehe Werke, Bd. 9, S. 1-130. Die Kerf.** Verbreitete russische Vornamen. Der Tibers.

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Die "Bedeutung der Wahlen in Petersburg 93

ihr Banner, das Banner des revolutionären Proletariats, vor dem Volkentfaltet.

Nieder mit den heuchlerischen Fabeln von derSchwarzhundertergefahr,vom „Kampf", der in Besuchen bei Stolypin besteht! Wer wirklich dieFreiheit des Volkes will, wer wirklich den Sieg der Revolution will, dermöge uns folgen sowohl gegen das Schwarzhundertergesindel als auchgegen die schachernden Kadetten.

Wir selbst gehen in jedem fall in den Kampf. Wir fürchten uns nicht,uns von euren kleinen und schmutzigen, kleinlichen und erbärmlichenMachenschaften und Abmachungen zu „isolieren".

Mit dem Proletariat für die Revolution - oder mit den Liberalen fürVerhandlungen mit Stolypin, Wähler, trefft eure Wahl! trefft eure Wahl,ihr Herren Volkstümler! trefft eure Wahl, Genossen Menschewiki!

Nachdem wir unsere Linie festgelegt hatten, "legten wir die Wände inden Sdboß. Wir warteten auf den Ausgang der Rauferei, die begonnenhatte. Am 6. Januar entfaltete unsere Konferenz unser Banner. Bis zum18. Januar umschwänzelte Miljukow den Stolypin, umschwänzelten dieMenschewiki, die Volkstümler und die Parteilosen den Miljukow.

Alle verrannten sich. Alle wollten recht diplomatisch vorgehen, undalle verzankten sich und gerieten einander so in die Haare, daß sie nichtgemeinsam auftreten konnten.

Wir sind nicht diplomatisch vorgegangen, sondern haben im Namender klar und deutlich herausgestellten Prinzipien des revolutionärenKampfes des Proletariats alle aufs sdbärfste kritisiert.

Und alle, die zum Kampf fähig waren, sind uns gefolgt. Der Links-block ist zu einer Tatsache geworden. Die Hegemonie des revolutionärenProletariats ist zu einer Tatsache geworden. Das revolutionäre Prole-tariat hat alle Trudowiki und einen großen Teil der Menschewiki, jasogar der Intellektuellen hinter sich gebracht.

Sein Banner wurde bei den Petersburger Wahlen aufgepflanzt. Wel-ches Ergebnis auch diese ersten ernsten Wahlen in Rußland, an denen sichalle Parteien beteiligen, haben mögen - das Banner des selbständigenProletariats, das seine eigene Linie verfolgt, ist nun aufgepflanzt. DiesBanner wird sowohl im Dumakampf als auch in allen andern Kämpfenwehen, die die Revolution zum Siege führen werden.

Kraft seiner Selbständigkeit, seiner Folgerichtigkeit, kraft seiner festen

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94 TV.1. Lenin

Entschlossenheit, die Masse der unterdrückten, eingeschüchterten Bauern-schaft, die Masse der schwankenden, wankelmütigen, unbeständigen klein-bürgerlichen Demokratie auf seine Seite zu ziehen, sie von der verräte-rischen liberalen Bourgeoisie loszureißen, auf solche Weise diese Bour-geoisie zu kontrollieren und an der Spitze der Bewegung der Volksmas-sen die verfluchte Selbstherrschaft zu zertrümmern - das ist die Aufgabedes sozialistischen Proletariats in der bürgerlichen Revolution.

Qesdorieben am 4. f 17J Jebruar 1907.Veröffentlicht am u. lebruar 1907 TJaäj dem Jext des .Proletari".im ."Proletari" SVr. 13.

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95

VORWORT ZUR RUSSISCHEN ÜBERSETZUNGDER BRIEFE VON K. MARX AN L. KUGELMANN

Mit der Herausgabe der in der deutschen sozialdemokratischen Wo-chenschrift „Die Neue Zeit" veröffentlichten vollständigen Sammlung derBriefe von Marx an Kugelmann als Broschüre haben wir uns die Aufgabegestellt, das russische Publikum mit Marx und dem Marxismus näherbekannt zu machen. In der Marxschen Korrespondenz ist, wie auch zu er-warten war, persönlichen Angelegenheiten sehr viel Platz eingeräumt. Füreinen Biographen bietet das alles äußerst wertvolles Material. Dagegensind für das breite Publikum im allgemeinen und für die ArbeiterklasseRußlands im besonderen diejenigen Stellen der Briefe unendlich wich-tiger, die theoretisches und politisches Material enthalten. Gerade für unsist es in der revolutionären Epoche, die wir durchleben, besonders lehr-reich, uns in das Material zu vertiefen, das uns vor Augen führt, wieMarx auf alle Fragen der Arbeiterbewegung und der Weltpolitik unmit-telbar reagiert. Die Redaktion der „Neuen Zeit" bemerkt durchaus mitRecht, „daß wir uns an dem Anblick von Männern erheben, die ihr Den-ken und Wollen in großen Umwälzungen gebildet haben". Für einenrussischen Sozialisten im Jahre 1907 ist diese Bekanntschaft doppelt not-wendig, da sie eine Fülle wertvollster Hinweise auf die unmittelbarenAufgaben der Sozialisten in allen und jeglichen Revolutionen vermittelt,die sein Land durchmacht. Gerade jetzt macht Rußland eine „große Um-wälzung" durch. Die Politik von Marx in den relativ stürmischen sech-ziger Jahren sollte oft, sehr oft als ein direktes Vorbild für die Politikeines Sozialdemokraten in der gegenwärtigen russischen Revolutiondienen.

Wir erlauben uns daher, die theoretisch besonders wichtigen Stellen

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96 TV J.Lenin

aus dem Marxschen Briefwechsel nur kurz zu erwähnen und auf dierevolutionäre Politik von Marx als dem Vertreter des Proletariats aus-führlicher einzugehen.

Von hervorragendem Interesse für alle, die sich eine vollständigere undtiefere Kenntnis des Marxismus aneignen wollen, ist der Brief vom11. Juli 1868 (S. 42 ff.)29- In der Form von polemischen Bemerkungengegen die Vulgärökonomen setzt Marx hier seine Auffassung von dersogenannten „Arbeits"werttheorie außerordentlich prägnant auseinander.Gerade diejenigen Einwände gegen die Marxsche Werttheorie, auf dieder weniger geschulte Leser des „Kapitals" natürlicherweise am leichte-sten verfällt und die daher von den Dutzendvertretern der „professora-len",bürgerlichen „Wissenschaft" am eifrigsten aufgegriffen werden, sindhier von Marx kurz, einfach, wunderbar klar analysiert worden. Marxzeigt hier, welchen Weg er einschlug und welcher Weg eingeschlagenwerden muß, um das Wertgesetz zu erklären. Am Beispiel derallergewöhnKchsten Einwände lehrt er seine Methode. Er stellt denZusammenhang klar zwischen einem (scheinbar) so rein theoretischenund abstrakten Problem wie der Werttheorie und dem „Interesse derherrschenden Klassen", die ,Xonfusion zu verewigen". Es wäre nur zuwünschen, daß jeder, der Marx zu studieren und das „Kapital" zu lesenbeginnt, gleichzeitig mit dem Studium der ersten und schwierigsten Ka-pitel des „Kapitals" auch den von uns erwähnten Brief läse und immerwieder läse.

Andere, in theoretischer Hinsicht besonders interessante Stellen derBriefe beziehen sich auf die Einschätzung verschiedener Schriftstellerdurch Marx. Liest man diese lebendig geschriebenen, leidenschaftlichen,von tiefstem Interesse für alle bedeutenden geistigen Strömungen undderen Analyse zeugenden Äußerungen von Marx, so glaubt man, dengenialen Denker selbst reden zu hören. Außer den beiläufig hingewor-fenen Bemerkungen über Dietzgen verdienen die Äußerungen über dieProudhonisten (S. 17)30 die besondere Beachtung des Lesers. Die „bril-lierende" intellektuelle Jugend der Bourgeoisie, die sich in Zeiten gesell-schaftlichen Aufschwungs „ins Proletariat" stürzt, aber unfähig ist, sichden Standpunkt der Arbeiterklasse zu eigen zu machen und zähe undernst „in Reih und Glied" in den proletarischen Organisationen zu ar-beiten, wird mit wenigen Strichen erstaunlich scharf charakterisiert.

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Vorwort zur russ. Übersetzung der Briefe von X. Marx an C. Xugelmann 97

Da haben wir eine Äußerung über Dühring (S. 35)31, die den Inhaltdes neun Jahre später von Engels (zusammen mit Marx) verfaßten be-rühmten Buches „Anti-Dühring" gleichsam vorwegnimmt. Es existierteine russische Übersetzung von Zederbaum, die leider nicht nur Auslas-sungen aufweist, sondern geradezu schlecht und fehlerhaft ist. Ebensofindet sich hier eine Äußerung über Thünen, die ebenso auch die Renten-theorie Ricardos berührt. Schon damals, im Jahre 1868, verwarf Marxentschieden die „Ricardoschen Borniertheiten", die er in dem 1894 er-schienenen dritten Band des „Kapitals" endgültig widerlegte und die vonden Revisionisten - angefangen von unserem ultrabonrgeoisen und sogar„schwarzhunderterlichen" Herrn Bulgakow bis zu dem „fast orthodoxen"Maslow - bis auf den heutigen Tag wiederholt werden.

Interessant ist auch die Äußerung über Büchner mit der Einschätzungdes Vulgärmaterialismus und des bei Lange (die übliche Quelle „profes-soraler" bürgerlicher Philosophie!) abgeschriebenen „oberflächlichen Ge-schwatzes" (S. 48)32.

Wenden wir uns nun Marx' revolutionärer Politik zu. Bei uns in Ruß-land ist unter den Sozialdemokraten eine Art spießbürgerliche Vorstel-lung vom Marxismus erstaunlich weit verbreitet, als sei eine revolutionärePeriode mit ihren besonderen Kampf formen und speziellen Aufgaben desProletariats schier eine Anomalie, „Konstitution" und „äußerste Oppo-sition" dagegen die Regel. In keinem Land der Welt ist zur Zeit eine sotiefgehende revolutionäre Krise zu verzeichnen wie in Rußland, und inkeinem anderen Lande gibt es (den Marxismus herabwürdigende und vul-garisierende) „Marxisten", deren Einstellung zur Revolution so skeptisch,so philisterhaft wäre. Daraus, daß der Inhalt der Revolution bürgerlichist, zieht man bei uns die platte Schlußfolgerung, die Bourgeoisie sei derMotor der Revolution, das Proletariat aber habe in dieser Revolutionnur untergeordnete, unselbständige Aufgaben zu erfüllen, eine prole-tarische Führung der Revolution sei unmöglich!

Wie entlarvt Marx in den Briefen an Kugelmann diese platte Auffas-sung vom Marxismus! Da haben wir den Brief vom 6. April 1866. Marxhatte damals gerade sein Hauptwerk beendet. Eine abschließende Ein-schätzung der deutschen Revolution von 1848 hatte er schon 14 Jahrevor diesem Brief gegeben. Seine sozialistischen Illusionen über eine nahebevorstehende sozialistische Revolution im Jahre 1848 hatte er 1850

7 Lenin, Werke, Bd. 12

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98 W.l Lenin

selbst widerlegt. Kaum aber beginnt er im Jahre 1866 das Heranreifenneuer politischer Krisen zu beobachten, so schreibt er:

„Werden unsre Spießbürger" (es handelt sich um die deutschen libe-ralen Bourgeois) „endlich einsehn, daß ohne eine Revolution, welcheHabsburg und Hohenzollem beseit igt . . . , es schließlich wieder zu einemdreißigjährigen Krieg . . . kommen muß!" (S. 13/14.)33

Keine Spur von Illusionen darüber, daß die nächste Revolution (sieerfolgte von oben, nicht von unten, wie Marx erwartet hatte) die Bour-geoisie und den Kapitalismus beseitigen werde. Die klarste und bestimm-teste Feststellung dessen, daß sie nur die preußische und die öster-reichische Monarchie beseitigen werde. Und welcher Glaube an diesebürgerliche Revolution! Welch revolutionäre Leidenschaftlichkeit einesproletarischen Kämpfers, der die gewaltige Bedeutung der bürgerlichenRevolution für den sozialistischen Vormarsch versteht!_ Drei Jahre später erklärt Marx, der am Vorabend des Zusammen-

bruchs des napoleonischen Kaiserreichs in Frankreich das Vorhanden-sein einer „sehr interessanten" gesellschaftlichen Bewegung konstatiert,geradezu mit Begeisterung: „Die Pariser studieren förmlich ihre jüngsterevolutionäre Vergangenheit wieder ein, um sich für das bevorstehendeneue Revolutionsgeschäft vorzubereiten." Und nach Schilderung des Klas-senkampfes, der bei dieser Einschätzung der Vergangenheit hervorgetretenist, schließt Marx (S. 56): „Und so brodelt der ganze historische Hexen-kessel. Wann wird's bei uns" (in Deutschland) „soweit sein!"34

Das ist es, was die russischen marxistischen Intellektuellen von Marxlernen sollten, die, durch Skeptizismus entkräftet, durch Pedanteriestumpf geworden, zu bußfertigen Reden geneigt, der Revolution raschmüde werden und wie von einem Festtag davon träumen, die Revolutionzu Grabe zu tragen und sie durch die konstitutionelle Prosa zu ersetzen.Sie sollten bei dem Theoretiker und Führer der Proletarier lernen, an dieRevolution zu glauben, sollten bei ihm lernen, wie man die Arbeiter-klasse aufruft, ihre unmittelbar revolutionären Aufgaben bis zu Endeauszukämpfen, sollten bei ihm die Charakterfestigkeit lernen, die keinkleinmütiges Lamentieren nach zeitweiligen Mißerfolgen der Revolutionduldet.

Die Pedanten des Marxismus meinen, alles das sei ethisches Ge-schwätz, Romantik, Mangel an Realismus! Nein, meine Herren, das ist

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Vorwort zur russ. Übersetzung der "Briefe von X. 74arx an £. Xugelmann 99

Verknüpfung der revolutionären Theorie mit revolutionärer Politik, jeneVerknüpfung, ohne die der Marxismus zum Brentanoismus, zum Struvis-mus, zum Sombartismus wird. Die Doktrin von Marx hat Theorie undPraxis des Klassenkampfes zu einem unzertrennlichen Ganzen verbun-den. Und der ist kein Marxist, der die Theorie, die nüchtern die objek-tive Lage konstatiert, entstellt, um das Bestehende zu rechtfertigen, undzu dem Bestreben hinabsinkt, sich recht schnell jedem zeitweiligen Nie-dergang der Revolution anzupassen, recht schnell die „revolutionärenIllusionen" abzuwerfen und sich an die „reale" Kleinkrämerei zumachen.

Marx verstand es, in scheinbar friedlichsten, wie er sich ausdrückt:„idyllischen" Zeiten und (nach einem Wort der Redaktion der „NeuenZeit") angesichts eines „trostlosen Sumpfes" das Nahen der Revolutionherauszufühlen und das Proletariat auf eine Stufe zu heben, wo es sichseiner fortschrittlichen, revolutionären Aufgaben bewußt wird. Unsererussischen Intellektuellen, die Marx philisterhaft versimpeln, predigendem Proletariat in den revolutionärsten Zeiten die Politik der Passivi-tät, des gefügigen Schwimmens „mit dem Strom", die Politik zaghafterUnterstützung der wankelmütigsten Elemente der liberalen Mode-partei !

Die Marxsche Einschätzung der Kommune bildet die Krone der Briefean Kugelmann. Und diese Einschätzung ist besonders lehrreich, wennman ihr die Methoden des rechten Flügels der russischen Sozialdemo-kraten gegenüberstellt. Plechanow, der nach dem Dezember 1905 klein-mütig ausrief: „Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen!", war sobescheiden, sich mit Marx zu vergleichen. Marx habe ja im Jahre 1870die Revolution ebenfalls gebremst.

Gewiß, Marx hat sie ebenfalls gebremst. Aber man vergegenwärtigesich, was für ein Abgrund sich auftut bei diesem von Plechanow selbstherangezogenen Vergleich zwischen Plechanow und Marx.

Plechanow hatte im November 1905, einen Monat vor dem Höhepunktder ersten revolutionären Welle in Rußland, weit davon entfernt, dasProletariat entschieden zu warnen, vielmehr direkt von der Notwendig-keit gesprochen, den Qebraudh der "Waffen zu erlernen und sidb zu be-waffnen. Als aber einen Monat darauf der Kampf ausbrach, beeilte sichPlechanow, ohne die Bedeutung dieses Kampfes, seine Rolle im Gesamt-

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100 TV J.Lenin

verlauf der Ereignisse, seinen Zusammenhang mit den vorhergehendenKampfformen auch nur im geringsten zu analysieren, den bußfertigenIntellektuellen zu spielen: „Man hätte nicht zu den Waffen greifensollen."

Marx hatte im September 1870, ein halbes Jahr vor der Kommune,die französischen Arbeiter direkt gewarnt: Ein Aufstand wäre eine Tor-heit, sagte er in der bekannten Adresse der Internationale35. Er deckteim voraus die nationalistischen Illusionen hinsichtlich der Möglichkeiteiner Bewegung im Geiste von 1792 auf. Er verstand es, nidbt hinterher,sondern mehrere Monate vorher zu sagen: „Man sollte nicht zu denWaffen greifen."

Und wie verhielt er sich, als dieses nach seiner eigenen Erklärung vomSeptember aussichtslose Unternehmen im März 1871 dennoch Wirklich-keit zu werden begann? Hat es Marx vielleicht (wie Plechanow dieDezemberereignisse) bloß dazu benutzt, um seinen Widersachern, denProudhonisten und Blanquisten, die die Kommune leiteten, „eins auszu-wischen"? Begann er vielleicht wie eine Gouvernante zu nörgeln: Ich habees ja gesagt, ich habe euch gewarnt, da habt ihr nun eure Romantik, eurerevolutionären Phantastereien? Sagte er vielleicht zum Abschied denKommunarden, wie Plechanow den Dezemberkämpfern, mit der Lehr-haftigkeit eines selbstzufriedenen Philisters: „Man hätte nicht zu denWaffen greifen sollen"?

Nein. Am 12. April 1871 schreibt Marx einen begeisterten Brief anKugelmann, einen Brief, den wir gern jedem russischen Sozialdemo-kraten, jedem lesekundigen rassischen Arbeiter an die Wand hängenwürden.

Marx, der im September 1870 den Aufstand eine Torheit genannt hat,bringt im April 1871, da er eine Volksbewegung, eine Massenbewegungsieht, dieser die größte Aufmerksamkeit eines Teilnehmers an gewaltigenEreignissen entgegen, die in der weltgeschichtlichen revolutionären Bewe-gung einen Schritt vorwärts bedeuten.

Das ist ein Versuch, sagt er, die bürokratisch-militärische Maschineriezu zerbrechen und sie nicht einfach aus einer Hand in die andre zu über-tragen. Und er singt den von Proudhonisten und Blanquisten geführten„heroisdben" Pariser Arbeitern ein wahres Hosianna. „Welche Elasti-zität", schreibt er, „welche historische Initiative, welche Aufopferangs-

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Vorwort zur russ. Tibersetzung der Briefe von X. Marx an £. Xugelmann 101

fähigkeit in diesen Parisern!" (S. 88.) . . . „Die Geschichte hat kein ähn-liches Beispiel ähnlicher Größe!"

Marx stellt die historische Initiative der Massen über alles. Oh, wenndoch unsere russischen Sozialdemokraten in bezug auf die Einschätzungder historischen Initiative der russischen Arbeiter und Bauern im Oktoberund Dezember 1905 bei Marx lernen wollten!

Die Verneigung des größten Denkers, der ein halbes Jahr zuvor denMißerfolg vorausgesehen hatte, vor der historischen Initiative der Mas-sen - und das leblose, seelenlose, pedantische: „Man hätte nicht zu denWarfen greifen sollen"! Ist das nicht voneinander entfernt wie Himmelund Erde?

Als Teilnehmer des Massenkampfes, den er mit der ihm eigenen Glutund Leidenschaft im Londoner Exil miterlebte, macht sich Marx an dieKritik der unmitteibaren Schritte der „wahnwitzig-kühnen" Pariser„"Himmelsstürmer".

Oh, wie hätten damals unsere heutigen „real denkenden" Weisen unterden Marxisten, die im Rußland der Jahre 1906 und 1907 die revolutio-näre Romantik in Grund und Boden verdammen, Marx ausgelacht! Wiehätten sie den Materialisten, den Ökonomen, den Feind von Utopienverhöhnt, der sich vor einem „Versuch" verneigt, den "Himmel zu stür-men ! Wieviel Tränen herablassenden Lachens oder Mitleids hätten aller-lei Menschen im Futteral* vergossen über Rebellionstendenzen, Utopis-mus usw. usf., über diese Einschätzung einer himmelstürmenden Bewe-gung!

Marx gab sich nicht der Weisheit neunmalweiser Gründlinge** hin,die sich scheuen, die Technik der höchsten Formen des revolutionärenKampfes zu erörtern. Er behandelt gerade die technischen Fragen desAufstands. Verteidigung oder Angriff? fragt er, als ob es sich um Kampf-handlungen vor London handelte. Und er entscheidet: unbedingt An-griff, „es galt, gleich nach Versailles zu marschieren . . . "

* „Der Mann im Futteral" - Titelheld einer Erzählung von A. P. .Tsche-chow. Der Tibers.

** „Der neunmalweise Gründling" — Titel eines Märchens des SatirikersM. J. Saltykow-Schtschedrin. Der "Übers.

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Das wurde geschrieben im April 1871, wenige Wochen vor dem gro-ßen Blutmai. . .

„Es galt, gleich nach Versailles zu marschieren" - für die Aufstän-dischen, die das „törichte" (September 1870) Unternehmen begonnenhatten, den Himmel zu stürmen.

„Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen" im Dezember 1905,um sich mit Gewalt gegen die ersten Anschläge auf die eroberten Frei-heiten zu wehren . . .

Wahrhaftig, Plechanow verglich sich nicht umsonst mit Marx!Marx fährt in seiner tedmisdhen Kritik fort: „Zweiter Fehler: Das

Zentralkomitee" (man beachte, daß hier die militärische Leitung gemeintist, es handelt sich um das Zentralkomitee der Nationalgarde) „gab seineMacht zu früh auf . . . "

Marx verstand es, die 7ührer vor einem verfrühten Aufstand zu war-nen. Dem himmelstürmenden Proletariat gegenüber aber war er ein prak-tischer Ratgeber, ein Teilnehmer am Kampf der Massen, die ungeachtetder falschen Theorien und der Fehler Blanquis und Proudhons die ganzeBewegung auf eine höhere Stufe hoben.

„Wie dem auch sei", schreibt er, „diese jetzige Erhebung von Paris -wenn auch unterliegend vor den Wölfen, Schweinen und gemeinen Hun-den der alten Gesellschaft - ist die glorreichste Tat unsrer Partei seit derPariser Juniinsurrektion."36

Und ohne vor dem Proletariat auch nur einen einzigen Fehler der Kom-mune zu verheimlichen, widmete Marx dieser glorreichen 7at ein Werk,das bis auf den heutigen Tag die beste Anleitung zum Sturm des „Him-mels" - und das fürchterlichste Schreckgespenst für die liberalen undradikalen „Schweine" ist.

Plechanow widmete dem Dezember ein „Werk", das fast zum Evan-gelium der Kadetten geworden ist.

Jaja, Plechanow verglich sich nicht umsonst mit Marx!Kugelmann antwortete Marx offenbar mit irgendwelchen Äußerungen

des Zweifels und mit Hinweisen auf die Aussichtslosigkeit der Sache, aufden Realismus im Gegensatz zur Romantik, zumindest verglich er dieKommune, einen Aufstand, mit der friedlichen Pariser Demonstrationvom 13. Juni 1849.

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Vorwort zur russ. Übersetzung der 'Briefe von X. Marx an £. Xugelmann 103

Sofort (am 17. April 1871) wird Kugelmann dafür von Marx nach-drücklichst abgekanzelt:

„Die Weltgeschichte", schreibt er, „wäre allerdings sehr becjuem zumachen, wenn der Kampf nur unter der "Bedingung unfehlbar günstigerChancen aufgenommen würde."

Im September 1870 hatte Marx den Aufstand eine Torheit genannt.Als sich aber die "Massen erhoben, will Marx mit ihnen marschieren, mitihnen zusammen im Kampfe lernen, nicht aber kanzleimäßige Belehrun-gen verlesen. Er begreift, daß ein Versuch, die Chancen im voraus mitabsoluter Präzision zu berechnen, entweder Scharlatanerie oder hoff-nungslose Pedanterie wäre. Tiber alles stellt er die Tatsache, daß dieArbeiterklasse heldenmütig, aufopferungsvoll, initiativ Weltgeschichtemadbt. Marx betrachtete diese Geschichte vom Standpunkt derer, die siemadhen, ohne die Möglichkeit zu haben, die Chancen unfehlbar im vor-aus zu berechnen, nicht aber vom Standpunkt des spießerhaften Intellek-tuellen, der da moralisiert: „Es war leicht vorauszusehen . . . Man hätten ich t . . . greifen sollen/'

Marx vermochte auch zu erkennen, daß es Augenblicke in der Ge-schichte gibt, wo ein verzweifelter Kampf der Massen sogar für eine aus-sichtslose Sache notwendig ist um der weiteren Erziehung dieser Massenund ihrer Vorbereitung zum nächsten Kampf willen.

Unseren heutigen Quasi-Marxisten, die so gern Marx zu Unrechtzitieren, nur um von ihm die Einschätzung der Vergangenheit zu ent-lehnen, nicht aber die Fähigkeit zur Gestaltung der Zukunft, ist einesolche Fragestellung völlig unverständlich, ja sogar im Prinzip fremd.Plechanow hat an diese Fragestellung nicht einmal gedacht, als er sichnach dem Dezember 1905 an die Aufgabe machte, zu „bremsen" . ..

Marx wirft jedoch gerade diese Frage auf, ohne im geringsten zu ver-gessen, daß er selber im September 1870 einen Aufstand als Torheit be-zeichnet hatte.

„Die bürgerlichen Kanaillen von'Versailles", schreibt er, „stellten diePariser in die Alternative, den Kampf aufzunehmen oder ohne Kampf zuerliegen. Die Demoralisation der Arbeiterklasse in dem letztren Fallwäre ein viel größres Unglück gewesen als der Untergang einer beliebi-gen Anzahl von ,Führern'."37

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Damit wollen wir unsere kurze Übersicht über die Lehren schließen,die Marx in den Briefen an Kugelmann über eine des Proletariats wür-dige Politik erteilt.

Die Arbeiterklasse Rußlands hat schon einmal bewiesen und wird nochöfters beweisen, daß sie fähig ist, „den Himmel zu stürmen".

5. Februar 1907

Veröftenttidht 1907 in der Brosdbüre-. Nach dem 7ext der Brosdhüre.X. 'Marx, „Briefe an C. Xugelmann".Ilnter Redaktion und mit einemVorwort von SV. Lenin, Verlag„TJowaja Duma" (Jieue "DumcO,St. Petersburg.

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DIE ZWEITE DUMAUND DIE ZWEITE WELLE DER REVOLUTION

Petersburg, 7. Februar 1907

Die Ereignisse vollziehen sich mit einer Geschwindigkeit, die man alsgeradezu revolutionär bezeichnen muß. Vor vier Tagen schrieben wir an-läßlich der Wahlkampagne in Petersburg, daß man schon erkennenkönne, wie sich die politischen Kräfte gruppieren: Die revolutionäreSozialdemokratie allein erhebt selbständig, entschlossen und stolz dasBanner des schonungslosen Kampfes gegen die Gewalttaten der Reaktionund gegen die Heuchelei der Liberalen. Die kleinbürgerliche Demokratie(den kleinbürgerlichen Teil der Arbeiterpartei eingeschlossen) schwankt,sie wendet sich bald den Liberalen, bald den revolutionären Sozialdemo-kraten zu.

Heute finden die Wahlen in Petersburg statt. Ihre Ergebnisse könnendas von uns angegebene Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte nichtändern. Die gestrigen Dumawahlen, bei denen bereits 217 von 524 Du-mamitgliedern, d. h. mehr als zwei Fünftel, gewählt wurden, geben einklares Bild von der Zusammensetzung der zweiten Duma, geben ein kla-res Bild der politischen Situation, die sich vor unseren Augen gestaltet.

Nach den Angaben der „Retsch", die natürlich geneigt ist, die Sache ineinem für die Kadetten günstigen Licht zu schildern, verteilen sich 205gewählte Dumamitglieder folgendermaßen: Rechte 37, nationalistischeAutonomisten38 24, Kadetten 48, Progressisten und Parteilose 16, partei-lose Linke 40, Volkstümler 20 (13 Trudowiki, 6 Sozialrevolutionäre und1 Volkssozialist) und 20 Sozialdemokraten.

Die neue Duma wird also zweifellos linker sein als die alte. Wenn dieweiteren Wahlen ebensolche Ergebnisse zeitigen, so erhalten wir auf500Dumamitglieder folgende runde Zahlen: Rechte 90, Nationalisten50,

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Kadetten 125, Progressisten 35, parteilose Linke 100, Volkstümler undSozialdemokraten je 50. Das ist natürlich nur eine ungefähre Berech-nung, die wir lediglich der Anschaulichkeit halber anstellen, indes kannjetzt wohl kaum mehr bezweifelt werden, daß die Schlußzahlen im gro-ßen und ganzen richtig sind.

Ein Fünftel Rechte; zwei Fünftel gemäßigte Liberale (liberal-monar-chistische Bourgeois, einschließlich der Nationalisten, Kadetten und einesTeils der - wenn nicht aller - Progressisten); zwei Fünftel Linke (undzwar das eine Fünftel Parteilose, das andere aus Parteiorganisierten -Volkstümlern und Sozialdemokraten zu gleichen Teilen - bestehend) -so zeichnet sich vor uns auf Grund der vorläufigen Ergebnisse die Zu-sammensetzung der zweiten Duma ab.

Was bedeutet das aber?Die wildeste, schamloseste Willkür der Schwarzhunderterregierung,

der reaktionärsten Regierung in ganz Europa. Das reaktionärste Wahl-gesetz in ganz Europa. Die revolutionärste Zusammensetzung einerVolksvertretung in Europa - in dem zurückgebliebensten Lande!

Dieser Widerspruch, der in die Augen springt, läßt mit der größtenAnschaulichkeit den Hauptwiderspruch des gesamten gegenwärtigen rus-sischen Lebens, läßt das ganze revolutionäre Gepräge des gegenwärtigenAugenblicks erkennen.

Seit dem großen Tag des 9. Januar 1905 sind zwei Jahre Revolutionverstrichen. Wir haben lange und schwere Perioden wütender Reaktiondurchgemacht. Wir haben kurze „Lichtblicke" von Freiheiten erlebt. Wirhaben zwei Explosionen großer Volksbewegungen erlebt: den Streik-kampf und den bewaffneten Kampf. Wir haben eine Duma und zweiWahlen erlebt, durch die sich die Gruppierung der Parteien endgültig her-auskristallisiert hat und die Gruppierung der Bevölkerung, die noch vorkurzem keinen Begriff von irgendwelchen politischen Parteien hatte, un-gewöhnlich scharf hervorgetreten ist.

In diesen zwei Jahren sahen wir, wie der - bei den einen naive, beiden andern grob eigennützige - Glaube an die Einheit der Befreiungs-bewegung zerstört wurde, wie eine Reihe von Illusionen hinsichtlich einesfriedlichen, konstitutionellen Wegs zerstört wurde, wir sammelten Er-fahrungen in den verschiedenen Formen des Massenkampfes, gingen biszu den härtesten und äußersten, bis zu den letzten denkbaren Kampf-

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Die zweite Duma und die zweite "Welle der Revolution 107

methoden, bis zum bewaffneten Kampf eines Teils der Bevölkerunggegen den anderen. Die Bourgeoisie und die Gutsbesitzer wurden immerverbissener und brutaler. Der Kleinbürger ist müde geworden. Der rus-sische Intellektuelle ist erschlafft und bläst Trübsal. Die Partei der libe-ralen Schwätzer und der liberalen Verräter, der Kadetten, hat ihr Haupterhoben, sie spekuliert auf die Revolutionsmüdigkeit und gibt ihre Fa-mussowsche* Bereitschaft zu jeder erdenklichen Gemeinheit für ihreHegemonie aus.

Unten aber, in der Tiefe der proletarischen Massen und der Massender zugrunde gerichteten, hungernden Bauernschaft ist die Revolutionvorwärtsgegangen, hat unhörbar und unmerklich die Pfeiler des Staatesunterspült, die Schläfrigsten durch den Donner des Bürgerkriegs geweckt,die Unbeweglichsten aufgerüttelt durch den raschen Wechsel von „Frei-heiten" und bestialischen Gewalttaten, von Stille und parlamentarischerBelebung, von Wahlen, Versammlungen und dem Fieber der „Verbands"-arbeit.

Das Ergebnis ist eine neue, noch linkere Duma und die Aussicht aufeine neue, noch drohendere und noch unzweifelhaftere revolutionäreKrise.

Selbst Blinde müssen jetzt sehen, daß wir eben vor einer revolutio-nären und nicht vor einer konstitutionellen Krise stehen. Zweifel sind un-möglich. Die Tage der russischen Konstitution sind gezählt. Unerbittlichnaht ein neuer Kampf: Entweder siegt das revolutionäre Volk, oder diezweite Duma verschwindet ebenso ruhmlos wie die erste, und dann folgtdie Aufhebung des Wahlgesetzes und die Rückkehr zur Selbstherrschaftim Schwarzhunderterstil sans phrases**.

Wie armselig wirken plötzlich unsere „theoretischen" Streitereien ausder jüngsten Vergangenheit - jetzt, wo sie von einem hellen Strahl deraufgehenden revolutionären Sonne beleuchtet werden! Sind die Klagen,in denen sich der trübselige, erschrockene, kleinmütige Intellektuelle übereine Schwarzhundertergefahr bei den Wahlen erging, nicht lächerlich?Hat sich nicht glänzend bestätigt, was wir im November (in Nr. 8 des„Proletari") gesagt haben: „Mit ihrem Gezeter über die Schwarzhun-

* Famussow — Gestalt aus Gribojedows Komödie ,,Verstand schafftLeiden". Der Tibers.

** ohne Umschweife. Die Red.

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108 W. I.Lenin

dertergefahr führen die Kadetten die Menschewiki an der Nase herum,um die Gefahr von links von sich abzuwenden"*?

Die Revolution lehrt. Die Revolution führt gewaltsam diejenigen in dierevolutionäre Bahn zurück, die aus Charakterlosigkeit oder Verstandes-schwäche ständig vom Wege abirren. Die Menschewiki wollten Blocksmit den Kadetten, wollten die Einheit der „Opposition", die Möglichkeit,„die Duma als Ganzes auszunutzen". Sie taten alles mögliche (und allesunmögliche - bis zur Spaltung der Partei, wie in Petersburg); damit eineganz und gar liberale Duma entstehe.

Nichts ist dabei herausgekommen. Die Revolution ist stärker, als diekleingläubigen Opportunisten annehmen. Unter der Hegemonie der Ka-detten kann die Revolution nur im Staube liegen, siegen kann sie nurunter der Hegemonie der bolschewistischen Sozialdemokratie.

Wir erhalten genau solch eine Duma, wie wir es in unserer Polemikmit den Menschewiki in Nr. 8 des „Proletari" (November 1906) voraus-gesagt haben. Es ist eine Duma schroffer Extreme, eine Duma, deren ge-mäßigte und akkurate Mitte von der revolutionären Flut unterspült wor-den ist, eine Duma der Kruschewan39 und des revolutionären Volkes. Diebolschewistische Sozialdemokratie wird in dieser Duma ihr Banner hocherheben und der Masse der kleinbürgerlichen Demokraten sagen, was sieihr bei den Petersburger Wahlen gesagt hat: Trefft die Wahl zwischendem Schacher, den die Kadetten mit Stolypin betreiben, und dem ge-meinsamen Kampf in den Reihen der Volksmassen! Wir, das Proletariatganz Rußlands, ziehen in diesen Kampf. Uns folgen alle diejenigen, diewollen, daß das Volk Freiheit, daß die Bauernschaft Boden erhalte!

Der Kadett merkt schon, daß der Wind von einer anderen Seite zuwehen beginnt, daß das politische Barometer schnell fällt. Nicht umsonstsind alle die Miljukow so nervös geworden, daß sie ihre Hüllen fallengelassen haben und über die „roten Fetzen" auch auf der Straße jam-mern (in den Gemächern der Stolypin haben diese Subjekte stets heim-lich auf den „roten Fetzen" geschimpft!). Nicht umsonst spricht dieheutige „Retsch" (vom 7. Februar) von den „Sprüngen" des politischenBarometers, von den Schwankungen der Regierung „zwischen der De-mission des Kabinetts und irgendeinem Pronunziamento oder einem mi-litärischen Schwarzhunderterpogrom, der schon auf den 14. anberaumt

* Siehe Werke, Bd. 11, S. 308. Die Red.

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Die zweite Duma und die zweite Welle der Revolution 109

wird". Und die entmannte Seele des russischen Liberalen weint undhärmt sich: Sollte wirklich wieder die „Politik der elementaren Reflexe"einsetzen . . . ?

Jawohl, klägliche Helden einer kläglichen bösen Zeit! Wieder Revolu-tion. Begeistert begrüßen wir die herannahende Welle des elementarenVolkszorns. Aber wir werden alles tan, was von uns abhängt, damit derneue Kampf möglichst wenig elementar, damit er möglichst bewußt, kon-sequent und standhaft werde.

Die Regierung hat schon lange alle Räder ihrer Maschine der Gewalt-tätigkeiten, der Pogrome, der viehischen Roheit, des Betrugs und derVerdummungsmanöver in Gang gesetzt. Jetzt aber sind alle Räder be-reits ausgeleiert, alles ist ausprobiert, sogar schon Artillerie in Dörfernund Städten. Die Kräfte des Volkes sind jedoch nicht erschöpft, sie ent-falten sich vielmehr gerade jetzt immer breiter, machtvoller, offener undkühner. Selbstherrschaft im Schwarzhunderterstil und - linke Duma. DieSituation ist zweifellos revolutionär. Der Kampf in der schärfsten Formist zweifellos unabwendbar.

Gerade deshalb aber, weil er unabwendbar ist, haben wir es nichtnötig, ihn zu forcieren, anzutreiben, anzupeitschen. Dafür mögen dieKruschewan und Stolypin sorgen. Uns liegt die Sorge ob, vor dem Pro-letariat und der Bauernschaft mit aller Klarheit, unvermittelt und scho-nungslos offen die Wahrheit zu enthüllen, ihnen die Augen zu öffnen fürdie Bedeutung des kommenden Sturms, ihnen behilflich zu sein, organi-siert, mit der Kaltblütigkeit von Menschen, die in den Tod gehen, demFeind zu begegnen - so, wie ihm der Soldat begegnet, der hinter derBrustwehr liegt und bereit ist, nach den ersten Schüssen zum Sturmangriffüberzugehen.

„Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren Bourgeois!" rief Engelsim Jahre 1894 dem deutschen Kapital zu.40 „Schießen Sie zuerst, meineHerren Kruschewan und Stolypin, Orlow und Romanow!" rufen wir.Unsere Sache ist es, der Arbeiterklasse und der Bauernschaft zu helfen,die Selbstherrschaft der Schwarzhunderter zu zertreten, sobald sie sichselbst auf uns stürzt.

Deshalb keine vorzeitigen Aufrufe zum Aufstand! Keine feierlichenManifeste an das Volk. Keine Pronunziamentos, keine „Proklamatio-

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110 W.I.Lenin

nen". Der Sturm kommt auf uns zu. Es ist nicht nötig, mit den Waffenzu klirren.

Es ist nötig, die Waffen vorzubereiten - im unmittelbaren und imübertragenen Sinne des Wortes. Vor allem und in erster Linie ist es nötig,die Armee des Proletariats zusammenzuschweißen, eine Armee, die starkist durch ihr Bewußtsein und ihre Entschlossenheit. Es ist nötig, unsereorganisatorische und agitatorische Arbeit unter den Bauern zu verzehn-fachen, sowohl unter allen denen, die im Dorfe hungern, als auch unterdenen, die im vorigen Herbst ihre Söhne, die das große Jahr der Revo-lution miterlebten, zum Militärdienst geschickt haben. Alle ideologischenHüllen und Schleier, die man über die Revolution gebreitet hat, müssenheruntergerissen werden, alle Zweifel und Schwankungen beseitigt wer-den. Einfach, ruhig und schlicht, so wie es das Volk am besten versteht,müssen wir so laut und so deutlich wie möglich sagen: Der Kampf ist un-vermeidlich. Das Proletariat wird den Kampf annehmen. Das Proletariatwird alles hingeben, wird alle seine Kräfte in diese Schlacht für die Frei-heit werfen. Möge die ruinierte Bauernschaft, mögen die Soldaten undMatrosen wissen, daß es um das Schicksal der russischen Freiheit geht.

„Troletari" ?ir. i3, "Naäo dem Text des „Vroletari".ii. Tebruar i907.

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111

DIE ERGEBNISSEDER WAHLEN IN PETERSBURG

Petersburg, 9. Februar 1907

Bei den Wahlen in Petersburg haben die Kadetten gesiegt. Sie habenin 11 Wahlbezirken 151 Wahlmänner durchgebracht. Der Linksblock hatnur in einem, dem Wiborger Wahlbezirk, gesiegt und 9 von 160 Wahl-männern durchgebracht.

Die Hauptmerkmale der Petersburger Wahlen sind: Steigen der Wahl-beteiligung in fast allen Bezirken sowie Schwächung der Rechten. DieKadetten stehen an erster Stelle, sie haben 28 798 Stimmen erhalten(nach der Höchstzahl der Stimmen für ihre Kandidaten gerechnet). Anzweiter Stelle steht der Linksblock, der 16 703 Stimmen erhalten hat. Andritter Stelle kommen die Oktobristen mit 16 613 Stimmen, an vierterStelle die Monarchisten mit 5270 Stimmen.

Im Vergleich mit Moskau haben wir also einen großen Fortschritt zuverzeichnen. Ein Bezirk ist erobert worden. Die Linken sind in der Reiheder Listen vom dritten auf den zweiten Platz vorgerückt. Der Prozent-satz der Stimmen, die für den Linksblock abgegeben wurden, betrug inMoskau 13 Prozent. In Petersburg beträgt er fast das Doppelte -25 Prozent.

Hier haben natürlich auch die etwas breitere Agitation und der poli-tische Einfluß der allgemeinen Dumawahlen, bei denen viel mehr Linkegewählt wurden, als man erwartet hatte, eine Rolle gespielt. In Moskauhat keine einzige Tageszeitung die Listen der Wahlmänner des Links-blocks veröffentlicht, in Petersburg dagegen mehrere Zeitungen: der„Towarischtsch" hat sogar, wie man sagt, eben seit seiner „Linksschwen-kung" seine Auflage ganz erheblich vergrößert. In Moskau gab es keineBüros, wo Auskünfte erteilt und linke Listen ausgefüllt wurden. In

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112 W.l Centn

Petersburg gab es solche Büros. In Moskau hat die Mehrzahl der klein-bürgerlichen Spießer der Kadettenfabel von einer Schwarzhunderter-gefahr Glauben geschenkt. In Petersburg hat sich schon deutlich gezeigt,daß dieser Glaube der Kleinbürger und Opportunisten erschüttert ist.

Wir führen die Wahlergebnisse in den einzelnen Bezirken an, wobeiwir überall die Höchstzahlen der Stimmen nehmen, die die Kandidatender verschiedenen Listen erhalten haben (die Zahlen sind der „Retsch"entnommen):

Wahlbezirkeder Stadt Petersburg

Höchstzahl der Stimmen,die abgegeben worden für

Kadet-ten

Links-block

Oleto-bristen

Monar-chisten

Unter-schiedin der

Stimmen-zahl derKadettenmdderLinken

WievielStimmenhättenwir den

Kadettenentreißenmüssen,um zu

siegen?

SpasskiNarwaerLitejnyKolomnaerWassiljewski-Ostrow.RoshdestwenskiKasanerAdmiralitätMoskanerAlexander-Newski . . .PetersburgerWiborger

Insgesamt

3397237727761318231327841749955

4100273532821012

16441643919

112219491325

589246

1702142127541389

151413262153106821021195998725

2233799

1851649

624307667236418537201196706588541249

— 1753— 734— 1857— 196— 364— 1459— 1160— 709— 2398— 1314— 528+ 377

8773689299918373058135512006S8265

28798 16703 16613 5270 1573Stimmen in

5 nichthoftnnngs-

losenBezirken

Diese Zahlen gestatten es, eine Reihe von interessanten Schlüssen zuziehen.

Vor allem hinsichtlich der „Schwarzhundertergefahr". Die Wahlenhaben bewiesen, daß sie nicht besteht. Unsere zahlreichen Erklärungen

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Die Ergebnisse der Wahlen in Petersburg 113

und Warnungen, die von allen Bolschewiki, bis zu den „Ternii Truda"41

und dem „Srenije"42, wiederholt wurden, haben sich als durchaus richtigerwiesen.

Wie immer sich auch die Stimmen auf Kadetten und Linke verteilthätten - die Schwarzen konnten in Petersburg nicht siegen!

Noch mehr. Selbst wenn die Oktobristen und die Monarchisten zusam-mengegangen wären (was besonders in Petersburg unmöglich ist, wo sichdie oktobristischen Deutschen auf dem Wassiljewski-Ostrow beinahesogar mit dem Verband vom 17. Oktober entzweit hätten) - selbst dannhätten die Schwarzen in Petersburg nicht siegen können! Das sieht jeder,der sich die Mühe nimmt, auf Grund der angeführten Zahlen einige ganzeinfache Berechnungen anzustellen. Die Summe der Stimmen der Kadet-ten und der Linken (45 500) ist mehr ah doppelt so groß wie die Summeder oktobristischen und der monarchistischen Stimmen (22 000). Wieimmer sich auch die Stimmen auf die vorhandenen vier Listen verteilenmochten, welche „Schritte" die Rechten auch tun mochten - eine Schwarz-hundertergefahr hat es nicht gegeben.

Die Kleinbürger - die Volkstümler und die opportunistischen Sozial-demokraten, die in das Kadettengezeter von einer Schwarzhunderter-gefahr einstimmten - haben das Volk betrogen. Wir haben das vor denWahlen gesagt. Die Wahlen haben bewiesen, daß wir recht hatten.

Die Petersburger Charakterlosigkeit und politische Kurzsichtigkeit, diedem kleinbürgerlichen Intellektuellen und Spießer eigen sind, haben sichpraktisch ausgewirkt. Die Wahlen in Petersburg waren, wenn auch beiweitem nicht in demselben Grade wie in Moskau, doch Wahlen von"Kleinbürgern, die von den Kadetten eingeschüchtert und an der Naseherumgeführt worden sind. Alle in Petersburg vor den Wahlen erschie-nenen Druckschriften, von der „Retsch" bis zum „Towarischtsch", derkleinmütig den Linksblock verteidigte (sich wegen seiner Sympathie fürdie Linken rechtfertigte?), enthalten eine Unmenge von Meldungen, diedavon zeugen, wie die Kadetten und ihre Nachbeter dem Spießbürger mitdem Gespenst der von ihnen erfundenen Gefahr eines Sieges der Schwarz-hunderter Angst eingejagt haben.

Die Kadetten suchten die Gefahr, die ihnen von links drohte, mit Ge-zeter über die Gefahr eines Sieges der Schwarzhunderter von sich abzu-wenden, zugleich aber gingen sie selbst zu Stolypin und versprachen ihm,

8 Lenin, Werke, Bd. 12

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vernünftiger, loyaler zu werden und sich von den Linken zu trennen.Stolypin hat selbst zugegeben - nach den Worten der heutigen Nummer(9. Februar) des „Towarischtsch" - , daß er einiges über diese Rechts-schwenkung der Kadetten weißl

Weiter. Die Ergebnisse der Petersburger Wahlen geben die Möglich-keit, die Frage zu beantworten: Was haben uns diese Wahlen gebracht?ist es uns durch unsere geradlinige, antikadettische Propaganda gelungen,neue Schichten von früher indifferenten Wählern zu wecken und sie zumpolitischen Leben heranzuziehen? in welchem Umfang haben wir dieKleinbürger, die hinter den Liberalen einhertrotteten, von den Liberalengelöst und auf die Seite des Proletariats herübergezogen?

Um hierüber urteilen zu können, wollen wir vor allem die Stimmen-zahlen der Kadetten und der Linken (wie früher, die Höchstzahlen) ausden Jahren 1906 und 1907 nebeneinanderstellen:

Abgegebene Stimmen CJ-lödbstzabkn)

Wahlbezirke der StadtPetersburg

SpasskiNarwaerLitejnyKolomnaerWassiljewski-OstrowRoshdestwenski....KasanerAdmiralitätMoskauerAlexander-Newski .PetersburgerWiborger

Insgesamt

1906

Für dieKadetten

500935783767224337773 393224215535124299149461988

40611

1907

Für dieKadetten

3397237727761318231327841749

9554100273532821012

28798

Für dieLinken

16441643919

112219491325

589246

1702142127541389

16703

Zusammen

504140203695244042624109233812015802415660362401

45501

Differenzzwischen

letzter underster Rubrik

+ 32+ 442— 72+ 197+ 485+ 716+ 96— 352+ 678+ 1165+ 1090+ 413

+ 4890

Aus diesen Daten ergibt sich mit völliger Klarheit das Verhältnis derStimmenzahlen für die Opposition und für die Revolution in den Jahren1906 und 1907. Von den (rund gerechnet) 17 000 Stimmen, die wirerobert haben, haben wir etwa i 2 000 den Kadetten entrissen und etwa

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Die Ergebnisse der Wahlen in Petersburg 115

5000 von der früher indifferenten (teilweise boykottistisdien) Masse er-halten.

Hierbei fällt sofort der Unterschied auf zwischen „hoffnungslosen"Bezirken, d. h. solchen, wo wir offenbar auch bei der größten Anspan-nung unserer Kräfte im Jahre 1907 nicht hätten siegen können, und nichthoffnungslosen Bezirken. An der Spitze der „hoffnungslosen" Bezirkestehen z. B. die Bezirke Admiralität und Litejny. Das Übergewicht derKadettenstimmen über unsere Stimmen ist groß. Wie ist das zu er-klären?

Die Ursache ist klar. In dem ersten Bezirk besteht die Bevölkerungaus Beamten, in dem zweiten aus Großbourgeois (darauf haben vor denWahlen die „Ternii Truda" hingewiesen). Wo es kein Handels- undIndustrieproletariat gibt, wo die Beamten überwiegen, dort konnte dievon den Trudowiki unterstützte Sozialdemokratie nicht siegen. Dort istsogar die Wahlbeteiligung zurückgegangen: man hatte kein Interesse!Dort haben wir nur ungefähr ein Viertel der Kadettenstimmen auf dieSeite des Linksblocks herübergezogen.

Auf dem andern Pol stehen die nicht hoffnungslosen Bezirke, wo dieSozialdemokratie, unterstützt von den Trudowiki, eine Masse neuer Ele-mente geweckt und die städtische Armut aus dem Sumpf gezogen, ausdem Schlaf geweckt und für das politische Leben gewonnen hat. Es sindder Alexander-Newski- und der Petersburger Bezirk. Hier beträgt derStimmenzuwachs gegen die Schwarzen, d. h. der Kadetten und der Lin-ken zusammen, mehr als tausend Stimmen in jedem Bezirk. Hier ist dergrößere Teil der linken Stimmen nicht den Kadetten entrissen worden,sondern es sind neue Stimmen. Die Stimme des Kampfes, die Stimmeder Sozialdemokratie und der Trudowiki hat diejenigen geweckt, die derrührselige Singsang der Kadetten nicht aufzurütteln vermochte.

Im Petersburger Bezirk hätten wir den Kadetten nur insgesamt265 Stimmen zu entreißen brauchen, und wir hätten gesiegt. 265 zusätz-lich zu den 2754 Stimmen, die wir erhalten haben - es ist klar, daß derSieg durchaus möglich war. Klar ist auch, daß die städtische Armut beiweitem nicht proletarischen Schlages, die Verkäufer, die Droschken-kutscher, die kleinen Mieter sich hier für die Linken erhoben haben. Esist klar, daß der Appell der von den Trudowiki unterstützten Sozial-demokratie nicht ungehört verhallte, daß Bevölkerungselemente, die fähig

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116 W.l Centn

sind, weiter zu gehen als die Kadetten, weiter links stehen als die Kadet-ten, hier in sehr imposanter Zahl vorhanden sind.

Im Alexander-Newski-Bezirk war der Kampf unvergleichlich schwerer.Wir hätten den Kadetten 658 Stimmen entreißen müssen, um zu siegen.658 zusätzlich zu den 1421 Stimmen, die wir erhalten haben - das isteine ziemlich hohe Zahl, aber immerhin weniger als die Hälfte. Bezirke,wo eine Steigerung unserer Stimmenzahl aufs Anderthalbfache uns denSieg gebracht hätte, dürfen wir nicht als hoffnungslos bezeichnen.

Der Kolomnaer Bezirk hätte uns leicht einen Sieg bringen können: wirhätten den Kadetten nur insgesamt 99 Stimmen zu entreißen brauchen.In dem Bezirk Wassiljewski-Ostrow, wo die drei Hauptlisten - die derKadetten, der Oktobristen und der Linken - fast die gleiche Stimmenzahlerhielten, hätten wir gesiegt, wenn wir den Kadetten 183 Stimmen ent-rissen hätten. Im Narwaer Bezirk hätten wir den Kadetten 368 Stimmenentreißen müssen, um zu siegen.

Das Fazit. Der Linksblock hat in Petersburg zweifellos Angestellteand städtische Kleinbürger angezogen, hat einen Teil von ihnen zumerstenmal zum politischen Leben erwedkt und einen ganz erheblichen Teilvon ihnen den Kadetten entrissen.

Der hoffnungslos kleinmütige Standpunkt, wonach der Handels- undIndustrieangestellte den sozialdemokratischen Anschauungen nicht zu-gänglich wäre, ist, wenn die Sozialisten im Übergangsstadium von denTrudowiki unterstützt werden, durch die Petersburger Wahlen ein fürallemal widerlegt worden. Wenn wir es wollen und es verstehen, könnenwir Hunderte und Tausende aus der städtischen Armut in jedem einzel-nen Bezirk der Hauptstadt zu politischem Kampf erwecken. Wir könnenHunderte von Verkäufern, Kontoristen usw. in jedem einzelnen Bezirkder Partei der mit Stolypin schachernden liberalen Bourgeois entreißen.Wenn wir unermüdlich in dieser Richtung arbeiten, wird die Hegemonieder verräterischen Kadetten über die städtische Armut gebrochen werden.Noch eine Wahlschlacht mit dem Linksblock in Petersburg werden dieKadetten nicht überstehen! Sie werden bei dem gegenwärtigen Wahl-gesetz vernichtend geschlagen werden, wenn sie nach einigen weiterenMonaten „Stolypinscher" Agitation und Miljukowschen Schachers noch-mals in den Kampf gehen!

In der Tat. Man kann leicht erkennen, daß auch bei diesen Wahlen

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Die Ergebnisse der Wahlen in Petersburg 117

ganz wenig zu einem Sieg des Linksblocks gefehlt hat. Hoffnungsloswaren nur die Bezirke Admiralität, Litejny, Spasski, Roshdestwenski,.derKasaner und der Moskauer Bezirk. In allen diesen sechs Bezirken hättenwir die Zahl unserer Stimmen auf mehr als das Anderthalbfache erhöhenmüssen - was wohl kaum denkbar gewesen wäre, sosehr wir uns auchin der Wahlagitation, im Literaturvertrieb u. dgl. m. angestrengt hätten(d. h. richtiger gesagt, es wäre wohl denkbar, jedoch nicht angesichts derStolypinschen Wahlfreiheit der Standgerichte!). Die beiden ersten diesersechs Bezirke sind nach ihrer sozialen Zusammensetzung für die Sozial-demokraten und die Trudowiki unzugänglich. Die vier letzten sind wohlzugänglich, jedoch war hier unsere Arbeit unter den Handels- und Indu-strieangestellten noch viel, viel zu schwach.

In einem von den restlichen sechs Bezirken haben wir schon beimersten Auftreten des Linksblocks gesiegt. In vier Bezirken hätten wir denKadetten, um zu siegen, nur 99-386 Stimmen zu entreißen brauchen.In einem Bezirk hätten wir den Kadetten 658 Stimmen entreißen müssen.Insgesamt hätten wir in diesen fünf Bezirken nur 1573 Summen denKadetten zu entreißen brauchen, und der Linksblock hätte gesiegt, bätteganz Petersburg erobert I

Es wird wohl kaum jemand zu behaupten wagen, daß es die Kräfteder Sozialdemokraten überstiegen hätte, in fünf Bezirken zusammen denKadetten 1573 Stimmen zu entreißen, wenn sie geschlossen vorgegangenwären — wenn die mit den Kadetten schachernden Opportunisten nichtdas Zustandekommen des Linksblocks sehr lange verzögert hätten, wennnicht der Teil der Menschewiki, der sich abgespalten hat, eine Streik-brecherrolle gegenüber dem Linksblock gespielt hätte.

Was ist ein Streikbrecher? Ein Mensch, der mit dem kämpfenden Pro-letariat verbunden ist und ihm im Augenblick eines kollektiven Kampfesin den Rücken fällt.

Treffen diese Merkmale zu auf die Menschewiki, die sich abgespaltenhaben? Jawohl, natürlich, denn sie haben die Einheit der sozialdemo-kratischen Organisation in Petersburg gesprengt, Zwiespalt in die Reihender Kämpfenden getragen, sich mitten im Feuer des Kampfes zu denKadetten geschlagen und uns schließlich sogar nach dem Zustande-kommen des Linksblocks direkt behindert. Man braucht sich nur zu erin-nern, daß der Linksblock am 25. Januar zustande kam und daß am

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118 W.l Lenin

28. Januar die Menschewiki, die sich abgespalten hatten, im „Towa-rischtsch" dazu aufforderten, in fünf Bezirken Stimmenthaltung zu üben!Am 1. Februar veröffentlichten dieselben Menschewiki (die „Retsch")einen Aufruf, der dem Spießbürger mit der schwarzen Gefahr bange zumachen versucht!

Aber auch damit nicht genug. In der heutigen „Retsch" lesen wir aufSeite 3 in einer Schilderung der Wahlen im Petersburger Bezirk: Aufeinem Wahlzettel stand: „Enthalte mich der Stimme. Ein Menschewik."

Möge der Leser recht gut über die Bedeutung dieses Beispiels nach-denken !

Am 28. Januar veröffentlichten die Menschewiki im „Towarischtsch"Beschlüsse des Vollzugsausschusses des abgespaltenen Teils. In Punkt VIdieser Beschlüsse wurde der Petersburger Bezirk ausdrücklich aus derZahl der Bezirke ausgeschlossen, in denen es eine Schwarzhunderter-gefahr gibt.

In Punkt VI wurde direkt erklärt, daß im Petersburger Bezirk einAbkommen mit den Linken zweckmäßig ist. In Punkt III wurde direkterklärt, daß die Menschewiki selbst für den Fall, daß ein Abkommen mitden Linken nicht zustande kommt, dazu auffordern, überall dort für dieLinken zu stimmen, wo es keine „offenkundige" Schwarzhundertergefahrgibt. 7rotzdem enthält sich ein „Menschewik" im Petersburger Bezirkder Stimme!! Wie haben denn nun die Menschewiki, die sich abgespaltenhaben, in den andern Bezirken gehandelt?

Wie kann man sich danach noch um die Anerkennung der 7atsadbedrücken, daß es eben das Streikbrechertum eines Teils der Menschewikigewesen ist, das in Petersburg, wo es nicht die geringste Schwarzhun-dertergefahr gab, den Wahlsieg des Linksblocks verhindert hat?

Möge das Proletariat aus den Schwankungen und Verrätereien desKleinbürgertums lernen. Wir werden stets früher als andere festen Sin-nes und kühn unser Banner hissen. Wir werden stets die Kleinbürgerauffordern, die Fittiche der Liberalen zu verlassen und auf die Seite desProletariats zu treten. Und diese Taktik - die einzige revolutionäre pro-letarische Taktik in der bürgerlichen Revolution - wird uns bei jederBelebung des politischen Massenkampfes den Sieg bringen.

Saratow, Nishni-Nowgorod waren der erste Sieg43; Moskau, Peters-burg brachten den ersten Ansturm. Genug, ihr Herren Kadetten! Mit

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dem Betrug der liberalen Gutsbesitzer und der bürgerlichen Advokatenan der städtischen Armut geht es zu Ende. Mögen die Stolypin zusam-men mit den Miljukow auf den „roten Fetzen" schimpfen. Die Sozial-demokratie steht mit dem roten Banner vor allen Werktätigen und Aus-gebeuteten auf ihrem Posten.

„Proletari" 5Vr. i3, Nadi dem Jext des „VroleXari".ii.Jebruar 1907.

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REFERAT AUF DER KONFERENZDER PETERSBURGER ORGANISATION

ZUR FRAGE DER DUMAWAHLKAMPAGNEUND DER DUMATAKTIK44

Kurzer Zeitungsbericht

Der Referent wies darauf hin, daß die Frage der Dumataktik gegen-wärtig zweifellos die zentrale politische Frage und folglich auch derHauptpunkt ist, um den sich die bevorstehende Parteitagskampagnedrehen wird. Zwei Fragen, die das Zentralkomitee in dem Entwurf deraus den Zeitungen bekannten Tagesordnung des Parteitags vorgesehenhat, treten hierbei in den Vordergrund, und zwar: die Frage der nächstenpolitischen Aufgaben und die Frage der Reichsduma.

Die erste Frage ist sehr unbestimmt formuliert. Vielleicht verstehendie Menschewiki darunter die Unterstützung eines kadettischen Kabi-netts, wollen es aber nicht offen aussprechen. Jedenfalls merkt man ihrenWunsch, ebenso wie auf dem IV. (Vereinigungs-) Parteitag die wichtig-sten grundsätzlichen Fragen der sozialdemokratischen Taktik in der rus-sischen Revolution wiederum beiseite zu schieben. Das führt jedoch, wiejetzt auch schon die Erfahrung gezeigt hat, nur dazu, daß es keinerlei kon-sequente Parteitaktik der Sozialdemokratie gibt. Man braucht sich nurdaran zu erinnern, daß die Taktik des ZK in der Frage der Unterstützungeines Duma-, d. h. eines Kadettenkabinetts (Juni 1906) weder von derPartei im allgemeinen noch auch von der sozialdemokratischen Duma-fraktion im besonderen unterstützt wurde. Nach der Auseinanderjagungder Duma hatten die berühmten, vom Zentralkomitee vorgeschlagenen„einzelnen Bekundungen des Massenprotestes" das gleiche Schicksal. Beiden jetzigen Wahlen erwies sich die Haltung der Partei zu den Kadettenals so wenig festgelegt, daß sich von den einflußreichsten und verantwort-lichsten Menschewiki Tscherewanin vor der Gesamtrussischen Konferenzder SDAPR vom November 1906 und Plechanow (von Wassiljew garnicht zu reden) nach der Konferenz besonders heraushoben.

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Referat auf der Konferenz der Petersburger Organisation 121

Bei dieser Lage der Dinge sind die revolutionären Sozialdemokratenunbedingt verpflichtet, sich die Tatsache, daß der V. Parteitag, an demzum erstenmal die Polen, die Letten und die Bundisten teilnehmen wer-den, die Partei in vollem Umfang vertreten wird, zunutze zu machen, umdie wichtigsten grundsätzlichen Fragen der sozialdemokratischen Taktikin der bürgerlichen russischen Revolution zur Sprache zu bringen. Esbringt der Sache keinen Nutzen, von „den nächsten politischen Aufgaben"zu reden, wenn die Grundfragen nicht klargestellt sind, die verbundensind mit den Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution überhaupt,wenn im besonderen nicht klargestellt ist, ob die objektiven Vorausset-zungen für die Weiterentwicklung der Revolution gegeben sind, wie sichgegenwärtig die Klassen und Parteien gruppieren und welchen Klassen-charakter die Kadettenpartei hat. Ohne Klarstellung dieser Fragen, diedurch die reichen Erfahrungen der ersten Duma und der Wahlen zurzweiten Duma erleichtert wird, ist eine grundsätzliche, durchdachte Ent-scheidung der Frage eines Kadettenkabinetts, der Taktik im Falle einerAuseinanderjagung der zweiten Duma usw. usf. nicht denkbar.

Der Referent ging daher kurz auf die von ihm aufgeworfenen Fragenein. Die wirtschaftliche Lage der breiten Massen der Bevölkerung zeugtzweifellos davon, daß die Grundaufgaben der Revolution nicht gelöstsind; der objektive Boden für unmittelbare Massenbewegungen ist ge-geben. In der Politik spiegelt sich das wider als Verschärfung des Gegen-satzes zwischen der Selbstherrschaft, die sich der Organisation der erz-reaktionären Gutsbesitzer nähert, und der Masse nicht nur des Prole-tariats, sondern auch der Dorfarmut (die Bauernkurie hat - natürlichnach der Arbeiterkurie - den höchsten Prozentsatz linker Wahlmännererbracht!) und der städtischen Armut (die Hegemonie der Kadetten überdie kleinbürgerliche städtische Demokratie ist bei den Wahlen zur zwei-ten Duma zweifellos ernstlich untergraben worden). Hieraus folgt, daßnicht eine konstitutionelle, sondern eine revolutionäre Krise sich entwickeltund herannaht, daß der Kampf in der Duma - kraft objektiver Bedingun-gen - erneut den Übergang zum Kampf außerhalb der Duma hervorruft,zu dem es um so eher kommen wird, je erfolgreicher sich die Tätigkeit derSozialdemokratie und der bürgerlichen Demokratie in der Duma entfaltenwird. Die Aufgaben des Proletariats, als des Führers der demokratischenRevolution, bestehen darin, das revolutionäre Bewußtsein, die Entschlos-

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senheit und die Organisiertheit der Massen zu entwickeln und das Klein-bürgertum der Führung der Liberalen zu entreißen. Von der Unterstüt-zung eines liberalen Kabinetts, das angeblich der Duma verantwortlichwäre, in Wirklichkeit aber von der Zarenbande, den Schwarzhunderternabhängig ist, kann keine Rede sein. Die Möglichkeit, ein solches Kabinettauszunutzen (wenn es sich als eine Realität erwiese und nicht ein ebensoleeres Versprechen zur Täuschung der Kadetten bliebe wie das im Ja-nuar 1907 gegebene Versprechen Stolypins, die Kadetten legalisieren zuwollen, das die Kadetten von dem Block mit den Linken abbringensollte) - diese Möglichkeit hängt ganz und gar ab von der Kraft derrevolutionären Klassen, ihrer Bewußtheit und ihrer Geschlossenheit.

Was den Klasseninhalt der verschiedenen Parteien anbelangt, so mußman die allgemeine Erscheinung feststellen, daß sich im letzten Jahre dieoberen Klassen nach rechts und die unteren Klassen nach links entwickelthaben. Die Mitte - das Zentrum - wird schwächer, sie wird von derFlut der vorwärts eilenden revolutionären Entwicklung weggespült. DieSchwarzhunderter sind stärker geworden, haben sich organisiert und sindnoch näher mit der stärksten wirtschaftlichen Klassenkraft des alten Ruß-lands, den fronherrlichen Gutsbesitzern, zusammengerückt. Die Okto-bristen bleiben die Partei der konterrevolutionären Großbourgeoisie. DieKadetten haben eine starke Rechtsschwenkung vollzogen. Es wird immerklarer, daß ihre soziale Stütze die liberalen (mittleren) Gutsbesitzer, diemittlere Bourgeoisie und die großbürgerliche Intelligenz sind. Die städ-tische Armut läßt sich aus Tradition von den Kadetten führen, sie läßt sichvon ihnen durch den Klang der Worte von „Volksfreiheit" betrügen. DieWahlen zur zweiten Duma haben sofort gezeigt, daß schon der erste An-sturm der Linken selbst unter den ungünstigsten Voraussetzungen die„Tiefenschichten" der städtischen Demokratie in ganz erheblichem Um-fange von den Kadetten losreißt.

Die Kadetten sind nach rechts gegangen, zu den Oktobristen. Dasdemokratische Kleinbürgertum, das städtische und besonders das länd-liche, ist am meisten erstarkt und nach links gegangen. Der Referent erin-nerte daran, daß es im Frühjahr 1906 noch keine politischen Massen-erfahrungen mit einer offenen Parteiorganisation dieses Kleinbürgertumsgab. Jetzt sind bereits sehr erhebliche Erfahrungen vorhanden, angefan-gen von den Trudowiki in der ersten Duma bis zu der unerwartet großen

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Anzahl von „Linken" und „Trudowiki", die in die II. Duma gewähltworden sind.

Die bolschewistischen Ansichten über die russische Revolution, die nichtvom Liberalismus, sondern nur vom Proletariat vollbracht werden kann,sobald es imstande ist, die Masse der Bauernschaft zu sich herüberzu-ziehen, sind durch die Erfahrungen von 1906 und 1907 wunderbar bestä-tigt worden.

Die Dumataktik der revolutionären Sozialdemokratie geht ganz undgar aus den geschilderten Voraussetzungen hervor. Die Sozialdemokratenmüssen die Duma als eines der Werkzeuge der Revolution betrachten, siemüssen entschlossen, offen, bestimmt und konsequent vor den Massen dasrevolutionäre proletarische Banner entrollen, sie müssen ihre agitato-rische, propagandistische und organisatorische Arbeit in den Dienst derEntwicklung der Revolution stellen und den Massen die Unvermeidlich-keit eines neuen großen Kampfes außerhalb der Dumamauern klar-machen. Die Phrasen der Kadetten von der „Sprengung der Duma" sindeine niederträchtige Provokation der Liberalen, die insgeheim mit Stoly-pin verhandeln. Die Duma nicht „sprengen" - die Duma nicht ausein-anderjagen lassen - bedeutet: nichts tun, was Stolypin und Konsortensehr unangenehm wäre. Die Sozialdemokraten müssen den provokatori-schen Charakter dieser polizeilich-kadettischen Losung klarmachen undzeigen, daß bereits in der ersten Duma die Haltung der Sozialdemokra-tischen Partei (sowohl der Menschewiki als auch der Bolschewiki) allekünstlichen revolutionären „Wege", jede „Proklamierung" usw. aus-schloß. Die Kadetten wissen das und unterschieben uns ganz in der Artdes „Nowoje Wremja" an Stelle unserer Taktik der Entwicklung derMassen-, der Volksrevolution eine Taktik der „Explosionen".

Die Sozialdemokraten müssen in der Duma ebenso handeln, wie wirbei den Wahlen in Petersburg gehandelt haben: sie müssen ihr revolutio-näres Banner aufpflanzen; sie müssen das schwankende Kleinbürgertumzwingen, zwischen uns und den Kadetten zu wählen; sie dürfen in Augen-blicken entscheidender Aktionen, von Fall zu Fall nicht auf Teilabkom-men mit denjenigen kleinbürgerlichen Demokraten verzichten, die sowohlgegen die Schwarzen als auch gegen die Kadetten mit uns zusammen-gehen werden. Der Referent stellte auf diese Weise die Bedeutung unddie Bedingungen der Praktizierung des „Linksblocks" in der Duma klar

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und warnte besonders davor, den Linksblock als ein ständiges Abkom-men, das die Sozialdemokraten irgendwie binde, als einen im voraus undfür längere Zeit eingegangenen Vertrag zu betrachten. Wenn sich dieSozialdemokraten in Petersburg durch ein ständiges Abkommen odersogar nur durch einen vorläufigen Vertrag mit den Volkstümlern gebun-den hätten, die samt und sonders, bis zu den „revolutionären" Sozialrevo-tionären, gemeinsam mit den Menschewiki darangingen, die Demokratiean die Kadetten zu verkaufen, so wäre in Petersburg bei den Wahlen keinLinksblock zustande gekommen! Nur durch eine selbständige und festePolitik, nicht aber durch Diplomatisieren, nicht durch kleine Abmachun-gen, kann sich die Sozialdemokratie im notwendigen Augenblick dieUnterstützung derjenigen Elemente der bürgerlichen Demokratie sichern,die wirklich fähig sind, zu kämpfen.

SCHLUSSWORT

Der Referent nahm im Schlußwort hiergegen Stellung.45 Einerseits müs-sen die Sozialdemokraten selbst in den Augenblicken des schärfstenKampfes unbedingt eine selbständige und unabhängige Partei bleiben, diesogar in den „gemeinsamen" Sowjets der Arbeiter-, der Bauerndeputier-ten usw. eine besondere Organisation bildet. Anderseits dürfen die So-zialdemokraten nicht in den Fehler der Menschewiki verfallen, die einen„politischen Block" einem „Kampfabkommen" gegenüberstellen, denn alleund jegliche Abkommen sind nur in den Grenzen einer bestimmten f>o!i-tisdben Linie zulässig. Es versteht sich, daß die Sozialdemokraten, die inder Duma in einer bestimmten Frage gegen die Kadetten auftreten, Ab-kommen mit den Linken nidht werden ablehnen können, wenn die Lin-ken in dieser Frage den. Sozialdemokraten folgen und wenn ein soldiesAbkommen für einen parlamentarischen Sieg über die Kadetten (z. B.Änderung eines Gesetzes; Streichung irgendeines infamen Punktes auseiner Adresse, Erklärung, Entschließung usw.) erforderlich ist. Es wärejedoch ein Wahnsinn und ein Verbrechen, sich die Hände zu binden durchirgendein ständiges Abkommen mit irgend jemand, das die Sozialdemo-kratie irgendwie hemmen könnte.

„Vroletari" 5Vr. 14, Nadb dem 7 ext des „Proletari".4. März 1907.

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RESOLUTIONSENTWÜRFE

ZUM FÜNFTEN PARTEITAG DER SDAPR46

Qesdbrieben 15,-iS. Jebruar(28. Jebruar - 3. März) 1907.

Veröffentlidht am 4. März 1907 TJadb dem Jext des „7>ro\etari"im „Vroletari" 9Vr. 14.

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l.OBER DEN GEGENWÄRTIGEN ABSCHNITTDER DEMOKRATISCHEN REVOLUTION

In der Erwägung,1. daß die Wirtschaftskrise, die Rußland durchmacht, keine Anzeichen

einer baldigen Überwindung erkennen läßt, sondern in ihrem schleichen-den Fortgang nach wie vor in den Städten Arbeitslosigkeit von unge-heuren Ausmaßen, in den Dörfern Hungersnot hervorruft;

2. daß sich in Verbindung damit der Klassenkampf zwischen Prole-tariat und Bourgeoisie, der Kampf zwischen den Gutsbesitzern und derBauernschaft sowie zwischen der bäuerlichen Bourgeoisie, die von derRegierung bestochen wird, und der dörflichen Armut verschärft;

3. daß die politische Geschichte Rußlands im vergangenen Jahr, vonder ersten Duma bis zu den Neuwahlen, ein schnelles Steigen der Bewußt-heit aller Klassen zeigt, das zum Ausdruck gekommen ist in dem gewal-tigen Erstarken der extremen Parteien, im Schwinden der konstitutionel-len Illusionen, in der Schwächung des „Zentrums", d. h. der bürgerlich-liberalen Partei der Kadetten, die bestrebt ist, der Revolution mit Zuge-ständnissen, die für die erzreaktionären Gutsbesitzer und für die Selbst-herrschaft annehmbar sind, ein Ende zu setzen,-

4. daß die auf dieses Ziel gerichtete Politik der Kadettenpartei nur imallergeringsten Maße zur Befreiung der Produktivkräfte der bürgerlichenGesellschaft und überhaupt nicht zur Befriedigung der wichtigsten Bedürf-nisse des Proletariats und der bäuerlichen Massen führt und eine ständigegewaltsame Niederhaltung dieser Massen notwendig macht -

in dieser Erwägung erklärt die Beratung:1. Die politische Krise, die sich vor nnseren Augen entwickelt, ist keine

konstitutionelle, sondern eine revolutionäre Krise, die zum unmittelbaren

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128 •W.J.Lenin

Kampf der Massen des Proletariats und der Bauernschaft gegen dieSelbstherrschaft führt;

1. die bevorstehende Dumakampagne ist daher nur als eine Episodeim revolutionären Kampf des Volkes um die Macht zu betrachten undauszunutzen;

3. die Sozialdemokratie als Partei der fortgeschrittensten Klasse kanngegenwärtig auf keinen Fall die Kadettenpolitik im allgemeinen und einkadettisches Kabinett im besonderen unterstützen. Die Sozialdemokratiemuß alle Kräfte aufbieten, um den verräterischen Charakter dieser Politikvor den Massen aufzudecken; den Massen die revolutionären Aufgaben,vor denen sie stehen, klarzumachen; ihnen zu beweisen, daß nur dann,wenn die Massen einen hohen Grad von Bewußtsein und feste Organi-siertheit bekunden, die eventuellen Zugeständnisse der Selbstherrschaftaus einem Werkzeug des Betrugs und der Demoralisierung zu einemWerkzeug der Weiterentwicklung der Revolution werden können.

2. ÜBER DIE STELLUNGZU DEN BÜRGERLICHEN PARTEIEN

In der Erwägung,1. daß der Sozialdemokratie gegenwärtig die besonders dringende Auf-

gabe ersteht, den Klasseninhalt der verschiedenen nichtproletarischenParteien zu bestimmen, den Wechselbeziehungen der Klassen im gegebe-nen Augenblick Rechnung zu tragen und dementsprechend ihr Verhältniszu den anderen Parteien zu bestimmen;

2. daß die Sozialdemokratie es stets für notwendig erachtet hat, jedeoppositionelle und revolutionäre Bewegung zu unterstützen, die gegen diein Rußland herrschende gesellschaftliche und politische Ordnung gerichtetist;

3. daß der Sozialdemokratie die Verpflichtung obliegt, alles zu tun,damit das Proletariat die Rolle des Führers in der bürgerlich-demokrati-schen Revolution ausübe -

in dieser Erwägung erklärt die Beratung:1. Die Schwarzhunderterpaiteien (Bund des russischen Volkes, Monar-

chisten, Rat des vereinigten Adels u. a.) treten immer entschlossener und

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Resohtionsentwürfe zum fünften Parteitag der SDJPR 129

bestimmter als Klassenorganisation der Gutsbesitzer, der Fronherren, auf,entreißen immer frecher dem Volke die Errungenschaften der Revolutionund rufen dadurch unvermeidlich eine Verschärfung des revolutionärenKampfes hervor; die Sozialdemokratie muß die überaus enge Verbindungdieser Parteien mit dem Zarismus und mit den Interessen des fronherr-lichen Großgrundbesitzes aufdecken und den Massen die Notwendigkeiteines unerbittlichen Kampfes für die völlige Vernichtung dieser Resteder Barbarei klarmachen;

2. Parteien wie der Verband vom 17. Oktober, die Handels- undIndustriepartei, teilweise die Partei der friedlichen Erneuerung usw. sindKlassenorganisationen eines Teils der Gutsbesitzer und besonders dergroßen Handels- und Industriebourgeoisie, die mit der autokratischenBürokratie noch keinen endgültigen Pakt über die Teilung der Macht aufder Grundlage irgendeiner Zensus- und durchaus antidemokratischenKonstitution getroffen haben, aber schon völlig auf die Seite der Konter-revolution übergegangen sind und offenkundig die Regierung unter-stützen*; die Sozialdemokratie muß [während sie, um die Revolutionvoranzutreiben, die Zusammenstöße dieser Parteien mit der erzreak-tionären Selbstherrschaft ausnutzt, gleichzeitig] gegen diese Parteien denschonungslosesten Kampf führen;

3. die Parteien der liberal-monarchistischen Bourgeoisie und die wich-tigste dieser Parteien, die Kadetten, haben sich schon jetzt entschiedenvon der Revolution abgewandt und verfolgen das Ziel, der Revolutiondurch ein Kompromiß mit der Konterrevolution ein Ende zu machen;die ökonomische Grundlage Solcher Parteien bildet ein Teil der mittlerenGutsbesitzer und der mittleren Bourgeoisie, besonders aber die bürger-liche Intelligenz, während ein Teil des demokratischen städtischen undländlichen Kleinbürgertums diesen Parteien nur noch aus Tradition folgtund weil er von den Liberalen direkt betrogen wird; das Ideal dieser Par-teien geht nicht über den Rahmen einer geordneten bürgerlichen Gesell-schaft hinaus, die durch die Monarchie, die Polizei, ein Zweikammer-system, ein stehendes Heer usw. gegen Anschläge des Proletariats

* Von der Minderheit vorgeschlagene Variante: „ . . . Bourgeoisie, die schonvöllig auf die Seite der Konterrevolution übergegangen sind, offenkundig dieRegierung unterstützen und es sich zur Aufgabe machen, eine Zensus- unddurchaus antidemokratische Konstitution zu verwirklichen."

9 Lenin, Werke, Bd. 12

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13Ö W.itenin

geschützt ist; die Sozialdemokratie muß im Interesse der politischen Erzie-hung des Volkes die Tätigkeit dieser Parteien ausnutzen, indem sie derenheuchlerisch-demokratischer Phraseologie den konsequenten Demokra-tismus des Proletariats gegenüberstellt, die von ihnen verbreiteten kon-stitutionellen Illusionen entlarvt und ihre Hegemonie über das demokra-tische Kleinbürgertum rücksichtslos bekämpft;

4. die Volkstümler- oder Trudowikiparteien (Volkssozialisten, Trudo-wikigruppe, Sozialrevolutionäre) bringen mehr oder minder getreu dieInteressen und den Standpunkt der breiten Massen der Bauernschaft unddes städtischen Kleinbürgertums zum Ausdruck, wobei sie schwankenzwischen der Unterordnung unter die Hegemonie der Liberalen und dementschiedenen Kampf gegen den gutsherrlichen Grundbesitz und denLeibeigenschaftsstaat; diese Parteien umhüllen ihre dem Wesen nadibürgerlich-demokratischen Aufgaben mit einer mehr oder weniger nebel-haften sozialistischen Ideologie; die Sozialdemokratie muß ihren pseudo-sozialistischen Charakter unentwegt entlarven und ihr Bestreben be-kämpfen, den Klassengegensatz zwischen Proletarier und Kleinbesitzerzu vertuschen, anderseits aber diese Parteien mit aller Kraft dem Einflußund der Führung der Liberalen zu entreißen suchen, indem sie sie zwingt,ihre Wahl zu treffen zwischen der Politik der Kadetten und der Politikdes revolutionären Proletariats, und sie somit nötigt, gegen die Schwarz-hunderter und gegen die Kadetten auf die Seite der Sozialdemokratie zutreten;

5. die sich hieraus ergebenden gemeinsamen Aktionen müssen jedeMöglichkeit aller wie immer gearteten Abweichungen von dem Programmund der Taktik der Sozialdemokratie ausschließen und dürfen mir denZwecken gemeinsamen Vorgehens gleichzeitig gegen die Reaktion undgegen die verräterische liberale Bourgeoisie dienen.

Anmerkung? In eckige Klammern gesetzt ist das/was die Minder-heit streichen wollte und wofür sie die obenangeführte Variante ein-brachte.

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Resolutionsentwürfe zum fünften Parteitag der SDJPJt 131

3. ÜBER DIE KLASSENAUFGABEN DES PROLETARIATSIM GEGENWÄRTIGEN ABSCHNITT

DER DEMOKRATISCHEN REVOLUTION

In der Erwägung,1. daß die demokratische Revolution in Rußland einem neuen Auf-

schwung entgegengeht, wobei die Klasse der Großkapitalisten und Guts-besitzer auf die Seite der Konterrevolution tritt, während im Gefolge desProletariats neue Schichten des Kleinbürgertums und der Bauernschaftauf die Seite der Revolution treten;

2. daß die Klasseninteressen des Proletariats in der bürgerlichen Revo-lution es erheischen, die Voraussetzungen für den erfolgreichsten Kampfgegen die besitzenden Klassen und für den Sozialismus zu schaffen;

3. daß das einzig mögliche Mittel zur Schaffung und Sicherung dieserVoraussetzungen darin besteht, die demokratische Revolution zu Endezu führen, d. h. die demokratische Republik, die volle Herrschaft desVolkes und das fürs Proletariat erforderliche Minimum sozialer und öko-nomischer Errungenschaften zu erkämpfen (Achtstundentag und andereForderungen des sozialdemokratischen Minimalprogramms);

4. daß nur das Proletariat imstande ist, die demokratische Revolutionzu Ende zu führen, und zwar wenn es als die einzige konsequent revolu-tionäre Klasse der heutigen Gesellschaft die Masse der Bauernschaft mitsich zieht und ihrem Kampfe gegen den gutsherrlichen Grundbesitz undden fronherrlichen Staat politische Bewußtheit verleiht;

5. daß die Rolle des Führers der demokratischen Revolution dem Pro-letariat die weitestgehende Möglichkeit bietet, seine soziale und öko-nomische Lage zu heben, sein Klassenbewußtsein allseitig zu entwickelnund seine Klassentätigkeit nicht nur auf ökonomischem, sondern auchauf breitem politischem Gebiete zu entfalten -

erklärt die Beratung:1. Im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick ist es die Hauptauf-

gabe des Proletariats, die demokratische Umwälzung in Rußland zu Endezu führen;

1. jede Schmälerung dieser Aufgabe führt unweigerlich dazu, daß sichdie Arbeiterklasse aus dem Führer der Volksrevolution, der die Masseder demokratischen Bauernschaft mit sich zieht, in einen passiven Teil-

9*

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1 3 2 . • W.3. Lenin

nehmer der Revolution verwandelt, der der liberal-monarchistischenBourgeoisie nachtrottet;

3. alle Organisationen der Partei müssen das auf die Erfüllung dieserAufgabe gerichtete Wirken des Proletariats leiten, ohne auch nur eineMinute die selbständigen, sozialistischen Ziele des Proletariats zu ver-gessen.

' 4. ÜBER DIE TAKTIK DER SOZIALDEMOKRATIEIN DER REICHSDUMA

1. Die Taktik des Boykotts der Reichsduma, die dazu beigetragen hat,daß die Volksmassen die Machtlosigkeit und die unselbständige Roljedieser Institution richtig erkannten, hat in der Komödie der gesetzgeben-den Tätigkeit der ersten Reichsduma und in ihrer Auseinanderjagungihre volle Rechtfertigung gefunden;

2. indessen haben die konterrevolutionäre Haltung der Bourgeoisieund die Paktierertaktik des russischen Liberalismus einen unmittelbarenErfolg des Boykotts verhindert und das Proletariat gezwungen, denKampf gegen die gutsherrliche und bürgerliche Konterrevolution auchauf dem Boden der Dumakampagne aufzunehmen;

3. diesen Kampf außerhalb der Duma und in der Duma selbst muß dieSozialdemokratie so führen, daß dadurch das Klassenbewußtsein des Pro-letariats entwickelt, seine Organisation gefestigt und erweitert wird, daßdie konstitutionellen Illusionen auch weiterhin vor dem gesamten Volkenthüllt werden und die Revolution vorwärtsgetrieben wird;

4. die unmittelbar politischen Aufgaben der Sozialdemokratie in derbevorstehenden Dumakampagne bestehen darin: erstens dem Volke klar-zumachen, daß die Duma völlig untauglich ist, die Forderungen des Pro-letariats und des revolutionären Kleinbürgertums, insbesondere derBauernschaft, zu verwirklichen; zweitens dem Volke klarzumachen, daßes unmöglich ist, die politische Freiheit auf parlamentarischem Wege zuverwirklichen, solange die reale Macht in den Händen der Zarenregie-rung ist, ihm klarzumachen, daß der bewaffnete Aufstand, eine proviso-rische revolutionäre Regierung und eine konstituierende Versammlungauf der Grundlage des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimenWahlrechts eine Notwendigkeit sind;

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Resolutionsentivürfe zum fünften Parteitag der SD APR. 133

5. zur Erfüllung ihrer wichtigsten sozialistischen — und ebenso der un-mittelbar politischen - Aufgaben muß die Sozialdemokratie als Klassen-partei des Proletariats unbedingt selbständig bleiben, muß sie in derDuma eine sozialdemokratische Parteifraktion bilden und darf keines-falls ihre Losungen noch auch ihre Taktik mit denen irgendeiner anderenoppositionellen oder revolutionären Partei verschmelzen;

6. insbesondere gilt es, im Hinblick auf die Tätigkeit der revolutio-nären Sozialdemokratie in der Duma die folgenden Fragen, die im gegen-wärtigen Augenblick durch den ganzen Ablauf des politischen Lebensaufgeworfen werden, klarzustellen: ~

1. in den Vordergrund gerückt werden muß die kritische, propagan-distische, agitatorische und organisatorische Rolle der sozialdemokrati-schen Dumafraktion als einer unserer Parteiorganisationen. Gerade .die-sen und nicht etwa unmittelbar „gesetzgeberischen" Zwecken müssenauch die Gesetzentwürfe dienen, die die sozialdemokratische Dumafrak-tion einbringt, insbesondere zu solchen Fragen wie Verbesserungder Lebensbedingungen und Sicherung der Freiheit des proletarischenKlassenkampfes, Zerschlagung des fronherrlichen Gutsbesitzerjochs imDorfe, Hilfe für die hungernden Bauern, Kampf gegen die Arbeitslosig-keit, Befreiung der Matrosen und Soldaten von der Zuchthausordnung inden Kasernen usw.; .

2. da die Zarenregierung zweifellos bis zum entscheidenden Sieg desrevolutionären Volkes ihre Positionen nicht aufgeben wird, infolgedessenaber ein Konflikt zwischen Duma und Regierung bei jeder beliebigenTaktik der Duma unvermeidlich ist - ausgenommen den Fall, daß dieDuma die Volksinteressen an die Schwarzhundertschaft verriete - , sodürfen die sozialdemokratische Fraktion und die SozialdemokratischePartei, die ausschließlich mit dem Gang der sich außerhalb der Dumakraft objektiver Bedingungen entwickelnden revolutionären Krise rech-nen, weder unzeitgemäße Konflikte hervorrufen noch einen Konflikt da-durch künstlich abwenden oder verzögern, daß sie ihre Losungen herab-würdigen, was nur geeignet wäre, die Sozialdemokratie in den Augen derMasse zu diskreditieren und vom revolutionären Kampf des Proletariatszu trennen;

3. während die Sozialdemokratie das bürgerliche Wesen aller nicht-proletarischen Parteien aufdeckt und allen ihren Gesetzentwürfen usw.

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134 W.J.Cenin

ihre eigenen entgegenstellt, muß sie gleichfalls ständig gegen die Hege-monie der Kadetten in der Freiheitsbewegung kämpfen und das demo-kratische Kleinbürgertum zwingen, zwischen dem heuchlerischen Demo-kratismus der Kadetten und dem folgerichtigen Demokratismus des Pro-letariats seine Wahl zu treffen.

5. ÜBER DIE VERSCHÄRFUNGDER WIRTSCHAFTLICHEN NOT

UND DES WIRTSCHAFTLICHEN KAMPFES DER MASSEN

In der Erwägung,1. daß eine Reihe von Tatsachen von der äußersten Verschärfung der

wirtschaftlichen Not des Proletariats und seines wirtschaftlichen Kamp-fes zeugt (Aussperrung in Polen; Bewegung unter den Arbeitern vonPetersburg und Iwanowo-Wosnessensk gegen die Lebensmittelteuerung;breite Streikbewegung im Moskauer Industriegebiet; Alarmrufe der Ge-werkschaftszeitungen mit der Aufforderung, zu einem scharfen Kampfzu rüsten usw.) ;

2. daß allen Anzeichen nach diese verschiedenen Erscheinungsformendes wirtschaftlichen Kampfes sich so häufen, daß allerorts wirtschaft-liche Massenaktionen zu erwarten sind, die viel breitere Schichten desProletariats ergreifen als früher;

3. daß die ganze Geschichte der russischen Revolution zeigt, daß jedermachtvolle Aufschwung der revolutionären Bewegung nur auf der Grund-lage derartiger wirtschaftlicher Massenbewegungen entstanden ist -

in dieser Erwägung erklärt die Beratung:1. Alle Parteiorganisationen müssen dieser Erscheinung die ernsteste

Aufmerksamkeit zuwenden, möglichst vollständiges Material darübersammeln und die Frage auf die Tagesordnung des V. Parteitags stellen;

2. eine möglichst große Anzahl von Parteikräften muß zur ökonomi-schen Agitation unter den Massen verwendet werden;

3. es ist erforderlich, gerade diese wirtschaftliche Bewegung als dieHauptquelle und wichtigste Grundlage der gesamten revolutionärenKrise, die sich in Rußland entwickelt, in Rechnung zu stellen.

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Resoiutionsentwürfe zum fünften Parteitag der ST>JPR 135

6. ÜBER DIE PARTEILOSEN ARBEITERORGANISATIONENIM ZUSAMMENHANG MIT DER ANARCHO-

SYNDIKALISTISCHEN STRÖMUNG IM PROLETARIAT

In der Erwägung,1. daß sich in der SDAPR im Zusammenhang mit der Agitation des

Gen. Axelrod für einen parteilosen Arbeiterkongreß eine Strömung ab-zeichnet (Larin, Schtscheglo, El, Iwanowski, Mirow, die Odessaer Druck-schrift „Oswoboshdenije Truda" [Befreiung der Arbeit]), die darauf ge-richtet ist, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei zu liquidieren und eineparteilose politische Organisation des Proletariats an ihre Stelle zu setzen;

2. daß zur gleichen Zeit außerhalb der Partei und direkt gegen diePartei im Proletariat eine anarcho-syndikalistische Agitation betriebenwird, in der dieselbe Losung des parteilosen Arbeiterkongresses und par-teiloser Organisationen ausgegeben wird („Sojusnoje Delo" [Verbands-sache] und dessen Gruppe in Moskau, die anarchistische Presse in Odessausw.);

3. daß ungeachtet der Resolution der Gesamtrussischen Konferenz derSDAPR vom November in unserer Partei eine Reihe von desorganisa-torischen Handlungen zu verzeichnen sind, die die Schaffung von partei-losen Organisationen zum Ziele haben;

4. daß anderseits die SDAPR niemals darauf verzichtet hat, im Augen-blick eines größeren oder geringeren revolutionären Aufschwungs be-stimmte parteilose Organisationen wie die Sowjets der Arbeiterdeputier-ten auszunutzen, um den Einfluß der Sozialdemokratie in der Arbeiter-Hasse zu stärken und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zu festi-gen (siehe die Septemberresolutionen des Petersburger Komitees und desMoskauer Komitees über den Arbeiterkongreß in den Nummern 3 und 4des „Proletari"*7);

5. daß es auf dem Boden des beginnenden Aufschwungs möglich wird,zwecks Entwicklung der Sozialdemokratie parteilose Vertretungskörper-schaften der Arbeiterklasse wie die Sowjets der Arbeiterdeputierten, dieArbeiterbevollmächtigtenräte u. dgl. zu organisieren oder zu nutzen, wo-bei die Organisationen der Sozialdemokratischen Partei berücksichtigenmüssen, daß sich derartige Einrichtungen faktisch als überflüssig erweisenkönnen, wenn die Sozialdemokratie ihre Arbeit unter den Massen des

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136 W.3. Lenin

Proletariats auf fester und breiter Grundlage richtig zu organisierenversteht -

in dieser Erwägung erklärt die Beratung:1. Notwendig ist der entschlossenste prinzipielle Kampf gegen die

anarcho-syndikalistische Bewegung im Proletariat und gegen die Axel-rodschen und Larinschen Ideen in der Sozialdemokratie;

2. notwendig ist der entschlossenste Kampf gegen alle desorganisato-rischen und demagogischen Versuche, die Parteiorganisation der SDAPRvon innen heraus zu schwächen oder sie dazu zu benutzen, die Sozial-demokratie durch parteilose politische Organisationen des Proletariats zuersetzen;

3. die Teilnahme von Organisationen der Sozialdemokratischen Parteian interparteilichen Arbeiterbevollmächtigtenräten, Sowjets der Arbeiter-deputierten und Kongressen ihrer Vertreter sowie die Schaffung der-artiger Einrichtungen ist im Falle der Notwendigkeit zulässig, voraus-gesetzt, daß dies auf streng parteimäßige Art geschieht und der Stärkungund Festigung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei dient;

4. um den Einfluß der Sozialdemokratie auf die breiten Massen desProletariats zu erweitern und zu festigen, gilt es, einerseits stärker an derOrganisierung von Gewerkschaffen zu arbeiten, die sozialdemokratischePropaganda und Agitation in ihnen zu verstärken, anderseits aber immerbreitere Schichten der Arbeiterklasse zur Mitarbeit in den verschiedenenParteiorganisationen zu gewinnen.

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. DIE TAKTIKDER SDAPR WÄHREND DER WAHLKAMPAGNE

Interview mit einem Mitarbeiter der „Humanite"48

am 17. Februar (2. März) 1907

- Der letzte Parteitag der russischen Sozialdemokratie, abgehalten inStockholm im April 1906, hat beschlossen, daß die Sozialdemokratenkeinerlei Wahlabkommen mit den bürgerlichen Parteien schließen dür-fen. Dieses Prinzip wurde sofort verwirklicht bei den Wahlen zur erstenDuma in Sibirien und im Kaukasus. Hatte es Gültigkeit auch für diezweite Duma? Die Bolschewiki bejahten die Frage, die Menschewiki ver-neinten sie. Um eine Entscheidung herbeizuführen, forderten die Bol-schewiki einen außerordentlichen Parteitag. Es fand jedoch nur eine Kon-ferenz statt (Anfang November), auf der alle Parteiorganisationen ver-treten waren. Die Menschewiki befürworteten gemeinsam mit dem„Bund" Abkommen mit den Kadetten bei den bevorstehenden Wahlen.Die Bolschewiki verurteilten gemeinsam mit den Letten und Polen solcheAbkommen. Der Antrag der ersteren erhielt 18 Stimmen, der der zwei-ten 14. Die Konferenz beschloß, daß die Lokalorganisationen selbständigzu der Frage Stellung nehmen sollen. „Soll es in Petersburg ebenso ge-macht werden wie anderwärts", erklärten mit Absicht die Bolschewikiden Menschewiki.

Man muß zwei Dinge wissen: einerseits daß die Menschewiki (Min-derheitler), entgegen dieser Bezeichnung, im Zentralkomitee der Parteidie Mehrheit haben, anders ausgedrückt, daß sie deren allgemeine Politikbestimmen; anderseits daß die Bolschewiki in den Gouvernementskomi-tees von Petersburg und von Moskau über die Mehrheit verfügen. Diebeiden Hauptstädte gegen sich zu haben - das ist für das Zentralkomiteeeine schwierige und erniedrigende Situation. Daher dessen Versuch, inPetersburg und in Moskau um jeden Preis menschewistische Politik zu

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machen. Für die Wahlen in Petersburg riskierte das ZK es, die lokaleAutonomie zu verletzen, und provozierte eine Spaltung, sobald sich da-für ein Vorwand fand.

Die Petersburger Organisation hatte die von der GesamtrussischenNovemberkonferenz vorgesehene Gouvernementskonferenz noch nichtdurchgeführt. Schon seit langem erörterten die liberalen Zeitungen leb-haft die Frage der Wahltaktik. Die Liberalen fürchteten, die Sozialistenwürden unabhängig von ihnen handeln und die Massen ohne sie undgegen sie um das revolutionäre Banner organisieren. Sie wetterten gegendie Bolschewiki, die abwechselnd als „Sektierer, Dogmatiker, Blanquisten,Anarchisten usw." bezeichnet wurden, aber sie wollten die Kampagne ge-meinsam mit den anderen revolutionären Parteien durchführen und mitihnen eine gemeinsame Wahlliste aufstellen. In ihren Händen befindensich die größten Zeitungen von Petersburg: sie konnten sich leicht Gehörverschaffen. Die Bolschewiki dagegen hatten nichts zur Verfügung als ihrillegales Organ „Proletari", das im Ausland veröffentlicht wird und nurzweimal im Monat erscheint.

Insgeheim und auf unterirdischem Wege ließ das menschewistischeZentralkomitee die Kadetten wissen, daß die Taktik der Sozialdemokra-ten von ihm selbst und nicht vom bolschewistischen Gouvernements-komitee abhängen werde. Ans Tageslicht kam das auf einer informatori-schen Konferenz in den ersten Tagen des Januar, an der Vertreter derKadetten, der Volkssozialisten, der Trudowiki, der Sozialrevolutionäreund der Sozialdemokraten teilnahmen. Alle waren für eine gemeinsameListe. Alle - außer dem Delegierten des Gouvernementskomitees, der aufBefragen erklärte, das Komitee werde seine Entscheidung erst ein paarTage später fällen. Darauf mischte sich der Delegierte des Zentralkomi-tees ein: „Es wird am besten sein", erklärte er, „wenn die Abkommennicht von der Petersburger Organisation als solcher abgeschlossen wer-den, sondern separat von jedem Stadtbezirk" (solcher Bezirke gibt es inPetersburg 12). „Aber von einem derartigen Vorschlag höre ich zumerstenmal!" wandte der Delegierte des Gouvernementskomitees ein.„Sollte das der Plan des Zentralkomitees sein?" „Nein, es ist vielmehreine Idee von mir", antwortete der andere Delegierte.

Einem klugen Menschen genügt ein halbes Wort. Die Kadetten hattenbegriffen. Die „Retsch" (das offizielle Organ der Kadettenpartei), der

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„Towarischtsch" (das Organ linker Kadetten vom Schlage millerandisti-scher Sozialisten), die „Strana" (das Organ der Partei demokratischerReformen) erklärten, die Menschewiki seien der einsichtige Teil, der vor-bildliche Teil, der vernünftige Teil der Sozialdemokratie. Die Bolsdiewikidagegen verträten die Barbarei. Sie hinderten den Sozialismus daran,zivilisiert und parlamentarisch zu werden! Aber im Beisein Miljukows,des Führers der Kadetten, setzte man sie davon in Kenntnis, daß die Bol-schewiki getrennt von ihnen vorgehen würden.

Die Konferenz der Petersburger Organisation, die über die Wahltaktikentscheiden sollte, fand am 6. Januar statt. Sie setzte sich aus 39 Bolsche-wiki und 31 Menschewiki zusammen. Die letzteren fochten zunächst dieVerteilung der Mandate an; zwar wagten sie nicht, die Mehrheit für sichzu beanspruchen, doch diente ihnen die Sache als Vorwand, die Konferrenz zu verlassen. Der zweite Vorwand: Sie forderten entsprechendeinem Vorschlag des Zentralkomitees vom 4. Januar, daß die Organisa-tion zwecks Entscheidung über die Wahltaktik geteilt werde: es solle eineKonferenz für die Stadt Petersburg und eine für das GouvernementPetersburg stattfinden. Wer die sozialdemokratische Organisation Peters-burgs kennt, die teilweise auf dem Wohnsitz basiert, teilweise jedoch aufder Nationalität (eine lettische, eine estnische Sektion) oder auf dem Be-ruf (eine militärische Sektion, eine Sektion der Eisenbahnarbeiter), fürden war das nicht nur eine Verletzung der Autonomie der Organisatio-nen, sondern in gewissen Beziehungen sogar eine Herausforderung anden gesunden Menschenverstand. Die Konferenz sprach sich daher gegendiesen Antrag aus, der ihr zudem noch in imperativer Form vorgelegtworden war und nicht im geringsten ihrem Grundsatz entsprach.

Die Einunddreißig zogen ab, und das Zentralkomitee erklärte, es steheder Minderheit frei, sich dem Beschluß der Mehrheit nicht zu fügen.Nach der erfolgten Provokation kam also die Proklamierung der Spal-tung durch das Zentralkomitee.

Die Einunddreißig organisierten ihr besonderes Komitee und beteilig-ten sich an den Verhandlungen der Kadetten mit dem Linksblock derTrudowiki, der Volkssozialisten und der Sozialrevolutionäre, aber dasErscheinen eines neuen Spielers auf der Bühne vereitelte diese Verhand-lungen. Am 4. Januar veröffentlichte das „Nowoje Wremja" einen Ar-tikel des Oktobristen Stolypin, eines Bruders des Ministers. „Wenn die

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Kadetten den Mut aufbringen, endgültig mit den revolutionären Grup-pen zu brechen und sich unzweideutig auf den verfassungsmäßigen Bo-den zu stellen, dann wird ihre Partei legalisiert werden", schrieb er. EinigeTage später (am 15. Januar) war Miljukow bei dem Minister Stolypin,und am Tage nach seiner Visite meldeten alle kadettischen Zeitungen, diePartei habe die Verhandlungen mit den Linken abgebrochen. Aber beidiesem Spiel gewannen die Kadetten nichts, als daß sie sich nutzlos undschwer kompromittierten. Sie konnten die Bedingungen Stolypins nichtannehmen.

Was die Menschewiki anbelangt, so wurden auch sie zur gleichen Zeitnicht weniger schwer und nicht weniger nutzlos kompromittiert. Anfangssetzten sie trotz Miljukows Besuch bei Stolypin ihre Verhandlungen mitden Kadetten fort;.die letzte Konferenz der Kadetten mit den linkenGruppen - auf der es zum Bruch kam, weil man sich über die Verteilungder Deputiertensitze nicht einigen konnte - fand erst am 18. Januar statt.Als in dieser Zwischenzeit die „Retsch" schrieb, die Kadetten würden,um die Bolschewiki auszuschalten, den Menschewiki den Sitz überlassen,den sie der Arbeiterkurie versprochen hatten, da protestierten die Men-schewiki durchaus nicht gegen diese einzig dastehende Manier, mit Ar-beiterstimmen Schacher zu treiben. Nicht genug damit! Das Zentral-komitee setzte die Verhandlungen mit den Kadetten fort, ein Zeichen da-für, daß es deren Bedingungen akzeptiert hatte. Diese Tatsache rief dieEntrüstung der Arbeiter hervor. Und diese Tatsache veranlaßte michauch, meine Broschüre „Die Heuchelei der einunddreißig TAensänewiki"*zu schreiben, derentwegen man mich vors Parteigericht zitieren will.

Nach der Konferenz vom 6. Januar, auf der es zum Bruch kam, sagtendie Bolschewiki: „Wenn die Linken, die Menschewiki eingeschlossen, einBündnis mit den Kadetten schließen, dann werden wir ganz allein kämp-fen. Wenn ihre Verhandlungen scheitern, dann werden wir unserseitsihnen die Bedingungen für ein Abkommen vorschlagen, und deren Ak-zeptierung wird für sie die Akzeptierung der Hegemonie des Proletariatsbedeuten."

Die Verhandlungen der Linken mit den Kadetten scheiterten (Konfe-renz vom 18. Januar); das war für uns ein erster Sieg. Wir schlugen dieBedingungen für einen Linksblock vor, der keinen Pakt mit der Kadetten-

* Siehe den vorliegenden Band, S. 19-30. Die Red.

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partei eingehen würde: diese Bedingungen wurden von allen, außer denMenschewiki, am 25. Januar angenommen. Das war ein zweiter Sieg. Be-züglich der sechs Sitze in Petersburg schlugen wir vor: zwei Sitze kom-men an die Arbeiterkurie, zwei an die Sozialdemokraten und zwei an dieübrigen Parteien. Und es war sicher, daß die Arbeiterkurie zwei Sozial-demokraten wählen würde. Fünfzehn Tage vor den Wahlen gab es also,was die Kadetten ganz und gar nicht erwartet hatten, außer der schwar-zen Liste, der oktobristischen Liste und der kadettischen Liste die Listeeines Linksblocks ohne Kadetten und ohne Menschewiki.. In ihren vorhergehenden Konferenzen mit den Linksparteien hattendie Kadetten ihnen zwei Sitze angeboten, während die Linken drei Sitzeforderten. Als die Kadetten sahen, daß sich unser Linksblock gegen siebildete, bekamen sie es mit der Angst zu tun und nahmen nur drei Kan-didaten aus ihrer Partei in ihre Liste auf. Von den übrigen drei Sitzenboten sie einen dem Professor Kowalewski (von der Partei demokrati-scher Reformen) an, den zweiten dem Priester Petrow (ein christlicherDemokrat und vielbeklatschter Demagoge) und den dritten den Arbei-tern. Diesen letzteren gestanden sie übrigens nur zu, um einen Sturmder Entrüstung im Volke zu verhindern.

Die Kadetten waren erfolgreich bei den Wahlen, doch muß hervor-gehoben werden, daß der Linksblock 15 Prozent der Stimmen in Peters-burg erhielt und daß er im Wiborger Bezirk siegreich war. In mehrerenBezirken siegten die Kadetten nur mit einer schwachen Mehrheit. In fünfBezirken hätte der Linksblock nur noch zusammen 1600 Stimmen zu ge-winnen brauchen, um sich den Erfolg zu sichern; im Kolomnaer Bezirkfehlten nur 99 Stimmen. Es sind also die Menschewiki, die den Sieg derLinksparteien in Petersburg verhindert haben, aber nichtsdestowenigerist die revolutionäre Linke in der neuen Duma insgesamt viel stärker alsin der früheren.

Wir haben eine sehr lehrreiche Erfahrung gemacht. Vor allen Dingensehen wir, daß in Petersburg die Arbeiter hartnäckig Bolschewiki blei-ben, fest entschlossen, die Autonomie ihrer Organisation gegen Eingriffedes Zentralkomitees zu verteidigen. Außerdem wissen wir nunmehr, wasman von der schwarzen Gefahr zu halten hat, mit der immer argumen-tiert wurde, um ein Abkommen mit den Kadetten im ersten Stadium derWahlen zu rechtfertigen. Das ist nichts als eine Erfindung, um die sozia-

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listischen Parteien zu betrügen und die linke Gefahr von den Kadettenabzuwenden. Denn „die reale Gefahr für die Kadetten steht links", wiedie „Retsch" eines Tages hat zugeben müssen. „Wer für die Linkestimmt, läßt die Rechte durchkommen", haben uns die kadettischen Zei-tungen wochenlang wiederholt. Diese Losung gab ihnen ein Mittel an dieHand, manche Unentschlossenen zu beeinflussen. Durch ihre forscheKampagne erreichten sie, daß der Linksblock in Moskau weniger Stim-men erhielt (13 Prozent) als in Petersburg, da wir in Moskau über keineeinzige Zeitung verfügten. Aber was sie nicht verhindern konnten, daswar die Enthüllung der unumstößlichen Wahrheit, daß die schwarze Ge-fahr eine Lüge und ein Vorwand war. Es gab in Moskau vier Listen,genau wie in Petersburg, aber in Moskau führte das Bündnis der Schwar-zen und der Oktobristen ebensowenig zum Siege der Rechten wie inPetersburg. Wir haben Zahlen in der Hand, auf die wir uns im Falle derNotwendigkeit berufen werden.

Den Menschewiki steht es also frei, sich auf die Seite der Kadetten zuschlagen und ihnen zu dienen. Wir werden ihnen nicht folgen. Das Volkwird ihnen nicht folgen. Die Kadetten benehmen sich so, daß die Massenmehr un'd mehr nach links gehen. Wenn Miljukow sich einbildet, er werdeuns dadurch, daß er von unserer „Abenteurerpolitik" spricht und unserBanner einen „roten Fetzen" nennt, Anhänger abspenstig machen, sokönnen wir ihn nur auffordern, auch weiterhin solchen Unsinn zu reden,der für uns so nützlich ist. Die kadettisierenden Menschewiki werdengut tun, sich über die Tatsache Gedanken zu machen, daß in den Betrie-ben von Petersburg, wo die Arbeiter früher Bolschewiki waren, auchdiesmal Bolschewiki gewählt worden sind, daß aber in den Betrieben, wodie Arbeiter vorher Menschewiki waren und wo die meiste Propagandavon Menschewiki gemacht wurde . . . Sozialrevolutionäre durchkamen lDie Sozialrevolutionäre selbst werden wohl erstaunt sein über die Stim-menzahl, die sie erhalten haben. Mögen sie dem Opportunismus derMenschewiki dankbar sein! Was uns betrifft, so können uns derartigeResultate nur in dem Gedanken bestärken, daß es jetzt mehr denn jeunsere Pflicht ist und daß die Erfolgsaussicht darin liegt, nicht mit derliberalen Bourgeoisie zusammenzuarbeiten, die der Revolution ein Endesetzen will, sondern mit den demokratischen Bauern gegen die Infamienund den Verrat der Bourgeoisie, die von Tag zu Tag konterrevolutionärer

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wird. Die beste Politik ist stets, was sich wieder einmal bestätigt hat, eineoffen revolutionäre Politik, ein erbitterter, völlig unabhängiger Kampfunter dem proletarischen Banner, der nach und nach zusammen mit denProletariern, den Arbeitern, die große Masse der bäuerlichen Demo-kratie um uns scharen wird.

VeröftentUdht am 4. April 1907 "Naäi dem Text der „Tlumanite".in .ijiumaniti" "Nr. 1082. Aus dem Jranzösisdhen.

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DIE E R Ö F F N U N G DER ZWEITEN R E I C H S D U M A «

St. Petersburg, 20. Februar 1907

Heute tritt die zweite Duma zusammen. Die Bedingungen ihrer Ein-berufung, die äußeren und inneren Bedingungen der Wahlen, die Bedin-gungen ihrer Arbeit - alles das hat sich im Vergleich zur ersten Dumageändert. Eine einfache Wiederholung der Ereignisse zu erwarten wäreganz offensichtlich falsch. Aber anderseits ist bei allen Veränderungenim verflossenen politischen Jahr, das an Wechselfällen des Schicksals soreich war, ein Grundzug zu bemerken, der zeigt, daß sich die Bewegungim ganzen auf eine höhere Stufe erhoben hat, daß sie zwar im Zickzack,aber doch unentwegt weiter vorwärts geschritten ist.

Dieser Grundzug kann kurz so ausgedrückt werden: Rechtsschwen-kung der Oberschichten, Linksschwenkung der unteren Schichten, Ver-stärkung der politischen Extreme. Und nicht nur der politischen, sondernauch und vor allen Dingen der sozialen und ökonomischen. Die letztenEreignisse vor der zweiten Duma sind dadurch besonders kennzeichnend,daß bei scheinbarer Unbeweglichkeit der politischen Oberfläche sowohlbei der Arbeiterklasse als auch bei den breitesten Schichten der Bauern-schaft der unsichtbare, stille, aber tiefgreifende Prozeß des Wachsensdes Massenbewußtseins im Gange war.

Die Konstitution der Standgerichte hat sich im abgelaufenen Jahrwenig geändert. Aber die politische Verlagerung der Klassen ist gewaltig.Man nehme die Schwarzhunderter. Anfangs handelte es sich vor allemum eine Handvoll Polizeibanditen, denen ein kleiner Teil von absolut un-wissenden, verdummten, manchmal direkt betrunken gemachten ein-fachen Menschen Gefolgschaft leistete. Heute steht an der Spitze der

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Die Eröffnung der zweiten Reidbsduma 145

schwarzen Parteien der Rat des vereinigten Adels. Die Gutsbesitzer, dieFronherren, haben sich zusammengeschlossen und sind in der Revolutionendgültig „ihrer selbst bewußt geworden". Die schwarzen Parteien wer-den zur Klassenorganisation derjenigen, die auf Leben und Tod diedurch die gegenwärtige Revolution am stärksten bedrohten Güter ver-teidigen müssen: den Großgrundbesitz - dieses Überbleibsel aus derEpoche der Leibeigenschaft - , die Privilegien des höchsten Standes, dieMöglichkeit, Staatsangelegenheiten durch persönliche Verbindungen mitder Kamarilla zu entscheiden usw.

Man nehme die Kadetten. Unter den klar und offen bürgerlichen Par-teien galt die Partei der Kadetten zweifellos als die „fortgeschrittenste".Und wie ist sie nach rechts gegangen! Das vorjährige Schwanken zwi-schen Reaktion und Volkskampf gibt es schon nicht mehr. Vorhanden istder direkte Haß gegen diesen Volkskampf, das direkte, zynisch verkün-dete Bestreben, der Revolution ein Ende zu machen, in Ruhe Platz zunehmen, mit der Reaktion handelseins zu werden, anzufangen mit demBau des - für den Gutsbesitzer kapitalistischen Schlages und für den Fa-brikanten - gemütlichen „Nestchens" der monarchistischen Konstitution,einer eingeengten, eigennützigen, in bezug auf die gesamten Volksmassenschonungslos harten Klassenkonstitution.

Heute darf man schon nicht mehr den Fehler wiederholen, den vieledadurch begingen, daß sie sagten, die Kadetten ständen links vom Zen-trum, die Wasserscheide zwischen den Parteien der Freiheit und den Par-teien der Reaktion verliefe rechts von ihnen. Die Kadetten sind das Zen-trum, und dieses Zentrum paktiert immer offener mit der Rechten. Diepolitische Umgruppierung der Klassen hat darin ihren Ausdruck gefun-den, daß der kapitalistisch wirtschaftende Gutsbesitzer und die breiteSchicht der Bourgeoisie zur Stütze der Kadetten geworden sind. Diedemokratischen, kleinbürgerlichen Schichten aber ziehen sich sichtlich vonden Kadetten zurück und folgen ihnen nur noch aus Tradition, aus Ge-wohnheit und zuweilen infolge direkten Betrugs.

Im Dorf zeigt sich schärfer und anschaulicher der Hauptkampf dergegenwärtigen Revolution: gegen die Leibeigenschaft, gegen den guts-herrlichen Grundbesitz. Dem Bauern springt klarer als dem städtischenKleinbürger der Undemokratismus des Kadetten ins Auge. Der Bauer hatsich noch entschiedener von dem Kadetten abgewandt. Die bäuerlichen

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Wahlmänner haben wohl mehr als alle anderen die Kadetten aus denGouvernements-Wahlversammlungen hinausgedrängt.

In den Städten steht der Antagonismus zwischen Bauer und Gutsherr,dieser für die bürgerliche Revolution tiefste und typischste Antagonis-mus zwischen Volksfreiheit und Leibeigenschaft, nicht im Vordergrund.In den Städten ist sich der Proletarier schon des anderen, weitaus tieferenInteressengegensatzes, der die sozialistische Bewegung ins Leben gerufenhat, bewußt geworden. Die Arbeiterkurie stellte im großen und ganzenin Rußland durchweg Sozialdemokraten, wenig Sozialrevolutionäre undnur eine ganz verschwindend kleine Zahl von Mitgliedern anderer Par-teien. Aber auch in der städtischen kleinbürgerlichen Demokratie ist dieSchwenkung der unteren Schichten nach links, von den Kadetten weg,nicht zu bezweifeln. Nach Angaben des kadettischen Statistikers HerrnSmirnow in der „Retsch" erhielten in 22 Städten mit 153 000 Wählern,die nach vier Listen wählten, die Monarchisten 17 000 Stimmen, die Ok-tobristen 34 000, der Linksblock 41 000 und die Kadetten 74 000. Gleichin der ersten Wahlschlacht ist ungeachtet der riesigen Stärke der kadet-tischen Tagespresse, ungeachtet der kadettischen legalen Organisation,ungeachtet der kadettischen Lüge von der Gefahr eines Durchkommensder Schwarzen, ungeachtet der Illegalität der Linken den Kadetten eineso gewaltige Menge von Stimmen entrissen worden, daß die Schwenkungdes Verkäufers, des kleinen Angestellten, des unteren Beamten, des ar-men Wohnungsmieters offensichtlich ist. Noch eine solche Schlacht haltendie Kadetten nicht aus. Die städtische Demokratie ist von ihnen weg zuden Trudowiki und den Sozialdemokraten gegangen.

Gegen den Schwarzhunderterrat der vereinigten Adligen, gegen dieliberale Bourgeoisie, die endgültig die Courage verloren und sich end-gültig von der Revolution abgewandt hat, machte das ganze Proletariat,macht die Riesenmasse des demokratischen Kleinbürgertums, besondersder Bauernschaft, mobil.

Die politische Umgruppierung der Klassen geht so in die Tiefe undBreite und ist so mächtig, daß keine Unterdrückung durch Standgerichte,keine Senatserläuterungen, keinerlei Schliche der Reaktion, keine kadet-tischen Lügenströme, die die gesamte Tagespresse monopolartig über-fluten, daß nichts die Widerspiegelung dieser Umgruppierung in derDuma verhindern konnte. Die zweite Duma zeigt die Verschärfung des

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tiefgehenden, organisatorisch stärker gewordenen, bewußten Massen-kampfes der verschiedenen Klassen.

Die Aufgabe des Augenblicks ist es, diese grundleg'ende Tatsache zubegreifen, es zu verstehen, die verschiedenen Teile der Duma mit diesermächtigen Stütze unten enger in Verbindung zu bringen. Nicht nach oben,nicht auf die Regierung soll man blicken, sondern nach unten, aufs Volk.Nicht auf die Lappalien der Dumatechnik soll man die Aufmerksamkeitrichten. Nicht mit banalen Erwägungen darüber, wie man sich verkrie-chen, stille werden und eine Auseinanderjagung der Duma verhindernkann und_wie man Stolypin und Konsorten nicht verärgert, nicht mit die-sen banalen kadettischen Erwägungen soll sich der Demokrat befassen.Seine ganze Aufmerksamkeit, alle seine Geisteskräfte muß er daraufrichten, den Transmissionsriemen zwischen dem großen Rad unten, dassich stark zu drehen begonnen hat, und dem kleinen Rädchen oben zuverstärken.

Die Sozialdemokratie als die Partei der fortgeschrittensten Klasse mußjetzt mehr denn je alles daransetzen, um sich zu voller Größe aufzu-richten und eine selbständige, entschlossene und kühne Sprache zu reden.Im Namen der sozialistischen und rein klassenmäßigen Aufgaben desProletariats muß sie zeigen, daß sie die Avantgarde der ganzen Demo-kratie ist. Wir müssen uns von allen kleinbürgerlichen Schichten undZwischenschichten differenzieren, aber nicht, um uns in angeblich stolzerEinsamkeit abzukapseln (das würde in Wirklichkeit bedeuten, den libe-ralen Bourgeois zu helfen und hinter ihnen herzutrotten), sondern umuns von allen Schwankungen, von jeder Halbheit frei zu machen und zuverstehen, die demokratische Bauernschaft hinter uns zu bringen.

Der Hegemonie der Liberalen die Reste der Demokratie zu entreißen,diese für sich zu gewinnen, sie zu lehren, sich auf das Volk zu stützen, sichmit den untersten Schichten zusammenzuschließen, vor der ganzenArbeiterklasse, vor der ganzen Masse der ruinierten und hungerndenBauernschaft breiter das eigene Banner zu entfalten - das eben ist dieerste Aufgabe, mit der die Sozialdemokratie in die zweite Duma einzieht.

„Jiowy Lutsdb" Nr. 1, TJadi dem 7ext des-20. Februar 1907. - „T^owy £utsd>\

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DIE ZWEITE DUMAUND DIE AUFGABEN DES PROLETARIATS50

Genossen Arbeiter!

Der Tag des Zusammentritts der zweiten Reichsduma ist gekommen.Das klassenbewußte Proletariat hat niemals geglaubt, man könne Frei-heit für das Volk und Land für die Bauernschaft dadurch gewinnen, daßman Fürsprecher zum Zaren schicke, der an der Spitze einer Bande erz-reaktionärer Gewalttäter steht. Das klassenbewußte Proletariat hatte dieDuma boykottiert, um die unwissenden Bauernmassen, die an die Dumaglaubten, zu warnen. Und die Erfahrungen mit der ersten Duma, derHohn, mit dem die Regierung ihren Anträgen begegnete, und die Aus-einanderjagung der Duma haben gezeigt, daß das klassenbewußte Pro-letariat recht hatte, sie haben gezeigt, daß auf friedlichem Wege, auf demBoden der Gesetze, die vom Zaren erlassen und von Schwarzhunderternbehütet werden, die Freiheit nicht zu erlangen ist.

Die Sozialdemokratie riet dem Volke, in die zweite Duma nicht Für-sprecher, sondern Vorkämpfer zu entsenden. Der Glaube des Volkes anden friedlichen Weg ist untergraben. Das ist daraus zu ersehen, daß diePartei der Liberalen, die den friedlichen Weg propagiert, die Kadetten,bei den Wahlen Schiffbruch erlitten hat. Diese Partei der liberalen Guts-besitzer und der bürgerlichen Advokaten, die den Versuch macht, die erz-reaktionäre Selbstherrschaft mit der Volksfreiheit zu versöhnen, zieht indie zweite Duma geschwächt ein. Die Schwarzhunderter sind stärker ge-worden, sie haben einige Dutzend Deputierte durchgebracht. Aber nochweitaus stärker sind die Linken geworden, d. h. diejenigen, die mehroder minder entschieden und konsequent nicht für den friedlichen Wegeintreten, sondern für den revolutionären Kampf.

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Erste Seite des „Rabotschi" Nr. 2 — 1907

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Die zweite T)uma und die Aufgaben des Proletariats 151

Die zweite Duma ist linker als die erste Duma. In der zweiten Dumagibt es bei weitem mehr Sozialdemokraten und mehr revolutionäre De-mokraten (Sozialrevolutionäre und ein Teil der Trudowiki). Die ersteDuma war eine Duma der Hoffnung auf den friedlichen Weg. Die zweiteDuma ist eine Duma des scharfen Kampfes zwischen der erzreaktionärenZarenregierung und den Vertretern der Masse, der Masse der Proleta-rier, die bewußt die Freiheit anstrebt um des Kampfes für den Sozialis-mus willen, der Masse der Bauernschaft, die sich spontan gegen die Guts-besitzer, die Fronherren, erhebt.

Die Wahlen zur neuen Duma haben gezeigt, daß trotz aller Verfol-gungen und Verbote das revolutionäre Bewußtsein in den breiten Volks-massen wächst und erstarkt. Eine neue revolutionäre Welle, ein neuerrevolutionärer Kampf des Volkes für die Freiheit ist im Anzug.

Dieser Kampf wird nicht in der Duma ausgetragen werden. DieserKampf wird entschieden werden durch den Aufstand des Proletariats,der Bauernschaft und des bewußten Teils des Heeres. Dieser Kampf wirddurch den gesamten Gang der Ereignisse, durch den ganzen Verlauf derZusammenstöße des linken Teils der Duma mit der Regierung und denKadetten unvermeidlich gemacht.

Arbeiter, bereitet euch auf ernste Ereignisse vor. Verausgabt nicht um-sonst eure Kräfte. Wir brauchen die Entscheidung nicht zu beschleuni-gen: sollen der Zar und seine Schwarzhunderterlakaien als erste an-greifen. Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben, als das Volk anzugreifen,die Duma auseinanderzujagen, das Wahlgesetz außer Kraft zu setzenund eine Reihe von Gewalttaten zu beginnen, um sich die neue Dumavom Halse zu schaffen.

Sollen die Gewalttäter anfangen. Das Proletariat muß standhaft, festund konsequent immer breitere Massen des Volkes auf den großen, rück-haltlosen Kampf um die Freiheit vorbereiten. Genossen Arbeiter! Wirhaben die ersten großen Schlachten der Revolution, den 9. Januar 1905,den Oktoberstreik und den Dezemberaufstand, durchgemacht. Wir wer-den abermals neue Kräfte sammeln für ein neues, noch wuchtigeres undentschiedeneres Vorgehen, wenn das Feuer der linken Duma zu einemBrand ganz Rußlands auflodern wird. Man muß alle Kräfte sammeln undkonzentrieren für die kommende Entscheidungsschlacht.

Denkt daran, Genossen, daß die zweite Duma unvermeidlich zum

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152 W. 1 Lenin

Kampf, zum Aufstand führen wird. Verschwendet nicht eure Kräfte fürLappalien.

Es lebe der Aufstand des ganzen Volkes für die Freiheit!Es lebe die Revolution!Es lebe die internationale revolutionäre Sozialdemokratie!

Qesdbriebenäm 20.7ebruar (.5. März) i907.

VeröfientHdjt am 23. Tebruar i907 Tiaäi dem 7ext des „Rabotsdii".im „Habotsdbi" 3Vr. 2.llntersdiri}t:'N. £enin.

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153

DER ERSTE WICHTIGE SCHRITT

St. Petersburg, 21. Februar 1907

Gestern haben wir der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß die Mensche-wiki, die in der „Russkaja Shisn"51 so schöne Worte über die Selbständig-keit der Sozialdemokratie finden, eine richtige Politik betreiben werden.

Vorgestern abend fand eine kadettische Versammlung statt, durch diealle diese Hoffnungen zunichte gemacht wurden . . .

Die Sache verhielt sich wie folgt.Am 19. Februar nachmittags war eine Versammlung der sozialdemo-

kratischen Dumafraktion. Es wurde vorgeschlagen, eine von den Kadet-ten veranstaltete private Beratung zu besuchen. Ein Teil der Deputiertenleistete hartnäckigen Widerstand. Sie erklärten, es sei für die Deputiertender Arbeiterklasse eine Schande, zu den mit Stolypin schachernden libe-ralen Bourgeois zu gehen, die Sozialdemokraten dürften keine kadettische,sondern müßten eine proletarische Politik betreiben, sie dürften denBauern nicht dem liberalen Gutsherrn zuführen und nicht behilflich sein/einen kadettisdben „Links"block zu schaffen. Die Menschewiki setztenihren Beschluß durch.

Am 19. Februar abends fand in der Wohnung von Dolgorukow eineVersammlung von rund 300 Dumamitgliedern aus den Reihen der„Opposition" statt: Kadetten, 'Narodowzen (polnische nationalistischeSchwarzhunderterbourgeois), alle Linken, Trudowiki, Sozialrevolutio-näre und . . . Sozialdemokraten. Ein Teil der sozialdemokratischen Depu-tierten war nicht zu den Kadetten gegangen. - •'

Was geschah in der Versammlung bei dem Kadetten?In der Versammlung bei dem Kadetten wurden von allen Linken,'allen

Demokraten, Kleinbürgern (Volkstümlern, Trudowiki, Sozialrevolutio-

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154 WJ. Lenin

nären) und allen kadettenhaften Sozialdemokraten die kadettischen An-träge unterschrieben. Nach dem „Towarischtsch" machten die Mensche-wiki den formalen Vorbehalt, ihre Entscheidung sei nicht endgültig, siemüßten noch die Fraktion befragen. Nach der „Retsch" (Zentralorgander Kadetten) wurde von niemand irgendein Vorbehalt gemacht.

Also akzeptierten die Sozialdemokraten als treue Sklaven der Libera-len deren ganzen Plan, überließen die Mehrheit des Präsidiums (zweivon drei Sitzen) den Kadetten, erklärten sich damit einverstanden, daßder dritte Sitz den Trudowiki zufiel, die auf diese Weise an die Kadettengefesselt sind, erklärten sich damit einverstanden, dem Volk nicht klar-zumachen, welche politische Bedeutung die Wahl des Präsidiums hat,warum es für jeden bewußten Staatsbürger eine Pflicht ist, diese Fragevom Standpunkt der Einstellung der Partei zu entscheiden und nicht aufGrund privater Abmachungen hinter den Kulissen.

Kann man eine solche Haltung mit der Furcht rechtfertigen, es könnteein Dumapräsidium der Schwarzhunderter durchkommen? Nein. Wirhaben schon gestern in dem Artikel des Genossen P. Orlowski nachge-wiesen, daß die Schwarzen bei keinerlei Teilung der Stimmen zwischenden Kadetten und den Linken siegen konnten.

Nicht die Gefahr eines Sieges der Schwarzhunderter, sondern derWunsch, vor den Liberalen zu liebedienern, das ist es, was praktisch diemenschewistische Politik bestimmt.

Welche Politik aber müssen die Sozialdemokraten unbedingt betreiben?Entweder als Sozialisten, die abseits stehen von den Verrätern der

Freiheit und Ausbeutern des Volkes, den Liberalen, Enthaltung üben,oder das kampffähige demokratische Kleinbürgertum sowohl gegen dieSchwarzen als auch gegen die Liberalen führen.

Die erste Politik ist für die Sozialisten Pflicht, wenn vom Standpunktdes Kampfes um die Demokratie die wesentlichen Unterschiede zwischenallen bürgerlichen Parteien schon verschwunden sind. So pflegt es inEuropa zu sein. Revolution gibt es nicht. Alle bürgerlichen Parteienhaben die Fähigkeit verloren, um die Demokratie zu kämpfen, und kämp-fen nur um die kleinen, eigennützigen Interessen der Unternehmer oderXleinunternehmer. Unter solchen Bedingungen vertritt allein die Sozial-demokratie die Interessen der Demokratie, wobei sie unentwegt vor denMassen ihre sozialistischen Anschauungen entwickelt.

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Der erste widhtige Sälritt 155

Die zweite Politik ist dann Pflicht, wenn noch Bedingungen für diebürgerlich-demokratische Revolution vorhanden sind, wenn es außer derArbeiterklasse bestimmte bürgerliche oder kleinbürgerliche Schichten gibt,die fähig sind, um die dem Proletariat notwendige Demokratie zukämpfen.

In Rußland ist gegenwärtig die zweite Politik obligatorisch. Die Sozial-demokratie ist verpflichtet, ohne auch nur für einen Augenblick ihresozialistische Propaganda und Agitation, die Organisierung der Proleta-rier als Klasse zu vergessen, von Fall zu Fall vereint mit dem demokra-tischen Kleinbürgertum marschierend, sowohl die Schwarzen als auch dieLiberalen zu sdhhgen.

Denn die Liberalen (die Kadetten, die Narodowzen (?), die Partei de-mokratischer Reformen u. a.) haben sich schon entschieden von der Revo-lution abgewandt und paktieren mit der Selbstherrschaft gegen die Volks-freiheit, von der sie verlogen schwätzen. Jetzt stellt sich sogar heraus,daß die Kadetten im vergangenen Jahr der Regierung geholfen haben,aus Frankreich zwei Milliarden für Standgerichte und Erschießungen zuerhalten, denn Clemenceau hatte den Kadetten offen erklärt: Es wird keineAnleihe geben, wenn die Partei der Kadetten offiziell gegen die Anleiheauftritt. Die Kadetten verzichteten darauf, gegen die Anleihe aufzutreten,aus Angst, ihre Stellung als Regierungspartei von morgen zu verlieren!Rußland wurde nicht nur durch die Maschinengewehre Trepows zusam-mengeschossen, sondern auch durch die kadettisch-französischen Mil-lionen.

Für die revolutionären Sozialdemokraten ist es unzulässig, die Hege-monie der Kadetten zu unterstützen. Aber es genügte nicht, daß sie sichgegen die Wallfahrt zu der kadettischen Versammlung vom 19. Februaraussprachen. Sie müssen kategorisch und unbedingt fordern, daß dieFraktion mit der kadettenhaften Politik bricht und in der Duma direktund offen eine selbständige Politik des Proletariats vertritt.

Zur Frage des Präsidiums hätten die Sozialdemokraten sagen müssen.-Ein eigenes Präsidium wollen wir nicht. Wir unterstützen die ganze Listeder Linken oder Trudowiki gegen die Kadetten, d. h. alle drei Präsidial-kandidaten gegen die kadettischen Kandidaten, und wir enthalten uns derStimme, falls die Trudowiki trotz unserer Warnungen den Kadetten nach-trotten. Einen Kandidaten der Linken aufzustellen war auf jeden Fall

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156 TV.I.Lenin

Pflicht, selbst wenn keine Aussichten vorhanden waren, daß er durch-kommt; bei der ersten Abstimmung hätte die Zahl der für ihn abgegebe-nen Stimmen gezeigt, auf welche Kräfte die Sozialdemokraten im Falledes Kampfes gegen die Kadetten rechnen können. Und wenn sich dabeiherausgestellt hätte, daß er mehr Stimmen hat als der Kadett, wenn auchweniger als die für die Wahl erforderliche absolute Mehrheit, dann hättediese Abstimmung dem Volke deutlich gezeigt, daß die Duma nicht ka-.dettisch ist, daß der Kadett in der Duma nidbt alles ist.

Die Wahl des Präsidiums ist keine Kleinigkeit..Es ist der erste Schritt,dem andere folgen werden. Die Würfel sind gefallen.

Entweder eine kadettenhafte Politik, und dann werden die Sozialdemo-kraten in der- Tat zu einem Anhängsel der Liberalen.

Oder die Politik der revolutionären Sozialdemokratie, und dann be-ginnen wir nicht mit einer Verbeugung vor den Kadetten, sondern mit deroffenen Hissung unseres Banners. Dann gehen wir nicht zu den Kadetten.Dann rufen wir die kleinbürgerliche und besonders die bäuerliche Demo-kratie zum Kampf auf sowohl gegen die Schwarzen als auch gegen dieLiberalen.

„"Nowy £utsdb"7^r. 2, Nadj dem 7ext des2i. Jebruar i907. ."Nowy Cutsdh".

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157

KLEINBÜRGERLICHE TAKTIK

Der „Towarischtsch" vom 21. Februar veröffentlichte Auszüge aus denvom letzten, außerordentlichen Parteitag der Sozialrevolutionäre gefaß-ten Beschlüssen. Die Beschlüsse sind der Frage der Dumataktik ge-widmet.

Zu diesen Beschlüssen kann und muß sehr vieles gesagt werden. Wirsind außerstande, hier auf den Grundmangel dieser wie überhaupt alleranderen Sozialrevolutionären Beschlüsse einzugehen: auf das Fehlen einerKlassenanalyse der verschiedenen Parteien. Eine Taktik, die Taktik ge-nannt zu werden verdient, kann nicht ohne eine solche Analyse fest-gelegt werden. Der Vergleich der Sozialrevolutionären Beschlüsse mit derPlattform der revolutionären Sozialdemokratie (die von Vertreterneiniger bolschewistischer Organisationen bei einer Beratung vom 15. bis18. Februar ausgearbeiteten Resolutionen*; sie werden dieser Tage ver-öffentlicht werden**) wird uns Gelegenheit geben, noch des öfteren aufdiesen Gedanken zurückzukommen.

Ebensowenig wollen wir darauf eingehen, daß die Sozialrevolutionäreetwas zu stark die Binsenwahrheit unterstreichen, daß Revolutionäredurchaus nicht bestrebt sind, „äußerliche (?), unwesentliche Konflikte zuschaffen", „die Auseinanderjagung der Duma zu beschleunigen" usw.Das ist ein Detail.

* Die heutige „Sowremennaja Retsch"52 (22. Februar) gibt auf S. 3 richtigdie Zusammensetzung dieser Beratung an und druckt eine der sedbs angenom-menen Resolutionen teilweise ab. Die Leser müssen im Auge behalten, daßselbst dieser teilweise Abdruck Fehler enthält.

* Siehe den vorliegenden Band, S. 125-136. Die "Red.

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158 W.J.lenin

Den Kern der Sozialrevolutionären Taktik vom Standpunkt der gegen-wärtig vordringlichen Aufgaben bildet der folgende Beschluß:

„4. Der Parteitag ist der Ansicht, daß die schroffe Parteiengruppierunginnerhalb der Duma angesichts des isolierten Vorgehens jeder einzelnenGruppe und des scharfen interfraktionellen Kampfes die Tätigkeit der oppo-sitionellen Mehrheit völlig lähmen und dadurch die ganze Idee der Volksver-tretung in den Augen der werktätigen Klassen diskreditieren könnte. Der Par-teitag hält es darum für notwendig, daß die Parteideputierten alle Kräfte auf-bieten, um ein möglichst beständiges und koordiniertes Vorgehen aller sozia-listischen und extrem linken Fraktionen zu erreichen; speziell jedoch in denFragen des Kampfes gegen die Rechten in der Duma und gegen die Regie-rung um die Freiheit und die politischen Rechte des Volkes sind einzelne, mög-lichst weitgehend koordinierte Aktionen des revolutionär-sozialistischen Teilsder Duma zusammen mit ihrem oppositionellen Teil anzustreben, wobei allediese koordinierten Aktionen, sowohl die dauernden als auch die Teilaktionen,auf Prinzipien beruhen müssen, die den Grundsätzen des Parteiprogrammsund der Parteitaktik nicht im geringsten widersprechen."

Eine ausgezeichnete Darlegung der prinzipiellen Grundlagen klein-bürgerlicher Taktik! Eine ausgezeichnete Entlarvung ihrer völligen Brü-chigkeit.

„Koordinierte dauernde (!) Aktionen und Teilaktionen", „möglichstbeständige (!) und koordinierte..." Wie leer sind diese Worte, wennnicht einmal der Versuch gemacht wird, klarzustellen, eben welche Qe-meinsamkeit der Interessen eben welcher Klassen dieser ganzen „Koordi-niertheit" zugrunde liegt! Wir revolutionären Sozialdemokraten erken-nen gemeinsame Aktionen der Partei des Proletariats und der Parteiendes demokratischen Kleinbürgertums gegen die Schwarzen und gegen dieKadetten als die Partei des verräterischen Liberalismus an. Die Sozial-revolutionäre begreifen diese Klassengrundlage der russischen Revolutionso wenig, daß sie einerseits allgemein über die Koordinierung der sozia-listischen und extrem linken Fraktionen sprechen, d. h. über die Ver-tuschung der Gegensätze zwischen dem Proletarier und dem Kleinprodu-zenten, anderseits aber über eine Koordinierung des revolutionär-sozia-listischen und des oppositionellen Teils der Duma gegen die Schwarzen.

Nein, meine Herren, wir werden mit euch weder über ständige Ab-kommen noch über die Koordiniertheit von Aktionen überhaupt auch nursprechen. Koordiniert euch zunächst mit uns in der Politik des Kampfes

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Kleinbürgerliche 7aktik 159

sowohl gegen die Schwarzen als auch gegen die Kadetten, koordinierteuch wirklich - das ist unser Ultimatum. Das ist die Linie unserer Politikin der demokratischen Revolution. So wie bei den Wahlen in Petersburgwerden wir bei jeder frage der gegenwärtigen Revolution erklären: DasProletariat zieht ohne Schwanken in den Kampf sowohl gegen dieSchwarzen als auch gegen die Kadetten. Solange die Kleinbürger schwan-ken, solange sie den Kadetten folgen - schonungsloser Kampf den Klein-bürgern. Habt ihr mit euren Kadetten gebrochen? Seid ihr bereit, euchgegen die Kadetten zu wenden? Wenn dem so ist, und wenn das nichtbloß auf dem Papier gesagt, sondern durch die Tat bewiesen ist, dannund nur dann werden die Sozialdemokraten in einer demokratischen Ak-tion gemeinsam mit euch im Kampf stehen.

Aber am bemerkenswertesten ist wohl der erste Teil der zitierten Re-solution. Man überlege sich bloß: „die schroffe Parteiengruppierunginnerhalb der Duma", der „scharfe interfraktionelle Kampf"* kann „dieganze Idee der Volksvertretung in den Augen der werktätigen Klassendiskreditieren"! Das sind schon Sozialrevolutionäre „Plechanows" im„Wassiljewschen" Sinne des Wortes!**

Nein, meine Herren. Das Prinzip des Klassenkampfes ist die Grund-lage aller Lehren und der gesamten Politik der Sozialdemokratie. DieProletarier, Bauern und Kleinbürger sind keine kleinen Kinder, daß dieIdee der Vertretungskörperschaft in ihren Augen durch scharfe Ausein-andersetzungen und den heftigen Kampf der Klassen getrübt würde.Nicht Süßholz raspeln dürfen wir vor ihnen, sondern im Gegenteil, wirmüssen sie von derDumatribüne herab lehren, klar die Parteien zu unter-scheiden, ihre KIflssengrundlage zu verstehen, die die gerissenen Bour-geois zu vertuschen suchen.

* Die „Retsch" vom 22. Februar widmete den Sozialrevolutionären Resolu-tionen einen besonderen Artikel gleich nach dem Leitartikel. Das Organ derliberalen Bourgeois zitiert gerade diese Stelle über die Schädlichkeit der„schroffen Parteiengruppierung" und schreibt dann weiter: „Auf diese Weiseist der Ausgangspunkt der neuen Jaktik absolut ridhtig bestimmt." So ist es!die Sozialrevolutionäre Taktik ist richtig vom Standpunkt der Interessen derliberalen Bourgeoisie überhaupt und ihres Kuhhandels mit der Reaktion imbesonderen!

** Siehe Werke, Bd. 11, S. 427. Die Hed.

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160 IV.3. Centn

Eben darin besteht ja das ganze Verbrechen der menschewistischenPolitik in der Duma, daß es an dem Willen oder an der Fähigkeit man-gelt, von der Dumatribüne herab dem Volke die ganze Wahrheit zusagen über den Klassencharakter der verschiedenen Parteien, über diegeheimen Schachereien der Miljukow mit den Stolypin, über den grund-legenden Unterschied in der demokratischen Zielsetzung zwischen einemBauern und einem Liberalen - und in der sozialistischen Zielsetzung zwi-schen einem Bauern und einem Proletarier.

Aber die menschewistische Politik, die damit begann, daß man still-schweigend abstimmte, wie der Kadett es gebot, ist ja nicht der Weisheitletzter Schluß.

Dieses völlige Unverständnis für die Klassengrundlage des „oppositio-nellen" Liberalismus, der insgeheim Freiheit und Demokratie an Stolypinund Konsorten verschachert, ist die Basis für die opportunistische Taktik,die die Kleinbürger (Trudowiki, Volkssozialisten, Sozialrevolutionäre)und der kleinbürgerliche Flügel der Arbeiterpartei, die Menschewiki, be-folgen.

Der Kampf gegen die Schwarzen dient als Ablenkungsmanöver undals schickliche Ausrede. In Wirklichkeit kommt diese kleinbürgerlicheTaktik zur Anwendung, obgleich ein Sieg der Schwarzhunderter völligunmöglich ist, wie das beispielsweise bei den Wahlen in Petersburg undbei den Wahlen des Dumapräsidenten der Fall war. Sowohl die Trudo-wiki (die Sozialrevolutionäre sind fiktiv selbständig; in Wirklichkeit sindsie mit den Trudowiki verbunden und stellen lediglich deren linken Flü-gel dar, wie das die Wahlen in Petersburg bewiesen haben und wie dasdie jetzige Gruppierung der Parteien in der zweiten Duma beweist) -sowohl die Trudowiki als auch die Menschewiki unterstützen die Hege-monie der Kadetten, darin eben besteht das Wesen der kleinbürgerlichenTaktik. Die Liberalen nicht nur in Rußland, sondern auch überall inEuropa waren sehr lange die Führer des demokratischen Kleinbürger-tums, das zu zersplittert, unentwickelt und unentschlossen war, um selb-ständig zu werden, und allzusehr Besitzertendenzen huldigte, um demProletariat zu folgen. Die Achillesferse der kleinbürgerlichen Politik istdas Unvermögen und die Unfähigkeit, sich von der ideologischen undpolitischen Hegemonie der liberalen Bourgeois frei zu machen. Die Klein-bürger leisten den Kadetten Gefolgschaft nicht kraft eines Zufalls, son-

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Xkinbürgerlidlie Jaktik 161

dem kraft der grundlegenden ökonomischen Besonderheiten jeder kapi-talistischen Gesellschaft. Die Hauptaufgabe der Sozialdemokratie, eineAufgabe, die dem Verständnis der Menschewiki absolut fremd ist, be-steht deshalb darin, unbeirrbar die Hegemonie des Liberalen über denDemokraten zu zerstören, unentwegt die kleinbürgerliche Masse denFittichen der Kadetten zu entreißen und sie unter die Einwirkung, denEinfluß der Sozialdemokratie zu bringen.

„Beständiges, koordiniertes Vorgehen" schlägt uns der Trudowik vor.Wir danken ergebenst! Etwa um uns mit Leuten zu verbinden, die es,wie den Trinker zum Gläschen, zu dem Kadetten zieht? mit Leuten, diebei den Wahlen in Petersburg monatelang um einen Block mit den Ka-detten bettelten, die wie eine Hammelherde zu der kadettischen Versamm-lung vom 19. Februar gingen und für den Kadetten stimmten, der dieDemokratie verschachert*? Wir danken ergebenst!

Qesdhrieben am 22. jebruar (7. März) i907.

"VeröjfenÜidht am 23. 7ebruar i907 "Nadb dem 7ext desim „TJowy £utsdlo" 3Vr. 4. „Nowy Lutsdh".

* Siehe den vorliegenden Band, S. 153-156. Die Red.

11 Lenin, Werke, Bd. 12

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DIE ORGANISATOREN DER SPALTUNGÜBER DIE KÜNFTIGE SPALTUNG

Die „Russkaja Shisn" hat ein lächerliches Geschrei angestimmt überdie Stellung des „Nowy Lutsch" zur sozialdemokratischen Dumafrak-tion. (Artikel „Sogar hier!", Nr. 45.)

Lächerlich deswegen, weil die „Russkaja Shisn" einen Umweg ge-wählt hat, anstatt zu versuchen, wenigstens einigermaßen sachlich aufunsere Kritik an der Haltung der Fraktion zu antworten.

Wir haben gesagt, unsere Fraktion hätte auf keinen Fall für den kadet-tischen Präsidentschaftskandidaten stimmen dürfen.

Wir haben gesagt, unsere Fraktion als solche hätte auf keinen Fall zuprivaten Beratungen mit den Kadetten und den Narodowzen gehendürfen.

Wir haben schließlich gesagt, das Verhalten der Fraktion könne zurSpaltung führen, denn die Linie dieses Verhaltens widerspreche demGeist und dem Buchstaben der Beschlüsse des Stockholmer Parteitags.

Wir haben schließlich an den bolschewistischen Teil unserer Fraktionden Appell gerichtet, den schonungslosesten Kampf gegen den Oppor-tunismus der Fraktionsmehrheit zu führen und in der Fraktion unent-wegt die Position der revolutionären Sozialdemokratie zu vertreten.

Wir haben hierüber sehr viel geschrieben; wir widmeten dem Ver-halten der Fraktion in der Frage des Präsidiums eine ganze Reihe vonArtikeln, die die Sache von allen Seiten beleuchteten.

Von Seiten der „Russkaja Shisn" jedoch gibt es keinerlei sachliche Ein-wände, keinen einzigen ernsten Versuch, die taktische Linie der Men-schewiki, die faktisch die Führung der Dumafraktion innehaben, zu ver-teidigen.

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Die Organisatoren der Spaltung über die künftige Spaltung 163

Wir hatten das Recht, zu erwarten, und erwarteten, daß die „Rus-skaja Shisn" zu beweisen versuchen werde, daß ihre taktische Linie vollund ganz den Beschlüssen des Stockholmer Parteitags der SDAPR ent-spricht, daß gerade diese Linie auch die Linie ist, die unserer Fraktionin der Duma zur Hegemonie über den gesamten linken Teil der Dumaverhelfen soll.

Aber nichts von alledem geschah. Anstatt alles dessen ein Haufenkläglicher Worte, lächerliches Gezeter darüber, daß der „Nowy Lutsch"gegen die sozialdemokratische Dumafraktion hetze, daß der „NowyLutsch" den bolschewistischen Teil der Fraktion zur unverzüglichen Spal-tung dränge.

Anstatt einer sachlichen Antwort ein heuchlerischer Appell: „Mögeder ,Nowy Lutsch' sich klarer äußern. Möge er das Tüpfelchen aufs isetzen. Und möge er des Rates aus dem Evangelium eingedenk sein: ,Wasdu tun willst, das tue bald'."

Genossen! Ihr seid wahrhaft großartig in eurer Ungeniertheit. EuerGezeter von einer Spaltung durch die Bolschewiki ist eine Perle an Wahr-haftigkeit und Aufrichtigkeit.

Die einzige Parteiorganisation, in der es heute eine Spaltung gibt unddazu in äußerst schwerer Form, ist die Petersburger. Wer hat sie ge-spalten? Gespalten haben sie die Menschewiki. Sie haben sie gespaltengegen den Willen der organisierten Arbeiter, zum Vorteil der Kadetten,unter Hinweis auf eine Schwarzhundertergefahr, die es in Petersburgnicht gab. Und trotzdem sind die Menschewiki bis heute starrsinnig da-gegen, die Geschlossenheit der Petersburger Organisation wiederherzu-stellen, und hartnäckig bestrebt, diese Spaltung auszuweiten und zu ver-tiefen.

Die Bolschewiki haben mit allen Kräften gegen die Zulassung vonWahlabkommen mit den Kadetten gekämpft. Aber auf der Parteikon-ferenz im November wurden Abkommen als zulässig anerkannt. DieBolschewiki verpflichteten sich auf der Konferenz, sich den Beschlüssender örtlichen Organisationen zu fügen, und überall dort, wo die örtlichenOrganisationen es für nötig hielten, Wahlabkommen mit den Kadetteneinzugehen, haben sie ihre Parteipflicht „gewissenhaft und treu" erfüllt.Die Menschewiki hatten die gleiche Verpflichtung übernommen, abernachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß die organisierten Arbeiter

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164 "W J.Lenin

Petersburgs nicht damit einverstanden waren, in ihrem Gefolge nach derPfeife der Kadetten zu tanzen, spalteten sie die Organisation.

Und jetzt heulen sie über die Spaltung! Was den Appell anbelangt,den die „Russkaja Shisn" an uns gerichtet hat, so kann uns die Antwortdarauf keinesfalls in Schwierigkeiten bringen. Bei uns sind ohnehinauf alle i die Tüpfelchen gesetzt, wer Augen hat, zu sehen, kann siesehen.

Die Einheit der Partei liegt uns sehr am Herzen. Aber die Prinzipien-reinheit der revolutionären Sozialdemokratie liegt uns noch mehr amHerzen. Wir haben uns dem Willen der Mehrheit des Stockholmer Par-teitags gefügt und fügen uns ihm. Wir halten es für notwendig, alle seineBeschlüsse zu erfüllen. Wir fordern jedoch, daß diese Beschlüsse auchvon den leitenden Zentralstellen der Partei erfüllt werden. Und dieopportunistischen Schaukeleien der Menschewiki, alle ihre Versuche, zu-gunsten der Kadetten die vom Parteitag festgelegte Linie aufzugeben, sindbei uns auf schonungslose Kritik und unbeugsamen Widerstand gestoßenund werden darauf stoßen. Das ist unser Recht. Das ist unsere Pflicht.Auf dieses Recht werden wir nie verzichten, von dieser Pflicht werdenwir niemals abgehen. Und wenn es zur Spaltung kommen sollte, dannwird sie lediglich bedeuten, daß die Menschewiki selber die von ihnenauf dem Stockholmer Parteitag herbeigeführten Beschlüsse mit Füßentreten. Eine andere Spaltung kann und wird es nicht geben. Und dieseSpaltung würde lediglich eins bedeuten: die endgültige Verwandlung derMenschewiki in einen Vasallen der Kadetten.

„Das rote Banner des Proletariats ist in den Händen der sozialdemo-kratischen Dumafraktion ins Schwanken geraten", schrieben wir vor-gestern. - Die Kadetten fordern, daß es sich vor ihnen senke. An demTag, wo es durch den Willen der Menschewiki zu dieser unglaublichenSchande kommen würde, käme es auch zur Spaltung, weil an diesem Tagdie Menschewiki aufhören werden, ein Teil der SozialdemokratischenArbeiterpartei Rußlands zu sein.

Qesdhrieben am 23. 7ebruar [8. März) 1907.

Veröffentlicht am 24. Jebruar 1907 Tlaäo dem 7ext desim „TJowy Lutsdo" 9Jr. 5. n?Jowy Lutsdh".

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ÜBER DIE TAKTIK DES O P P O R T U N I S M U S

Plechanow hat sein Schweigen, das nach dem berühmten Vorschlag,Sozialdemokraten und Kadetten sollten die gemeinsame Losung einer„machtvollkommenen Duma" aufstellen, die einzige vernünftige Taktikseinerseits war, gebrochen. Plechanow hat in der „Russkaja Shisn" einenneuen Versuch unternommen, unsere Partei zu den Kadetten zu drängen,den Versuch, ihr die Losung der Unterstützung eines „verantwortlichenMinisteriums" aufzudrängen, die von der Partei schon in der Periode derersten Duma abgelehnt worden war.

Wir wollen die Argumentation Plechanows untersuchen.Vor allen Dingen muß vermerkt werden, daß Plechanow im Eifer des

Kampfes gegen die Bolschewiki die direkte Unwahrheit sagt über ihrenStandpunkt. Er dichtet uns nämlich in aller Bestimmtheit den Wunschan, „mit dem Kopf durch die Wand zu gehen", den Wunsch und das Be-streben, den Kampf „jetzt sofort" aufzunehmen.

Um den Lesern zu zeigen, wie sehr Plechanow unrecht hat, wollen wirein Zitat aus einer offiziellen bolschewistischen Druckschrift anführen,die vom ii. Tebruar datiert ist: . . . „Der Kampf... i s t . . . unabwend-bar. Gerade deshalb aber, weil er unabwendbar ist, haben wir es nichtnötig, ihn zu forcieren, anzutreiben, anzupeitschen. Dafür mögen dieKruschewan und Stolypin sorgen. Uns liegt die Sorge ob, vor dem Pro-letariat und der Bauernschaft mit aller Klarheit, unvermittelt und scho-nungslos offen die Wahrheit zu enthüllen! ihnen die Augen zu öffnenfür die Bedeutung des kommenden Sturms, ihnen behilflich zu sein, orga-nisiert, m i t . . . Kaltblütigkeit... dem Feind zu begegnen . . . ,Schießen Siegefälligst zuerst, meine Herren Bourgeois!' rief Engels im Jahre 1894

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dem deutschen Kapital zu. ,Schießen Sie zuerst, meine Herren Krusche-wan . . . ! ' rufen w i r . . . Deshalb keine vorzeitigen Aufrufe."*

Nicht wahr, wie leicht erfüllt der verehrte Plechanow die Aufgabeeines „Kritikers"? "Keine vorzeitigen Aufrufe - erklärten anderthalbWochen vor der Duma die Organisationen der Bolschewiki. Die Bolsche-wiki wollen den Kampf „jetzt sofort" aufnehmen, behauptet Plechanowin einem am 23. Februar veröffentlichten Artikel, sie wollen „mit demKopf durch die Wand gehen".

Natürlich ist es das einfachste, billigste und leichteste Verfahren, umdie Bolschewiki herunterzureißen, ihnen einen unsinnigen Qedanken zuunterstellen und dann zu lärmen und zu schimpfen („unvernünftigerEifer", „Borniertheit", „schlimmer als Verrat" usw. usf.). Aber Plecha-now sollte nicht vergessen, daß man auf die Bolschewiki nicht alles wieauf Tote, die wehrlos sind, abwälzen kann, daß die Bolschewiki durchdie einfadbe Qegenub er Stellung eines offiziellen Dokuments allen undjedem zeigen werden, wie unwahr die Worte Plechanows sind. Und Ple-chanow wird sich schämen müssen. Und dann wird Plechanow anfangenzu begreifen, daß es ihm nicht gelingen wird, von den Bolschewiki unge-straft Dinge zu sagen, wie sie bislang nur das „Nowoje Wremja" überRevolutionäre schrieb.

Wenden wir uns dem Wesen der von Plechanow aufgeworfenen Fragezu, ob die Arbeiterpartei die Losung eines „verantwortlichen Ministe-riums" unterstützen soll. Plechanow verteidigt diese Losung folgender-maßen :

„Von zwei Dingen eins. Entweder sind die schnell wachsenden Kräfte derRevolution sdhon jetzt über die Kräfte der Regierung hinausgewachsen, undin diesem Fall kann und muß die Forderung nach einem verantwortlichenMinisterium als Signal für den entscheidenden Kampf gegen die Reaktiondienen.

Oder aber die Kraft der Revolution ist noch nidht über die Widerstands-kräfte des Staates hinausgewachsen, und dann ist der entscheidende Kampfnoch nidht am Platze,- aber auch dann muß die genannte Forderung unter-stützt werden als ein ausgezeichnetes Erziehungsmittel, das das politische Be-wußtsein des Volkes entwickelt und es eben dadurch für den siegreichen Kampfin der Zukunft vorbereitet.

* Siehe den vorliegenden Band, S. 109. Die Re&.

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"Über die Jaktik des Opportunismus 167

Also müssen in beiden Fällen die sozialdemokratischen Deputierten im Inter-esse des Volkes, im Interesse der Revolution die erwähnte Forderung unbe-dingt zu der ihren machen."

Diese Argumentation ist sehr aufschlußreich. Untersuchen wir zunächstihren ersten Teil. Wir nehmen also gemeinsam mit Plechanow an, dieKräfte der Revolution wären über die Kräfte der Regierung hinausge-wachsen. Wenn dem so wäre, dann wäre die Forderung nach einem ver-antwortlichen Ministerium 1. unnötig, 2. schädlich und 3. würde sie vonden Liberalen nicht unterstützt werden.

1. Sie wäre unnötig, denn ein derartiges „Signal für den entscheiden-den Kampf" ist auf jeden Fall ein indirektes und kein direktes Signal.Dieses „Signal" ist nicht der Ausdruck der bestimmten Absicht, den wirk-lich entscheidenden Kampf gegen die Reaktion aufzunehmen, sondernist im Gegenteil Ausdruck der Absicht, ein Zugeständnis herauszuholen,auf das auch die Reaktion selbst freiwillig eingehen kann. Wir bestreitennicht, daß es, allgemein gesagt, zulässig ist, unter besonderen Bedin-gungen Signale zu geben nicht zum entscheidenden Kampf, sondern zueinem kleinen Vorgefecht, ja sogar zu einer Demonstration, die einenKampf vortäuscht. Das aber ist eine andere Frage. Und bei den Voraus-setzungen, die Plechanow madote (die Kräfte der 'Revolution seien schonhinausgewachsen usw.), ist offensichtlich, daß ein indirektes Signal un-nötig ist.

2. „Die Kräfte der Revolution sind schon über die Kräfte der Reak-tion hinausgewachsen . . . " Was heißt das? Schließt das die "Bewußtheitder Kräfte der Revolution ein? Plechanow wird wahrscheinlich zustim-men, daß es sie einschließt. Ein Volk, das sich der revolutionären Auf-gaben nicht bewußt ist, kann nicht stark genug sein, um im entscheiden-den Kampf die Reaktion zu besiegen. Jetzt weiter: Bringt die von uns zuuntersuchende Forderung die Aufgaben der Revolution im Kampf gegendie Reaktion richtig zum Ausdruck? Nein, sie tut das nicht, denn einverantwortliches Ministerium ist erstens keineswegs der Übergang derMacht an das Volk, ist nicht einmal der Übergang der Macht an die Libe-ralen, sondern ist im Grunde genommen ein Pakt oder der Versuch einesPakts der Reaktion mit den Liberalen; zweitens können selbst bei einemwirklichen Übergang der Macht an die Liberalen kraft der objektivenBedingungen die Grundforderungen der Revolution nicht verwirktlicht

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werden. Dieser Gedanke kommt direkt zum Ausdruck an der von Ple-chanow zitierten Stelle des Artikels aus dem „Ersten Sammelband"53,und Plechanow hat nicht einmal den Versuch gemacht, auf diesen Gedan-ken dem Wesen des Problems nach einzugehen.

Es fragt sich nunmehr, welche Bedeutung für den entscheidenden (Vor-aussetzung Plechanows) Kampf gegen die Reaktion hat denn eine Losung,die die Forderungen der Revolution (deren "Kräfte schon über die Kräfteder Regierung hinausgewachsen sind - die Voraussetzung Plechanows!)unrichtig zum Ausdruck bringt? Es ist klar, daß sie unbedingt schädlichist. Diese Losung bedeutet eine 7rübung des Bewußtseins der Massen,die in den entscheidenden Kampf gehen. Eine solche Losung aufstellenist gleichbedeutend damit, zum entscheidenden Kampf aufzurufen undgleichzeitig ein Objekt des Kampfes anzugeben, das gar nichts ent-scheidet, zum Schießen auf die Kuh aufrufen und auf die Krähe zielen.

Mit restloser Genauigkeit vor dem Kampf bestimmen, wessen Kräfte„schon hinausgewachsen" sind über die Kräfte des Feindes, ist niemalsmöglich. Nur Pedanten können davon träumen. Zu dem Begriff der „überdie Kräfte des Feindes hinausgewachsenen Kräfte" gehört es, daß dieKämpfenden sich ihrer Aufgaben klar bewußt sind. Dadurch, daß Ple-chanow voraussetzt, der Kampf werde „entscheidend" sein, und gleich-zeitig dieses Bewußtsein trübt, schädigt er direkt die Revolution. Unddas ist fürwahr „schlimmer als Verrat", verehrter Kritiker! Die „Kräfte"reichen aus für den Sieg über die Reaktion, der „Führer" aber ruft dieTruppen zum Kampf um einen "Kuhhandel mit der Reaktion . . . Plecha-now hat sich im Scherz mit dem römischen Feldherrn verglichen, der sei-nen Sohn hinrichten ließ, weil dieser vorzeitig den Kampf begonnen hatte..Ein geistreicher Witz. Nun, wenn ich der „Sohn" gewesen wäre im Augen-blick des entscheidenden Kampfes, da „die Kräfte der Revolution schonhinausgewachsen sind über die Kräfte der Regierung", dann hätte ichohne eine Sekunde zu schwanken den „lieben Papa", der die Losungeines Kuhhandels mit der Reaktion aufstellt, erschossen (oder aufrömische Art: erstochen) und hätte es ruhig künftigen Mommsens über-lassen, Untersuchungen darüber anzustellen, ob mein Handeln als Tötungeines Verräters, als dessen Hinrichtung oder als ein Verbrechen gegen dieSubordination anzusehen war.

3. Als wir uns in der Epoche der ersten Duma gegen die Losung eines

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Über die 7aktik des Opportunismus 169

„verantwortlichen Ministeriums" wandten, da beschränkten wir uns aufdie beiden angeführten Argumente. Nunmehr muß ein drittes hinzu-gefügt werden: wenn die Forderung nach einem verantwortlichen Mini-sterium direkt oder indirekt ein Signal für den entscheidenden Kampfder „Revolution" gegen die Reaktion werden könnte, dann würden dieLiberalen selber diese Forderung zurückziehen.

Warum muß dieses Argument heute hinzugefügt werden? Weil dieLiberalen (einschließlich der Kadetten) nach der ersten Duma stark nachrechts gerückt sind und entschieden gegen die Revolution Front gemachthaben. Weil gleich die erste Rede Golowins, der von schlechten Sozial-demokraten wegen seines Liberalismus unterstützt wird, eine nicht libe-rale und nicht kadettische, sondern oktobristisdoe Rede war.

Wenn Plechanow über die russischen Angelegenheiten so wenig aufdem laufenden ist, daß er das nicht weiß, dann verdient sein Artikelnatürlich Nachsicht. Aber seine Argumente bleiben dem Wesen nach,unabhängig von seinen einzelnen Irrtümern, von Grund aus falsch.

Gehen wir zum zweiten Fall über. Die Kräfte der Revolution sindnodh nidht über die Kräfte der Reaktion hinausgewachsen, der entschei-dende Kampf ist nodh nidht am Platze. Dann bestehe die Bedeutung derLosung darin, daß sie auf die Entwicklung des politischen Bewußtseinsdes Volkes von Einfluß sei, sagt Plechanow. Das ist richtig. Dann aber -und hier hat Plechanow tausendmal unrecht - korrumpiert eine derartigeLosung das Bewußtsein des Volkes, statt es zu erleuchten, sie trübt es,statt es zu revolutionieren, sie demoralisiert, statt zu erziehen. Das ist soklar, daß wir auf die Entwicklung dieses Gedankens nicht näher einzu-gehen brauchen, mindestens nicht bis zur nächsten Unterhaltung mit demhochverehrten Plechanow.

Von welcher Seite man die Sache auch nimmt - ein Versagen auf derganzen Linie. Sind die Kräfte der Revolution herangewachsen oder sindsie nicht herangewachsen, die Plechanowsche Losung kann man jeden-falls nicht als bis zum Bewußtsein des sozialdemokratischen Proletariats„herangewachsen" betrachten. Diese Losung opfert die grundlegendenInteressen der Demokratie und unserer ganzen Revolution - die Auf-klärung der Massen über die Aufgaben des realen Kampfes des Volkesum die reale Macht - , opfert sie den zeitweiligen, zufälligen, nebensäch-lichen, konfusen, liberalen Losungen, Aufgaben und Interessen.

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Und darin, daß die grundlegenden Aufgaben des Proletariats denhalbschlächtigen und konfusen Aufgaben des Liberalismus zum Opfergebracht werden, besteht eben das Wesen des Opportunismus in derTaktik.

Noch ein paar Worte zum Schluß. Plechanow versucht, uns in seinemArtikel wegen des Boykotts zu zwicken. Wir werden uns mit ihm dar-über ausführlich dann unterhalten, wenn er gewillt ist, von Sticheleienzum sachlichen Kampf überzugehen. Vorläufig aber vermerken wir eins.Der Sohn des römischen Feldherrn hatte immerhin - geistreichelt Ple-chanow - in seinem vorzeitig aufgenommenen Kampf gesiegt, währenddie Bolschewiki vorläufig nur Niederlagen aufzuweisen haben.

Sie haben ein schlechtes Gedächtnis, Genosse Plechanow. Erinnern Siesich doch der Bulyginsdben Duma. Erinnern Sie sich, wie damals Parvusund die von Ihnen unterstützte neue „Iskra" gegen den Boykott waren.Die Bolschewiki waren für den Boykott.

Die Entwicklung der Revolution brachte den vollen Sieg für den Bol-schewismus, von welchem sich in den Oktober-November-Tagen die Men-schewiki nur durch Trotzkis Überspitzungen unterschieden.

So war es - so wird es sein, hochverehrter Genosse Plechanow. Wenndie Revolution abebbt, dann treten die Pedanten, die hinterher die Rolle„römischer Feldherren" übernehmen, mit ihren Lamentationen in denVordergrund. Wenn die Revolution ansteigt, dann kommt es so, wie esdie revolutionären Sozialdemokraten wollen, und wenn man sie nochsooft „mit ungeduldigen Jünglingen" vergleicht.

Qesdhrieben am 23. Februar (8. März) 1907.

Veröffentlicht am 24. Februar f907 Nadb dem 7ext desim „Tiotuy Lutsdh" 7ir. 5. „Nowy Lutsch".Unterschrift-.7^. Lenin.

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DIE B O L S C H E W I K I U N D DAS K L E I N B Ü R G E R T U M

Unter diesem Titel brachten die „Nowyje Sily"54 einen Artikel, dereinen guten Anlaß bietet für einige Klarstellungen.

Die Zeitung ist unzufrieden mit unserer „abgedroschenen" Einteilungder Bourgeoisie in revolutionäres Kleinbürgertum und liberale Bourgeoi-sie. Für die Kadetten haben zweifellos viele Kleinbürger gestimmt, erklärtdas Organ der Trudowiki, womit es das übliche menschewistische Argu-ment wiederholt.

Jawohl, für die Kadetten haben viele Kleinbürger gestimmt. Das istrichtig. Aber der Klassencharakter einer Partei läßt sich nicht nur danachbeurteilen, daß für sie in einem bestimmten Augenblidk unter anderemdie und die Elemente gestimmt haben. Es unterliegt keinem Zweifel, daßfür die deutschen Sozialdemokraten viele Kleinbürger und für dasdeutsche „Zentrum" viele Arbeiter stimmen. Aber die „Nowyje Sily"begreifen wahrscheinlich, daß man daraus nicht den Schluß ziehen kann,die „abgedroschene" Einteilung der werktätigen Klassen in Kleinbürger-tum und Proletariat wäre falsch.

Die gesamte Geschichte der Kadettenpartei als Ganzes und die letztenWahlen im besonderen haben klar gezeigt, daß die Klassengrundlagedieser Partei von dem kapitalistisch wirtschaftenden Gutsbesitzer, demmittleren Bourgeois und dem bürgerlichen Intellektuellen gebildet wird.Die Masse des Volkes, d. h. die breiten Schichten des städtischen Klein-bürgertums und dann der Bauernschaft, sind dieser Partei fremd, die jedeAktivität der Massen fürchtet, sie bekämpft, die Ablösung verteidigt unddie auf der Grundlage des „Vierpunktewahlsystems" usw. zu wählendenörtlichen Agrarkomitees bekämpft. Nur darum kam es bei den letzten

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Wahlen zu einem so erstaunlich schnellen Abfall des Kleinbürgertumsvon den Kadetten. Die Bauernschaft ließ bekanntlich die Kadetten völ-lig durchfallen und trug am meisten bei zu ihrer Niederlage in den Gou-vernements-Wahlversammlungen. Das städtische Kleinbürgertum brachte,wie wir schon in Nr. 1 des „Nowy Lutsch" vermerkten*, dem Linksblockin den Städten auf einen Schlag 41 000 Stimmen gegen 74 000 Stimmender Kadetten, obgleich die Linken keine Tagespresse besaßen usw.

Die Kadetten sind die Partei der liberalen Bourgeois. Die ökonomischeLage dieser Klasse läßt sie den Sieg der Bauern und die Geschlossenheitder Arbeiter fürdbten. Daher die unvermeidliche und durchaus nicht zu-fällige Tendenz der Kadetten, um so schneller nach rechts zu schwenken,einen Kuhhandel mit der Reaktion abzuschließen, je schneller sich dieVolksmassen nach links entwickeln. Nicht der Zufall, sondern die ökono-mische Notwendigkeit hat dazu geführt, daß sich nach der Auseinander-jagung der Duma das Proletariat, die Bauernschaft und die städtischekleinbürgerliche Armut sehr stark nach links entwickelten, sich revolu-tionierten, während die Kadetten sich sehr stark nach rechts entwickelten.Das bedauern, den Versuch machen, es zu ändern oder diesem ProzeßEinhalt zu gebieten, können nur Spießbürger oder Philister in derPolitik.

Wir Sozialdemokraten haben eine andere Aufgabe: den Prozeß derBefreiung der Massen von der Hegemonie der Kadetten zu beschleu-nigen. Diese Hegemonie wird unterstützt durch die Tradition, die altenVerbindungen und den Einfluß der Liberalen, durch ihre wirtschaftlicheHegemonie über den Kleinbürger, ihre Rolle als bürgerliche Intelligenz,und liberales Beamtentum usw. Je klarer sich die Massen ihrer eigenenInteressen bewußt werden, desto eher werden sie die feindliche Einstel-lung der Liberalen gegenüber der Massenbewegung begreifen, desto eherwerden die Massen den Liberalen politisch den Rücken kehren und sichin diesen oder jenen demokratischen, revolutionären Organisationen,Verbänden, Parteien usw. zusammenschließen. Insbesondere die Bauern-schaft, die in Rußland acht oder neun Zehntel des gesamten Kleinbürger-tums ausmacht, kämpft in erster Linie um den Boden. Die liberalen Guts-herren (und solche gibt es noch in Rußland: die Kurie der Gutsbesitzerstellte bei den letzten Wahlen 24,4 Prozent Kadetten und weiter links

* Siehe den vorliegenden Band, S. 146. Die Red.

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Die TSohdhewiki und das Kleinbürgertum 173

Stehende) sind in diesem Kampf gegen die Bauern, und der liberaleBeamte, der bürgerliche Intellektuelle stehen dem liberalen Gutsbesitzersehr nahe. Das ist es, warum sich die Bauernschaft weitaus entschiedenerund schneller von dem Einfluß der Kadetten frei macht als das städtischeKleinbürgertum. Der Sieg der Bauernschaft im Kampf um den Boden istdie echte ökonomische Grundlage für den Sieg der bürgerlichen Revolu-tion in Rußland. Die Liberalen (einschließlich der Kadetten) sind gegenden Sieg der Bauernschaft; sie verfechten die Ablösung, d. h. die Um-wandlung der Bauern teils in Großbauern und teils in Knechte der Guts-besitzer vom preußischen Typus. Darum eben ist in Rußland ein Siegder bürgerlich-demokratischen Revolution unmöglich ohne Befreiung derBauernschaft von der politischen Hegemonie der Liberalen. Der Sieg derBauernschaft vernichtet den gutsherrlichen Grundbesitz und bietet derEntwicklung der Produktivkräfte auf rein kapitalistischer Grundlagevollsten Spielraum. Der Sieg der Liberalen erhält den gutsherrlichenGrundbesitz, wobei er ihn nur leicht von Zügen der Leibeigenschaft säu-bert, und führt zu der' am wenigsten raschen, am wenigsten freien Ent-wicklung des Kapitalismus, zu einer Entwicklung vom sozusagen preu-ßischen, und nicht vom amerikanischen Typus.

Diese ökonomische, diese Klassengrundlage dei? russischen Revolutionverstehen die „Nowyje Sily" nicht, wenn sie sagen: Seinen sozialen undökonomischen Forderungen nach steht das Kleinbürgertum den Liberalennäher, seinen politischen Forderungen nach den Proletariern, und der„Schwerpunkt der Revolution" verlagert sich zur „Politik". Diese ganzeArgumentation der „Nowyje Sily" ist eine einzige Konfusion. Der Klein-bürger einschließlich des Bauern steht natürlich dem Liberalen näher alsdem Proletarier, steht ihm näher als "Besitzer, als Kleinproduzent. Des-halb wäre im Sinne des Sozialismus die Verschmelzung der Kleinbürgerund der Proletarier in einer Partei (was die Sozialrevolutionäre wollen)politisch undenkbar und direkt reaktionär. In der gegenwärtigen, bür-gerlich-demokratischen Revolution in Rußland aber entspringt derKampf jetzt durchaus nicht dem Antagonismus zwischen Besitzern undArbeitern (das wird in der sozialistischen Revolution der Fall sein), son-dern dem Antagonismus zwischen Bauern und Gutsbesitzer: zu diesemökonomischen und durchaus nicht „politischen" Kampf tendiert der„Schwerpunkt der Revolution".

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Wenn unsere Revolution ihrem ökonomischen Inhalt nach eine bürger-liche ist (das steht außer Zweifel), so darf man daraus jedoch nicht schlie-ßen, daß die führende Rolle in unserer Revolution der Bourgeoisie zu-komme, daß die Bourgeoisie die treibende Kraft der Revolution sei. Einesolche bei Plechanow und den Menschewiki übliche Schlußfolgerung isteine Herabwürdigung des Marxismus, eine Karikatur auf den Marxis-mus. In der bürgerlichen Revolution Führer sein kann sowohl der libe-rale Gutsbesitzer zusammen mit dem Fabrikanten, dem Kaufmann, demAdvokaten usw. als auch das Proletariat zusammen mit der Masse derBauern. Der bürgerliche Charakter der Umwälzung bleibt in beiden Fäl-len derselbe, aber ihr Rahmen, die Bedingungen ihrer Vorteilhaftigkeitfür das Proletariat, die Bedingungen, unter denen sie dem Sozialismus(das heißt vor allem der Entwicklungsgeschwindigkeit der Produktiv-kräfte) Nutzen bringt, sind im ersten und im zweiten Fall durchaus ver-schieden.

Daraus leiten die Bolschewiki die grundlegende Taktik des sozialisti-schen Proletariats in der bürgerlichen Revolution ab: die Führung desdemokratischen Kleinbürgertums, insbesondere des bäuerlichen, zu über-nehmen, es den Liberalen zu entreißen, die Wankelmütigkeit der libe-ralen Bourgeoisie zu paralysieren, den Kampf der ?Aassen zu entfaltenfür die völlige Beseitigung aller Spuren der Leibeigenschaft einschließlichdes gutsherrlichen Grundbesitzes.

Die Frage des Dumapräsidiums war eine Teilfrage der allgemeinenTaktik der Sozialdemokratie in der bürgerlichen Revolution. Die Sozial-demokraten hätten die Trudowiki den Kadetten entreißen müssen, ent-weder indem sie für einen Trudowik stimmten oder sich demonstrativder Stimme enthielten mit Angabe der Enthaltungsgründe. Die „NowyjeSily" haben jetzt zugegeben, daß es ein Tebler der Linken war, zu derBeratung mit den Kadetten zu gehen. Das ist ein wertvolles Eingeständ-nis. Aber die „Nowyje Sily" sind sehr auf dem Holzweg, wenn sie glau-ben, dies sei „ein Fehler der praktischen Kalkulation und kein prinzi-pieller Fehler" gewesen. Eine solche Meinung beruht, wie wir gezeigthaben, darauf, daß sie die Grundlagen, die Prinzipien, die Taktik des so-zialistischen Proletariats in der bürgerlichen Revolution nicht begreifen.

Nur von diesem Standpunkt aus ist eine richtige Antwort auf die Teil-fragen zu finden, die den „Nowyje Sily" Kopfschmerzen verursadien.

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Die 'Bolsdbewiki und das "Kleinbürgertum 175

Wie ist zu „garantieren, daß sich nicht auch die vom ,Nowy Lutsch'als Verbündete anerkannten Kleinbürger von den Linken abwenden undin das kadettische Lager überlaufen"? Gerade weil man das nicht garan-tieren kann, sind wir gegen alle ständigen Abkommen mit den Trudo-wiki. Unsere Linie ist „getrennt marschieren, vereint schlagen", sowohldie Schwarzen als auch die Kadetten. So haben wir es gehalten bei denWahlen in St. Petersburg, und so werden wir es stets halten.

Man kann den Kadetten einen Teil der Kleinbürger abspenstig machen- wenden die „Nowyje Sily" ein. Jawohl, man kann das, wie wir ja beiden Wahlen in St. Petersburg einen Teil des kadettischen „Towarischtsch"abspalteten. Um das zu erreichen, muß man fest seinen eigenen, revo-lutionären Weg verfolgen, ohne darauf zu hören, was die kadettischeMarja Alexewna* sagen wird.

Die gesetzgeberische Arbeit „muß unweigerlich den Kadetten über-lassen werden". Nichts dergleichen. Die Kadetten als Führer des liberalen„Zentrums" der Duma haben auch ohne unsere Unterstützung das Über-gewicht über die Schwarzen. Deshalb müssen wir unsere eigenen, nichtliberalen und nicht kleinbürgerlichen, sondern sozialdemokratischenGesetzentwürfe einbringen, die nicht in einer kanzleimäßigen, sondernin einer revolutionären Sprache geschrieben sind, und sie zur Abstim-mung stellen. Mögen sowohl die Schwarzen als auch die Kadetten siedurchfallen lassen. Dann werden wir dazu übergehen, den kadettischenEntwurf schonungslos zu kritisieren, und systematisch Abänderungs-anträge einbringen. Ist mit den Abänderungsanträgen Schluß, enthaltenwir uns bei der Abstimmung des kadettischen Entwurfs als Ganzes derStimme, überlassen es den Kadetten, die Schwarzen zu schlagen, undübernehmen gegenüber dem Volk keine Verantwortung für die Arm-seligkeit und Banalität des kadettischen Pseudodemokratismus.

„5Vou>y Lutsdh" 3Vr. 6, Nadi dem 7exl des25.7ebruar 1907. „TJowy Lutsdb".Unterschrift:?]. Lenin.

Gestalt aus Gribojedows Komödie „Verstand schafft Leiden". Der Tibers.

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DIE NAHE BEVORSTEHENDE AUSEINANDERJAGUNGDER DUMA UND FRAGEN DER TAKTIK

Petersburg, 27. Februar 1907

Die Zeitungen sind voll von Nachrichten, Gerüchten und Vermutun-gen über eine nahe bevorstehende Auseinanderjagung der Duma.

Ist sie wahrscheinlich? Betrachtet man die objektive Lage der Dinge,so muß man den Schluß ziehen: mehr als wahrscheinlich. Für die Regie-rung war die Einberufung der Duma eine erzwungene Notwendigkeit.Um der Verständigung mit der Bourgeoisie willen mußte sie noch einmalden Versuch machen, unter höchstmöglichen Repressalien eine Volksver-tretung einzuberufen. Der Versuch ist offensichtlich mißlungen. DieStandgerichte und alle die anderen Herrlichkeiten der Stolypinschen Kon-stitution waren eine außerordentliche Hilfe für die revolutionäre Agitationunter den bislang unberührten Massen und erbrachten aus der Tiefe derBauernmassen eine linke Duma. Die Kadetten, diese Partei des Zentrumsin der russischen Revolution, sind im Vergleich zur ersten Duma geschwächtworden. Die Kadetten haben sich zweifellos nach rechts entwickelt, aberangesichts einer solchen Duma in einem solchen Augenblick ist die Regie-rung völlig außerstande, mit ihnen einen Pakt zu schließen. Mit denOktobristen könnten sich die Kadetten verschmelzen, und sie gehenunentwegt darauf aus: es genügt, Herrn Struve und Herrn Golowin zunennen. Aber die Besonderheit der gegebenen Lage besteht gerade darin,daß es in der Duma keine kadettisch-oktobristische Mehrheit gibt. Dasganze „Zentrum" wird hoffnungslos erdrückt durch den verschärftenKampf der Extreme: durch die Monarchisten von rechts und den linkenTeil der Duma. Dieser Teil umfaßt zwei Fünftel. Seine Rolle in derDuma ist gewaltig. Sein Einfluß auf die Volksmassen ist sehr groß. Seine

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Die nahe bevorstehende Auseinanderjagung der Duma 177

wachsende Verbindung mit diesen Massen kann durch keinerlei halbeMaßnahmen zerrissen werden. Die Auseinanderjagung der Duma wirdder Regierung von der Notwendigkeit diktiert: greift sie nicht zur Ge-walt, wird sie außerstande sein, sich aus der entstandenen Lage heraus-zuwinden. Die „Gesetzlichkeit" dieser entstandenen Lage macht dieKrise nur drückender, denn ihre wahre Stärke in den Volksmassen istunbedingt größer als-ihr „gesetzlicher", d. h. durch Dutzende und Hun-derte von Polizeifiltern gesiebter Ausdruck.

Die Auseinanderjagung der Duma ist mehr als wahrscheinlich: sie istunvermeidlich, gerade weil wir dem Wesen der Sache nach keineswegseine konstitutionelle, sondern eine revolutionäre Krise durchmachen. Undgerade darum wäre es die schädlichste, lächerlichste und jämmerlichstePolitik, den Kopf in den Sand zu stecken, zu versuchen, mit Ausredenüber die unvermeidlichen Folgen der gegebenen politischen Lage hin-wegzukommen, zu versuchen, mit Worten und Phrasen das Klare zuvertuschen, das Schroffe abzuschwächen, das Offensichtliche zu ver-dunkeln.

Eine Politik dieser Art treiben die Kadetten. Heute schreibt HerrIsgojew in der „Retsch": „Die Duma zu erhalten liegt fast nicht in un-serer Macht." Das ist fast richtig. „In drei bis vier Monaten, wenn dieDuma durch ihre gesetzgeberische Arbeit Autorität im Lande erworbenhätte, könnte die Lage anders werden." Das ist nicht nur richtig, sondernoffensichtlich. Und das Offensichtliche sieht audi die Regierung.

Herr Isgojew jedoch fürchtet die ungeschminkte Wahrheit und beginnteinen Eiertanz: „Aber wird sie diese drei bis vier Monate zur Verfügunghaben? Ein verzauberter Kreis, aus dem es keinen Ausweg gibt. Ein Aus-weg ist nicht die ,organisierte' oder ,unorganisiefte' Straße, einen Aus-weg gäbe es, wenn an der Macht Leute ständen, die von wahrem Patrio-tismus durchdrungen wären . . . "

Nun, natürlich! Sie haben sich selber durch leeres Gerede verzaubert,sich selber in der Sackgasse rührseliger Phrasen verrannt, und jetzt jam-mern sie, klagen sie, sind sie schwermütig... Wahrhaftig, das Muster-beispiel eines konfus gewordenen, tränenreichen und impotenten Phi-listers!

Der Leser möge nicht glauben, daß solche Reden Isgojews zufälligeStreiche eines zufälligen kadettischen Schreibers sind. Nein. Es ist das

12 Lenin, Werke, Bd. 12

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Resümee einer Politik, offiziell festgelegt von der Partei der Kadetten,von der dominierenden Partei, die ihren Präsidenten durchgebracht hat.In der gleichen „Retsch" lesen wir: „Nach langwierigen Debatten wurdein der Abendsitzung der Parlamentsfraktion der Volksfreiheit am 25. Fe-bruar zur Frage der Haltung gegenüber der Regierungserklärung be-schlossen, sie schweigend hinzunehmen, weder Vertrauen noch Mißtrauenzu äußern und zur Behandlung der laufenden Fragen überzugehen. Soll-ten die Rechtsparteien jedoch zum Zweck der Provokation eine Formeleinbringen, die dem Kabinett das Vertrauen ausspricht, so liegt der Be-schluß vor, dagegen zu stimmen. Für den Fall wiederum, daß die extre-men Linken (die Sozialdemokraten) einen Mißtrauensantrag einbringen,hat die Partei der Volksfreiheit beschlossen, von sich aus den Übergangzur Tagesordnung zu beantragen, übrigens besteht die Hoffnung, daßin dieser Frage ein vorläufiges Abkommen der gesamten Opposition er-zielt werden wird, wozu die Sozialrevolutionäre, die Volkssozialistenund die Trudowiki bereits geneigt sind." Hinzufügen wollen wir, daßunsere sozialdemokratische Dumafraktion nach den Worten der „Rus-skaja Shisn" beschlossen hat, „völlig selbständig aufzutreten", ein Be-schluß, den wir lebhaft begrüßen.

Aber die Politik der Kadetten - das ist wirklich etwas Einzigartiges.Zu sagen: „Ich bringe mein Mißtrauen zum Ausdruck", ist unvorsichtig.Man muß die Duma erhalten. Zu sagen: „Ich bringe kein Vertrauen zumAusdruck", das geht an. Nun, sind das etwa nicht politische „Männer imFutteral"? Sind es etwa keine Philister, die angesichts des unabwendbarheraufziehenden Sturms sich ihre Nachtmütze über den Kopf ziehen undplappern: Wir sind vorsichtig . . . wir erhalten . . . Ihr erhaltet eure phi-liströse Nachtmütze und sonst nichts, meine verehrten Ritter der „Volks-freiheit" !

Und was kann lächerlicher sein, als daß man die Vertrauensformelder Rechten für das Kabinett als „Provokation" bezeichnet? Es ist daslegitimste Recht eines jeden Dumamitglieds, die natürlichste Antworteines Volksvertreters auf die Frage des Kabinetts: Mein Programm ist sound so, ist die Duma gewillt, in diesem Geist mit mir zu arbeiten? Nurdurch die völlige Konfusion der Kadetten läßt sich erklären, daß sie die-sen Unsinn schreiben konnten. Nein, meine Herren, die Nachtmütze istkein Schutz gegen die Konterrevolution. Das Recht, die Duma aufzu-

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lösen, ist ein erz„legitimes" Recht auf dem Boden jener Konstitution, diedie jämmerlichen Liberalen so dumm herausgestrichen haben und dieernst zu nehmen sie das Volk so verräterisch zu überzeugen suchten. Mankann nicht drum herumkommen, daß das Kabinett die Duma fragt, obsie gewillt ist, ein bestimmtes Programm durchzuführen. Und die Ant-wort: „Ich bringe kein Vertrauen zum Ausdruck", wird gleichviel einausgezeichneter und durchaus zureichender „konstitutioneller" Anlaßsein, die Duma aufzulösen: sogar ohne Hilfe der Kowalewski kann manDutzende von „konstitutionellen Präzedenzfällen" dafür finden, daß einParlament aufgelöst wird, weil es der Regierung weit weniger wichtigeDinge verweigert als . . . als . . . als Standgerichte und Strafexpeditionen.

Welche Schlußfolgerung ergibt sich daraus? Die Schlußfolgerung istdie, daß es dumm ist, Konstitution zu spielen, wenn es keine gibt. Es istdumm, die Augen davor zu verschließen und zu verschweigen, daß dieTage sogar der heutigen russischen „Beinahe-Konstitution" gezählt, daßdie Aufhebung des Wahlgesetzes und die Rückkehr zur vollständigenSelbstherrschaft unvermeidlich sind.

Was also ist zu tun? Aussprechen was ist. Die Regierung ist unbe-dingt gezwungen, die Duma aufzulösen. Für sie ist es von Vorteil, daßdie Duma schweigend auseinandergeht, ergeben die konstitutionelle Ko-mödie durchführt, ohne dem Volk die Augen zu öffnen über die Vtwer-meidlidbkeit eines Staatsstreiches. Und die feigen Kadetten mit ihrer bei-spiellosen, unvergleichlichen, „historischen" Formel „schweigend hinzu-nehmen", anstatt „ich bringe mein Mißtrauen zum Ausdruck" zu sagen„ich bringe kein Vertrauen zum Ausdruck" - helfen lediglich der Regie-rung, den Staatsstreich schweigend zu vollziehen.

Wirkliche Anhänger der Freiheit, wirkliche Vertreter des Volkes müs-sen anders handeln. Sie müssen begreifen, daß das Weiterbestehen derDuma absolut nicht von Höflichkeit, Vorsicht, Behutsamkeit, Diplomatie,Takt, Schweigsamkeit und anderen Moltschalinschen* Tugenden ab-hängt. Sie müssen von der "Dumatribüne herab allen vernehmbar, einfachund ohne Umschweife, dem Volk die ganze Wahrheit sagen, auch war-um die Auseinanderjagung der Duma, der Staatsstreich und die Rück-kehr zur reinen Selbstherrschaft unvermeidlich sind. Die Regierung muß

* Moltschalin - Gestalt aus Gribojedows Komödie „Verstand schafftLeiden". Der Tibers.

12*

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darüber schweigen. Das Volk muß es wissen. Die Volksvertreter müssenes - solange sie noch Volksvertreter sind! - von der Dumatribüne herabsagen.

Die Lage ist ganz klar. Es gibt keine andere Wahl: entweder eineschmähliche Moltschaliniade, entweder ergeben den Kopf hinhalten odereine ruhige, aber feste Erklärung an das Volk, daß der erste Akt desStaatsstreiches der Schwarzhunderter im Gange ist.

Nur der Volkskampf kann diesen verhindern. Und das Volk muß dieganze Wahrheit wissen.

Wir wollen hoffen, daß die Sozialdemokraten in der Duma sie ihmsagen werden.

.Proletari' "Nr. u, Nadh dem 7ext des .Proletari".4. März 1907.

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DIE KADETTEN UND DIE TRUDOWIKI5 5

Genosse D. Kolzow bringt in Nr. 49 der „Russkaja Shisn" wieder ein-mal die üblichen menschewistischen Argumente vor/mit denen die Politikder Unterstützung für die Kadetten verteidigt wird. Aber er macht dasso geradlinig und naiv, daß man ihm sicherlich nur dankbar dafür seinkann, daß er eine falsche Theorie ad absurdum führt.

„Mit wem hat die Sozialdemokratie mehr gemeinsame Berührungs-punkte", fragt er in dem Artikel „Die Kadetten und die bürgerliche De-mokratie", „mit der städtischen oder der ländlichen Demokratie? Vonwem kann die Sozialdemokratie eher Unterstützung erwarten in ihrem,Kampf gegen alle kulturellen, religiösen, nationalen und ähnlichen Vor-urteile? Wer wird eher alle Maßnahmen unterstützen, die auf die freieEntwicklung der Produktivkräfte gerichtet sind? Man braucht diese fürdie sozialdemokratische Politik kardinalen Fragen nur zu stellen, und dieAntwort wird von selbst klar sein. Alles, wassim .Kommunistischen Mani-fest' über die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie gesagt wird, bleibt im20. Jahrhundert ebenso richtig, wie es im 19. richtig war, ebenso richtigin Rußland, wie es in England richtig war . . . usw. Was die ländliche De-mokratie betrifft, so wird sie ungeachtet ihrer revolutionären Allüren insehr vielen Fällen die alten, überlebten Formen der Produktion und desgesellschaftlichen Lebens verteidigen . . . Wenn die Bolschewiki von denKadetten sprechen, so vergessen sie die hinter den Kadetten stehendestädtische Demokratie, und umgekehrt personifiziert sich für sie dieganze Bauernschaft in der Parlamentsgruppe der Sozialrevolutionäre undTrudowiki. Das heißt den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, hinterder parlamentarischen Vertretung die sozialen Interessen der breitenVolksmassen nicht sehen."

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182 IV. 1 Lenin

Wir begrüßen von ganzem Herzen, daß die Menschewiki dazu über-gehen, die prinzipiellen Grundlagen unserer taktischen Meinungsver-schiedenheiten klarzustellen. Es war höchste Zeit.

Also die Kadetten sind die fortschrittliche städtische "Bourgeoisie, dieTrudowiki die rückständige ländliche Bourgeoisie. Darauf läuft euer„Marxismus" hinaus.

Aber wenn dem so ist, warum sagt ihr das nicht offen und gerade-heraus vor der ganzen Partei? Warum erklärt ihr nicht in dem Resolu-tionsentwurf für den Parteitag mit aller Bestimmtheit, daß die SDAPRim Namen des „Kommunistischen Manifests" verpflichtet ist, die Kadet-ten gegen die Trudowiki zu unterstützen?

Wir würden uns über eine solche Erklärung von eurer Seite sehrfreuen. Wir haben euch längst dazu aufgefordert, noch vor dem Ver-einigungsparteitag, als wir in unserem Resolutionsentwurf über die Stel-lung zu den bürgerlichen Parteien den Klassengehalt sowohl der Kadet-ten als auch der Sozialrevolutionäre definierten und euch aufforderten,eure eigene Definition zu geben.

Wie habt ihr auf unsere Aufforderung geantwortet?Ihr seid ihr ausgewichen. In eurem Resolutionsentwurf für den Ver-

einigungsparteitag gibt es keinen Versuch, dem Gedanken Ausdruck zugeben, die Kadetten wären die fortschrittliche städtische Demokratie, dieTrudowiki aber (der Bauernbund, die Sozialrevolutionäre u. dgl.) dierückständige ländliche. In eurer Resolution vom Vereinigungsparteitagüber die Stellung zu den bürgerlichen Parteien gibt es lediglich eine durchihre Konfusion kuriose Wiederholung der Amsterdamer Resolution56.

Jetzt haben wir unsere Aufforderung wiederholt. Wir haben vonneuem eine marxistische Definition der Klassengrundlage der verschie-denen bürgerlichen Parteien in Rußland angeregt. Wir haben einen ent-sprechenden Resolutionsentwurf veröffentlicht.

Und wir sind davon überzeugt, daß ihr wiederum unserer Aufforde-rung nicht nachkommen werdet. Wir sind überzeugt, daß ihr nicht wagenwerdet, im Entwurf der offiziellen menschewistischen Resolution zuschreiben, die Kadetten seien die fortschrittliche städtische Bourgeoisie,sie förderten stärker als die Jrudowiki eine Politik der freien Entwick-lung der Produktivkräfte usw. usf.

Die Sache verhält sich folgendermaßen.

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Die Kadetten und die Jrudowiki 183

Die ökonomische Hauptfrage in der gegenwärtigen bürgerlichen Revo-lution in Rußland ist der Kampf der Bauernschaft um den Boden. DieserKampf wird zwangsläufig hervorgerufen durch die verzweifelte Lage derBauernschaft, durch die Fülle von Überresten der Leibeigenschaft im rus-sischen Dorf usw. Dieser Kampf drängt die Bauernmasse sowohl zu einerentschiedenen Demokratisierung der politischen Verhältnisse (denn ohnedemokratischen Aufbau des Staates können die Bauern mit den Guts-besitzern, den Fronherren, nicht fertig werden) als auch zur Liquidie-rung des gutsherrlichen Grundbesitzes.

Eben darum nehmen die Sozialdemokraten die Konfiskation der Guts-besitzerländereien in ihr Programm auf. Nur die extremen Opportuni-sten unter den Sozialdemokraten sympathisieren nicht mit diesem Pro-gramm und treten dafür ein, das Wort „Konfiskation" zu ersetzen durchdas Wort „Enteignung", aber sie fürchten sich, offen mit einem solchenEntwurf aufzutreten.

Die Kadetten sind die Partei der liberalen Bourgeoisie, der liberalenGutsbesitzer, der bürgerlichen Intelligenz. Wenn D. Kolzow Zweifel hathinsichtlich der gutsherrlichen Färbung der Kadetten, dann wollen wirihn auf zwei Tatsachen hinweisen: 1. die Zusammensetzung der kadet-rischen Fraktion in der I. Duma. Schlagen Sie bei Borodin57 nach, Gen.Kolzow, und Sie werden sehen, wieviel Gutsbesitzer es dort gibt,- 2. derAgrarentwurf der Kadetten ist dem Wesen der Sache nach ein Plan deskapitalistischen Qutsbesitzers. Der Loskauf des Bodens, die Verwandlungdes Bauern in einen Knecht, die Zusammensetzung der örtlichen Boden-kommissionen zu gleichen Teilen aus Gutsbesitzern und Bauern miteinem von der Regierung bestellten Vorsitzenden, alles das zeigt ganzklar, daß die Politik der Kadetten in der Agrarfrage eine Politik der Er-haltung des gutsherrlichen Grundbesitzes ist auf dem Wege seiner Säu-berung von gewissen Zügen der Leibeigenschaft, auf dem Wege derRuinierung des Bauern durch die Ablösung und seiner Knechtung durchdie Beamten. Das aber läßt die ökonomische Bedeutung der kadettischenAgrarpolitik auf eine Verzögerung der Entwicklung der Produktivkräftehinauslaufen.

Umgekehrt bedeuten die Konfiskation der Gutsbesitzerländereien undder volle Sieg der bäuerlichen Demokratie das unter dem Kapitalismusmögliche Jdaximum schneller Entwicklung der Produktivkräfte.

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184 IV.I.Lenin

Im Entwurf unserer Resolutionen für den V. Parteitag ist diese Ein-schätzung der ökonomischen Bedeutung der kadettischen Politik direkizum Ausdruck gebracht. Noch einmal: Bringen Sie, bitte, genauso direktIhre „marxistische" Theorie zum Ausdruck, Gen. D. Kolzow!

Ein Vergleich der Agrarprojekte der Kadetten und der Trudowiki so-wie ihrer Einstellung zu den Fragen der politischen Demokratie (das Ver-sammlungsgesetz in der ersten Duma, die Einstellung zu den verschie-denen Typen des Aufbaus örtlicher landwirtschaftlicher Komitees, dasProgramm der Kadettenpartei und der Trudowikigruppe in der I. Dumausw. usf.), alles das zeigt, daß die Kadetten eine Partei von Liberalensind, die danach strebt und danach streben muß, der Revolution ein Endezu setzen durch die Versöhnung der Freiheit mit der alten Staatsmacht(zum Schaden der Freiheit), des Gutsbesitzers mit dem Bauern (zumSchaden des Bauern). Die Trudowikiparteien dagegen (Volkssozialisten,Trudowiki und Sozialrevolutionäre), das ist die städtische und besondersdie ländliche (d. h. bäuerliche) kleinbürgerliche Demokratie, die gezwun-gen ist, die Weiterentwicklung der Revolution anzustreben.

Der Sieg der Revolution in Rußland ist nur dann möglich, wenn dasProletariat die demokratische Bauernschaft hinter sich bringt und sie so-wohl gegen die alte Ordnung als auch gegen die Liberalen führt.

Diese These, die die Qrundlagen der gesamten bolschewistischen Tak-tik bestimmt, wurde durch alle Erfahrungen der ersten Duma und derPeriode nach der Duma glänzend bestätigt. Nur wenn wir unsere Streitig-keiten auf diese Qrundlagen zurückführen, werden sie aufhören, Zänke-reien zu sein, werden sie uns helfen, die Kardinalfragen der bürgerlichenRevolution in Rußland zu lösen.

Darum begrüßen wir die Offenheit und Geradheit des Gen. Kolzowund wiederholen unsere Aufforderung: Mögen die Menschewiki ver-suchen, diese Gedanken über die Kadetten und die Trudowiki in Formzu bringen und klar und unzweideutig auszusprechen.

„Jlabotsdhaja Tdolwa" Tir. i, Nach dem (Text deri. März 1907. .Rabotsdbaja Molwa"Unterschrift:^. £ - n .

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185

Z U DER D E K L A R A T I O N S T O L Y P I N S

Entwurf eines Aufrufs58

Die der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands angehörendenDeputierten der Reichsduma erklären dem Volk folgendes und beantra-gen, die Duma möge sich dieser Erklärung anschließen:

Die Regierung hat durch ihren Premierminister, Herrn Stolypin, denVolksvertretern erklärt, daß sie beabsichtige, dieselbe Politik zu betrei-ben, die sie nach der Auseinanderjagung der I. Duma betrieben hat. DieRegierung ist nicht gesonnen, dem Willen der Volksvertreter Rechnungzu tragen. Sie verlangt, daß die Volksvertreter sich mit ihrer Politik ab-finden, daß sie ihr behilflich sind, diese Regierungspolitik zu entwickeln,zu vervollkommnen und präziser und vollständiger zur Anwendung zubringen.

Was bedeutet die Politik der Regierung?Sie bedeutet die Verfechtung der Interessen eines Häufleins größter

Gutsbesitzer, Höflinge und Würdenträger, die Verteidigung ihres Rechts,das Volk auszubeuten und zu unterdrücken. Weder Land noch Frei-heit! - das ist es, was die Regierung dem Volke durch den Mund Story-pins erklärt.

Die Bauern dürfen von der Regierung nichts anderes erwarten, als daßsie die Gutsbesitzer schützt und einen schonungslos wütenden Kampfführt gegen das Streben der Bauernschaft nach Licht, nach Freiheit, nacheiner Verbesserung ihrer Lage, nach dem Übergang des Bodens in dieHände der Bauern, nach Befreiung von der schweren Knechtschaft, vondem Zuchthausleben, von dem langsamen Hungertod. Die Bauern habenvon der Regierung nichts anderes zu erwarten als die Fortsetzung der-selben Gewalttaten, durch die der Bauernschaft Tausende und Zehntau-

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186 l/V. 1 Lenin

sende der besten Menschen entrissen wurden, die man in die Gefängnissesperrte, in die Verbannung schickte und umbrachte wegen ihres mutigenKampfes gegen die Willkür der Beamten und das Joch der Gutsherren.Die verschwindend kleine Minderheit von Dorfwucherern und Kulakenmit geringfügigen Almosen bestechen, ihnen behilflich sein, das ruinierteDorf restlos auszuplündern als Belohnung für ihre der autokratischenRegierung geleistete Hilfe — das eben ist die Politik, die Stolypin und seinKabinett zu betreiben beabsichtigen.

Die Arbeiter dürfen von dieser Regierung nichts erwarten als Gewalt-taten und Unterdrückung. Den Arbeitern werden in ihrem Kampf fürdie Verbesserung ihrer Lage nach wie vor die Hände gefesselt werden.Arbeiterverbände werden auch weiterhin verboten, Arbeiterzeitungenwie früher verfolgt werden. Die großen Fabrikanten werden bei allenihren Schikanen gegen die Arbeiter nach wie vor Hilfe und Förderungbei der Regierung finden. Nicht Hilfe in ihrer durch die Arbeitslosigkeithervorgerufenen schweren Not, sondern Verstärkung und Verschärfungdieser Not haben die Arbeiter von der Regierung zu erwarten. Die Re-gierungshilfe für die Arbeiterklasse - das sind Gesetze, die in Beratun-gen der Fabrikanten und der Polizeibeamten verfaßt werden. Die Arbei-ter Rußlands haben schon längst diese Politik der Regierungs„fürsorge"für die Arbeiterklasse richtig gewürdigt.

Die Soldaten und Matrosen, die im Krieg gegen Japan, der von derRegierung um der räuberischen Interessen eines Häufleins Höflinge wil-len unternommen wurde, ihr Blut vergossen, die in der Heimat ihr Blutvergossen haben im Kampf für die Erleichterung ihres Lebens, für dieErlösung vom Zuchthausregime der Kaserne, im Kampf dafür, daß auchder Soldat sich als Mensch und nicht als ein Stück Vieh fühlen könne -die Soldaten und Matrosen haben von der Regierung nichts anderes zuerwarten als die früheren Gewalttaten, die alte Unterdrückung, als diegleiche rohe Behandlung und das trockene Stück Brot zur Belohnung fürdie Niederwerfung und Unterjochung ihrer Brüder, der Arbeiter undBauern, die nach Freiheit streben, die nach Boden für die Bauernschaftstreben.

Die Erklärung der Regierung zeigt deutlich, daß die Regierung keinenFrieden, sondern Krieg mit dem Volke will. Diese Erklärung spricht eineSache nicht aus, die dem Volk von den Deputierten, die es in die Duma

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Zu der Deklaration Stolypins 187

entsandt hat und die die Volksinteressen treu vertreten, rückhalttos ge-sagt werden muß: die Regierung spricht nicht aus, daß ihre Erklärungunweigerlich und unvermeidlich den Entschluß bedeutet, die II. Dumaauseinanderzujagen, ohne ihr auch nur die Möglichkeit zu geben, demWillen des Volkes Ausdruck zu verleihen, den Nöten der Bauern, derArbeiter, der Soldaten, den Nöten aller Werktätigen Ausdruck zu geben,alles das zum Ausdruck zu bringen, was auszudrücken die Bevölkerungin ihren Wähleraufträgen den Deputierten aufgetragen hat, als sie sie indie Duma entsandte.

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei hat dem Volke stets gesagt,daß die Duma nicht die Macht hat, ihm Freiheit und Land zu geben. DieDeputierten der Duma, die die Interessen der Arbeiterklasse und derBauernschaft verteidigen, sind bereit, alle ihre Kräfte in den Dienst die-ser Interessen zu stellen, mit allen Kräften dem Volk zu helfen dadurch,daß sie in der Duma die Wahrheit verkünden, daß sie den Millionen-massen des Volkes allüberall in Rußland klarmachen, was für eine schäd-liche, volksfeindliche Politik die Regierung betreibt, welche Ränke siegegen das Volk schmiedet, welche Gesetze und Maßnahmen sie dem Volkverweigert.

Aber die Dumadeputierten und die ganze Duma, die befähigt sind,dem Volke zu helfen, bedeuten gar nichts ohne das Volk. Wenn Rußlandfür kurze Zeit wenigstens kleine Freiheiten erlangte, wenn es, und sei esauch nur für kurze Zeit, eine Volksvertretung erhielt, so wurde das allesnur durch den Kampf des Volkes errungen, nur durch den aufopferungs-vollen Kampf der Arbeiterklasse, der Bauernschaft, der Soldaten undMatrosen um die Freiheit.

Die Regierung hat dem Volke noch einmal den Krieg erklärt. Sie hateinen Weg eingeschlagen, der zur Auseinanderjagung der II. Duma, zurAufhebung des jetzigen Wahlrechts, zur Wiederherstellung der altenOrdnung der alten russischen Selbstherrschaft führt.

Die Deputierten der Arbeiterklasse geben das dem ganzen Volk be-kannt.

Qesdhrieben Ende Tebruär 1907.

Zuerst veröffentlicht i93i TJadb dem Manuskript.im £enin-Sammelband XVI.

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188

DIE DUMAWAHLEN UND DIE TAKTIKDER RUSSISCHEN SOZIALDEMOKRATIE59

Der Aasfall der Dumawahlen kennzeichnet die Physiognomie undStärke der verschiedenen Klassen.

Das Wahlrecht ist in Rußland ein indirektes und ein ungleiches. DieBauern wählen zunächst von zehn Bauernhofbesitzern einen. Die alsoGewählten wählen ihrerseits die bäuerlichen Bevollmächtigten, die Be-vollmächtigten wählen erst bäuerliche Wahlmänner, und die Wahlmännerwählen schließlich in Gemeinschaft mit den Wahlmännern der anderenStände die Abgeordneten der Duma. Entsprechend ist die Wahlordnungfür die Gutsbesitzerkurie, die städtische und die Arbeiterkurie, wobeidie Zahl der Wahlmänner, die auf jede einzelne von diesen Kurien ent-fallen, durch das Gesetz im Interesse und zugunsten der höheren Klas-sen, der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, festgesetzt ist. Dazu kommtnoch, daß nicht nur die revolutionären, sondern selbst die bloß opposi-_tionellen Parteien den barbarischsten und ungesetzlichsten polizeilichenVerfolgungen ausgesetzt sind, ferner der vollständige Mangel jeder Preß-und Versammlungsfreiheit, die willkürlichsten Haft- und Ausweisungs-befehle sowie die in der größeren Hälfte von Rußland wirkenden Stand-gerichte und der mit ihnen verbundene Belagerungszustand.

Wie war es unter diesen Umständen dennoch möglich, daß die neueDuma weit oppositioneller und revolutionärer werden konnte als dieerste?

Um die Antwort auf diese Frage zu finden, wollen wir zunächst-dieDaten über die Verteilung der Wahlmänner nach den einzelnen Parteienin Verbindung mit der parteipolitischen Zusammensetzung der zweitenDuma betrachten nach den Angaben des Organs der Kadetten, der

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Die T>v.mawab\en und die Jaktik der russischen Sozialdemokratie 1S9

„Retsch", die sich auf ungefähr neun Zehntel aller Wahlmänner desEuropäischen Rußlands (mit Ausnahme von Polen, dem Kaukasus, Sibi-rien usw.) erstrecken. Wir nehmen fünf politische Hauptgruppen an -da detailliertere Angaben über die politische Stellung der Wahlmännerfehlen. Die erste Gruppe bildet die TKedhie. Hierher gehören die so-genannten „Schwarzhunderter" (die Monarchisten, der Verband des rus-sischen Volkes usw.), die für die Rückkehr zum alten Absolutismus inseiner reinen Form eintreten, einen rücksichtslosen militärischen Terro-rismus gegen die Revolutionäre befürworten und Meuchelmorde - wieden des Dumadeputierten Herzenstein - , „Pogrome" usw. inszenieren.Ferner gehören hierher die sogenannten „Oktobrislen" (so nennt sich inRußland die Partei der Großindustriellen), die sich sogleich nach demZarenmanifest vom 17. (30.) Oktober 1905 der Konterrevolution an-schlössen und heute die Regierung in jeder Weise unterstützen. Bei denWahlen schließt diese Partei nicht selten Bündnisse mit den Monarchi-sten ab.

Eine zweite Gruppe bilden die „Parteilosen". Weiter unten werdenwir sehen, daß viele Wahlmänner und Abgeordnete, besonders die ausder Bauernschaft, sich hinter diesem Namen verstecken, um Verfolgun-gen wegen ihrer revolutionären Gesinnung zu entgehen.

Eine dritte Gruppe bilden die liberalen. An der Spitze der liberalenParteien steht die Konstitutionell-Demokratische Partei (die sogenannte,,Kadetten"partei) oder die Partei der „Volksfreiheit". Dieses ist diePartei der Mitte in der russischen Revolution; sie steht zwischen denGutsbesitzern und den Bauern. Die Bourgeoisie versucht beide Klassenzu versöhnen. Die Bewertung der liberalen Bourgeoispartei der Kadettenbildet den wichtigsten Punkt des Meinungsstreits zwischen den beidenRichtungen innerhalb der russischen Sozialdemokratie.

In der Duma stehen, nicht aus politischer Überzeugung, sondern ausOpportunitätsrücksichten, auf Seite der russischen Liberalen auch die pol-nischen „Schwarzhunderter", d. h. die Partei der „Nationaldemokra-ten", die daheim in Polen mit allen Mitteln, einschließlich der Denunzia-tion, der Aussperrungen und des Meuchelmordes, gegen das revolutio-näre Proletariat ankämpft.

Die vierte Gruppe bilden die „Progressisten". Dies ist gleichfalls nichtder Name für eine Partei, sondern ebenso wie „Parteilose" eine nichts-

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190 W. 3. Lenin

sagende und konventionelle Bezeichnung, die in erster Linie den Zweckhat, als Deckung gegen polizeiliche Verfolgungen zu dienen.

Die fünfte Gruppe endlich bildet die Linke. Hierher gehören die Par-teien der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre, die Partei der„Volkssozialisten" (die etwa den französischen Radikalsozialisten ent-sprechen) und die sogenannten „7rudowiki" - eine noch recht formloseOrganisation der bäuerlichen Demokratie.* Die Trudowiki, die Volks-sozialisten und die Sozialrevolutionäre sind ihrem Klassencharakter nachkleinbürgerliche und kleinbäuerliche Demokraten. Bisweilen suchten sichin der Wahlkampagne auch Wahlmänner der einzelnen revolutionärenGruppen mit der allgemeinen Bezeichnung „Linke" zu decken, um vorVerfolgungen seitens der Polizei sicher zu sein.

Die Zahlen der „Retsch" zeigen sofort die Richtigkeit unserer Fest-stellungen betreffend die soziale Zusammensetzung der Parteien.

/. Zahl der Wahlmänner

P a r t e i e n

RechteParteilose . . .Liberale . . . .Progressisten .Linke

Insgesamt

Die Si Qouvtrnemenis des Europäisdien Rußlands

Gutsbesit-zerkurie

Wah

lmän

ner

122481

15418582

1726

,

70,94,78,9

10,74,8

100,0

StädtischeKurie

Wah

lmän

ner

18227

504280311

1304

13,92,1

38,721,523,8

100,0

Bauern-kurie

Wah

lmän

ner

764248103561582

2258

33,811,04,6

24,925,7

100,0

Arbeiter-kurie

Wah

lmän

ner

2

3140

145

1,4

2,196,5

100,0

Insgesamt

Wah

lmän

ner

2170358761

10291115

5433

40,06,6

14,018,920,5

100,0

Großstädte

Wah

lmän

ner

346

94055

327

1668

20,7

56,43,3

19,6

100,0

* In der deutschen Presse wird diese Partei oft als „Arbeitsgruppe" be-zeichnet, welche Benennung auf eine Verwandtschaft mit der Arbeiterklassehinzudeuten scheint. Tatsächlich besteht in Rußland eine solche Verwandt-schaft nicht einmal sprachlich. Es ist daher besser, das Wort „Trudowiki" un-übersetzt zu lassen oder es durch kleinbürgerliche, namentlich kleinbäuerlicheDemokratie zu umschreiben.

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Die Dumawahkn und die Taktik der russisdhen Sozialdemokratie 191

//. Zahl der T>umaabgeordneten

P a r t e i e n

KechteParteilose . . .Liberale . . . .Progressisten .Linke

insgesamt

)ie 51 Gouvernementsdes Europäischen Rußlands

Von denGouver-nements

tierte

a

P

R5188220

126

331

Vo

25,75,4

24,86,0

38,1

100,0

Von derBauern-kurie

tierte

c,

Q

43

101026

53

7,55,7

18,918,949,0

100,0

Von denGroß-

städten

tier

teP

—17—

5

27

/o

18 5

63,0—

18,5

100,0

Polen

tierte

P

1

3231

37

/o

2,7

86,58,12,7

100,0

Kaukasus

tierte

o,

P

i

92

15

28

/o

7 1

32,27,1

53,6

100,0

undöstlidbeGouver-nements

tierte

=

p

i6

—7

14

h

7,142,9—50,0

100,0

Im ganzen

iert

e

f?,

"3722

15635

180

490

^

19 84,5

31,87,1

36,8

100,0

Wie aus den beigefügten Tabellen ersichtlich, bilden die Qroßstädteeine besondere Gruppe, und zwar wählen Petersburg 6, Moskau 4, War-schau und Taschkent je 2 und-die übrigen Städte je 1 Abgeordneten, zu-sammen sind es von 17 Städten 27 Deputierte. Die übrigen Dumamit-glieder werden in den Wahlmännerversammlungen der einzelnen Gou-vernements von allen vier Kurien gemeinsam gewählt; außerdem aberwählen in jedem Gouvernement die Wahlmänner der Bauern je 1 Abge-ordneten der Bauernkurie. So giBt es also drei Gruppen von Abgeord-neten: Deputierte der Gouvernementsversammlungen, der Bauernkurieund der Großstädte.

Einige Dutzend Wahlmänner des progressiven oder linken Blockskonnten nur auf Grund von Schätzungen auf die einzelnen Parteigruppenverteilt werden; insgesamt bilden diese Zahlen augenblicklich das voll-ständigste und zuverlässigste Material zum Verständnis der Klassen-struktur der verschiedenen Parteien Rußlands.

Die Arbeiterkurie wählt selbst in der Provinz, und erst recht in denGroßstädten, fast ausnahmslos Linke, und zwar 96,5 Prozent. Von 140linken Wahlmännern der Arbeiterkurie sind 84 Sozialdemokraten,52 Linke ohne nähere Bezeichnung (zum größten Teil gleichfalls Sozial-demokraten) und 4 Sozialrevolutionäre. Somit ist die russische Sozial-demokratie trotz aller verleumderischen Behauptungen der Liberalen,

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192 W. 7. Lenin

welche sie zu einer Partei der revolutionären Intelligenz stempeln möch-ten, die wahrhafte Arbeiterpartei. In Petersburg-Stadt und -Land wur-den von den 24 Wahlmännern der Arbeiterkurie 20 Sozialdemokratenund 4 Sozialrevolutionäre gewählt. Moskau-Stadt und -Land wählte nurSozialdemokraten, nämlich sämtliche 35, usw.

In der Bauernkurie fällt sogleich ein merkwürdiges Mißverhältnis auf:von den bäuerlichen Wahlmännern gehören 33,8 Prozent der Rechtenan, während unter den Dumaakgeordneten, die von denselben Wahl-männern der Bauernkurie gewählt wurden, nur 7,5 Prozent Rechte sind.Es ist klar, daß sich die Wahlmänner der Bauern nur Rechte nannten,weil sie den Verfolgungen der Regierung entgehen wollten. Die russischePresse hat diese Erscheinung in mehr als hundert Fällen konstatierenkönnen, und die Wahlstatistik hat sie nunmehr endgültig bestätigt.

über die Bauernkurie darf man nicht danach urteilen, wie sich die Wahl -männer nennen, sondern ausschließlich danach, zu welcher Partei sichihre Abgeordneten bekennen. Wir sehen, daß die Bauernkurie die amweitesten links stehende Qruppe nädost der Arbeiterkurie bildet. DieBauern wählten nur 7,5 Prozent Rechte und 67,95 Prozent soldhe, dielinks von den Liberalen stehen! Der Bauer ist in Rußland zum weitausgrößten Teile revolutionär gesinnt, dies ist die Lehre der zweiten Duma-wahl. Das ist eine Tatsache von gewaltiger Bedeutung, denn sie beweist,daß die Revolution in Rußland bei weitem noch nicht ihr Ende erreichthat. Solange die Ansprüche des Bauern nicht befriedigt sind, solange erwenigstens nicht beruhigt ist, muß die Revolution ihren Fortgang nehmen.Aber freilich hat die revolutionäre Stimmung des Bauern nichts mit der derSozialdemokratie gemein. Der Bauer ist ein bürgerlich-demokratischer Re-volutionär und kein Sozialist. Er kämpft nicht für die Überführung allerProduktionsmittel in die Hände der Gesellschaft, sondern für die Ent-eignung des Grund und Bodens der Gutsbesitzer durch die Bauernschaft.

Einen typischen parteipolitischen Ausdruck findet diese bürgerlich-demokratische revolutionäre Gesinnung des Bauern in den Parteien derTrudowiki, der Sozialrevolutionäre und der Volkssozialisten. Von den53 Dumaabgeordneten der Bauernkurie gehören 24 diesen bäuerlichenDemokraten an (10 Linke, 10 Trudowiki, 4 Sozialrevolutionäre), undes ist ferner auch ganz sicher, daß von den 10 „Progressisten" und 3„Parteilosen", die von den Bauern gewählt wurden, die Mehrheit zu

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T>ie Dumawahien und die 7aktik der russischen Sozialdemokratie 193

den Trudowiki gehört. Wir sagen: ganz sicher. Denn nach der erstenDuma wurden die Trudowiki unablässig verfolgt, und die Bauern sind vor-sichtig genug, sich nicht Trudowiki zu nennen, obwohl sie tatsächlich in derDuma zusammen mit den Trudowiki stimmen. So war zum Beispiel die be-deutendste Gesetzesvorlage derTrudowiki in der ersten Duma das Projekteiner Agrarreform, welches als das „Projekt der 104" bekanntgewordenist (den wesentlichen Inhalt dieser Vorlage bildet die sofortige Nationali-sierung des Grund und Bodens der Großgrundbesitzer und die künftigeder bäuerlichen Anteilländereien sowie ferner ein Ausgleich der Bodenver-teilung). Dieses Projekt ist ein hervorragendes Erzeugnis der politischenDenkweise der Bauernmasse in einer der wichtigsten Fragen des bäuer-lichen Lebens. Dieses Projekt war nun von 70 „Trudowiki" und außerdemvon 25 Bauern unterschrieben, die sich „Parteilose" nannten oder auf dieFrage nach ihrer Parteizugehörigkeit überhaupt keine Antwort gaben!

Somit ist die „Trudowiki "gruppe in Rußland ohne Zweifel eine Par-tei der ländlichen, bäuerlichen Demokratie. Es sind revolutionäre Par-teien, jedoch nicht im sozialistischen, sondern im bürgerlich-demokra-tischen Sinne dieses Wortes.

In der städtischen Kurie muß zwischen großen und kleinen Städtenunterschieden werden. In den kleinen Städten sind die politischen Gegen-sätze zwischen den einzelnen Klassen nicht so scharf ausgeprägt, da gibtes nicht die großen Massen des Proletariats (die eine besondere Ärbeiter-kurie bilden), hier sind die Rechten schwächer. In den Großstädten feh-len parteilose Wahlmänner ganz, hier ist die Zahl der nicht Farbe beken-nenden „Progressisten" sehr gering, dafür sind die Rechten hier stärkerund die Linken schwächer. Der Grund ist einfach: Das Proletariat derGroßstädte bildet eine besondere Arbeiterkurie, die in unserer Tabelleder Wahlmänner nicht mit verzeichnet ist.* Das Kleinbürgertum ist hier

* Für diese fehlen genaue Angaben. Deswegen sind die Zahlen für dieWahlmänner der Arbeiterkurie in der Tabelle fortgelassen. Wir haben nurgenauere Kenntnis von 37 Arbeiterwahlmännern. Diese gehören ausnahmsloszur Linken. Die Gesamtzahl aller Arbeiterwahlmänner im Europäischen Ruß-land beträgt nach dem Gesetz 208. Hiervon haben wir genauere Daten über145, was zusammen mit den letzthin erwähnten 37 Wählmännern der groß-städtischen Arbeiterkurie 182, d. h. neun Zehntel sämtlicher Arbeiterwahl-männer ausmacht.

13 Lenin Werke, Bd. 12

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194 "W J.Lenin

weniger zahlreich als in den kleinen Städten. Die Großindustrie über-wiegt - sie wird teils von den Parteien der Rechten, teils von den Libe-ralen vertreten.

Die Daten über die Zusammensetzung der Wahlmänner beweisen mitEvidenz, daß der Grundstock der liberalen Parteien (hauptsächlich alsoder Kadetten) von der städtischen und vor allem von der großindustriel-len Bourgeoisie gebildet wird. Die Rechtsschwenkung dieser Bourgeoisie,die sich durch die Selbständigkeit und Kraft des Proletariats erschrecktfühlt, wird besonders deutlich beim Vergleich der großen und der klei-nen Städte. In den letzteren ist die städtische (d. h. die bürgerliche) Kurieweit stärker mit linken Elementen durchsetzt.

Mit dieser Frage stehen die grundlegenden Meinungsstreitigkeiten derrussischen Sozialdemokraten in engstem Zusammenhang. Der eine Flügel(die sogenannte „Minderheit", die Menschewiki) hält die Kadetten unddie Liberalen für die fortschrittliche städtische Großbourgeoisie, imGegensatz zum rückständigen ländlichen Kleinbürgertum (zu den Trudo-wiki). Hieraus folgt, daß die Bourgeoisie als die treibende Kraft der Revo-lution angesehen und eine Politik der Unterstützung der Kadetten pro-klamiert wird. Der andere Flügel (die sogenannte „Mehrheit", die Bol-schewiki) hält die Liberalen für Vertreter der Großindustrie, die ausFurcht vor, dem Proletariat nach einer möglidist raschen Beendigung derRevolution streben und auf Kompromisse mit der Reaktion ausgehen. DieTrudowiki hält dieser Flügel für die revolutionäre kleinbürgerliche Demo-kratie und ist der Ansicht, daß diese geneigt ist, eine radikale Stellung inder für die Bauernschaft so überaus wichtigen Frage des Bodenbesitzes,d. h. der Konfiskation des Großgrundbesitzes, einzunehmen. Hieraus er-gibt sich die Taktik der „Mehrheit". Sie lehnt eine Unterstützung derverräterischen liberalen Bourgeoisie, d. h. der Kadetten, ab und sucht dasdemokratische Kleinbürgertum dem Einfluß der Liberalen zu entziehen;sie will den Bauer und den städtischen Kleinbürger von den Liberalenlosreißen und sie hinter dem Proletariat als der Avantgarde in den revo-lutionären Kampf führen. Die russische Revolution ist ihrem gesellschaft-lich-wirtschaftlichen Gehalt nach eine bürgerliche, aber ihre treibendeKraft ist dennoch nicht die liberale Bourgeoisie, sondern das Proletariatund die demokratische Bauernschaft. Der Sieg der Revolution ist nur

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Die Tlumawahlen und die Taktik der russisdhen Sozialdemokratie 195

möglich durch die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariatsund der Bauernschaft.

Wenn wir uns über die Festigkeit des Bundes zwischen den Liberalenund dem städtischen Kleinbürgertum orientieren wollen, so hat für unsein besonderes Interesse die Statistik der Zahl der Stimmen, die in denGroßstädten für die verbundenen Parteien abgegeben wurden. Nach denAngaben des Statistikers Smirnow fielen in 22 Großstädten auf dieMonarchisten 17 000, auf die Oktobristen 34 500, auf die Kadetten74 000 und auf den Linksblock 41 000 Stimmen.*

Während der Wahlen zur zweiten Duma entbrannte ein heißer Kampfzwischen den beiden Flügeln der Sozialdemokratie, der Minderheit undder Mehrheit, wegen der Frage, ob man einen Block mit den Kadettenoder einen solchen gegen die Kadetten mit den Trudowiki bilden solle.In Moskau sind die Anhänger der Mehrheit stärker. Dort kam der Links-block zustande, und die Minderheit fügte sich. In Petersburg war dieMehrheit ebenfalls stärker, und auch hier kam während der Wahlen derLinksblock zustande, aber die Minderheit fügte sich nicht und trat ausder Organisation aus. Es entstand eine Spaltung, die auch heute nochfortbesteht. Die Minderheit berief sich auf die Gefahr, die von denSchwarzhundertern drohe, d. h., sie befürchtete einen Wahlsieg der„Schwarzen" wegen der Spaltung der linken und der liberalen Stimmen.Die Mehrheit erklärte diese Gefahr für eine Erfindung der Liberalen,die nur den Zweck habe, die kleinbürgerliche und die proletarische Demo-kratie unter die Fittiche des bürgerlichen Liberalismus zu ziehen. DieZahlen beweisen, daß die Summe der Stimmen der Linken und der Ka-detten die vereinigten Stimmen der Oktobristen und der Monarchistenum mehr als das Doppelte übertreffen.** Eine Spaltung der Stimmen

* Unter dem „Linksblock" hat man das Wahlbündnis der Sozialdemokratenmit den Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie zu verstehen (in ersterLinie mit den „Trudowiki", wenn wir diese Bezeichnung im weitesten Sinneverstehen und wenn wir dem linken Flügel dieser Gruppe die Sozialrevolu-tionäre hinzurechnen). Dieses Bündnis richtete sich sowohl gegen die Rechteals auch gegen den Liberalismus.** Nach den Berechnungen desselben Herrn Smirnow erhielt in 16 Städten,

wo 72 000 "Wähler zur Wahl erschienen und nicht 4, sondern 2 (oder 3) Listenmiteinander kämpften, die Opposition 58,7 Prozent und die Rechte 21 Prozent.

13*

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196 -W.1 Lenin

der Opposition konnte also unmöglich den Rechten zum Siege ver-helfen.

Diese Zahlen, die mehr als 200 000 städtische Wähler umfassen, sowiedie auf die Zusammensetzung der gesamten zweiten Duma bezüglichenDaten beweisen, daß der wirkliche politische Sinn der Bündnisse vonSozialdemokraten und Kadetten gar nicht in der Abwehr der „schwar-zen" Gefahr besteht (ist doch diese Ansicht, auch wenn sie noch so ehr-lich gemeint ist, durchaus falsch), sondern in der Unterbindung einer selb-ständigen Politik der Arbeiterklasse und in ihrer Unterordnung unterdie Hegemonie des Liberalismus.

Der Kern des Meinungsstreits zwischen den beiden Flügeln der rus-sischen Sozialdemokratie liegt in der Entscheidung, ob man die Hege-monie der Liberalen anerkennen oder die Hegemonie der Arbeiterklassein der bürgerlichen Revolution anstreben solle.

Der Umstand, daß die Linken bei dem ersten Zusammengehen derSozialdemokraten und der Trudowiki gegen die Kadetten in 22 Städtenunter den unerhörten Schwierigkeiten, die der Agitation entgegenstanden,41 000 Stimmen eroberten, d.h. also die Oktobristen überholten undmehr als halb soviel Stimmen erhielten wie die Liberalen, ist der „Mehr-heit" ein Beweis dafür, daß das demokratische Kleinbürgertum in denStädten den Kadetten mehr unter dem Druck der Tradition und der libe-ralen Verführung folgt als wegen der Feindschaft dieser Kreise gegendie Revolution.

Gehen wir jetzt zu der letzten Kurie, zu der der ländlichen Grund-besitzer, über. Hier finden wir ein deutliches und starkes Oberwiegender Rechten: 70,9 Prozent der Wahlmänner sind Rechte. Der Abscheudes Großgrundbesitzers vor der Revolution und seine Schwenkung zurKonterrevolution unter dem Eindruck, den der Kampf des Bauern umden Boden auf ihn macht, ist eine unvermeidliche Notwendigkeit.

Wenn wir nun die Zusammensetzung der Wahlmännergruppen in denWahlversammlungen der Gouvernements und die Zusammensetzung der

: Auch hier ist die erste. Zahl mehr als das Doppelte der zweiten. Auch hieralso war die von den Schwarzhundertern drohende Gefahr nur ein trügerischesSchreckbild der Liberalen, die so viel von der Gefahr von rechts redeten, weilsie-in Wirklichkeit die „Qefahr von links" fürchteten (ein Ausdruck, den wirdem Kadettenorgan „Retsch" entnehmen).

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Die THimawahlen und die 7aktik der russischen Sozialdemokratie 197

Duma in bezug auf die politische Stellung der Abgeordneten, die auf die-sen Wahlversammlungen gewählt wurden, miteinander vergleichen, sobemerken wir, daß „Progressist" zum großen Teil nur ein Name ist,hinter dem sich Linke verstecken. Unter den Wahlmännern befinden sich20,5 Prozent Linke und 18,9 Prozent Progressisten. Von den Deputiertengehören 38 Prozent zur Linken! Die Rechten haben nur 25,7 Prozentder Abgeordneten und zählten doch 40 Prozent Wahlmänner; aber wennman die Wahlmänner der Bauern von den letzteren abzieht (wir habenbewiesen, daß nur die Agenten der russischen Regierung, die die Wahl-nachrichten fälschten, sie zur Rechten zählen konnten), so erhalten wir2170 - 764 = 1406 rechtsstehende Wahlmänner, also 25,8 Prozent.Beide Resultate stimmen also vollkommen untereinander überein. Dieliberalen Wahlmänner verstecken sich offenbar teils hinter dem Namender „Parteilosen", teils hinter dem der „Progressisten" und die derBauern sogar hinter dem der „Rechten".

Ein Vergleich mit den nichtrussischen Teilen Rußlands, mit Polen unddem Kaukasus, ist ein neuer Beweis, daß die eigentliche Triebkraft derbürgerlichen Revolution in Rußland nicht die Bourgeoisie ist. In Polengibt es keine revolutionäre Bauernbewegung, keine städtische bürgerlicheOpposition, fast keinen Liberalismus. Dem revolutionären Proletariatsteht ein reaktionärer Block der Groß- und Kleinbourgeoisie gegenüber.Dort siegten deshalb die „Nationaldemokraten". Im Kaukasus ist dierevolutionäre Bauernbewegung sehr stark — dort sind die Liberalen fastin gleicher Stärke vertreten wie in Rußland, die Linke aber ist hier diestärkste Partei: der Prozentsatz der Linken in der Duma (53,6 Prozent)ist ungefähr der gleiche wie der der aus der Bauernkurie hervorgehendenDumaabgeordneten (49 Prozent). Nur die Arbeiter und die revolutionär-demokratische Bauernschaft können die bürgerliche Revolution vollenden.In dem fortgeschrittenen, kapitalistisch hochentwickelten Polen gibt eskeine Agrarfrage im Sinne Rußlands, da gibt es auch keinen revolutio-nären Kampf der Bauernschaft um die Konfiskation des Grund undBodens der Großgrundbesitzer. Daher hat die Revolution in Polen keinenstarken Stützpunkt außer im Proletariat. Die Klassengegensätze nähernsich dort dem westeuropäischen Typus. Der umgekehrten Erscheinungbegegnen wir dagegen im Kaukasus.

Hier sei noch bemerkt, daß die 180 Linken sich nach der Zeitung

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198 IV.I.Lenin

„Retsch" in folgender Weise auf die einzelnen Parteien verteilen:68 Linke, 9 Volkssozialisten (der rechte Flügel der Trudowiki), 28 Sozial-revolutionäre und 46 Sozialdemokraten . . . Tatsächlich zählen die letz-teren schon jetzt 65. Die Liberalen sind bemüht, die Zahl der Sozial-demokraten möglichst niedrig anzusetzen.

Ihrer Klassenstruktur nach müssen diese Gruppen auf zwei Schichtenzurückgeführt werden: auf das demokratische Kleinbürgertum, das städ-tische und besonders das ländliche, entfallen 134 Abgeordnete, auf dasProletariat 46 Abgeordnete.

Im ganzen sehen wir somit in Rußland die Klassenschichtung der ver-schiedenen Parteien mit außergewöhnlicher Klarheit hervortreten. DieGroßgrandbesitzer gehören zu den Schwarzhundertern, den Monarchistenund den Oktobristen. Die Großindustrie ist durch die Oktobristen unddie Liberalen vertreten. Nach den landwirtschaftlichen Methoden zer-fallen die Grundbesitzer in Rußland in solche, die ihr Land noch nachhalbfeudalen Methoden bewirtschaften, indem sie es mit dem Vieh undmit dem Inventar des Bauern bearbeiten lassen (der Bauer ist hier nurder Schuldsklave des Gutsherrn), und in solche, die bereits modernekapitalistische Wirtschaftsform eingeführt haben. Unter den letzterengibt es nicht wenige Liberale. Das städtische Kleinbürgertum ist durchLiberale und Trudowiki vertreten, das bäuerliche Kleinbürgertum durchTrudowiki und besonders durch deren linken Flügel: die Sozialrevolu-tionäre. Das Proletariat hat seine Vertretung in der Sozialdemokratie.Bei der unverkennbaren Rückständigkeit der kapitalistischen EntwicklungRußlands kann dieses plastische Hervortreten der Parteigruppierungennach der Klassenstruktur der Gesellschaft nur durch die stürmische revo-lutionäre Stimmung der Epoche erklärt werden, wo sich die Parteien weit-aus schneller bilden und wo das Selbstbewußtsein der Klassen unendlichviel schneller wächst und zur Ausprägung kommt als in Epochen des Still-stands oder des sogenannten friedlichen Fortschritts.

Veröffentlicht am 27. März 1907 Nadb dem 7ext derin der Zeitschrift „Die Neue Zeit", „"Neuen Zeit".i906/07, Bd. 1, 7ir. 26.Unterschrift: A. Linitsch.

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199

DIE PLATTFORM DERREVOLUTIONÄREN SOZIALDEMOKRATIE

I

In einigen Wochen wird bekanntlich der Parteitag zusammentreten.Wir müssen aufs tatkräftigste an seine Vorbereitung und an die Erörte-rung der grundlegenden taktischen Fragen gehen, die die Partei auf die-sem Parteitag lösen muß.

Das ZK unserer Partei hat bereits eine Tagesordnung für den Partei-tag aufgestellt, die in den Zeitungen veröffentlicht ist. Zentralpunkte die-ser Tagesordnung sind: 1. „Die nächsten politischen Aufgaben" und1. „Die Reichsduma". Was den zweiten Punkt anbelangt, so ist es augen-scheinlich und unbestreitbar, daß er auf der Tagesordnung stellen muß.Der erste Punkt ist unseres Erachtens ebenfalls notwendig, aber seine For-mulierung oder, richtiger gesagt, sein Inhalt sollte etwas abgeändert werden.

Um der gesamten Partei die Möglichkeit zu geben, unverzüglich dieAufgaben des Parteitags und die taktischen Fragen, die er zu lösen habenwird, zu erörtern, hat eine Beratung von Vertretern beider hauptstäd-tischer Organisationen unserer Partei und des Redaktionskollegiums des„Proletari" am Vorabend der Einberufung der zweiten Duma die unten-stehenden Resolutionsentwürfe ausgearbeitet*. Wir beabsichtigen, kurzzu skizzieren, wie die Beratung ihre Aufgaben auffaßte, warum sie dieResolutionsentwürfe gerade zu den und den Fragen in den Vordergrundrückte und weldhe wichtigsten Qedanken sie in diesen Resolutionen nie-dergelegt hat.

Erste Frage: „Die nächsten politischen Aufgaben".

* Siehe den vorliegenden Band, S. 125-136. Die Red.

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200 19.1 Centn

Unseres Erachtens darf man in der Epoche, die wir durchleben, dieFrage vor dem Parteitag der SDAPR nicht so stellen. Es ist eine revolu-tionäre Epoche. Darüber sind sich alle Sozialdemokraten ohne Unter-schied der Fraktionen einig. Man braucht nur einen Blick auf den grund-sätzlichen Teil der Resolution zu werfen, die die Menschewiki und dieBundisten auf der Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR vom No-vember 1906 angenommen haben, um sich von der Richtigkeit unsererThese zu überzeugen.

In einer revolutionären Epoche aber darf man sich nicht auf die Bestim-mung der nächsten politischen Aufgaben beschränken, und zwar auszwei Gründen nicht. Erstens treten in solchen Zeiten die Hauptaufgabender sozialdemokratischen Bewegung in den Vordergrund, verlangen einegründliche Untersuchung in viel höherem Maße, als es in Zeiten der„friedlichen" und konstitutionellen Kleinarbeit der Fall ist. Zweitens kannman in einer solchen Epoche nicht die nächsten politischen Aufgaben be-stimmen, denn die Revolution zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daßjähe Umschwünge, rasche Wendungen, unerwartete Situationen, heftigeExplosionen möglich und unvermeidlich sind. Man braucht nur auf dieMöglichkeit und Wahrscheinlichkeit der Auseinanderjagung der linkenDuma und der Änderung des Wahlgesetzes im Geiste der Schwarzhun-derter hinzuweisen, um das zu begreifen.

Für die Österreicher beispielsweise war es eine leichte Sache, ihre„nächste" Aufgabe - Kampf für das allgemeine Wahlrecht - zu bestim-men, als alle Anzeichen darauf hindeuteten, daß die Epoche einer mehroder minder friedlichen, folgerichtigen und kontinuierlichen konstitutio-nellen Entwicklung fortdauert. Wie aber ist es bei uns? Sprechen nichtsogar die Menschewiki in der obenerwähnten Resolution davon, daß einfriedlicher Weg unmöglich ist, daß es notwendig ist, nicht Fürsprecher,sondern Vorkämpfer in die Duma zu wählen? Erkennen sie etwa denKampf für die konstituierende Versammlung nicht an? Man stelle sieheinmal ein europäisches Land vor, in dem die konstitutionelle Ordnungbesteht und sich für eine gewisse Zeit konsolidiert hat und in dem dieRede sein könnte von der Losung „Konstituierende Versammlung", indem der „Fürsprecher" im Parlament dem „Vorkämpfer" gegenüber-gestellt würde - und man wird begreifen, daß man unter solchen Bedin-gungen die „nächsten" Aufgaben nicht so bestimmen kann, wie man das

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Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie 201

jetzt im Westen tut. Je .erfolgreicher die Dumaarbeit der Sozialdemo-kratie und der revolutionären bürgerlichen Demokratie sein wird, um sowahrscheinlicher wird es zu einem Ausbruch des Kampfes außerhalb derDuma kommen, der uns vor ganz besondere nächste Aufgaben stellenwird. .

Nein. Wir müssen auf dem Parteitag nicht so sehr die nächsten alsvielmehr die wichtigsten Aufgaben des Proletariats im gegenwärtigenAbschnitt der bürgerlichen Revolution erörtern. Sonst geraten wir indie Lage von Leuten, die nicht wissen, was zu tun ist, tmd bei jeder Wen-dung der Ereignisse den Kopf verlieren (wie es bereits mehr als einmalim Jahre 1906 der Fall war). Die „nächsten" Aufgaben können wir ohne-hin nicht bestimmen - wie ja auch niemand voraussagen kann, ob sichdie zweite Duma und das Wahlgesetz vom 11. Dezember 1905 eineWoche, einen Monat oder ein halbes Jahr halten werden. Eine von dergesamten Partei erarbeitete Stellungnahme zu den Hauptaufgaben dessozialdemokratischen Proletariats in unserer Revolution aber gibt es nochnicht. Und ohne eine solche Herausarbeitung ist eine zielbewußte, prin-zipientreue Politik unmöglich - alles Jagen nach einer Bestimmung der„nächsten" Aufgaben muß erfolglos verlaufen.

Der Vereinigungsparteitag hat keine Resolution zur Beurteilung derLage und zu den Aufgaben des Proletariats in der Revolution angenom-men, obgleich beide Strömungen in der Sozialdemokratischen Partei ent-sprechende Entwürfe eingereicht hatten, obgleich dieBeurteilung der Lageauf der Tagesordnung stand und diese Frage auf dem Parteitag erörtertwurde. Also hielten alle diese Fragen für wichtig, di,e Mehrheit des Stock-holmer Parteitags aber war der Ansicht, daß sie im damaligen Zeitpunktnoch nicht genügend geklärt waren. Es ist notwendig, diese Fragen vonneuem zu untersuchen."Wir müssen prüfen, erstens: wie die gegenwär-tige revolutionäre Etappe nach den Grundtendenzen der sozialökonomi-schen und politischen Evolution zu bewerten ist; zweitens: wie sich dieKlassen (und Parteien) im heutigen Rußland politisch gruppieren; drit-tens: welches in einem solchen Zeitpunkt, angesichts einer soldben poli-tischen Gruppierung der gesellschaftlichen Kräfte die Hauptaufgaben derSozialdemokratischen Arbeiterpartei sind.

Wir verschließen natürlich nicht die Augen vor der Tatsache, daß ge-wisse Menschewiki (und vielleicht auch das ZK) unter der Frage der

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202 TV. 1 Lenin

nächsten politischen Aufgaben ganz einfach die Unterstützung der For-derung eines Duma-, d. h. eines Kadettenkabinetts verstanden haben.

Plechanow hat schon mit der ihm eigenen - und natürlich höchstlobenswerten - Vehemenz, mit der er die Menschewiki nach rechtsdrängt, in der „Russkaja Shisn" (vom 23. Februar) für diese Forderungeine Lanze gebrochen.

Wir glauben, daß das eine wichtige, aber untergeordnete Frage ist unddaß Marxisten sie nicht isoliert behandeln können, d. h. ohne Beurteilungder gegenwärtigen Etappe unserer Revolution, ohne Beurteilung des Klas-sengepräges der Kadettenpartei und der ganzen politischen Rolle, die siegegenwärtig spielt. Diese Frage auf einen reinen Politizismus, auf das„Prinzip" der Verantwortlichkeit des Kabinetts vor dem Parlament in derkonstitutionellen Ordnung überhaupt zu reduzieren hieße den Stand-punkt des Klassenkampfes restlos aufgeben und zum Standpunkt einesLiberalen übergehen.

Aus diesem Grande hat unsere Beratung die Frage des Kadettenkabi-netts mit der Einschätzung der gegenwärtigen Etappe der Revolution ver-knüpft.

In der entsprechenden Resolution beginnen wir, in der Begründung,vor allem mit der Frage, die alle Marxisten als Grundfrage anerkennen,mit der Frage der Wirtschaftskrise und der ökonomischen Lage der Mas-sen. Die Beratung hat die Formulierung angenommen, daß die Krise„keine Anzeichen einer baldigen Oberwindung erkennen läßt". DieseFormel ist vielleicht allzu vorsichtig. Für die Sozialdemokratische Parteiaber ist es natürlich wichtig, unbestreitbare Tatsachen festzustellen, dieGrundkonturen zu zeichnen, während es der Parteiliteratur überlassenbleibt, die Frage wissenschaftlich zu bearbeiten.

Wir stellen fest (Punkt 2 der Begründung), daß sich auf dem Bodender Krise der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie ver-schärft (eine unzweifelhafte Tatsache, die Erscheinungsformen dieserVerschärfung sind allgemein bekannt), und dann, daß sich der sozialeKampf im Dorf verschärft. Im Dorf gibt es keine auffälligen, sofort indie Augen springenden Ereignisse, wie z. B. Aussperrungen, aber schonsolche Maßregeln der Regierung wie die Agrargesetze vom November60

(„Bestechung der bäuerlichen Bourgeoisie") zeugen davon, daß sich derKampf verschärft, daß die Gutsbesitzer gezwungen sind, alle ihre Kräfte

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Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie 203

auf die Spaltung der Bauernschaft zu richten, um den Ansturm der ge-samten Bauernschaft zu schwächen.

Wozu diese Anstrengungen in letzter Instanz führen werden, wissenwir nicht. Alle „hichtvollendeten" (ein Ausdruck von Marx) bürgerlichenRevolutionen „endeten" mit dem Übergang der wohlhabenden Bauern-schaft auf die Seite der Ordnung. Die Sozialdemokratie muß jedenfallsalles tun, um die Entwicklung des Bewußtseins der breitesten Schichtender Bauernschaft zu fördern, um ihnen den Sinn des Klassenkampfes,der im Dorfe vor sich geht, klarzumachen.

Im dritten Punkt wird dann die grundlegende Tatsache der politischenGeschichte Rußlands im vergangenen Jahr festgestellt: die „Rechtsent-wicklung" der oberen und die „Linksentwicklung" der unteren Klassen.Wir sind der Meinung, daß die Sozialdemokratie insbesondere in revo-lutionären Epochen auf ihren Parteitagen aus den Perioden der gesell-schaftlichen Entwicklung das 7azit ziehen muß, indem sie ihre marxi-stischen Untersuchungsmethoden auf sie anwendet und andere Klassenlehrt, auf das Vergangene zurückzublicken und politische Ereignisse prin-zipiell zu betrachten, nicht aber vom Standpunkt des Augenblicksinter-esses oder des Erfolgs für einige Tage, wie es die Bourgeoisie tut, die imGrunde jede Theorie verachtet und jede Klassenanalyse der Zeitgeschichtefürchtet.

Eine Stärkung der Extreme ist eine Schwächung der Mitte. Die Mittesind nicht die Oktobristen, wie manche Sozialdemokraten (darunter auchMartow) fälschlich glaubten, sondern die Kadetten. Worin besteht dieobjektiv geschichtliche Aufgabe dieser Partei? Diese Frage müssen dieMarxisten beantworten, wenn sie ihrer Lehre treu bleiben wollen. DieResolution antwortet: „Darin, der Revolution mit Zugeständnissen, diefür die erzreaktionären Gutsbesitzer und für die Selbstherrschaft annehm-bar sind" (denn die Kadetten sind für eine freiwillige Vereinbarung),„ein Ende zu setzen". Wie in der bekannten Schrift K. Kautskys „Diesoziale Revolution" sehr gut auseinandergesetzt wird, unterscheidet sichdie Reform von der Revolution dadurch, daß die Macht in den Händender Unterdrückerklasse bleibt, die den Aufstand der Unterdrückten mitHilfe von Zugeständnissen niederhält, die für die Unterdrücker ohneVernichtung ihrer Machtstellung annehmbar sind.

Die objektive Aufgabe der liberalen Bourgeoisie in der bürgerlich-

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204 "W.I.Lenin

demokratischen Revolution besteht gerade darin, um den Preis „vernünf-tiger" Zugeständnisse die Monarchie und die Gutsbesitzerklasse zu er-halten.

Ist diese Aufgabe zu realisieren? Das hängt von den Umständen ab. Alsunbedingt unrealisierbar kann sie der Marxist nicht ansehen. Ein solcherAusgang der bürgerlichen Revolution aber bedeutet: 1. geringste Freiheitfür die Entwicklung der Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft(der wirtschaftliche Fortschritt Rußlands wird bei revolutionärer Vernich-tung des gutsherrlichen Grundbesitzes unvergleichlich schneller vonstattengehen als bei Umgestaltung des Großgrundbesitzes nach dem Kadetten-plan) ; 2. Nichtbefriedigung der wichtigsten Bedürfnisse der Volksmasseund 3. Notwendigkeit ihrer gewaltsamen Niederhaltung. Ohne gewalt-same Niederhaltung der Massen ist die kadettische „friedliche" konstitu-tionelle Entwicklung nicht zu verwirklichen. Das müssen wir fest im Ge-dächtnis behalten und dem Bewußtsein der Massen einprägen. Der „so-ziale Friede" der Kadetten ist ein Friede für den Gutsbesitzer und denFabrikanten, ist der „friede" des unterdrückten Aufstands der Bauernund Arbeiter.

Die standrechtlichen Repressalien Stolypins und die „Reformen" derKadetten - das sind zwei Hände ein und desselben Unterdrückers.

H ei

Acht Tage sind verstrichen seit der Veröffentlichung unseres erstenArtikels über dieses Thema - und das politische Leben hat schon eineganze Reihe von wichtigen Ereignissen gebracht, die unsere damaligenAusführungen bestätigt und die damals von uns angeschnittenen aktuel-len Fragen ins helle Licht der „vollzogenen (oder sich vollziehenden?)Tatsache" gerückt haben.

Die Rechtsschwenkung der Kadetten hat bereits in der Duma ihrenAusdruck gefunden. Daß die Roditschew den Stolypin unterstützen, in-dem sie Mäßigung, Vorsicht, Legalität, Beruhigung, Nichtaufreizung desVolkes propagieren, und daß Stolypin seinerseits Roditschew seine Unter-stützung, die berühmte „allseitige" Unterstützung, zuteil werden läßt -rdas ist zu einer Tatsache geworden.62

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Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie 205

Diese Tatsache hat glänzend die Richtigkeit unserer Analyse dergegenwärtigen politischen Lage bestätigt, der Analyse, die wir vor Eröff-nung der zweiten Duma in unseren Resolutionsentwürfen vom 15. bis18. Februar gegeben haben. Wir haben es abgelehnt, dem Vorschlag desZK zu folgen und die „nächsten politischen Aufgaben" zu erörtern, wirhaben gezeigt, daß ein derartiger Vorschlag in einer revolutionärenEpoche keiner Kritik standhält, und haben diese Frage der Politik desAugenblicks ersetzt durch die Frage nach den Grundlagen der soziali-stischen Politik in der bürgerlichen Revolution.'

Und eine Woche revolutionärer Entwicklung hat unsere Voraussichtvollauf bestätigt.

Voriges Mal haben wir den begründenden Teil unseres Resolutions-entwurfs erörtert. Der zentrale Punkt dieses Teils war die Feststellungder Tatsache, daß die geschwächte Partei des „Zentrums", d. h. die bür-gerlich-liberale Partei der Kadetten, bestrebt ist, der Revolution mit Zu-geständnissen, die für die erzreaktionären Gutsbesitzer und für dieSelbstherrschaft annehmbar sind, ein Ende zu machen.

Noch gestern, kann man sagen, erklärten Plechanow und seine Gesin-nungsgenossen vom rechten Flügel der SDAPR diese Idee des Bolsche-wismus, die wir im Laufe des ganzen Jahres 1906 (und sogar früher,seit 1905, seit dem Erscheinen der Broschüre „Zwei Taktiken") hart-näckig vertreten haben, für eine halb phantastische Mutmaßung, die derRebellenauffassung von der Rolle der Bourgeoisie entspringe, oder zu-mindest für eine unzeitgemäße Übereilung usw.

Heute sehen alle, daß wir recht hatten. Das „Bestreben" der Kadettenbeginnt sich zu verwirklichen, und sogar eine Zeitung wie der „Towa-rischtsch", die den Bolschewismus wegen seiner rücksichtslosen Entlar-vung der Kadetten vielleicht mehr als alle anderen haßt, sagt zu den vonder „Retsch" dementierten Gerüchten* über die Verhandlungen der

* Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als wir im Leitartikel der „Retsch"vom 13. März lasen: „Sobald genaue Angaben über die vielgenannten Ver-handlungen der Kadetten mit der Regierung vom Juni vorigen Jahres veröf-fentlicht werden, wird das Land erfahren, daß man den Kadetten wegen dieserVerhandlungen ,hinter dem Rücken des Volkes' wohl kaum irgend etwas an-deres vorwerfen kann als vielleicht die Unnachgiebigkeit, von der die ,Rossija'ra

spricht." Jawohl, eben „sobald sie veröffentlicht werden"! Einstweilen aber

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206 TV. 1. Lenin

Kadetten mit der Schwarzhunderterregierung: „Wo Rauch ist, da ist auchFeuer."

Es bleibt uns nur übrig, diesen Wiederbeginn der „bolschewistischenWoche" im „Towarischtsch" zu begrüßen. Es bleibt uns nur übrig, zuregistrieren, daß die Qesdbidbte alle unsere Warnungen und Losungenbestätigt hat, daß die Geschichte den ganzen Leichtsinn (bestenfallsLeichtsinn) jener „Demokraten" und leider sogar mancher Sozialdemo-kraten entlarvt hat, die mit geringsdiätzigem Achselzucken über unsereKritik an den Kadetten hinweggegangen sind.

Wer hat in der Epoche der ersten Duma gesagt, daß die Kadettenhinter dem Rücken des Volkes mit der Regierung schachern? Die Bol-schewiki. Und dann hat sich herausgestellt, daß ein Mann wie Trepowfür ein Kadettenkabinett war. '-

Wer betrieb am energischsten die Enthüllungskampagne, als Miljukowam 15. Januar mitten im Wahlkampf (angeblichen Kampf), den die Parteider angeblichen Volksfreiheit gegen die Regierung führte, Stolypin einenBesuch abgestattet hatte? Die Bolschewiki.

Wer hat in den Petersburger Wahlversammlungen und in den erstenTagen der zweiten Duma (siehe die Zeitung „Nowy Lutsch") daran erin-nert, daß die Zwei-Milliarden-Frank-Anleihe von 1906 den Dubassowund Co. faktisch mit indirekter Hilfe der Kadetten gegeben worden ist,die Clemenceaus formellen Vorschlag, öffentlich, im Namen der Partei,gegen diese Anleihe Sturm zu laufen, abgelehnt hatten? Die Bolschewiki.

Wer hat am Vorabend der zweiten Duma die Entlarvung des „ver-räterischen Charakters der Politik der Kadetten" als die Kernfrage derPolitik eines folgerichtigen (d. h. proletarischen) Demokratismus be-zeichnet? Die Bolschewiki.

Der leiseste Hauch genügte, um alles Gerede von Unterstützung derForderung eines Dumakabinetts oder eines verantwortlichen Ministe-riums oder der Forderung, die vollziehende Gewalt der gesetzgebendenunterzuordnen usw., wie ein Flöckchen fortzublasen. Plechanows Träume,

veröffentlichen die Kadetten trotz aller Aufforderungen weder „genaue An-gaben" über die Verhandlungen vom Juni 1906 noch über die Verhandlungenvom Januar 1907 (am 15. Januar fand der Besuch Miljukows bei Stolypinstatt) noch über die Verhandlungen im März 1907. Und die Tatsache von Ver-handlungen hinter dem Rücken des Volkes bleibt eine Jatsadhe.

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Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie 207

ans dieser Losung ein Signal zum entscheidenden Kampf oder ein Mittelzur Aufklärung der Massen zu machen, haben sich als Träume einesharmlosen Philisters erwiesen. Sicherlich wird sich jetzt schon niemandmehr dazu entschließen, ernstlich solche Losungen zu unterstützen. DasLeben hat gezeigt - oder, richtiger gesagt, zu zeigen begonnen - , daßes sich hier in Wirklichkeit durchaus nicht um das „Prinzip" der vollstän-digeren oder folgerichtigeren Verwirklichung des „konstitutionellenGrundsatzes" handelt, sondern eben um einen Kuhhandel der Kadettenmit der Reaktion. Das Leben hat gezeigt, daß diejenigen recht hatten,die hinter dem liberalen Äußeren des angeblich fortschrittlichen allge-meinen Prinzips die engen Klasseninteressen des erschrockenen Liberalen,der häßliche und schmutzige Sachen mit schönen Worten bezeichnet, er-kannten und nachwiesen.

Die Richtigkeit der Schlußfolgerungen unserer ersten Resolution istsomit viel schneller und viel besser, als wir erwarten konnten, bestätigtworden: nicht durch Logik, sondern durch die Geschichte; nicht durchWorte, sondern durch Taten; nicht durch Beschlüsse der Sozialdemo-kraten, sondern durch die Ereignisse der Revolution.

Erste Schlußfolgerung: „Die politische Krise, die sich vor unserenAugen entwickelt, ist keine konstitutionelle, sondern eine revolutionäreKrise, die zum unmittelbaren Kampf der Massen des Proletariats undder Bauernschaft gegen die Selbstherrschaft führt."

Zweite Schlußfolgerung, die sich unmittelbar aus der ersten ergibt:„Die bevorstehende Dumakampagne ist daher nur als eine Episode imrevolutionären Kampf des Volkes um die Macht zu betrachten und aus-zunutzen."

Worin besteht das Wesen des Unterschieds zwischen einer konstitu-tionellen und einer revolutionären Krise? Darin, daß die erstere auf demBoden der gegebenen Grundgesetze und Zustände des Staates behobenwerden kann, während die zweite einen Umsturz dieser Gesetze undfronherrlichen Zustände erfordert. Bis jetzt hat die gesamte russischeSozialdemokratie ohne Unterschied der Fraktionen den Gedanken ge-teilt, der in unseren Schlußfolgerungen zum Ausdruck gebracht wird.

Erst in allerletzter Zeit hat sich unter den Menschewiki die Strömungverstärkt, die zu der gerade entgegengesetzten Ansicht neigt, nämlichdaß es nötig sei, den Gedanken an revolutionären Kampf aufzugeben,

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208 IV.1. Lenin

bei der gegebenen „Konstitution" zu bleiben und auf ihrem Boden zuwirken. Hier die bemerkenswerten Punkte des Entwurfs einer Resolutionüber die Stellung zur Reichsduma, der von den „Gen. Dan, Kolzow,Martynow, Martow, Negorew u. a. unter Beteiligung einer Gruppe vonPraktikern" ausgearbeitet und in Nr. 47 der „Russkaja Shisn"* (undauch als besondere Flugschrift) veröffentlicht worden ist:

. . . „2. die in den Mittelpunkt der russischen Revolution vorrückendeAufgabe des unmittelbaren Kampfes um die Macht reduziert sich (?)bei dem gegenwärtigen Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte (?)hauptsächlich auf die Frage (?) des Kampfes um (?) die Volksver-tretung;

. . . 3. die Wahlen zur zweiten Duma, die eine beträchtliche Anzahlkonsequenter (?) Anhänger der Revolution ergaben, haben gezeigt, daßin den Volksmassen das Bewußtsein von der Notwendigkeit dieses (?)Kampfes um die Macht heranreift.. ."

So wirr, so konfus auch diese Punkte dargelegt werden, ihre Tendenzist klar ersichtlich: an Stelle des revolutionären Kampfes des Proletariatsund der Bauernschaft um die Macht - "Beschränkung der Aufgaben derArbeiterpartei auf den liberalen Kampf um die gegebene Volksvertretungoder auf den Kampf auf ihrem Boden. Es bleibt abzuwarten, ob gegen-wärtig oder auf dem V. Parteitag wirklich alle Menschewiki eine solcheFragestellung für richtig halten werden.

Jedenfalls werden die Rechtsschwenkung der Kadetten und die „all-seitige" Billigung, die ihnen von Stolypin zuteil wird, bald den rechtenFlügel unserer Partei zwingen, die Frage ohne Winkelzüge zu stellen:entweder die Politik der Unterstützung der Kadetten fortzusetzen undsomit endgültig den Pfad des Opportunismus zu beschreiten, oder völligSchluß zu machen mit der Unterstützung der Kadetten und die Politikder sozialistischen Selbständigkeit des Proletariats und des Kampfes fürdie Befreiung des demokratischen Kleinbürgertums vom Einfluß und vonder Hegemonie der Kadetten zu akzeptieren.

Die dritte Schlußfolgerung unserer Resolution besagt: „Die Sozial-demokratie als Partei der fortgeschrittensten Klasse kann gegenwärtigauf keinen Fall die Kadettenpolitik im allgemeinen und ein kadettischesKabinett im besonderen unterstützen. Die Sozialdemokratie muß alle

* vom 24. Februar 1907.

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Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie 209

Kräfte aufbieten, um den verräterischen Charakter dieser Politik vorden Massen aufzudecken; den Massen die revolutionären Aufgaben, vordenen sie stehen, klarzumachen; ihnen zu beweisen, daß nur dann, wenndie Massen einen hohen Grad von Bewußtsein und feste Organisiertheitbekunden, die eventuellen Zugeständnisse der Selbstherrschaft aus einemWerkzeug des Betrugs und der Demoralisierung zu einem Werkzeug derWeiterentwicklung der Revolution werden können."

Wir stellen nicht überhaupt die Möglichkeit teilweiser Zugeständnissein Abrede und lehnen es nicht ein für allemal ab, solche Zugeständnisseauszunutzen. Der Text der Resolution läßt darüber keinen Zweifel. Eswäre schließlich auch möglich, daß ein Kadettenkabinett ebenfalls in die-ser oder jener Beziehung in die Kategorie der „Zugeständnisse der Selbst-herrschaft" passen wird. Aber die Partei der Arbeiterklasse, die es nichtablehnt, „Abschlagszahlungen" (ein Ausdruck von Engels)64 zu nehmen,darf keinesfalls eine andere, besonders wichtige und von den Liberalenund Opportunisten besonders oft übersehene Seite der Sache vergessen:nämlich die Rolle der „Zugeständnisse" als Werkzeuge des Betrugs undder Demoralisierung.

Der Sozialdemokrat, der nicht zu einem bürgerlichen Reformistenwerden will, darf diese Seite nicht vergessen. Die Menschewiki verges-sen sie in unverzeihlicher Weise, wenn sie in der obengenannten Reso-lution sagen:

„. . . die Sozialdemokratie wird alle Anstrengungen der Duma, sichdie vollziehende Gewalt unterzuordnen, unterstützen . . . " Die Anstren-gungen der Reichsduma, das bedeutet die Anstrengungen der Duma-mehrheit. Wie die Erfahrung schon gezeigt hat, kann sich eine aus Rech-ten und Kadetten zusammengesetzte und gegen die Linken gerichteteDumamehrheit bilden. Die „Anstrengungen" einer solchen Mehrheitkönnen sich die „vollziehende Gewalt" so unterordnen, daß dadurchdie Lage des Volkes verschlechtert oder das Volk eindeutig betrogenwird.

Wir wollen hoffen, daß sich hier die Menschewiki einfach haben hin-reißen lassen: alle Bemühungen der Mehrheit der jetzigen Duma in dererwähnten Richtung werden sie nicht unterstützen. Aber es ist natürlichbezeichnend, daß hervorragende Führer des Menschewismus eine solcheFormulierung annehmen konnten.

14 Lenin, Werke, Bd. 12

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210 "W.I.Lenin

Die Rechtsschwenkung der Kadetten zwingt tatsächlich alle Sozial-demokraten ohne Unterschied der Fraktionen, sich eine Politik zu eigenzu machen, die die Unterstützung der Kadetten ablehnt, eine Politik derEntlarvung ihres Verrats, die Politik der selbständigen und konsequentrevolutionären Partei der Arbeiterklasse.

„Vroleiari" "Nr. 14 und i5, TJadh dem 7ext des „Vroletari".4. und 25. März i907.

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WIE MAN RESOLUTIONEN

NICHT SCHREIBEN SOLL65

(geschrieben am 19. März (l. April) 1907..

Veröffentlicht 1907 in dem Sammelband TJadh dem 7ext des„Tragen der Jaktik" II, Verlag Sammelbandes.„Nowaja Duma", St. Petersburg.Unterschrift-. N. Lenin.

14*

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213

Man muß den Genossen Menschewiki unbedingt dafür danken, daßsie in Nr. 47 der „Russkaja Shisn" (vom 24. Februar) einen ersten (vonden Gen. Dan, Kolzow, Martynow, Martow, Negorew u. a. unter Betei-ligung einer Gruppe von Praktikern ausgearbeiteten) Resolutionsentwurfveröffentlicht haben. (Es gibt auch eine Einzelausgabe als Flugblatt.) Umsich ernstlich auf den Parteitag vorzubereiten, muß man vorher die Reso-lutionsentwürfe drucken lassen und sie gründlich analysieren.

Gewidmet ist die Resolution der Stellung zur Reichsduma.

Punkt 1:„Gegenwärtig, nach sieben Monaten der Herrschaft einer völlig zügellosen

Diktatur, die auf keinen organisierten Widerstand der terrorisierten Volks-massen stieß, kann und muß die Tätigkeit der Reichsduma, indem sie die Auf-merksamkeit dieser Massen für das politische Leben des Landes weckt, dazubeitragen, sie zu mobilisieren und ihre politische Aktivität zu entwickeln."

Was wollte man damit sagen? Daß eine Duma besser sei als keineDuma? Oder ist es der Übergang dazu, daß man die „Duma erhalten"müsse? Offenbar ist eben dies der Gedanke der Verfasser. Er wird abernicht ausgesprochen. Es gibt nur eine Anspielung darauf. Eine Resolutiondarf nicht in Anspielungen geschrieben werden.

Punkt 2:„Die in den Mittelpunkt der russischen Revolution vorrückende (wahrschein-

lich ein Druckfehler an Stelle von: rückende) Aufgabe des unmittelbarenKampfes um die Macht reduziert sich bei dem gegenwärtigen Verhältnis dergesellschaftlichen Kräfte hauptsächlich auf die Frage des Kampfes um dieVolksvertretung."

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214 W.lCenin

Nicht umsonst wurde dieser Punkt von der „Retsch" für würdig be-funden, gelobt zu werden (Leitartikel vom 27. Februar: „Für die rus-sische Sozialdemokratie ist das ein gewaltiger Schritt vorwärts" . . . „einErfolg der politischen Einsicht"). Das ist wirklich ein geradezu ungeheuer-licher Punkt.

Wie kann die Aufgabe des Kampfes um die Macht sich reduzierenauf die Trage „des Kampfes um die Vertretung"?! Was bedeutet „Kampfum die Volksvertretung"?? Was ist das für ein „gegenwärtiges Verhält-nis der gesellschaftlichen Kräfte"?? In dem voraufgehenden Punkt wurdenur gesagt, daß „sieben Monate der Herrschaft einer völlig zügellosenDiktatur auf keinen organisierten Widerstand der terrorisierten Volks-massen stießen". Sagt etwa das Fehlen einer organisierten Abwehr derMassen im Verlauf von sieben Monaten bei einer offensichtlichen undgewaltigen Linksentwicklung der Massen, die bei den Wahlen am Endedieser sieben Monate zum Ausdruck kam, irgend etwas über das „Ver-hältnis der gesellschaftlichen Kräfte"??

Das ist eine fast unglaubliche Unklarheit des politischen Denkens.Das Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte hat sich im letzten halben

Jahr eindeutig in dem Sinne verändert, daß das „Zentrum", die Libera-len, schwächer geworden sind; die Extreme, die Schwarzhunderter unddie „Linken", haben sich gefestigt und sind stärker geworden. Die Wah-len zur zweiten Duma haben das unwiderleglich bewiesen. Also ist dasVerhältnis der gesellschaftlichen Kräfte infolge der Verschärfung der poli-tischen Gegensätze (und audb der ökonomischen: Aussperrungen, Hun-gersnot usw.) revolutionärer geworden. Durch welches Wunder konntenunsere Menschewiki zu der umgekehrten Schlußfolgerung kommen, diesie veranlaßte, die revolutionären Aufgaben („Kampf um die Macht")abzuschwächen und sie auf das Niveau liberaler Dutzendaufgaben(„Kampf um die Volksvertretung") herabzuwürdigen?

„Zügellose Diktatur" und eine linke Duma - es ist klar, daß sichdaraus die umgekehrte Schlußfolgerung ergibt: die liberale Aufgabe, aufdem Boden der Volksvertretung oder für ihre Erhaltung zu kämpfen, isteine spießbürgerliche Utopie, denn kraft der objektiven Bedingungen isteine solche Aufgabe unerfüllbar ohne den „unmittelbaren Kampf umdie Macht".

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Wie man Resolutionen nidbt schreiben soll 215

Das politische Denken der Menschewiki bewegt sich vorwärts wie einKrebs.

Die Schlußfolgerung aus dem zweiten Punkt: Die Menschewiki sindvon der Position revolutionärer Sozialdemokraten abgekommen auf diePosition von Liberalen. Die „Nebelhaftigkeit" am Schluß des zweitenPunktes („Kampf um die Volksvertretung") bringt praktisch die Ideeder liberalen Bourgeoisie zum Ausdruck, die sich von der Revolution„terrorisiert" fühlt, die Sache aber so darstellt, als ob „die Volksmassenterrorisiert sind", und sich unter diesem Vorwand beeilt, auf den revo-lutionären Kampf („den unmittelbaren Kampf um die Macht") zugun-sten eines vermeintlich legalen Kampfes („des Kampfes um die Volks-vertretung") zu verzichten. Stolypin wird wahrscheinlich den Mensche-wiki bald beibringen, was es „bei dem gegenwärtigen Verhältnis dergesellschaftlichen Kräfte" mit dem „Kampf um die Volksvertretung" aufsich hat!

Punkt 3:„Die Wahlen zur zweiten Duma, die eine beträchtliche Anzahl konsequenter

Anhänger der Revolution ergaben, haben gezeigt, daß in den Volksmassen dasBewußtsein von der Notwendigkeit dieses Kampfes um die Macht heranreift."

Was ist das? Wie ist das? In Punkt 2 wurde aus dem gegenwärtigenVerhältnis der gesellschaftlichen Kräfte die Ersetzung des Kampfes umdie Macht durch den Kampf um die Vertretung abgeleitet, und nun leitetman aus den Ergebnissen der Wahlen ab, daß in den Massen das Be-wußtsein von der Notwendigkeit „dieses" Kampfes um die Macht heran-reife !

Das ist Konfusion, Genossen. Es müßte etwa folgendermaßen ge-ändert werden: zweiter Punkt: „Die Wahlen zur zweiten Duma habengezeigt, daß in den Volksmassen das Bewußtsein von der Notwendigkeitdes unmittelbaren Kampfes um die Macht heranreift." Dritter Punkt:„Darum ist das Bestreben der liberalen Bourgeoisie, ihre politische Tätig-keit auf den Kampf auf dem Boden der gegebenen Volksvertretung zu be-schränken, von der ideologischen Seite ein Ausdruck der hoffnungslosenStupidität unserer Liberalen, und von der materiellen Seite Ausdruckihres (im gegebenen Augenblick unrealisierbaren) Bestrebens, mit derRevolution durch einen Pakt mit der Reaktion Schluß zu machen." Wenndann noch unsere Marxisten sich die Mühe gäben, in Punkt 1 zu defi-

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liieren, welche ökonomischen Ursachen die Verschärfung der politischenExtreme im Volk hervorgerufen haben, so könnte etwas Zusammenhän-gendes herauskommen.

Ferner, was sind denn „konsequente Anhänger der Revolution"??Offenbar ist hier die kleinbürgerliche Demokratie gemeint, hauptsächlichdie bäuerliche, d. h. die Trudowiki (im weiteren Sinne, mit Einschluß so-wohl der Volkssozialisten wie der Sozialrevolutionäre), denn eben da-durch unterscheidet sich die zweite Duma von der ersten. Aber erstensist das wieder eine Andeutung, und Resolutionen schreibt man nicht inAndeutungen, und zweitens ist das doch nidot ridbtic), Genossen! Wennihr die Trudowiki als „konsequente Anhänger der Revolution" bezeich-net, so müssen wir euch dafür in aller Form der soziälrevolutionistischenKetzerei beschuldigen. Ein konsequenter (im strengen Sinne des Wortes)Anhänger der bürgerlichen Revolution kann nur das Proletariat sein,denn die Klasse der Kleinproduzenten, der Kleinbesitzer, schwankt un-vermeidlich zwischen Besitzerbestrebungen und revolutionären Bestre-bungen - beispielsweise die Sozialrevolutionäre bei den Wahlen in Peters-burg zwischen dem Bestreben, sich den Kadetten zu verkaufen, und demBestreben, gegen die Kadetten in den Kampf zu ziehen.

Darum werdet ihr, Genossen, wahrscheinlich mit uns einverstandensein, daß man sich vorsichtiger ausdrücken muß — etwa in der Art, wiedie bolschewistische Resolution abgefaßt ist (siehe „Nowy Lutsch" vom27. Februar)*:

„ . . . die Trudowikiparteien . . . bringen mehr oder minder getreu dieInteressen und den Standpunkt der breiten Massen der Bauernschaft und desstädtischen Kleinbürgertums zum Ausdruck, wobei sie sdnvdnken zwischender Unterordnung unter die Hegemonie der Liberalen" (die Wahlen in Peters-burg, die Wahl eines Kadetten zum Dumapräsidenten) „und dem entschiedenenKampf gegen den gutsherrlichen Grundbesitz und den Leibeigenschafts-staat . . ."

übrigens muß unbedingt festgestellt werden, daß in dieser ResolutionGen. Kolzow (zusammen mit den anderen Menschewiki) die Trudowikizu den konsequenten Anhängern der Revolution rechnet, während inNr. 49 der „Russkaja Shisn" derselbe Kolzow die Trudowiki zur länd-lichen Demokratie rechnet, die zum Unterschied von der städtischen (d. h.

* Siehe den vorliegenden Band, S. 130. Die "Red.

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Wie man Resolutionen nicht schreiben soll 217

den Kadetten) „in sehr vielen Fällen die alten, überlebten Formen derProduktion und des gesellschaftlichen Lebens verteidigen wird". Dasreimt sich doch nicht zusammen, Genossen!

Punkt 4:„Daß der Duma solche konsequenten Anhänger der Revolution angehören,

hebt und festigt das Vertrauen der Volksmassen zu dieser Einrichtung, wo-durch es ihr leichter möglich ist, zum wirklichen Zentrum des allgemeinenVolkskampfes um die Freiheit und die Macht zu werden."

Eine „sympathische" Schlußfolgerung, was man auch sagen mag. Aberdie Logik hinkt wiederum. Mit diesem Punkt beenden die Menschewikiden ganzen begründenden Teil der Resolution. Weiter sagen sie in derResolution über diese frage überhaupt kein Wort mehr. Und so ergibtsich eine Schlußfolgerung, die hinkt.

Wenn die „konsequenten Anhänger der Revolution" in der Dumanicht die Mehrheit, sondern nur „eine beträchtliche Anzahl" (wie es inPunkt 3 heißt, und zwar durchaus richtig heißt) ausmachen, dann ist klar,daß es noch sowohl Gegner der Revolution als auch inkonsecjuente An-hänger der Revolution gibt. Also besteht die „Möglichkeit", daß dieDuma als Ganzes „zum wirklichen Zentrum" einer inkonsequentendemokratischen Politik und durchaus nicht des „allgemeinen Volks-kampfes um die Freiheit und die Macht" wird.

In diesem Fall ergäbe sich von zwei Dingen eins: 1. Entweder würdesich das Vertrauen der Volksmassen zu dieser Einrichtung nicht hebenund nicht festigen, sondern sinken und schwächer werden. 2. Oder daspolitische Bewußtsein der Volksmassen würde demoralisiert infolge derTatsache, daß die Massen die Politik der inkonsequenten Anhängerder Revolution als eine konsequente demokratische Politik auffassenwürden.

Daher ist es ganz klar, daß sich aus den von den Menschewiki gesetz-ten Prämissen unweigerlich die von ihnen aus irgendwelchen Gründenausgelassene Schlußfolgerung ergibt: die Partei des Proletariats als deskonsequenten Anhängers der Revolution muß unentwegt danach streben,daß die nicht ganz konsequenten Anhänger der Revolution (z. B. dieTrudowiki) der Arbeiterklasse folgen gegen die inkonsequenten Anhän-ger der Revolution und besonders gegen diejenigen, die offenkundig be-strebt sind, der Revolution ein Ende zu setzen (z. B. die Kadetten).

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218 TV.!. Lenin

Da die Menschewiki diese Schlußfolgerung nicht ziehen, geht auchihre Rechnung absolut nicht auf. Es ergibt sich, daß man in Anbetrachteiner beträchtlichen Anzahl von „konsequenten Anhängern der Revolu-tion" in der Duma stimmen muß . . . für diejenigen, die offenkundig be-strebt sind, der Revolution ein Ende zu setzen!

Es ist ganz und gar nicht schön, was da herauskommt, Genossen!Der Schlußteil der zu untersuchenden Resolution lautet folgender-

maßen (wir nehmen Punkt für Punkt):

„Indem die Sozialdemokratie die illusorischen Vorstellungen von der Reichs-duma als einer wirklich gesetzgebenden Einrichtung entlarvt, erklärt sie denVolksmassen einerseits den wahren Charakter der Duma, die faktisch einegesetzesberatende Einrichtung ist, und anderseits die Möglichkeit und die Not-wendigkeit, diese Einrichtung, wie unvollkommen sie auch sein mag, auszu-nutzen für den weiteren Kampf um die Volksmacht, beteiligt sie sich an dergesetzgeberischen Arbeit der Duma, wobei sie sich von folgenden Grund-sätzen leiten läßt: . . . "

Das ist ein abgesdhwädhter Ausdruck jenes Gedankens, der in derResolution des IV. (Vereinigungs-) Parteitags einen stärkeren Ausdruckgefunden hat in der Feststellung, daß man die Duma in ein „Werkzeugder Revolution" „verwandeln", daß man den Massen die „völlige Un-tauglichkeit der Duma" zum Bewußtsein bringen müsse usw.

. . . „I a) die Sozialdemokratie kritisiert vom Standpunkt der Interessendes städtischen und ländlichen Proletariats sowie des konsequenten Demokra-tismus die Anträge und Gesetzentwürfe aller nichtproletarischen Parteien undstellt ihnen ihre eigenen Forderungen und Anträge entgegen, wobei sie beidieser Tätigkeit die nächsten politischen Aufgaben mit den sozialen und öko-nomischen Bedürfnissen der proletarischen Massen und den Erfordernissen derArbeiterbewegung in allen ihren Formen verbindet.

Anmerkung. Wenn die Umstände es erfordern, unterstützt die Sozialdemo-kratie als das kleinere Übel diejenigen von anderen Parteien eingebrachtenGesetzentwürfe, die, wenn sie in die Tat umgesetzt werden, in den Händender Volksmassen zu einem Werkzeug des revolutionären Kampfes für dieErringung der wirklichen demokratischen Freiheit werden können . . ."

In dieser Anmerkung kommt der Gedanke zum Ausdruck, daß sichdie Sozialdemokratie auf dem Boden der Duma an der bürgeriidb-refor-merisdben Arbeit beteiligen muß. Ist das nicht verfrüht, Genossen? Habtihr nicht selber gesagt, daß die Vorstellung von der Duma als einer wirk-

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lieh gesetzgebenden Einrichtung illusorisch ist? Ihr wollt soldhe bürger-lichen Gesetzentwürfe unterstützen, die, wenn sie in die 7at umgesetztwerden, im weiteren Kampf von Nutzen sein können.

überlegt diese Bedingung: „wenn sie in die Tat umgesetzt werden".Das Ziel eurer Unterstützung ist es, dazu beizutragen, das „kleinereÜbel" in die Tat umzusetzen. Aber das Umsetzen in die Tat geschiehtdoch nicht durch die Duma, sondern durch die Duma plus Reichsrat plusallerhöchste Gewalt! Also Garantien dafür, daß ihr durch eure Unter-stützung dazu beitragt, das „kleinere Übel" in die Tat umzusetzen, gibtes überhaupt nidht. Dadurch aber, daß ihr das „kleinere Übel" unter-stützt, indem ihr dafür stimmt, nehmt ihr zweifellos auf eudh, auf dieproletarische Partei, einen Teil der Verantwortung für das halbschläch-tige bürgerliche Reformertum, für die im Grunde komödiantenhafte -und von euch selber für komödiantenhaft erklärte! - gesetzgeberischeArbeit der Duma!

Aus weldhem Qrunde nun muß man diese riskante „Unterstützung"leisten? Man riskiert doch mit ihr unmittelbar eine Schwächung des revo-lutionären Bewußtseins der Massen, an welches ihr selber appelliert, undihr praktischer Nutzen ist „illusorisch"!

Ihr schreibt Resolutionen nicht über die reformerische Arbeit im allge-meinen (dann müßte nur gesagt werden, daß die Sozialdemokraten sienicht ein für allemal ablehnen), sondern über die zweite "Duma. Ihr habtschon gesagt, daß es in dieser Duma eine beträchtliche Anzahl „kon-sequenter Anhänger der Revolution" gibt. Also habt ihr die sdhon fest-stehende parteimäßige Zusammensetzung der Duma im Auge. Das isteine Tatsache. Ihr wißt, daß es in der gegenwärtigen Duma nicht nur„konsequente* Anhänger der Revolution" gibt, sondern auch „inkonse-quente Anhänger von Reformen", nicht nur die Linken und die Trudo-wiki, sondern auch die Kadetten, wobei die letzteren für sidb allein stär-ker sind als die Rechten (die Kadetten und die sich ihnen Anschließen-den, darunter die Narodowzen, rund 150 gegen 100 Rechte). Bei einersolchen Sachlage in der Duma besteht für euch keine Veranlassung, umder Verwirklichung des „kleineren Übels" willen es zu unterstützen, esgenügt für euch, euch der Stimme zu enthalten, wenn die Reaktion gegen

* Ich bitte den Leser, immer die Notwendigkeit der von mir weiter oben zudiesem Wort gegebenen Korrektur im Auge zu haben.

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die „inkonsequenten Anhänger von Reformen" kämpft. Das praktischeResultat (im Sinne der Verwirklichung der Gesetzentwürfe) wird dabeidasselbe sein, während es im ideologisch-politischen Sinne keinem Zweifelunterliegt, daß ihr an Geschlossenheit, Reinheit, Konsequenz und Über-zeugungskraft eurer Stellungnahme als Partei des revolutionären Prole-tariats gewinnen werdet.

Kann denn überhaupt ein revolutionärer Sozialdemokrat diesen Um-stand ignorieren?

Die Menschewiki schauen nach oben, anstatt nach unten zu schauen.Sie schauen mehr darauf, ob das „kleinere Übel" zu verwirklichen istdurch einen Pakt der „inkonsequenten Anhänger von Reformen" mit derReaktion (denn gerade das ist die tatsächliche Bedeutung der Verwirk-lichung der Gesetzentwürfe), als darauf, wie das Bewußtsein und dieKampffähigkeit der „konsequenten Anhänger der Revolution", deren esin der Duma nach ihren Worten eine „beträchtliche Anzahl" gibt, zu ent-wickeln sind. Die Menschewiki schauen selber auf ein Abkommen derKadetten mit der Selbstherrschaft (die Verwirklichung des „kleinerenÜbels", der Reformen) und bringen es dem Volk bei, auf ein solchesAbkommen zu sdbauen, sind aber nicht darum besorgt, daß die mehroder minder „konsequenten Anhänger der Revolution" sich an die Mas-sen wenden. Das ist keine proletarische, sondern eine liberale Politik.Das bedeutet, in Worten zu verkünden, daß die gesetzgeberischen Rechteder Duma illusorisch sind, praktisch aber im Volke den Glauben an ge-setzgeberische Reformen durch die Duma zu festigen und den Glaubenan den revolutionären Kampf zu schwächen.

Seid konsequenter und ehrlicher, Genossen Menschewiki! Wenn ihrüberzeugt seid, daß die Revolution zu Ende ist, wenn sich aus diesereurer (vielleicht auf wissenschaftlichem Wege gewonnenen?) Überzeu-gung ergibt, daß ihr nicht an die Revolution glaubt, dann solltet ihr auchnicht von der Revolution sprechen, dann solltet ihr die eigenen unmittel-baren Aufgaben auf den Kampf für Reformen reduzieren.

Wenn ihr aber glaubt, was ihr sagt, wenn ihr wirklich der Meinungseid, daß eine „beträchtliche Anzahl" von Deputierten der zweiten Duma„konsequente Anhänger der Revolution" sind, dann sollte das, was ihrin den Vordergrund rückt, nicht die Unterstützung (eine praktischunnütze und ideologisch schädliche Unterstützung) von Reformen sein,

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Wie man Resolutionen nidrt schreiben soll 221

sondern die Klärung des revolutionären Bewußtseins dieser Anhänger,die Festigung ihrer revolutionären Organisiertheit und Entschlossenheitdurch den Druck des Proletariats.

So aber gelangt ihr zu höchst unlogischen und konfusen Schlüssen: imNamen der Entwicklung der Revolution bestimmt die Arbeiterpartei mitkeinem Wort ihre Aufgaben im Hinblick auf die mehr oder minder „kon-sequenten Anhänger der Revolution", sondern widmet dafür eine beson-dere Anmerkung der Aufgabe, das „kleinere Übel" - die inkonsequentenAnhänger von Reformen - zu unterstützen!

Die „Anmerkung" müßte etwa folgendermaßen geändert werden: „InAnbetracht dessen, daß es in der Duma eine beträchtliche Anzahl mehroder minder konsequenter Anhänger der Revolution gibt, müssen dieSozialdemokraten in der Duma bei der Erörterung der Gesetzentwürfe,die die inkonsequenten Anhänger von Reformen in die Tat umsetzenwollen, ihre Hauptaufmerksamkeit richten auf die Kritik an der Halb-schlächtigkeit und Schwäche dieser Gesetzentwürfe, auf die in ihnen ent-haltene Verständigung der Liberalen mit der Reaktion, auf die Aufklä-rung der mehr oder minder konsequenten Anhänger der Revolutionüber die Notwendigkeit des entschlossenen und schonungslosen revo-lutionären Kampfes. Bei der Abstimmung über Gesetzentwürfe, dieein kleineres Übel darstellen, enthalten sich die Sozialdemokratender Stimme und überlassen es den Liberalen allein, die Reaktion aufdem Papier zu ,besiegen' und vor dem Volke die Verantwortung zu über-nehmen für die Verwirklichung .liberaler' Reformen unter der Selbst-herrschaft."

. . . ,,b) Die Sozialdemokratie macht sich die Erörterung sowohl der ver-schiedenen Gesetzentwürfe als auch des Staatshaushalts zunutze, um nichtnur die negativen Seiten des bestehenden Regimes, sondern auch alle Klassen-gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft aufzudecken ..."

Ein sehr gutes Ziel. Um die Klassengegensätze der bürgerlichen Ge-sellschaft aufzudecken, muß man die Parteien auf die Klassen zurück-führen. Man muß den Geist der „parteilosen", „einheitlichen" „Opposi-tion" in der Duma bekämpfen und schonungslos die klassenmäßige Eng-stirnigkeit zum Beispiel der gleichen Kadetten aufdedken, die am meistenauf die Vertuschung der „Klassengegensätze" durch den Beinamen an-geblicher „Volksfreiheit" prätendieren.

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222 W.1]. Lenin

Wir wünschten, daß die Menschewiki über die Aufdeckung der Klas-sengegensätze der bürgerlichen Gesellschaft (und „nidbt nur" der Nieder-trächtigkeiten der Selbstherrschaft) nicht nur redeten, sondern auch da-nach handelten...

. . . ,,c) In der Haushaltsfrage läßt sich die Sozialdemokratie von dem Prin-zip leiten: ,Keine Kopeke für die unverantwortliche Regierung'..."

Ein vortreffliches Prinzip, das ganz und gar gut wäre, wenn an Stellevon „unverantwortliche" ein anderes Wort stünde, das nicht auf die Ver-antwortlichkeit der Regierung vor der Duma hinwiese (angesichts der ge-gebenen „Konstitution" ist das eine Fiktion), sondern auf ihre „Verant-wortlichkeit" vor der allerhöchsten Gewalt (das ist keine Fiktion, son-dern eine Realität, denn die wirkliche Macht liegt nicht beim Volk, unddie Menschewiki selber sprechen vom Heranreifen des „Kampfes um dieMacht").

Man hätte sagen müssen: „Keine Kopeke der Regierung, solange nichtalle Macht in den Händen des Volkes ist."

„II. Die Sozialdemokratie macht sich das Interpellationsrecht zunutze, umvor dem Volk den wahren Charakter der bestehenden Regierung und den völ-ligen Widerspruch zwischen allen ihren Taten und den Interessen des Volkeszu entlarven; um die Lage der Arbeiterklasse in Stadt und Land sowie dieBedingungen ihres Kampfes für die Verbesserung ihrer politischen und wirt-schaftlichen Lage zu klären; um die Rolle zu beleuchten, die hinsichtlich derArbeiterklasse sowohl die Regierung und ihre Agenten als auch die besitzen-den Klassen und die sie vertretenden politischen Parteien spielen..."

Ein sehr guter Punkt. Schade nur, daß bis heute (19. März) unsere So-zialdemokraten in der Duma von diesem Interpellationsrecht wenig Ge-brauch gemacht haben.

. . . „III. Indem die Sozialdemokratie im Zusammenhang mit dieser Arbeitdie engste Verbindung mit den Arbeitermassen unterhält und bestrebt ist, inihrer gesetzgeberischen Tätigkeit Wortführerin der organisierten Bewegungder Arbeiter zu sein, fördert sie die Organisierung der Arbeitermassen wieüberhaupt der Volksmassen, um die Duma in ihrem Kampf gegen das alteRegime zu unterstützen und die Bedingungen zu. schaffen, die es der Dumaermöglichen würden, in ihrer Tätigkeit über die Grenzen der sie fesselndenGrundgesetze hinauszugehen . . . "

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"Wie man Resolutionen nidht schreiben soll 11Z

Erstens ist es nicht angebracht, von einer „gesetzgeberischen" Tätigkeitder Sozialdemokraten zu sprechen. Man mußte sagen: „Dumatätigkeit".

Zweitens stimmt die Losung „Unterstützung der Duma in ihremKampf gegen das alte Regime" absolut nicht zu den Prämissen der Reso-lution und ist im Grunde genommen falsch.

In dem begründenden Teil der Resolution wird von dem revolutionä-ren Kampf um die TAacht und davon gesprochen, daß es in der Dumaeine „beträchtliche Anzahl konsequenter Anhänger der Revolution" gibt.

Warum ist denn hier die völlig klare, revolutionäre Kategorie „Kampfum die Macht" ersetzt worden durch den verschwommenen „Kampfgegen das alte Regime", d. h. durch einen Ausdruck, der den reformeri-schen Kampf direkt einschließt? Sollte der begründende Teil nicht in demSinn umgearbeitet werden, daß an Stelle des „illusorischen" Kampfes umdie Macht gesetzt würde „die Aufgabe des Kampfes für Reformen" ?

Warum ist hier die Rede von der Unterstützung der „Duma" undnicht von der Unterstützung der „konsequenten Anhänger der Revolu-tion" durch die TAasseni Es kommt doch so heraus, daß die Menschewikidie Massen aufrufen, die inkonsequenten Anhänger von Reformen zuunterstützen!! Es ist nicht gut, was da herauskommt, Genossen.

Schließlich ^werden durch die Worte von einer Unterstützung der„Duma" in ihrem Kampf gegen das alte Regime im Qrunde genommendirekt falsche Gedanken genährt. Die Duma unterstützen heißt dieMehrheit der Duma unterstützen. Die Mehrheit - das sind die Kadettenplus Trudowiki. Also habt ihr implicite, d. h., ohne es offen zu sagen, denKadetten die Charakteristik gegeben: sie „kämpfen gegen das alte Re-gime".

Eine solche Charakteristik ist unrichtig und unvollständig. Solche Dingesagt man nicht in halben Andeutungen. Man muß sie offen und klarsagen. Die Kadetten „kämpfen"«»** „gegen das alte Regime", sondernsind bemüht, eben dieses alte Regime zu reformieren, zu erneuern, wo-bei sie schon jetzt ganz klar und offen eine Verständigung mit der altenMacht anstreben.

Das in der Resolution verschweigen, es im dunkeln lassen, heißt vomproletarischen Standpunkt auf den liberalen abgleiten.

. . . „IV. Indem die Sozialdemokratie durch diese ihre Tätigkeit die Ent-wicklung einer auf die Erkämpfung einer konstituierenden Versammlung ge-

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richteten Volksbewegung fördert, wird sie als eine Etappe in diesem Volks-kampf alle Anstrengungen der Reichsduma, sich die vollziehende Gewaltunterzuordnen, unterstützen und auf diese Weise den Boden säubern für denÜbergang der gesamten Staatsmacht in die Hände des Volkes . . . "

Das ist der wichtigste Punkt der Resolution, der die vielberühmteLosung eines „Duma"kabinetts oder eines „verantwortlichen" Ministe-riums enthält. Man muß diesen Punkt unter dem Gesichtswinkel seinerFormulierung und dann auch seinem Wesen nach analysieren.

Formuliert ist dieser Punkt äußerst sonderbar. Die Menschewiki müs-sen unbedingt wissen, daß diese Frage eine der wichtigsten ist. Sie müs-sen weiterhin unbedingt wissen, daß eine solche Losung sdhon einmalvom Zentralkomitee Unserer Partei aufgestellt wurde, nämlich zur Zeitder ersten Duma/ und daß damals die Partei diese Losung nicht ange-nommen hat. Das ist in solchem Maße richtig, daß sogar die sozialdemo-kratische Dumafraktion der ersten Duma, die bekanntlich nur aus Men-schewiki bestand und die einen so prominenten Menschewik wie Gen.Shordanija zum Führer hatte - daß sogar diese Fraktion die Losungeines „verantwortlichen Ministeriums" nicht annahm und sie kein ein-ziges Mal in irgendeiner Rede in der Duma aufstellte!

Man sollte meinen, das würde mehr als genügen, die Frage besondersaufmerksam zu behandeln. Aber statt dessen sehen wir vor uns einenganz nachlässig verfaßten Punkt in einer überhaupt unzureichend durch-dachten Resolution.

Warum ist an Stelle der klaren Losung eines „verantwortlichen Mini-steriums" (Plechanow in der „Russkaja Shisn") oder eines „Kabinetts ausden Reihen der Dumamehrheit" (Resolution des ZK in der Epoche derersten Duma) eine neue, viel nebelhaftere Formulierung gewählt wor-den? Ist das nur eine Variation des gleichen „verantwortlichen Ministe-riums" oder etwas anderes? Wir wollen diese Fragen untersuchen.

Auf welche Weise könnte die Duma sich die vollziehende Gewaltunterordnen? Entweder legal, auf dem Boden der gegebenen (oder leichtgeänderten) monarchischen Konstitution, oder nicht legal, indem sie„über die Grenzen der sie fesselnden Grundgesetze hinausgeht", die alteStaatsmacht stürzt, sich in einen revolutionären Konvent, in eine provi-sorische Regierung verwandelt usw. Die erste Möglichkeit bedeutet ge-rade das, was man gewöhnlich mit den Worten „Dumakabinett" oder

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„verantwortliches Ministerium" zum Ausdruck bringt. Die zweite Mög-lichkeit ist die aktive Teilnahme der „Duma" (d. h. der Dumamehrheit)an dem unmittelbaren revolutionären Kampf um die Macht. AndereWege für die Duma, sich die vollziehende Gewalt „unterzuordnen",kann es nicht geben, und die spezielle Frage, wie diese grundverschiede-nen Wege sich miteinander verflechten könnten, braucht hier nicht auf-geworfen zu werden: wir haben es hier nicht mit der wissenschaftlich-akademischen Frage zu tun, welche Situationen überhaupt möglich sind,sondern mit der praktisch-politischen Frage, was die Sozialdemokratieunterstützen soll und was nicht.

Die Schlußfolgerung hieraus ist klar. Die neue Formulierung ist gleich-sam absichtlich ausgeheckt worden, um das Wesen der Streitfrage zuverhütten, um den wahren Willen des Parteitags, dessen Ausdruck dieResolution werden soll, zu verbergen. Die Losung eines „verantwort-lichen Ministeriums" rief und ruft scharfe Auseinandersetzungen unterden Sozialdemokraten hervor. Die Unterstützung revolutionärer Schritteder Duma rief und ruft keine scharfen, ja, wohl überhaupt keine Mei-nungsverschiedenheiten unter den Sozialdemokraten hervor. Was sollman danach von Leuten sagen, die eine Resolution vorgelegt haben,welche die Meinungsverschiedenheiten dadurch zu vertuschen sucht, daßsie Strittiges und Unstrittiges in einer allgemeinen, verschwommenenFormulierung vereint? Was soll man von Leuten sagen, die den Vor-schlag machen, eine Entscheidung des Parteitags in Worten auszudrük-ken, die gar nichts entscheiden, da sie den einen die Möglichkeit bieten,unter diesen Worten revolutionäre Schritte der Duma, „die hinausgehtüber die Grenzen" usw., zu verstehen, den anderen - einen KuhhandelMiljukows mit Stolypin über den Eintritt der Kadetten in das Kabinett?

Das Gelindeste, was man von Leuten, die so handeln, sagen kann, ist:sie machen einen Rückzieher, indem sie einen Schleier werfen über daseinstmals klare, einstmals offen ausgedrückte Programm der Unterstüt-zung eines Kadettenkabinetts.

Und darum wollen wir im weiteren diese verworrene und die Fragehoffnungslos verwirrende Formulierung beiseite lassen. Wir werden nurüber das Wesen der Frage, über die Unterstützung der Forderung nacheinem „verantwortlichen" (oder, was dasselbe ist, kadettischen) Ministe-rium sprechen.

15 Lenin, Werke, Bd. 12

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226 W. 3. Lenin

Womit begründet die Resolution die Notwendigkeit, die Forderungnach einem Dumakabinett oder verantwortlichen Ministerium zu unter-stützen? Damit, es sei „eine Etappe im Volkskampf um eine konsti-tuierende Versammlung", es sei „der Boden für den Übergang der ge-samten Macht in die Hände des Volkes". Das ist die ganze Begründung.Wir wollen darauf antworten mit einer kurzen Zusammenfassung un-serer Argumente gegen die Unterstützung der Forderung nach einemDumakabinett durch die Sozialdemokratie.

1. Es ist für einen Marxisten absolut unzulässig, sich darauf zu be-schränken, abstrakt-juristisch ein „verantwortliches" Ministerium einem„unverantwortlichen", ein „Duma"kabinett einem autokratischen Ka-binett usw. gegenüberzustellen, wie das Plechanow in der „RnsskajaShisn" tut und wie das die Menschewiki stets taten, wenn sie diese Frageuntersuchten. Das ist eine liberal-idealistische und keine proletarisch-materialistische Argumentation.

Man muß die Klassenbedeutung der zu erörternden Maßnahme ana-lysieren. Wer das tut, der wird begreifen, daß ihr Inhalt der Pakt oderder Versuch eines Paktes der Selbstherrschaft mit der liberalen Bour-geoisie ist, der der Revolution ein Ende setzen soll. Dies und nichts an-deres ist die objektiv-ökonomische Bedeutung eines Dumakabinetts. Dar-um haben die Bolschewiki das volle Recht und allen Grund zu sagen:ein Dumakabinett oder verantwortliches Ministerium ist in Wirklichkeitein kadettisches Kabinett. Die Menschewiki ärgerten sich und zetertenüber Fälschung, Unterschiebung usw. Aber sie ärgerten sich, weil sie dasArgument der Bolschewiki nicht begreifen wollten, die die juristische Fik-tion auf die Klassengrundlage zurückführten („verantwortlich" wirddoch ein Dumakabinett mehr dem Monarchen als der Duma gegenüber,mehr den liberalen Gutsbesitzern als dem Volk gegenüber sein!). Undwie sehr sich auch Gen. Martow ärgert und wie sehr er darüber schreit,daß jetzt selbst die Duma nicht kadettisch sei - er schwächt dadurchnicht um ein Jota die unanfechtbare Schlußfolgerung ab: dem Wesender Sadbe nach handelt es sich gerade um ein kadettisches Kabinett,denn der Angelpunkt liegt gerade in dieser bürgerlich-liberalen Partei.Eine mögliche gemischte Zusammensetzung des Dumakabinetts (Kadet-ten plus Oktobristen plus „Parteilose" plus sogar einem wurmstichigen„Trudowik" oder einem angeblich „Linken" usw.) würde an diesem

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Wesen der Sache nicht das geringste ändern. Dies Wesen der Sache um-gehen, wie das die Menschewiki und Plechanow tun, heißt den Marxis-mus umgehen.

Die Unterstützung der Forderung nach einem Dumakabinett oder„verantwortlichen" Ministerium ist dem Wesen der Sache nach eine Un-terstützung der Kadettenpolitik überhaupt und eines kadettischen Kabi-netts im besonderen (wie das schon gleich im ersten Entwurf der bolsche-wistischen Resolution zum V. Parteitag gesagt wurde). Wer sich fürch-tet, das anzuerkennen, erkennt damit schon die Schwäche seiner Positionan, die Schwäche der Argumente zugunsten einer Unterstützung der Ka-detten durch die Sozialdemokratie.

Wir sind stets der Meinung gewesen und sind es auch heute noch, daßdie Sozialdemokratie einen Kuhhandel der Selbstherrschaft mit der libe-ralen Bourgeoisie, einen Pakt, der darauf abzielt, der Revolution einEnde zu setzen, nicht unterstützen kann.

2. Die Menschewiki betrachten ein Dumakabinett stets als einenSchritt zum Besseren, als eine Erleichterung des weiteren Kampfes fürdie Revolution, und die zur Untersuchung stehende Resolution bringtdiesen Gedanken klar zum Ausdruck. Aber hier machen die Menschewikieinen Fehler, da sie einer Einseitigkeit verfallen. Ein Marxist kann nichtfür den vollen Sieg der gegenwärtigen bürgerlichen Revolution in Ruß-land bürgen: das hieße in bürgerlich-demokratischen Idealismus und Uto-pismus verfallen. Unsere Sache ist es, den vollen Sieg der Revolution an-zustreben, wir haben jedoch kein Recht, zu vergessen, daß es nichtvoll-endete, halbschlächtige bürgerliche Revolutionen früher gegeben hat undauch jetzt geben kann.

Die Menschewiki aber formulieren ihre Resolution so, daß in ihr dasDumakabinett eine obligatorische Etappe im Kampf um die konstitu-ierende Versammlung usw. usf. darstellt. Das ist einfad) falsch. Ein Mar-xist hat kein Recht, das Dumakabinett nur von dieser Seite zu betrach-ten, unter Ignorierung der Tatsache, daß in Rußland zwei Typen derökonomischen Entwicklung objektiv möglich sind. Die bürgerlich-demo-kratische Umwälzung in Rußland ist unvermeidlich. Aber sie ist möglichbei Erhaltung der Gutsherrenwirtschaft und ihrer allmählichen Überlei-tung in eine junkerlich-kapitalistische Wirtschaft (Stolypins und der Li-beralen Agrarreform), und sie ist ebenfalls möglich bei Vernichtung der

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Gutsherrenwirtschaft und Übergabe der Ländereien an die Bauernschaft(bäuerliche Revolution, die durch das sozialdemokratische Agrarpro-gramm unterstützt wird).

Ein Marxist hat die Pflicht, das kadettische Kabinett nicht nur von dereinen, sondern von beiden Seiten zu betrachten: als mögliche Etappe desKampfes um eine konstituierende Versammlung und als mögliche Etappeeiner dcfuidierung der bürgerlichen Revolution. Nach den Absichten derKadetten und Stolypins soll ein Dumakabinett die zweite Rolle spielen;nach der objektiven Sachlage kann es sowohl die zweite als auch die ersteRolle spielen.*

Indem die Menschewiki die Möglichkeit (und die Gefahr) einer libe-ralen Einschränkung und Abwürgung der bürgerlichen Revolution ver-gessen, gleiten sie vom Standpunkt des Klassenkampfes des Proletariatsab auf den Standpunkt der Liberalen, die sowohl die Monarchie als auchden Loskauf, sowohl die zwei Kammern als auch die Abwürgung derRevolution usw. usf. beschönigen. ?

3. Wenn wir nun von der ökonomisch-klassenmäßigen Seite der Fragezu ihrer staatsrechtlichen übergehen, so müssen wir sagen, daß die Men-schewiki ein Dumakabinett als einen Schritt zum Parlamentarismus be-trachten, als eine Reform, die die konstitutionelle Ordnung vervollkomm-net und es dem Proletariat erleichtert, diese Ordnung für seinen Klassen-kampf auszunutzen. Aber das ist wieder der einseitige Standpunkt der„erfreulichen Erscheinungen". In dem Akt der Ernennung von Ministernaus den Reihen der Dumamehrheit (eben eine solche Ernennung erstreb-ten die Kadetten in der ersten Duma) fehlt ein sehr wesentlicher Zugeiner Reform, es fehlt die legislative Anerkennung einer bestimmten all-gemeinen Änderung in der Konstitution. Es ist das ein bis zu einem ge-wissen Grad einmaliger, ja sogar personeller Akt. Er stützt sich auf Ab-machungen, Verhandlungen und Bedingungen hinter den Kulissen. Nichtumsonst hat die „Retsch" jetzt (im März 1907!) zugegeben, daß im Juni

* Wir gehen von der für Plechanow und die Menschewiki günstigsten Vor-aussetzung aus, nämlich davon, daß die Kadetten die Forderung nach einemDumakabinett aufstellen. Wahrscheinlicher ist, daß das nicht geschieht. Dannwird Plechanow (samt den Menschewiki) mit seiner „Unterstützung" einervon den Liberalen nicht aufgestellten Losung genauso lächerlich dastehen wieseinerzeit mit der „machtvollkommenen Duma".

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1906 Verhandlungen der Kadetten mit der Regierung stattgefundenhaben, die noch nicht (!) der Veröffentlichung unterliegen. Selbst einNachbeter der Kadetten, der „Towarischtsch", erkannte an, daß diesesVersteckspiel unzulässig ist. Und es ist nicht verwunderlich, daß Pobe-donoszew (nach Zeitungsmeldungen) eine Maßnahme vorschlagenkonnte, die darin bestand, liberale, kadettische Minister zu ernennen, umdann die Duma auseinanderzujagen und das Kabinett abzulösen! Daswäre keine Aufhebung der Reform, keine Änderung des Gesetzes, son-dern ein durchaus gesetzmäßiger, „konstitutioneller Akt" des Monarchen.Durch ihre Unterstützung des kadettischen Strebens nach einem Duma-kabinett unterstützten die Menschewiki praktisch, ohne es zu wollen undsich dessen bewußt zu sein, die Verhandlungen hinter den Kulissen undPakte hinter dem Rücken des Volkes.

Dabei haben die Menschewiki von den Kadetten keinerlei „Verpflich-tungen" verlangt und konnten es auch nicht. Sie haben ihnen ihre Unter-stützung geschenkt, haben sie ihnen auf Kredit gegeben, wodurch sie Ver-wirrung und Demoralisation in das Bewußtsein der Arbeiterklasse hin-eintrugen.

4. Wir wollen den Menschewiki noch ein Zugeständnis machen. Neh-men wir den bestmöglichen Fall an, nämlich daß der Akt der Ernennungvon Dumaministern nicht nur ein personeller Akt wäre, nicht nur ein Be-trug am Volk und ein Paradeabkommen, sondern der erste Schritt einertatsächlichen konstitutionellen Reform, die die Bedingungen für denKampf des Proletariats wirklich verbessert.

Selbst in diesem Fall kann es unter keinen Umständen gerechtfertigterscheinen, daß die Sozialdemokratie die Losung aufstellt, die Forderungnach einem Dumakabinett zu unterstützen.

Das sei eine Etappe zum Besseren, der Boden für den weiteren Kampf,sagt ihr? Nehmen wir das an. Aber wäre nicht gewiß das allgemeine,aber nicht direkte Wahlrecht eine Etappe zum Besseren? Warum sollenwir denn nicht erklären, die Sozialdemokratie unterstütze die Forderungnach einem allgemeinen, aber nicht direkten Wahlrecht als „Etappe" imKampf um die „Vierpunkteformel", als „Boden für den Übergang" zudieser Formel? Da würden nicht nur die Kadetten, sondern auch die Pe-deraken66 und ein Teil der Oktobristen auf unserer Seite sein! Eine „ge-samtnationale" Etappe auf dem Wege zum Volkskampf um eine konsti-

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tarierende Versammlung, das ist es, was die Unterstützung eines allge-meinen, aber nidbt direkten und nicht geheimen Stimmrechts durch dieSozialdemokratie bedeutet!

Es gibt entschieden keinerlei prinzipiellen Unterschied zwischen einerUnterstützung der Forderung nach einem Dumakabinett und einer Unter-stützung der Forderung nach einem allgemeinen, aber nicht direkten undnicht geheimen Wahlrecht.

Die Aufstellung der Losung „ein verantwortliches Ministerium" zurechtfertigen mit dem Argument, das wäre eine Etappe zum Besserenusw., bedeutet, in der Frage nach dem Verhältnis der Sozialdemokratiezum bürgerlichen Reformertum die Grundlagen nicht zu verstehen.

Jede Reform ist eben nur insoweit eine Reform (und keine reaktionärebzw. keine konservative Maßnahme), als sie einen gewissen Schritt, eine„Etappe" zum Besseren bedeutet. Aber jede Reform in der kapitalisti-schen Gesellschaft hat einen doppelten Charakter. Die Reform ist ein Zu-geständnis, das die herrschenden Klassen machen, um den revolutionärenKampf aufzuhalten, zu schwächen oder zu unterdrücken, um die Kraftund Energie der revolutionären Klassen zu zersplittern, ihr Bewußtseinzu trüben usw.

Darum wird die revolutionäre Sozialdemokratie, ohne es im gering-sten abzulehnen, die Reformen zwecks Entwicklung des revolutionärenKlassenkampfes auszunutzen („wir nehmen auch Abschlagszahlung",sagte Friedrich Engels67), die halbschlächtigen bürgerlich-reformistischenLosungen auf keinen Fair „zu den ihren machen"*.

Das letztere tun heißt völlig auf Bernsteinsche Weise handeln (Plecha-now wird Bernstein rehabilitieren müssen, um seine jetzige Politik ver-teidigen zu können! Nicht umsonst kann das Organ Bernsteins, die „So-zialistischen Monatshefte", sich nicht genugtun in Lobsprüchen für Ple-chanow!), heißt die Sozialdemokratie in „eine demokratisch-sozialistischeReformpartei" verwandeln (bekannter Ausdruck Bernsteins in seinen be-rühmten „Voraussetzungen des Sozialismus").

Die Sozialdemokratie betrachtet die Reformen als Nebenprodukt des

* Plechanow in der „Russkaja Shisn": „ . . . die sozialdemokratischen Depu-tierten müssen unbedingt die erwähnte "Forderung (,ein verantwortliches Mini-sterium') zu der ihren machen im Interesse des Volkes, im Interesse der Re-volution..." . •— . . . . . .

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revolutionären Klassenkampfes des Proletariats und nützt die Reformenals solches aus.

Und hier kommen wir zu unserem letzten Argument gegen die zur Er-örterung stehende Losung:

5. Wodurch kann die Sozialdemokratie die Verwirklichung aller Refor-men überhaupt, der konstitutionellen Reformen in Rußland im besonde-ren, eines Dumakabinetts mit seinen für das Proletariat nützlichen Resul-taten im einzelnen, praktisch näher-bringen? Dadurch, daß sie dieLosungen der bürgerlichen Reformisten „zu den ihren macht", oder da-durch, daß sie es entschieden ablehnt, derartige Losungen „zu den ihrenzu machen", und nach wie vor unentwegt den revolutionären Klassen-kampf des Proletariats unter dem Banner vollständiger, ungestutzter Lo-sungen führt? Die Antwort auf diese Frage ist nicht schwierig.

Dadurch, daß wir die stets halbschlächtigen, stets gestutzten, stetszweideutigen Losungen des bürgerlichen Reformertums „zu den unserenmachen", verstärken wir nicht, sondern schwächen wir in der Praxis dieWahrscheinlichkeit, die Möglichkeit von Reformen und bringen ihre Ver-wirklichung nicht näher. Denn die wirkliche Kraft, die Reformen ins Le-ben ruft, ist die Kraft des revolutionären Proletariats, seine Bewußtheit,seine Geschlossenheit, seine unbeugsame Kampfentschlossenheit.

Diese Eigenschaften der Massenbewegung schwächen und lähmenwir, wenn wir bürgerlich-reformerische Losungen in die Massen tragen.Ein gewöhnlicher bürgerlicher Sophismus besteht darin, daß, wenn wirvon unseren revolutionären Forderungen und Losungen etwas preisgäben(beispielsweise ein „Dumakabinett" als „Etappe" an die Stelle der „Selbst-herrschaft des Volkes" und der konstituierenden Versammlung setztenusw.), wir die Wahrscheinlichkeit der VerwirkHdbung einer solchen ab-geschwächten Maßnahme vergrößern, denn dafür träten dann, heißt es,sowohl das Proletariat als auch die Bourgeoisie in diesem oder jenemihrer Teile ein.

Das ist ein bürgerlicher Sophismus, erklärt die internationale revolu-tionäre Sozialdemokratie. Wir schwächen dadurch im Gegenteil dieWahrscheinlichkeit der Verwirklichung einer Reform, denn wenn wir derSympathie der Bourgeoisie nachjagen, die Zugeständnisse stets nur gegenihren Willen macht, schwächen wir das revolutionäre Bewußtsein derMassen, demoralisieren und trüben es. Wir passen uns der Bourgeoisie;

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ihrem Pakt mit der Monarchie an, wodurch wir der Entwicklung desrevolutionären Massenkampfes Schaden zufügen. Das Ergebnis wirdimmer sein, daß es bei einer solchen Taktik entweder überhaupt keineReformen gibt, oder daß sie sich als reiner Betrug erweisen. Die einzigefeste Stütze für Reformen, die einzige ernstliche Garantie dafür, daß siekeine Fiktion sind, daß sie zum Wohle des Volkes ausgenutzt werden,ist der selbständige revolutionäre Kampf des Proletariats, das seine Lo-sungen nidht herabmindert.

Die Menschewiki tragen seit Juni 1906 die Losung in die Massen, dieForderung nach einem Dumakabinett zu unterstützen. Dadurch schwä-chen und trüben sie das revolutionäre Bewußtsein der Massen, vermin-dern die Schlagkraft der Agitation, verringern die Wahrscheinlichkeit, daßdiese Reform verwirklicht wird, und die Möglichkeit, sie auszunutzen.

Man muß die revolutionäre Agitation in den Massen verstärken, mußunsere vollständigen, ungestutzten Losungen stärker verbreiten undklarer entwickeln - dadurch bringen wir im günstigen Fall den vollenSieg der Revolution näher, im ungünstigen Fall aber erzwingen wirirgendwelche halbschlächtigen Zugeständnisse (nach Art eines Dumakabi-netts, des allgemeinen, aber nicht direkten Wahlrechts usw.) und sichernuns die Möglichkeit, diese in ein Werkzeug der Revolution zu verwan-deln. Reformen sind ein INebenprodukt des Klassenkampfes des revolu-tionären Proletariats. Die Gewinnung eines Nebenprodukts zu seiner„eigenen" Sache machen heißt in bürgerlich-liberalen Reformismus ver-fallen.

Der letzte Punkt der Resolution:„V. Die sozialdemokratische Dumafraktion, die die Tätigkeit in der Duma

als eine der Formen des Klassenkampfes betrachtet, wahrt ihre volle Selb-ständigkeit, wenn sie in jedem Einzelfall Vereinbarungen trifft zwecks aggres-siver Aktionen mit denjenigen Parteien und Gruppen, deren Aufgaben imgegebenen Augenblick mit den Aufgaben des Proletariats übereinstimmen, undzwecks defensiver Aktionen, die auf den Schutz der Volksvertretung selber undihrer Rechte gerichtet sind - mit denjenigen Parteien, die am Kampf gegendas alte Regime, am Kampf für den Triumph der politischen Freiheit interes-siert sind."

So gut hier der erste Teil ist (bis zu dem Wort „wenn"), so schlechtund direkt unsinnig ist der zweite.

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Was ist das für eine lächerliche Unterscheidung zwischen „aggressi-ven" und „defensiven" Aktionen? Unsere Menschewiki reden offenbarplötzlich die Sprache der „Russkije Wedomosti" aus den neunziger Jah-ren des vorigen Jahrhunderts, zu welcher Zeit die Liberalen zu beweisensuchten, der Liberalismus in Rußland „schütze", die Reaktion aber sei„aggressiv". Man denke doch nur: an Stelle der „alten" Einteilung derpolitischen Aktionen in revolutionäre und reformistische, in revolutionäreund konterrevolutionäre, in parlamentarische und außerparlamentarische,tischen uns Marxisten eine neue Klassifizierung auf: „defensive" Aktio-nen „schützen" das Gegebene,- „aggressive" gehen weiter! Schämen soll-tet ihr euch, Genossen Menschewiki! Wie sehr muß man jedes Gefühlfür den revolutionären Klassenkampf verloren haben, um den jaden Bei-geschmack nicht zu merken in dieser Unterscheidung zwischen „Defensi-vem" und „Aggressivem"!

Und wie komisch, ganz wie ein Gegenstand in einem Hohlspiegel,widerspiegelt sich in dieser hilflosen Formulierung jene (für die Mensche-wiki) bittere Wahrheit, die sie nicht offen anerkennen wollen! Die Men-schewiki haben die Gewohnheit, von Parteien schlechthin zu sprechen,da sie sich fürchten, sie genau zu bezeichnen und klar abzugrenzen, siehaben die Gewohnheit, sowohl über die Kadetten als auch über die Lin-ken den Schleier der allgemeinen Bezeichnung „oppositionell-demokra-tische Parteien" zu werfen. Jetzt fühlen sie, daß ein Wechsel eintritt. Siefühlen, daß die Liberalen im Grunde genommen jetzt nur fähig sind, dieheutige Duma und unsere heutige, man verzeihe den Ausdruck, „Konsti-tution" zu schützen (durch kniefälliges Bitten, so wie die „Russkije We-domosti" in den achtziger Jahren das Semstwo „schützten"!). Die Men-schewiki fühlen, daß die liberalen Bourgeois nicht imstande und nicht ge-willt sind, weiterzugehen („aggressiv" zu sein - man kann sich nur wun-dern über so scheußliche Termini!). Und dieses verschwommene Bewußt-sein, das die Menschewiki von der Wahrheit haben, widerspiegelt sich inder komischen und äußerst konfusen Formulierung, nach deren wort-wörtlicher Bedeutung sich ergibt, daß die Sozialdemokraten es fertigbrin-gen, irgendwann einmal Abkommen zu treffen für Aktionen, „derenAufgaben" nidbt übereinstimmen mit den Aufgaben des Proletariats!

Dieser Schlußakkord der menschewistischen Resolution, diese lächer-liche Angst, offen und klar die Wahrheit zu sagen - nämlich daß die libe-

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ralen Bourgeois, die Kadetten, völlig aufgehört haben, der Revolution zuhelfen - , bringt großartig den ganzen Geist der gesamten von uns analy-sierten Resolution zum Ausdruck.

STATT EINES NACHWORTS

Die vorstehenden Zeilen waren schon geschrieben, als ich die Reso-lutionen der Februarkonferenz (1907) des „Estländischen Gebietsver-bandes" der SDAPR68 erhielt.

In dieser Konferenz ergriffen (wahrscheinlich als Delegierte des ZK)die menschewistischen Genossen M. und A. das Wort. Bei Erörterung derFrage der Reichsduma brachten sie offenbar dieselbe Resolution ein, dieich oben analysiert habe. Und da ist es nun äußerst aufschlußreich zusehen, weiche Änderungen die Genossen estnischen Sozialdemokratenin dieser Resolution vorgenommen haben. Wir wollen die von der Konfe-renz angenommene Resolution in vollem Wortlaut anführen:

Vber die Stellung zur Reidhsduma

„Die Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen besitzt die Reichsduma keiner-lei Macht und Gewalt, da die ganze Macht sich nach wie vor in den Händender Volksfeinde - der Selbstherrschaft des Zaren, der Bürokratie und einerHandvoll Gutsbesitzer - befindet. Deshalb muß die Sozialdemokratie die illu-sorischen Hoffnungen auf die gesetzgebende Gewalt der jetzigen Reichsdumaschonungslos zerstören und dem Volk klarmachen, daß nur eine über alle Machtverfügende, das ganze Volk repräsentierende konstituierende Versammlung,die nach der Liquidierung der Selbstherrschaft des Zaren vom Volke selberfrei gewählt wird, imstande ist, die Forderungen des Volkes zu befriedigen.

Um jedoch das Klassenbewußtsein des Proletariats zu entwickeln, die Volks-massen politisch zu erziehen, die revolutionären Kräfte zu entwickeln und zuorganisieren, muß die Sozialdemokratie auch diese ohnmächtige, machtloseReichsduma ausnutzen. In Anbetracht dessen beteiligt sich die Sozialdemo-kratie an der Tätigkeit der Reichsduma auf folgenden Grundlagen:

I. Ausgehend von den Interessen des städtischen und ländlichen Proletariatssowie von den Prinzipien eines konsequenten Demokratismus kritisiert dieSozialdemokratie alle Anträge und Gesetzentwürfe der Regierung und derbürgerlichen Parteien sowie den Staatshaushalt und stellt ihnen ihre eigenenForderungen und Gesetzentwürfe entgegen, wobei sie ständig von den For-

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Wie man Resolutionen nidht schreiben soll 235

derungen und Bedürfnissen der breiten Volksmassen ausgeht und durchdiese ihre Tätigkeit die Untauglichkeit der bestehenden Ordnung und dieKlassengegensätze der bürgerlichen Gesellschaft entlarvt.

II. Die Sozialdemokratie macht sich das Interpellationsrecht zunutze, umdas Wesen und die Natur der gegenwärtigen Regierung zu enthüllen unddem Volke zu zeigen, daß die ganze Tätigkeit der Regierung direkt gegendie Interessen des Volkes gerichtet ist, um klarzumachen, wie rechtlos die Lageder Arbeiterklasse ist, und die Rolle zu beleuchten, die die Regierung, die herr-schenden Klassen und die sich auf diese stützenden Parteien gegenüber derArbeiterklasse spielen. Unter anderem muß die Sozialdemokratie die paktiere-rische und verräterische Partei der Kadetten bekämpfen, indem sie deren Halb-schlächtigkeit und heuchlerischen Demokratismus entlarvt, um dadurch dasrevolutionäre Kleinbürgertum von der Hegemonie und dem Einfluß der Ka-detten zu befreien, es zu veranlassen, dem Proletariat zu folgen.

III. Als Partei der proletarischen Klasse muß die Sozialdemokratie in derReichsduma stets selbständig auftreten. Die Sozialdemokratie darf mit denanderen revolutionären und oppositionellen Parteien in der Reichsduma keiner-lei ständige Abkommen oder Verträge schließen, die die Handlungsfreiheit derSozialdemokratie einengen. In einzelnen Fällen, wenn die Aufgaben undSchritte anderer Parteien mit den Aufgaben und Schritten der Sozialdemo-kratie übereinstimmen, kann und muß die Sozialdemokratie mit den anderenParteien Verhandlungen über diese Schritte aufnehmen.

IV. Da es für das Volk keinerlei Abkommen mit der gegenwärtigen Regie-rung der Fronherren geben kann und nur eine über alle Macht verfügendekonstituierende Versammlung imstande ist, die Forderungen und Bedürfnissedes Volkes zu befriedigen, betrachtet es die Konferenz nicht als die Aufgabedes Proletariats, für ein der heutigen machtlosen Duma gegenüber verantwort-liches Ministerium zu kämpfen. Das Proletariat darf nicht unter der Flaggeeines verantwortlichen Ministeriums, sondern muß unter der Flagge der kon-stituierenden Versammlung kämpfen.

V. Die sozialdemokratische Fraktion in der Reichsduma, die derart denKampf führt, muß mit dem Proletariat und den breiten Volksmassen außerhalbder Duma engste Verbindung halten, zur Organisierung dieser Massen bei-tragen und so die revolutionäre Armee zum Sturz der Selbstherrschaftschaffen."

Kommentar überflüssig. In meinem Artikel habe ich zu zeigen ver-sucht, wie man keine Resolutionen nach Art der untersuchten schreibensoll. Die estnischen revolutionären Sozialdemokraten haben in ihrer Re-solution gezeigt, wie man untaugliche Resolutionen korrigieren muß.

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BEMERKUNG ZUR RESOLUTIONDER ESTNISCHEN SOZIALDEMOKRATEN69

Unser Korrespondent sandte uns ferner das von der Konferenz ange-nommene Statut des Esiländisdhen Qebietsverbandes der SDAPR. AusRaummangel können wir es nicht abdrucken.

Wir lenken die Aufmerksamkeit der Leser auf die Resolution über dieDuma. Aus ihr ist klar ersichtlich, daß als Grundlage die in Nr. 47 der„Russkaja Shisn" veröffentlichte Resolution der Menschewiki diente-, derEinfluß der Menschewiki M. und A. hat darin seinen Ausdruck gefun-den, ist aber darauf beschränkt geblieben. Die estnischen Sozialdemo-kraten haben alle den 'Kampf betreffenden Stellen dieser Resolution ineindeutig bolschewistischem Geist umgearbeitet (besonders die über dieKadetten und über das „verantwortliche Ministerium"). Ein gutes Beispielfür „Korrekturen" an menschewistischen Resolutionen!

„Proletari" 5Vr. 15, Nadh dem Jext des „Proletari".25. März i907.

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DIE GRUNDLAGEN DES PAKTES

Petersburg, 21. März 1907

Die Lage hat sich wesentlich geändert, seitdem vor drei Wochen derLeitartikel des „Proletari" Nr. 14 geschrieben wurde.* Die Regierungund die Kadetten, die erzreaktionäre Selbstherrschaft und die liberal-monarchistische Bourgeoisie sind einander einen Schritt entgegengekommenund drauf und dran, sich die Hände zu reichen, um durch gemeinsameAnstrengungen die Revolution abzuwürgen und dem Volk statt Land undFreiheit ein kümmerliches Almosen hinzuwerfen, das es zu einem Hun-ger- und Sklavendasein verurteilt. Wir wollen die entstandene Lage näherbetrachten.

Zwei Fragen liegen der erzreaktionären Selbstherrschaft wie einschwerer Stein auf dem Herzen - der Haushalt und die Agrarfrage.Ohne Bestätigung des Haushalts durch die Duma gibt es keinen Kredit.Ohne wenigstens zeitweilig das klaffende Geschwür der Bodenfrageirgendwie zu bedecken, besteht keine Hoffnung auf eine auch nur kurz-fristige Beruhigung. Die Duma auseinanderzujagen ohne Haushalt undohne ein Agrargesetz, die von ihr gebilligt sind, wagt die Regierung nicht.Sie fürchtet die Auseinanderjagung der Duma, und gleichzeitig kündigtsie sie zeternd an, wobei sie den ganzen Schwarzhunderterapparat desBundes des russischen Volkes in Bewegung setzt, um die Zaghaften insBockshorn zu jagen und die Schwankenden nachgiebig zu stimmen. Siewill versuchen, der Duma ein Zugeständnis zu entreißen, indem sie ihrmit der Drohung, sie auseinanderjagen zu wollen, den Mund stopft. Nun,und dann wird man sehen, was mit der schmachbedeckten, bespienen,

* Siehe den vorliegenden Band, S. 176-180. Die Red.

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in den Schmutz getretenen „hohen" Versammlung zu machen ist. Daherdas Ersuchen, den Haushalt zu bestätigen, die Versicherung, der Finanz-minister denke nicht daran, der Reichsduma die Frage der Genehmigungeiner Anleihe vorzulegen. Daher auch die korrekten Reden des HerrnWassiltschikow, die Regierung würde „die Unantastbarkeit jener Gren-zen schützen, an denen" „die Interessen einzelner Personen, einzelnerGruppen und einzelner Stände sich berühren", aber gleichzeitig sei sie„sich ihrer Pflicht bewußt, diesen Schutz so weit auszudehnen, als dievorgesehenen Grenzen mit den allgemeinen Staatsinteressen überein-stimmen. Dort, wo diese Qrenzen mit diesen Interessen nicht überein-stimmen, müssen sie verschoben werden." Diese Worte, besonders dievon uns hervorgehobene Stelle, enthalten zweifellos einen kaum bemerk-baren Wink an die Kadetten, eine leichte Anspielung des Inhalts, daß diekadettische „Zwangsenteignung" in einem gewissen Maße denkbar sei.

Was antworten nun die Kadetten auf alle diese mühsam herauszu-hörenden Avancen? Oh! sie bemühen sich aus Leibeskräften, das nichtHerauszuhörende hörbar zu machen, das in geheimnisvolle Anspielun-gen und Unausgesprochenheiten Gehüllte zu enthüllen und bis zu Endeauszusprechen. Und darum machen sie ihrerseits der Regierung unver-gleichlich größere Avancen, schütten ihr Herz aus, wenn auch, entspre-chend der ihnen eigenen Vorsicht, vorläufig nur zur Hälfte, und streckenzaghaft die Hand aus, um den ihnen herablassend hingestreckten Zeige-finger des Herrn Stolypin zu ergreifen. In seiner Nummer vom 18. Märzgibt das Leiborgan der Kadetten, die „Retsch", der ganzen Welt bekannt,daß die Partei der Volksfreiheit die Ausarbeitung eines neuen Agrar-gesetzentwurfs beendet, der diese Partei zu der „für eine sachliche Erör-terung der Bodenfrage bestgerüsteten" Partei macht, wobei „angesichtsder neuen Stellung der Frage weitaus mehr das in Betracht gezogenwurde, was man üblicherweise das reale Kräfteverhältnis nennt". In derDumasitzung am folgenden Tag hielt der Deputierte Kutler eine wahr-haft „sachliche" Rede und lüftete dabei etwas (wenn auch bei weitemnicht ganz) den Schleier, mit dem einstweilen der „Realismus" und der„sachliche Charakter" der neuen Frucht der gesetzgeberischen Schöpfer-kraft der Kadettenpartei schamhaft verhüllt wird. Soweit man verstehenkonnte, läuft der sachliche Realismus im gegebenen Fall darauf hinaus,daß erstens anstatt der „Verbrauchsnorm" den Bauern an vielen Orten

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Die Grundlagen des Paktes 239

weitaus weniger Boden gegeben werden soll — „so viel, wie vorhandensein wird", wie sich Herr Kutler sehr unklar ausdrückte. Offenbar istes so, daß viele Millionen Desjatinen gutsherrlichen Bodens auch bei einer„Zwangsenteignung" keineswegs enteignet zu werden brauchten. Dasbedeutet lediglich, etwas „die Grenzen zu verschieben", wie Herr Was-siltschikow sich ausdrückt. Der zweite, für den „Realismus" des neuenGesetzentwurfs kennzeichnende Zug wird von Herrn Kutler mit denfolgenden Ausdrücken dargelegt: „Ländereien, die der Zuweisung an

'die Bauern unterliegen", müssen „in den endgültigen bäuerlichen Besitzgegeben werden", so daß „diese Ländereien ihnen unter keinen Um-ständen in Zukunft weggenommen werden", sie werden „den Bauernnicht zu zeitweiliger, sondern zu ständiger Nutzung übergeben", wobeies nötig sein wird, „nur das Recht der Veräußerung und der Verpfän-dung einzuschränken". Alles das kommt wiederum der durch den Munddes Herrn Wassiltschikow verkündeten „Absicht" der Regierung sehrnahe, „die sich aus den Prinzipien des Eigentums ergebenden Vorteileaudi auf das Riesengebiet des bäuerlichen Grundbesitzes auszudehnen,das bislang dieser Vorteile entbehrte". Und schließlich verdient das dritte„sachliche" Kennzeichen des neuen kadettischen Agrargesetzentwurfs be-sondere Beachtung: früher schlug man den Loskauf des Bodens aufKosten des Fiskus vor, jetzt aber „muß ein bestimmter Teil der bei derBodenreform entstehenden Ausgaben von den Bauern selber etwa in hal-ber Höhe vergütet werden". Nun, wodurch unterscheidet sich denn dasvon jenen Loskaufzahlungen in halber Höhe, die die Regierung denBauern für 1906 auferlegte? Die prinzipielle Übereinstimmung des kadet-tischen Agrarentwurfs mit den „Ansätzen" der Regierung tritt auf dieseWeise hinreichend klar hervor. Sie ist um so weniger zu bezweifeln, alsauch die kadettische Zwangsenteignung des Bodens fiktiv ist: wer wirddenn in den kadettischen Bodenkomitees „Zwang" ausüben, wenn sie zurHälfte aus Bauern und zur Hälfte aus Gutsbesitzern bestehen, währendBeamte ihre Interessen „versöhnen" werden? Es fehlt nicht viel, und derPakt ist perfekt. Nicht umsonst bemerkt der Dumabeobachter der„Retsch" in der Nummer vom 20. März anläßlich der Rede des HerrnWassiltschikow: „Bei einer solchen Stellung der Frage wird sie auf sach-lichen Boden übergeführt." Das aber ist im Munde der heutigen Kadet-ten das höchste Lob!

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240 W.ü. Centn

Was den Haushalt betrifft, so zeichnet sich die versöhnliche Stellung-nahme der Kadetten gegenüber der erzreaktionären Selbstherrschaft mitgenügender Klarheit in dem Leitartikel der gleichen Nummer der „Retsch"vom 20. März ab. Hier wird das Gerücht, „die Partei der Volksfreiheitbeantrage angeblich, den Haushalt als Ganzes abzulehnen", als „offen-sichtliche Lüge" bezeichnet, hier wird die Zuversicht geäußert, daß „dieVolksvertreter wahrscheinlich den Haushalt für 1907 mit gewissen Ände-rungen bestätigen werden", und schließlich - hört, hört, meine Herren! -wird hier versichert, „wenn die Duma Beweise erhält für die Bereitschaftdes Herrn Finanzministers, einer Erweiterung ihrer Rechte (natürlich inden Grenzen der „Grundgesetze" - siehe denselben Artikel weiter oben)entgegenzukommen, dann kann in ihrer Mitte ein größeres Vertrauenzur Regierung entstehen", denn „wenn die Duma Grund hätte, demHerrn Finanzminister zu vertrauen, könnte sie sich mit einer Formeleinverstanden erklären, die hinausliefe auf die Genehmigung, so viel'Kredit aufzunehmen, wie benötigt wird" (hervorgehoben von uns). Dasist eine Perle, die den würdigen Abschluß bildet für diese ganze langeKette schmählicher Zugeständnisse, diesen Verkauf der Volksfreiheit endetail - einen Verkauf en detail, der notwendig ist, um schließlich dieVolksfreiheit en gros zu verkaufen.

Wer die Geduld besitzt, alle Einzelheiten des schimpflichen Schacherszwischen den Schwarzhundertern und den liberalen Bourgeois zu ver-folgen, soweit diese Einzelheiten im gegenwärtigen Augenblick hervor-treten, für den bestehen keine Zweifel: die konterrevolutionären Kräfteorganisieren sich, um der großen Freiheitsbewegung den endgültigen,tödlichen Schlag zu versetzen, um die starken und kühnen Kämpfer zuzerschmettern und die Naiven, Zaghaften und Unentschlossenen zu täu-schen und zu beseitigen. Die Rechten, das polnische Kolo70, die Kadettenschließen sich zu einem Ganzen zusammen, um diesen Schlag zu führen.Die Regierung schreckt die Kadetten und die Trudowilci mit dem Geheulder von ihr selber aufgehetzten Schwarzhundertschaft, die die Ausein-anderjagung der Duma und die Liquidierung der „infamen Konstitu-tion" fordert. Die Kadetten schrecken die gleichen Trudowiki durch Hin-weise auf ebendieses Geheul und auf die angeblichen Absichten Stoly-pins, unverzüglich die Duma auseinanderzujagen. Alle diese Drohungenund Ängste brauchen die erzreaktionäre Selbstherrschaft und die liberale

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Die Qrundlagen. des Taktes 241

Bourgeoisie, um hinter dem Rücken des Volkes besser handelseins zuwerden, um dieses Volk auszuplündern und dabei gütlich miteinander zuteilen. Trudowiki aller Schattierungen, laßt euch nicht täuschen! Wachtüber die Volksinteressen! Verhindert den schmutzigen Pakt der Kadettenmit der Regierung! Genossen Sozialdemokraten! wir sind überzeugt, daßihr die Lage versteht, daß ihr an der Spitze aller revolutionären Elementeder Duma marschiert, daß ihr den Trudowiki die Augen öffnet über denschändlichen Verrat, den die liberal-monarchistische Bourgeoisie begeht.Wir sind überzeugt, daß ihr von der Dumatribüne herab wuchtig undklar vernehmlich diesen Verrat vor dem ganzen Volk entlarven werdet.

„Proletari" Jir. i5, Jiaäo dem 7ext des „Proletari".25. März i907.

16 Lenin, Werke, Ed. 12

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242

DIE TAKTISCHE PLATTFORMDER MENSCHEWIKI

Als Flugschrift erschienen ist die „ 7aktische "Plattform zum bevorstehen*den "Parteitag, ausgearbeitet von Martow, Dan, Starower, Martynow u. a.unter Teilnahme einer Gruppe von menschewistischen Praktikern".

Es bleibt unbekannt, in welcher Beziehung diese Plattform zu der Reso-lution über die Reichsduma steht, die von denselben Führern des Men-schewismus ausgearbeitet und in Nr. 47 der „Russkaja Shisn" abgedrucktworden ist. In der Flugschrift, von der wir sprechen, steht kein Wortdarüber, ob beabsichtigt ist, die hier dargelegten taktischen Ansichten alsResolutionsentwürfe, und zwar zu welchen Fragen usw., detaillierter aus-zuarbeiten. Diese Unklarheit muß man bedauern, denn die „TaktischePlattform" leidet an und für sich unter äußerster Verschwommenheit undUnbestimmtheit der Formulierungen. Um das zu zeigen, führen wir invollem Wortlaut die drei abschließenden Thesen der Plattform an, diedie „nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie in der vor uns liegendenPeriode" behandeln, wobei wir mit der dritten These beginnen:

. . . „3. Entwicklung der politischen und organisatorischen Selbsttätigkeitder Arbeitermassen auf dem Boden der Verteidigung ihrer Interessen als Klassevon Lohnarbeitern. Durch die Parteigruppen Unterstützung des organisato-rischen Aufbaus, der sich unter den breiten Schichten des Proletariats auf demBoden der Befriedigung seiner unmittelbaren beruflichen, politischen und kul-turellen Bedürfnisse, auf dem Boden des Kampfes für die Erhaltung und Er-weiterung der der alten Ordnung abgerungenen Zugeständnisse entfaltet."

Kann man sich etwas Verschwommeneres, Nebelhafteres, Inhalts-loseres vorstellen? Ist das eine „taktische Plattform" für den Parteitag

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T>ie taktische Plattform der Menschewiki 243

des Jahres 1907 oder ein Auszug aus einem populären Artikel über dieAufgaben der Arbeiterklasse im allgemeinen?

Bekanntlich ist sowohl die Frage der Gewerkschaften wie die desArbeiterkongresses, wie auch die der Bevollmächtigtenräte auf die Tages-ordnung des Parteitags gesetzt worden — alles das sind konkrete Fragendes heutigen Tages, der gegebenen Entwicklungsstufe der Arbeiterbewe-gung. Uns jedoch traktiert man, gerade als wünschte man ausdrücklich,seine Qedariken über die vom Leben aufgeworfenen und von der Parteigestellten Fragen zu verbergen, mit Gemeinplätzen und Phrasen über„Selbsttätigkeit"! Das ist keine Plattform, Genossen, sondern ein hererWisch. Zu solchen Fragen, wie es beispielsweise der Arbeiterkongreßist, gibt es bereits eine ganze Parteiliteratur, von Artikeln im parteioffi-ziellen „Sozialdemokrat"71 bis zu einer Reihe von Broschüren. Eine Platt-form schreibt man, um zur Sache Stellung zu nehmen, und nicht, um eineFrage abzutun.

. . . „2. Entschlossener ideologischer Kampf gegen alle Versuche, die klas-senmäßige Selbständigkeit des Proletariats zu beschränken, gegen das Hinein-tragen reaktionärer kleinbürgerlicher Illusionen in sein Bewußtsein und gegenalle Tendenzen, die dazu führen, den organisierten Klassenkampf durch anar-chistischen Terror und verschwörerisches Abenteurertum zu ersetzen."

Giftig gesagt. Offensichtlich wollten die Autoren „ihrem Herzen Luftmachen". Das ist natürlich ihr gutes Recht, und uns liegt es nicht, unsüber scharfe Polemik zu beklagen. Polemisiert so scharf ihr Lust habt,nur sagt klar, was ihr wollt. Euer zweiter Punkt sagt jedoch absolut nichtsBestimmtes. Er „zielt", wie man erraten kann, auf die Bolschewiki, aberer trifft sie nicht infolge der verschwommenen Formulierung. Alle Bol-schewiki werden natürlich bereit sein, die Verurteilung des anarchistischenTerrors, des „verschwörerischen Abenteurertums", der „reaktionärenkleinbürgerlichen Illusionen" und der „Versuche, die klassenmäßige Selb-ständigkeit zu beschränken", mit beiden Händen zu unterschreiben.

Wir geben den Genossen Menschewiki einen guten Rat. Wenn ihr mitden Bolschewiki schärfer polemisieren und sie stärker „in die Zangenehmen" wollt, Genossen, dann schreibt, bitte, Resolutionen, die für unsunannehmbar sind. Man muß alle Klammern auflösen und nicht einenneuen Schleier über längst aufgeworfene Fragen breiten! Nehmt euch einBeispiel an uns: unser Resolutionsentwurf über die parteilosen politischen

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244 W.J.Lenin

Organisationen sagt geradeheraus, daß wir Gegner der und der IdeenAxelrods, der und der Strömung sind, die ihren Ausdruck findet in be-stimmten literarischen Erzeugnissen von Parteimitgliedern. Welche Vor-würfe es auch sein mögen, die man wegen dieses Resolutionsentwurfsgegen uns erhebt - daß wir unklar geblieben seien oder das Wesendes Streites umgangen hätten, das wird man uns bestimmt nicht vor-werfen.

. . . „1. Weckung der politischen Initiative der proletarischen Massen durchOrganisierung ihrer planmäßigen Einmischung in das politische Leben in allenseinen Erscheinungsformen.

Dabei lehnt die Sozialdemokratie, wenn sie das Proletariat zur Unterstüt-zung aller progressiven Klassen in ihrem gemeinsamen Kampfe gegen die Reak-tion aufruft, jede feste Vereinigung mit irgendeinem Teil der nichtproletarischenKlassen ab und unterstützt dort, wo einzelne Fraktionen dieser Klassen von-einander differieren, in jedem gegebenen Fall die Aktionen, die den Interessender gesellschaftlichen Entwicklung entsprechen. Die Sozialdemokratie richtetihre revolutionäre Kritik in gleichem Maße gegen die konterrevolutionärenBestrebungen der liberalen Bourgeoisie wie gegen die utopischen und reaktio-nären Vorurteile des kleinbürgerlichen Agrarsozialismus."

Diesen Punkt haben wir mit Absicht an die letzte Stelle gestellt, dennnur er allein ist verhältnismäßig inhaltsreich in dem Sinne, daß hier dieprinzipiellen Grundlagen der unterschiedlichen Taktik der Menschewikiund der Bolschewiki berührt werden. Wiederum jedoch nur „berührt",wiederum maßlos viel Wasser und wenig konkretes Material! Die bei-den ersten Sätze sind Binsenwahrheiten, von denen in der Presse derJahre 1894 und 1895 selbstverständlich gesprochen werden mußte, ge-radezu peinlich ist es jedoch, im Jahre 1907 davon zu reden. Dazu sinddiese Binsenwahrheiten noch ganz nachlässig formuliert: z. B. lehnt dieSozialdemokratie nicht nur eine „feste", sondern jegliche „Vereinigung"mit anderen Klassen überhaupt ab.

Nur der dritte Satz geht auf die Grundlagen der Taktik ein. Nur hierwird der Schleier wenigstens so weit gehoben, daß die Umrisse der kon-kreten Erscheinungen unserer Epoche sichtbar werden.

Der Sozialdemokratie werden hier gegenübergestellt: 1. die konter-revolutionären Bestrebungen der liberalen Bourgeoisie,- 2. die utopischenund reaktionären Vorurteile des kleinbürgerlichen Agrarsozialismus. Die

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Die taktisdbe Plattform der Menschewiki 245

der Partei vorgeschlagene Direktive besteht darin, in gleichem Maße daseine wie das andere zu kritisieren.

Untersuchen wir beide Teile dieser Gegenüberstellung und die Bedeu-tung einer solchen Direktive.

Was die Genossen unter „konterrevolutionären Bestrebungen der libe-ralen Bourgeoisie" verstehen, ist nicht ganz klar. Von einer liberalenBourgeoisie überhaupt, ohne genauere Definitionen zu sprechen, war1897 angebracht, keineswegs jedoch im Jahre 1907. Die Genossen Men-schewiki verspäten sich erstaunlich! Wir haben heute politische Parteienin Rußland, die in der ersten und teilweise bereits in der zweiten Dumaihr Gesicht gezeigt haben! Was ist das jedoch für eine „taktische Platt-form", wenn sie diese deutlich sichtbaren Parteien in Rußland immernoch nicht bemerkt hat?

Man kann schwerlich annehmen, daß unter der liberalen Bourgeoisiedie Oktobristen zu verstehen sind. Offensichtlich haben die GenossenParteien vom Typus der Kadetten im Auge (die Partei demokratischerReformen, vielleicht die der friedlichen Erneuerung als Erscheinungenvom gleichen Typus). Dafür spricht auch das Wort „Bestrebungen",denn bei den Oktobristen beobachten wir nicht Bestrebungen im Geisteder Konterrevolution, sondern ihre ganze Politik ist bereits konterrevo-lutionär geworden.

Es handelt sich also um die konterrevolutionären „Bestrebungen" derKadetten, d. h. darum, daß die Kadetten bereits beginnen, eine prak-tische Politik in konterrevolutionärem Geiste zu betreiben.

Das ist zweifellos richtig. Die offene und eindeutige Anerkennung die-ser Tatsache würde zweifellos die sich heute befehdenden Strömungen inder russischen Sozialdemokratie einander näher bringen. Die Notwen-digkeit einer „revolutionären Kritik" derartiger Bestrebungen ist eben-falls völlig unbestreitbar.

Gehen wir weiter. Den reaktionären "Bestrebungen der Liberalen stelltman die reaktionären „Vorurteile des kleinbürgerlichen Agrarsozialis-mus" gegenüber.

Wir verstehen nicht recht. Wie kann man Klassen (liberale Bour-geoisie) mit Lehren (Sozialismus) vergleichen und nebeneinanderstellen?praktische Politik (Bestrebungen) mit Anschauungen (Vorurteilen)??Das ist schon mehr als unlogisch. Um in einer taktischen Plattform die

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246 (V.J. Lenin

Logik zu ihrem Recht kommen zu lassen, muß man gegenüberstellen:1. eine Klasse der anderen, z. B. die liberale Bourgeoisie der demokrati-schen (oder reaktionären?) Bauernschaft; 2. eine Politik der anderen,z. B. die konterrevolutionäre der revolutionären; 3. die einen Lehren,Anschauungen und Vorurteile anderen Lehren, Anschauungen und Vor-urteilen. Das ist so offensichtlich, so elementar, daß unwillkürlich dieZweifelsfrage auftaucht: ist diese Unlogik der Menschewiki zufällig?spiegelt nicht die logische Unklarheit Unklarheiten des politischen Den-kens wider?

Daß der „Sozialismus" der Sozialrevolutionäre, Trudowiki und Volks-sozialisten voll utopischer und reaktionärer Vorurteile ist, das ist unbe-streitbar. Das muß selbstverständlich bei einer Einschätzung der erwähn-ten Parteien gesagt werden, wie das die Bolschewiki in ihren Resolutions-entwürfen zum IV. wie zum V. Parteitag auch getan haben. Wenn dieMenschewiki diesen unbestreitbaren Gedanken in so unlogischem Zu-sammenhang wiederholen, dann haben sie offensichtlich die erste besteErwägung aufgegriffen, die ihre auf Unterstützung der Kadetten gerich-tete Politik rechtfertigen könnte. In der Tat, in der zur Debatte stehen-den Plattform konnten sie bereits nicht mehr umhin, eine solche Politikzu motivieren und zu versuchen, sie zu rechtfertigen. Die Stellung derliberalen Bourgeoisie zur Bauernschaft in der russischen bürgerlichen Re-volution wird von den Menschewiki jetzt berührt. Und das ist natürlichein großer Fortschritt. Nach den Erfahrungen der ersten und (teilweise)der zweiten Duma kann man sich nicht mehr einfach darauf beschrän-ken, sich auf die berüchtigte Fiktion der „Schwarzhundertergefahr" zuberufen, um die Wahlabkommen mit den Kadetten, die Stimmabgabefür einen kadettischen Dumapräsidenten und die Unterstützung der Lo-sungen der Kadetten zn verteidigen. Man muß die Gesamtfrage stellen,die die Bolschewiki bereits in der Broschüre „Zwei Taktiken" (Juli 1905)*aufwarfen, nämlich die Frage der Stellung der liberalen Bourgeoisie undder Bauernschaft zur russischen Revolution. Was sagen denn jetzt dieMenschewiki der Sache nach zu dieser Frage?

„In Rußland hat sich die städtische bürgerliche Demokratie nicht die ganzeVolkswirtschaft untergeordnet, und daher ist sie unfähig zu einer selbstän-digen revolutionären Initiative, wie sie sie in den bürgerlichen Revolutionen

* Siehe Werke, Bd. 9, S. 1-130. Die Red.

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Die taktische Plattform der !Mensdhewiki 247

früherer Jahrhunderte zeigte; gleichzeitig beginnt eben erst die Bauernschaft,die die große Mehrheit der Produzenten darstellt, aus den ökonomischenund gesellschaftlichen Bedingungen der vorbürgerlichen Produktion herauszu-kommen, und daher eignet sie sich noch weniger für die Rolle eines selbstän-digen Führers der Revolution."

Das ist der einzige Versuch, die menschewistische Politik gegenüberden Liberalen und der Bauernschaft durch eine ökonomische Analyse zubegründen! „Die Bauernschaft eignet sich noch weniger als die städtischebürgerliche Demokratie" . . . in diesen Worten „noch weniger" soll auchdie Rechtfertigung der Politik der Unterstützung der Kadetten bestehen.

Warum denn „noch weniger"? Weil die Bauernschaft „eben erst be-ginnt, aus den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen der vor-bürgerlichen Produktion herauszukommen". Eine ausgesprochen unbe-friedigende Begründung. Wenn die Bauernschaft „eben erst herauszu-kommen beginnt", dann hindern sie daran „die Überreste der Ceibeigen-sdoaftsordnung, die als schweres Joch unmittelbar auf den Bauernlasten". So lautet gleich der erste Satz des Agrarprogramms unserer Par-tei. Aus dem Umstand, daß das schwere Joch der Überreste der Leib-eigenschaft unmittelbar auf den Bauern lastet, ergibt sich, daß notwendigund unvermeidlich unter den Bauern eine tiefere, breitere und schärfererevolutionäre Bewegung gegen die bestehende Ordnung existiert alsunter der liberalen Bourgeoisie. Von einer Eignung der liberalen Bour-geois oder der Bauernschaft zur Rolle eines Tührers der Revolution kannüberhaupt keine Rede sein*; die relative Eignung der Liberalen und derBauern aber zu einer „selbständigen revolutionären Initiative" bzw.

* Allgemein gesagt, begrüßen wir den Umstand auf das wärmste, daßdie Menschewiki in ihrer Plattform die Frage nach der Rolle des Proletariats alsFührer in der Revolution aufgeworfen haben. Es wäre sehr zu wünschen, daßder Parteitag über diese Frage berät und dazu eine Entschließung annimmt.Die Nichteignung der Bauernschaft zur Rolle eines Führers haben die Men-schewiki jedoch schwach begründet. Es geht nicht darum, daß die Bauernschaft„eben erst beginnt", aus der Leibeigenschaft „herauszukommen", sonderndarum, daß die Grundbedingungen der Kleinproduktion (in der Landwirt-schaft wie in der Industrie) den Kleinproduzenten zwingen, zwischen „Ord-nung" Tind „Eigentum" einerseits und dem Kampf gegen die alte Ordnunganderseits zu schwanken. Ganz genauso haben die Menschewiki auch hinsieht-

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248 TV. 3. Lenin

richtiger zur selbständigen Teilnahme an der Weiterentwidklung der Re-volution haben die Menschewiki direkt falsch beurteilt.

Die Stellungnahme der Menschewiki zur politischen Rolle der Bauern-schaft steht im Widerspruch gerade zu den Hauptthesen unseres Agrar-programms, die von der ganzen Partei, sowohl den Bolschewiki als auchden Menschewiki, anerkannt werden.

Erstens lastet, wie wir bereits festgestellt haben, „das schwere Joch derÜberreste der Leibeigenschaft unmittelbar auf den Bauern". Folglichmuß in der gegenwärtigen bürgerlich-demokratischen Revolution in Ruß-land die Bauernschaft revolutionärer sein als die liberale Bourgeoisie,denn die Kraft, Standhaftigkeit, Lebensfähigkeit und Schärfe einer revo-lutionären Bewegung hängt von der Stärke der knechtenden Bedingun-gen des Alten ab, das sich überlebt hat.

Zweitens fordern wir in unserem Agrarprogramm die „Konfiskationdes privaten Grundbesitzes". Nichts dergleichen fordern wir für die libe-ralen Bourgeois, nichts, was auch nur entfernt einer so radikalen ökono-mischen Maßnahme ähnlich sähe. Warum? Weil keinerlei objektive Vor-aussetzungen vorliegen, die innerhalb der liberalen Bourgeoisie einenKampf für die "Konfiskation sehr erheblicher Teile des vom Standpunktdes Alten „rechtmäßigen" Eigentums hervorrufen würden. Daß jedochbei der Bauernschaft diese objektiven Voraussetzungen vorhanden sind,anerkennen wir alle, denn die Marxisten fordern die Konfiskation nichtaus Liebe zu ultrarevolutionären Maßnahmen, sondern weil sie um dieausweglose Lage der bäuerlichen Massen wissen. Die unvergleichlich grö-ßere Stärke der bürgerlich-demokratischen revolutionären Stimmungender Bauernschaft ergibt sich zwangsläufig aus dieser Prämisse unseresAgrarprogramms.

Drittens spricht unser Agrarprogramm von der „Unterstützung derrevolutionären Aktionen der Bauernschaft einschließlich der Konfiskationder Gutsbesitzerländereien". Hier wird direkt die Notwendigkeit aner-kannt, eindeutig Stellung zu nehmen zu dem unmittelbar revolutionären

lieh der liberalen Boargeoisie den Hauptgrand ihrer Unzuverlässigkeit außeracht gelassen: die Furcht vor dem Proletariat, die Notwendigkeit, sich auf dieMachtinstrumente der alten Ordnung zu stützen, um sich, wie es in der bol-schewistischen Resolution heißt, „gegen Anschläge des Proletariats" zuschützen.

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Die taktische Plattform der Menschewiki 249

Kampf der Bauernschaft, zu „Aktionen" mit Massencharakter, die einenriesengroßen Raum und einen riesengroßen Teil der Bevölkerung desLandes erfassen. Diesen revolutionären Aktionen hat die städtische, undzwar nicht nur die „liberale" - d. h. die mittlere und teilweise die großeBourgeoisie - , sondern auch die demokratische Kleinbourgeoisie nichtszur Seite zu stellen. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei hat niemalsirgendwelchen „Konfiskations"plänen der städtischen Bourgeoisie „Un-terstützung" zugesagt und nicht zusagen können. Daraus ist schon er-sichtlich, wie unrichtig die bei den Menschewiki übliche Argumentationmit der „fortschrittlichen städtischen" und der „rückständigen ländlichen"Bourgeoisie ist, eine Argumentation, auf die auch die zur Debattestehende Plattform anspielt. Diese Argumentation beruht auf Unver-ständnis für die Hauptideen unseres ganzen Programms in der Fragedes Kampfes gegen die Überreste der Leibeigenschaft, des Kampfes,der den ökonomischen Inhalt der bürgerlichen Revolution in Rußlandbildet.

Viertens hat die politische Geschichte Rußlands während des vergan-genen Jahres - besonders die erste Duma und die Wahlen zur zweiten -klar gezeigt, daß die Bauernschaft es bei all ihrer Unentwickeltheit, Zer-splitterung usw. verstanden hat, sofort die Bildung politischer- Parteien inAngriff zu nehmen (die „Trudowiki"gruppe usw.), die zweifellos demo-kratischer sind als die liberalen bürgerlichen Parteien (die Kadetten ein-geschlossen). Es genügt ein Vergleich des Agrarentwurfs der Kadettenmit dem der „104" oder auch der Einstellung der Kadetten mit der derTrudowiki zur Versammlungsfreiheit und zur Zusammensetzung der ört-lichen Bodenkomitees oder ein Vergleich der Presse der Kadetten, die dasVolk beschwichtigt und die revolutionäre Bewegung mit dem Wässerchenkonstitutioneller Phrasen zu löschen sucht, mit der Presse der Trudowiki(„Iswestija Krestjanskich Deputatow"72 usw.), die neue Schichten desstädtischen und ländlichen Kleinbürgertums in demokratischem Sinnerevolutioniert.

Mit einem Wort, man muß, von welcher Seite man auch an die Frageherangeht, zugeben, daß die vergleichende Einschätzung der Liberalenund der Trudowiki durch die Menschewiki von Qrund aus fälsch ist.

Die Quelle dieses Fehlers ist das Unverständnis für die sich in derLandwirtschaft Rußlands vollziehende bürgerliche Umwälzung. Diese

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Umwälzung ist in zwei Formen möglich: entweder Aufrechterhaltungdes gutsherrlichen Grundbesitzes auf dem Wege seiner Säuberung voneinigen Zügen der Leibeigenschaft, auf dem Wege der Knechtung derbäuerlichen Landarbeiter; oder Beseitigung des gutsherrlichen Grundbe-sitzes auf dem Wege seiner Konfiskation und der Übergabe des Bodensan die Bauernschaft (in Form der Nationalisierung, der Aufteilung, der„Munizipalisierung" usw. usf.)*.

Eine bürgerliche Umwälzung in der russischen Landwirtschaft ist ab-solut unvermeidlich. Und diese Umwälzung bleibt eine bürgerliche (ent-gegen der Lehre der Volkstümler) auch im zweiten Fall. Die Umwäl-zung kann jedoch in der ersten oder in der zweiten Form vonstattengehen, je nachdem, ob die demokratische Revolution siegen oder unvoll-endet bleiben wird; ob ihren Verlauf und Ausgang die bäuerliche Masseoder der liberale Gutsbesitzer und Fabrikant bestimmen wird.

Eine bürgerliche Umwälzung zum Zwecke der Erhaltung des gutsherr-lichen Grundbesitzes führen sowohl Stolypin als auch die Liberalen (diePartei der Kadetten) durch. Stolypin tut das in den gröbsten und asia-tischsten Formen, die geeignet sind, den Kampf im Dorfe zu entfachenund die Revolution zu verstärken. Die Liberalen fürchten das und sind,da sie nicht alles aufs Spiel setzen wollen, für Zugeständnisse, jedoch fürsolche Zugeständnisse, die dennoch den gutsherrlichen Grundbesitz er-halten •. es mag genügen, an die Ablösung zu erinnern und, was die Haupt-sache ist, an die Zusammensetzung der örtlichen Bodenkomitees zu glei-dhen leilen aus Vertretern der Gutsbesitzer und der Bauern unter demVorsitz von Regierungsagenten! Eine solche Zusammensetzung der ört-lichen Bodenkomitees bedeutet die Beibehaltung des Tlbergewidbts derGutsbesitzer. Die Ablösung bedeutet eine Stärkung der bäuerlichen Bour-geoisie und die Versklavung des bäuerlichen Proletariats. Gerade diesegrundlegende, ökonomische Solidarität der Stolypinsdaen und der kadet-tischen Agrarreform verstehen die Menschewiki nicht.

* Ich mache den Leser besonders darauf aufmerksam, daß ich absichtlichdie strittigen Fragen des sozialdemokratischen Agrarprogramms (Aufteilung,Nationalisierung, Munizipalisierung) unberührt lasse und nur über dasspreche, was nicht nur durch den Parteitag in aller Form beschlossen wordenist, sondern auch dem Wesen nach keinen Streit und keine fraktionellen Spal-tungen in der Sozialdemokratie hervorruft.

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Die taktisdbe Plattform der Mensdbewiki 251

Stolypin und die Kadetten divergieren bezüglich der Qröße der Zu-geständnisse, bezüglich der Art (grob oder feiner) der Durchführung derReform. Aber sowohl Stolypin als auch die Kadetten sind für eine Re-form, d. h. für die Erhaltung des Übergewichts der Gutsbesitzer auf demWege von Zugeständnissen an den Bauern.

Das Proletariat und die Bauernschaft sind für die Revolution, für dieBeseitigung nicht nur des Übergewichts der Gutsbesitzer, sondern desgesamten gutsherrlichen Grundbesitzes.

Wir können mit der Revolution Schluß machen durch geringfügige Zu-geständnisse der Gutsbesitzer, sagt Stolypin.

Wir können mit der Revolution nur Schluß machen durch weiter-gehende Zugeständnisse der Gutsbesitzer, sagen die Liberalen (die Ka-detten eingeschlossen).

Wir wollen die Revolution zu Ende führen durch Beseitigung des guts-herrlichen Grundbesitzes, sagen die Bauern und die Arbeiter.

Ein solches Verhältnis zwischen den Agrarprogrammen leugnen hießeunser eigenes Agrarprogramm leugnen, das von der „Konfiskation desprivaten Grundbesitzes" und von der „Unterstützung der revolutionärenAktionen der Bauernschaft einschließlich der Konfiskation der Gutsbe-sitzerländereien" spricht.

Ein solches Verhältnis anerkennen bedeutet jedoch die taktische Linieder Sozialdemokratie anerkennen: das Proletariat muß der demokrati-schen Bauernschaft vorangehen gegen die Selbstherrschaft und gegendie Liberalen.

Die Menschewiki schwanken daher nicht zufällig in ihrer ganzen Tak-tik, sie sind vielmehr unvermeidlich zu Schwankungen verurteilt, solangesie das heutige Agrarprogramm anerkennen. Einige von ihnen tendierendahin, im Programm das Wort „Konfiskation" durch das Wort „Ent-eignung" zu ersetzen, womit sie völlig konsecjuent, aus dem Gefühl derNotwendigkeit, ihre kadettische Politik mit einer kadettischen Formulie-rung des Agrarprogramms zu koordinieren, den nächsten Schritt desOpportunismus zum Ausdruck bringen.

Aber das ist noch nicht geschehen. Nicht einmal die einflußreichenFührer des Menschewismus können sich entschließen, das offen, direktund von vornherein vorzuschlagen. Und so kommt es bei ihnen unver-meidlich dazu, daß sie in der Politik schaukehl.

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252 TV.! Lenin

Man muß eine Politik treiben, die Unterstützung der Kadetten be-deutet, und gleichzeitig kann man sich nicht entschließen, sie offen zuverkünden! Sowohl die Unterstützung der Forderung nach einem „Duma-kabinett" als auch Blocks mit den Kadetten wegen der fiktiven Schwarz-hundertergefahr, wie auch die Stimmabgabe für einen Dumapräsidentenaus den Reihen der Kadetten - das alles sind lediglich Teilerscheinungeneiner Politik der Unterstützung der Kadetten, einer Politik der Unter-ordnung des Proletariats unter die Hegemonie der Liberalen.

Nur können sich die Menschewiki nicht entschließen, diese Politikoffen zu vertreten. Und die von ihnen bezogene schiefe Stellung treibtsie dazu, ohne daß sie es wollen oder sich dessen bewußt sind, fiktiveArgumente zu „ersinnen", etwa wie die „schwarze Gefahr" bei denWahlen oder daß das „Dumakabinett" keine halbschlächtige Pseudo-reform darstelle, die den Versuch eines Pakts zwischen der Schwarzhun-derterkamarilla und den Kadetten verschleiern soll, oder etwa, daß wir„riskiert" hätten, den Kadetten durchfallen zu lassen, falls wir Golowin(der 356 Stimmen gegen 102 erhielt) unsere 60-70 Stimmen entzogenhätten, usw. usf.

Ihre schiefe Stellung zwingt sie dazu, den Kadetten einen verschönern-den Anstrich zu geben.' Sie vermeiden es, eine direkte Charakteristikdieser Partei nach ihrer klassenmäßigen Zusammensetzung und ihrerKlassenstütze zu liefern. Sie weichen einer Einschätzung der russischenbürgerlichen Parteien durch den Parteitag aus. Sie sagen anstatt „libe-rale Bourgeoisie" „städtische bürgerliche Demokratie".

Diese geradezu falsche Charakteristik der Kadetten* verteidigen siemit einem auf den ersten Blick sehr wohlklingenden Argument: dieWahlstatistik zeige, daß gerade die großen Städte die meisten Wahl-männer der Kadetten stellen. Dieses Argument ist nicht stichhaltig:

* In der von mir untersuchten Plattform ist nicht direkt gesagt, daß dieKadetten eine Partei der städtischen bürgerlichen Demokratie sind, aber ebendas ist der Sinn des ganzen Textes und aller Schlußfolgerungen. Genau dasbesagen die „Erläuterungen" der menschewistischen Presse. Daß in der Platt-form nicht alles bis zu Ende ausgesprochen wird, unterstreicht nur wieder einweiteres Mal, wie notwendig es ist, daß der Parteitag sich mit der Frage desKlasseninhalts der verschiedenen bürgerlichen Parteien und unserer Stellungzu ihnen befaßt. Andernfalls kann es keine konsequente Taktik geben.

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Die taktische Plattform der Tdens&ewiki 253

erstens erhielten die Kadetten bei den Wahlen zur zweiten Duma in22 großen Städten, in denen nach Angaben der „JLetsch" ein Linksblockbestand, 74 000 Stimmen und die Linken 41 000. Also haben die Trudo-wiki und die Sozialdemokraten trotz der auffallenden Schwäche der Lin-ken bei der legalen Agitation (keinerlei Tageszeitungen, keinerlei legaleBüros usw.) auf einen Schlag mehr als ein Drittel der Kadettenstimmenerobert! Also vertreten die Kadetten die Spitzen der städtischen Bour-geoisie, d. h. gerade die liberale Bourgeoisie und keineswegs die städti-sche „Demokratie" überhaupt. Zweitens hatte die liberale Bourgeoisie inallen Ländern lange Zeit zahlreiche Elemente der unteren Schichten desKleinbürgertums in Stadt und Land hinter sich, ohne dadurch im gering-sten zu einer demokratischen Partei, zu einer Partei der Massen zu wer-den. Der Kampf der Sozialisten mit den Liberalen um die demokratischeHegemonie über die Masse der städtischen kleinbürgerlichen Armut istein langer und mühsamer Kampf. Die Kadetten einfach als „städtischeDemokratie" deklarieren bedeutet auf diesen Kampf verzichten, dieSache des Proletariats im Stich lassen und sie den Liberalen ausliefern.Drittens, wenn man leugnet, daß die liberalen Qutsbesitzer immer nocheine der Klassenstützen der Kadettenpartei darstellen, so heißt das, all-gemeinbekannte politische und ökonomische Tatsachen zu vergewaltigen:sowohl die Zusammensetzung der Kadettenfraktion in der Duma alsauch besonders die enge Verbindung der bürgerlichen Intelligenz, derAdvokaten usw., mit den Gutsbesitzern sowie die Abhängigkeit derersteren von den letzteren. Die Agrarpolitik der Kadetten «st die Politikdes liberalen Gutsbesitzers. Je weniger Liberale es unter den Gutsbesit-zern geben wird, desto schneller wird sich die Agrarpolitik der Kadettenin den frommen Wunsch des ohnmächtigen bürgerlichen Intellektuellennach „sozialem Frieden" verwandeln. Zu „Demokraten" werden die Ka-detten davon nicht, daß sie fortfahren, von einer Versöhnung und einemgütlichen Abkommen des oktobristischen Gutsbesitzers mit dem trudo-wikischen Bauern zu träumen.*

* Bekanntlich haben die rechten Kadetten, darunter auch Herr Struve, vor-geschlagen, den Oktobristen Kapustin und den Trudowik Beresin zu stellver-tretenden Präsidenten der zweiten Duma zu wählen. Ich bin bereit, diesen Plan

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254 TW. 3. Lenin

Der grundlegende Fehler bei Bestimmung des Verhältnisses zwischender liberalen Bourgeoisie und der Bauernschaft zieht sich wie ein roterFaden durch die ganze „taktische Plattform" der Menschewiki. Hier ha-ben wir noch eine Formulierung von ihnen mit diesem fehlerhaften Ge-danken:

„Das ganz und gar sich selbst überlassene und von der städtischen Demo-kratie unzureichend unterstützte (!!) Proletariat neigte (nach der Oktober-De-zember-Periode) dazu, die progressive Rolle zu schmälern, die in der gegen-wärtigen Revolution der städtischen Demokratie im allgemeinen zufällt, undnahm dementsprechend ihr gegenüber eine einseitig feindselige Stellung ein . . .Das Proletariat beginnt, alle seine revolutionären Hoffnungen einseitig auf dieBewegung der die historische Bühne betretenden Bauernschaft zu setzen, weiles sich eine falsche Auffassung von der historischen Rolle der städtischen Bour-geoisie zu eigen gemacht hat."

Das sind bemerkenswerte Stellen, die in die Geschichte Eingang findensollten zur Charakterisierung der „Selbstvergessenheit" eines Teils derrussischen Sozialdemokratie im Jahre 1907.

Ist es doch nicht mehr und nicht weniger als eine ganze Büßerrede derSozialdemokraten vor den Liberalen! Man überlege nur: In der Zeit derzweiten Duma, angesichts der klar zutage getretenen Verschärfung derpolitischen Extreme zwischen dem Schwarzhunderterflügel und dem lin-ken Flügel der Duma, angesichts einer revolutionären Krise, deren Her-anreifen niemand zu leugnen wagt, angesichts der klaren Rechtsschwen-kung des geschwächten liberalen „Zentrums" (der Kadetten), angesichts

einen „genialen" Ausdruck liberalen... „Scharfsinns" zu nennen. Und tat-sächlich ist es objektiv gerade so, daß die historisdhe ^Mission des Kadetten inder Versöhnung des oktobristischen Gutsbesitzers mit dem trudowikischenBauern besteht. Die linken Kadetten möchten das aus Furcht vor den Linkennicht offen zeigen. Aber nichtsdestoweniger ist es eine unanfechtbare Tatsache.Der objektive Stand der Dinge läßt es zur historischen Aufgabe der Kadettenwerden, der Revolution auf dem Wege der Versöhnung der oktobristischenGutsbesitzer mit dem trudowikischen Bauern ein Ende zu setzen. Und um-gekehrt : nicht vollendet, nicht zu Ende geführt kann die russische Revolutionnur dann bleiben, wenn es sich als möglich erwiese, die grundlegenden öko-nomischen Interessen sowohl der oktobristischen Gutsbesitzer als auch dertrudowikischen Bauern gleicherweise zu „befriedigen".

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Die taktische Plattform der Mensdbewiki 255

der Verdrängung der Liberalen durch die demokratische Bauernschaft beiden Wahlen - finden sich Sozialdemokraten, die vor den Liberalen öffent-lid) bereuen, eine „einseitige Feindschaft" gegen sie gehegt und ihre pro-gressive Rolle geschmälert zu haben! Was ist denn das schließlich? Einetaktische Plattform, die von den hervorragendsten Führern der Sozial-demokratischen Arbeiterpartei vor dem Parteitag durchdacht und er-wogen worden ist, oder das Gejammer kleinbürgerlicher Intellektueller,die sich in dem ihnen nicht passenden proletarischen Milieu unwohlfühlen?

„Das Proletariat nahm eine einseitig feindselige Stellung gegenüberder städtischen Demokratie ein. . ." Worin kam das zum Ausdruck?Wir lassen die politischen Ereignisse des vergangenen Jahres im Geistean uns vorüberziehen. Im Boykott? Doch war das erstens vor dem Ver-einigungsparteitag, die Urheber der Plattform aber behandeln die ihmfolgenden Ereignisse. Und zweitens, was soll denn hier die „städtischeDemokratie"? Nein, offensichtlich handelt es sich nicht um den Boykott.Wahrscheinlich also um die Unterstützung der Forderung nach einemDumakabinett und um Blocks mit den Kadetten.

Hier hat das Proletariat tatsächlich eine feindselige Haltung gegenüberden Xadetten gezeigt, keineswegs aber gegenüber der städtischen De-mokratie.

Und wer brachte damals in der Partei diese feindselige Haltung desProletariats zum Ausdruck? Die Bolschewiki...

Die Urheber der Plattform haben unbeabsichtigt eine große Wahr-heit gesagt, nämlich daß die Bolschewiki in ihrem Krieg gegen die Unter-stützung der Forderung nach einem „Duma"kabmett und gegen Blocksmit den Kadetten die Politik des Proletariats zum Ausdruck brachten.Das ist richtig. Von einer Milderung der feindseligen Haltung gegenüberden Liberalen träumt nur der kleinbürgerliche Teil der Arbeiterpartei.

. . . Das Proletariat, „unzureichend unterstützt von der städtischenDemokratie" . . .

Erstens tritt hier mit besonderer Klarheit zutage, wie falsch es ist, dieLiberalen (die Kadetten) mit der städtischen Demokratie zu verwech-seln. Ein „Linksblock" bei den Wahlen bestand, nach Angaben der„Retsch", in 22 Städten, darunter auch in menschewistischen Organisa-tionen. In diesen Städten wurde das Proletariat zweifellos in bedeuten-

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256 W.l Lenin

dem Maße von der städtischen Demokratie unterstützt - gegen die Ka-detten (41 000 Stimmen für den Linksblock, 74 000 für die Kadetten).Die Schlußfolgerung daraus spricht durchaus nicht für die Menschewiki:Das Proletariat kann und muß die städtische (und ländliche) kleinbür-gerliche Demokratie gegen die liberale Bourgeoisie auf seine Seite ziehen.

Zweitens, sind sich die Menschewiki, wenn sie von einer unzureidhen-den Unterstützung des Proletariats durch die Liberalen sprechen, überden Wert einer Unterstützung des Proletariats durch die Liberalen imklaren? Ihre Plattform wird doch im Jahre 1907 geschrieben und keines-wegs außerhalb von Zeit und Raum, wie sehr sie sich auch bemühenmögen, ihr einen möglichst unkonkreten und unbestimmten Charakterzu geben. In den Jahren 1902-1904, ja sogar bis zum Oktober 1905haben sowohl Herr Struve als auch die Liberalen überhaupt mehrfach er-klärt, das Proletariat unterstützen zu wollen, und haben es auch in derTat bei seinem Ansturm auf die Selbstherrschaft unterstützt.

Und nach dem Oktober 1905? Die Menschewiki wissen sehr wohl,daß die Liberalen bereits im Dezember und dann nach dem Dezembersich vom Proletariat abwandten und jegliche Unterstützung seines revo-lutionären Kampfes einstellten.

Fragt sich, wer gegenüber wem eine einseitig feindselige Stellung be-zogen hat.

Das Proletariat gegenüber den Liberalen?Oder die Liberalen gegenüber dem Proletariat und gegenüber der Re-

volution?Oder die Menschewiki gegenüber der Taktik des proletarischen Klas-

senkampfes?*

Die beiden Ansichten von der russischen Revolution nach dem Okto-ber 1905 sind von den Menschewiki, die sich so weit verstiegen, von „ein-seitiger Feindseligkeit" zu sprechen, in anschaulichster Weise nebenein-andergestellt worden. Die liberale Ansicht - die Ansicht der russischenAnhänger der deutschen Treitschkes, die das Jahr 1848 zum „tollenJahr" erklärten - besagt, das Proletariat habe eine einseitig feindseligeStellung bezogen gegenüber dem Liberalismus, gegenüber der konstitu-tionellen Legalität, gegenüber der monarchischen Verfassung, gegenüberder Ablösung usw.

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T>ie taktisdbe Plattform der fflensdbewiki 257

Die Ansicht des Proletariats - ähnlich wie die Ansicht aller europä-ischen Sozialisten von den europäischen bürgerlichen Revolutionen =besagt, daß die liberale Bourgeoisie eine einseitig feindselige Stellunggegenüber der Revolution, gegenüber der Freiheit, gegenüber der Demo-kratie usw. bezogen hat.

Die Menschewiki sind bestrebt, die Arbeiterpartei von der zweiten zuder ersten Ansicht zu bringen.

Die Arbeiterpartei wird jedem derartigen Versuch der Menschewikimit dem Bestreben begegnen, die Menschewiki von der Arbeiterpartei zuden Liberalen zu bringen.

Wir wollen keinesfalls sagen, daß die Menschewiki überhaupt danachstreben, die Arbeiterpartei in ein Anhängsel der Liberalen zu verwan-deln. Der Unterschied zwischen den Opportunisten innerhalb der Ar-beiterpartei und den Liberalen außerhalb ihrer Reihen besteht ja geradedarin, daß erstere aufrichtig fortfahren, ihrer Partei zu dienen, dabeiaber eine falsche und schwankende taktische Position beziehen, die zurpolitischen Unterordnung des Proletariats unter den Liberalismus führt.

Diese falsche Position besitzt eine so „unglückliche" Eigenschaft, daßdie Menschewiki in ihrem Wunsche, über die Bolschewiki herzufallen,über das Proletariat und die proletarische Einstellung zur Revolution her-fallen. So geschieht es jedesmal, wenn die Angriffe der Menschewikiwirklich prinzipieller Art sind, d. h. die Frage nach den Ursachen derbeiden verschiedehartigen Taktiken betreffen. Angriffe anderer Art sindnicht prinzipieller Natur; sie braucht man nur kurz zu erwähnen, umdem Leser die Frage zu stellen: Haben wir es hier mit einer Plattformoder mit einem liberalen polemischen Artikel zu tun?

Beispielsweise lesen wir in der „Plattform", daß „die proletarischenMassen" (sie!) „geneigt sind, an das nahende politische Wunder einesplötzlichen (!!) Auf Stands zu glauben, der unabhängig (!!) von der Ent-wicklung der inneren Bewegung des Proletariats selbst aufflammen undmit einem Schlage (!!) an die Stelle der Selbstherrschaft die politischeHerrschaft der werktätigen Klassen setzen wird".

Solche Dinge in soldner Form schrieben bisher nur liberale Zeitungenden „proletarischen Massen" zu. Was die Menschewiki veranlaßte, hier

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überhaupt vom Aufstand zu reden, ist uns unverständlich. Aber solcheRedensarten über Aufstand in einer taktischen Plattform, in der, außerdem zitierten Satz, kein einziges Wort über den Aufstand steht, fordernunweigerlich die Frage heraus: Soll man nicht statt von einer „mensche-wistischen Plattform" künftig von einer „liberalen Plattform" sprechen?

Qesdbrieben in der zweiten TAärzhälfte 1907.

Veröffentlidht 1907 in dem Sammelband "Nach dem 7ext des„fragen der 7aktik" I, Verlag Sammelbandes.„Nowaja Duma", St. Petersburg.Untersdhrift: 'N. Centn.

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er

Erste Seite von W. I. Lenins Manuskript„Entwurf einer Rede zur Agrarfrage in der zweiten Reichsduma"

1907

17»

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ENTWURF EINER REDE ZUR AGRARFRAGEIN DER ZWEITEN REICHSDUMA73

Meine Herren! In der Duma hat schon eine Reihe von Rednern dasWort ergriffen, die die grundlegenden Ansichten der verschiedenen Par-teien zur Bodenfrage dargelegt haben. Es ist an der Zeit, eine gewisseBilanz zu ziehen. Es ist an der Zeit, sich eine klare und präzise Antwortzu geben auf die Fragen: worin besteht das Wesen der Auseinander-setzungen? worin liegt die Schwierigkeit der Bodenfrage? welches sinddie grundlegenden Ansichten aller der wichtigsten Parteien, deren Ver-treter sich in der Duma geäußert haben? worin gehen die verschiedenenParteien in der Bodenfrage entschieden und unwiderruflich ausein-ander?

In der Duma wurden von den Vertretern der vier wichtigsten Parteienoder Parteiströmungen vier Hauptansichten zur Agrarfrage dargelegt.Der Deputierte Swjatopolk-Mirski legte die Ansichten der „Rechten" dar,wobei dieses Wort die Oktobristen, die Monarchisten usw. umfassen soll.Der Deputierte Kutler legte den Standpunkt der Kadetten oder der soge-nannten „Partei der Volksfreiheit" dar. Der Deputierte Karawajewbrachte die Ansichten der Trudowiki vor. Er wurde ergänzt von den imwesentlichen mit ihm einverstandenen Deputierten Simin, Kolokolnikow,Baskin, Tichwinski. Schließlich trug mein Genosse Zereteli die Anschau-ungen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands vor. Der Ver-treter der Regierung, Minister Wassiltschikow, gab eine Darstellung derAnsichten der Regierung, die, wie ich später in meiner Rede zeigenwerde, darauf hinauslaufen, die Ansichten der „Rechten" und die der„Kadetten" miteinander zu versöhnen.

Betrachten wir nun, worin die grundlegenden Ansichten dieser vier

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politischen Richtungen in der Agrarfrage bestehen. Ich beginne in derReihenfolge, in der die Deputierten in der Duma gesprochen haben, d. h.mit den Rechten.

Die grundlegende Ansicht des Deputierten Swjatopolk-Mirski ist dieAnsicht aller sogenannten „monarchistischen" Parteien und aller Okto-bristen, die Ansicht der großen Masse der russischen Gutsbesitzer. DerDeputierte Swjatopolk-Mirski brachte sie ausgezeichnet zum Ausdruckmit seinen Worten: „Also, meine Herren, geben Sie den Gedanken aneine Vergrößerung der 7lädbe des bäuerlichen Bodenbesitzes auf, abge-sehen von Ausnahmefällen einer wirklichen Bodenknappheit." (Ich zitierenach dem Bericht der Zeitung „Towarischtsch" als dem vollständigstenBericht, denn die stenografischen Berichte sind noch nicht erschienen.)

Das ist gut gesagt: offen, klar und einfach. Qeben Sie den Gedankenauf an eine Vergrößerung des Bauernlandes - das ist die wirkliche An-sicht aller Rechtsparteien, vom Bund des russischen Volkes bis zu denOktobristen. Und wir wissen sehr gut, daß gerade das die Ansicht derMasse der russischen Gutsbesitzer wie auch der Gutsbesitzer der anderenRußland bewohnenden Nationen ist.

Warum raten die Gutsbesitzer den Bauern, den Qedanksn an eine Er-weiterung des bäuerlichen Grundbesitzes aufzugeben? Der DeputierteSwjatopolk-Mirski erklärt: weil Gutswirtschaften besser organisiert sindals Bauernwirtschaften, „kultivierter" sind als Bauernwirtschaften. DieBauern seien eben „unkultiviert, ungebildet, unwissend". Sie könnenja ohne die Führung der Gutsbesitzer nicht auskommen. „Wie derHirt, so die Herde", witzelte der Deputierte Swjatopolk-Mirski. Erglaubt offenbar fest daran, daß der Gutsbesitzer immer der "Hirt, dieBauern aber immer die gehüteten Schaf e sein und sich immer scherenlassen werden.

Immer, Herr Swjatopolk-Mirski? Immer, meine Herren Gutsbesitzer?Ei, sollten Sie sich da nicht irren? Waren nicht darum die Bauern bislang„gehütete Schafe", weil sie zu „ungebildet und unwissend" waren? Aberwir alle sehen jetzt, daß die Bauern bewußt werden. Die Bauerndepu-tierten in der Duma gehen nicht zu den „Rechten", sondern zu den Tru-dowiki und den Sozialdemokraten. Solche Reden wie die Rede vonSwjatopolk-Mirski werden auch den ungebildetsten Bauern helfen zu be-greifen, wo die Wahrheit liegt, ob' man wirklich die Parteien, die den

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Entwurf einer Hede zur Agrarfrage in der zweiten TKeidos&uma 263

Bauern raten, den Qedanken an eine Erweiterung des bäuerlichen Boden-besitzes aufzugeben, unterstützen soll.

Darum eben begrüße ich von ganzem Herzen die Rede des Deputier-ten Swjatopolk-Mirski und die Reden, die alle künftigen Redner vonden Bänken der Rechten zu dieser Frage halten werden. Fahren Sie indiesem Geiste fort, meine Herren! Sie helfen uns ausgezeichnet, selbstden ungebildetsten Bauern die Augen zu öffnen!

Man sagt, die Gutswirtschaften seien kultivierter als die Bauernwirt-schaften . . . Die Bauern kämen nicht ohne die Führung der Gutsbesitzeraus!

Ich aber sage Ihnen: Die ganze Geschichte des gutsherrlichen Grund-besitzes und Wirtschaftsbetriebs in Rußland, alle Materialien über dieheutige gutsherrliche Wirtschaft zeigen, daß die gutsherrliche „Tührung"immer bedeutete und bedeutet maßlose Gewaltanwendung gegenüber denBauern, endlose Entwürdigung der Persönlichkeit der Bauern und derBäuerinnen, daß sie die gewissenloseste und schamloseste, nirgendwosonst in der Welt anzutreffende Exploitation (in unserer Sprache heißtdas: Ausplünderung) der Bauernarbeit bedeutet. Eine solche Unter-drückung und Einschüchterung, ein solches Elend wie bei den russischenBauern findet man nicht in ganz Westeuropa, ja nicht einmal in derTürkei.

Mein Genosse Zereteli hat schon davon gesprochen, wie man besiedelteKronländereien an Günstlinge und Favoriten der Hof „Sphären" weggab.Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Frage der "Wirtsdbaftsweise len-ken, die der Deputierte Swjatopolk-Mirski berührte, als er von der viel-gepriesenen „Kultur" der Gutsbesitzer sprach.

Weiß dieser Deputierte, was die Bauern Abarbeit oder 'Herrendienstnennen? was die ökonomische Wissenschaft als eine auf Abarbeit beru-hende Wirtsdbaft bezeichnet?

Die auf Abarbeit beruhende gutsherrliche Wirtschaft ist ein direktesErbe, ein direktes Überbleibsel der Leibeigenen-, der Fronwirtschaftder Gutsbesitzer. Worin bestand das Wesen der Leibeigenenwirtschaft?Darin, daß die Bauern zur Ernährung ihrer Familie vom Gutsherrn einenBodenanteil erhielten und dafür drei Tage (zuweilen aber auch mehr)auf dem Herrenboden arbeiten mußten. Anstatt dem Arbeiter Geld zuzahlen, wie das heute überall in den Städten geschieht, bezahlte man mit

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Boden. Mit dem Bodenanteil, den der Bauer vom Gutsherrn erhielt,konnte er gerade eben sein Leben fristen. Und dafür mußten der Bauerselbst und seine ganze Familie das Gutsherrenland bearbeiten, und dasmit den eigenen Bauernpferden und mit dem bäuerlichen Gerät oder„Inventar". Das ist das Wesen der Leibeigenenwirtschaft: ein kümmer-licher Bodenanteil an Stelle von Arbeitslohn; Bearbeitung des Gutsherren-landes mit bäuerlichem Fleiß und bäuerlichem Inventar; Nötigung desBauern, unter der Fuchtel des Gutsherrn zu arbeiten. Bei solcher Wirt-schaftsweise mußte der Bauer auch selber leibeigen werden, weil keineinziger auf Anteilland sitzender Mensch, ohne durch Qewalt genötigt zusein, für den Gutsherrn gearbeitet hätte. Und was diese Leibeigenschaftfür die Bauern war, das wissen die Bauern selber nur allzugenau, dessenerinnern sie sich nur allzugut.

Die Leibeigenschaft gilt als aufgehoben. Aber in Wirklichkeit ist inden Händen der Gutsbesitzer bis auf den heutigen Tag eine derartigeMacht verblieben (dank den von ihnen geraubten Ländereien), daß sieauch heute den Bauern in fronherrlicher Abhängigkeit halten - durchdie Abarbeit. Die Abarbeit, das ist eben die heutige Leibeigenschaft. Alsmein Genosse Zereteli in seiner Rede zur Regierungserklärung von demLeibeigenschaftscharakter des gutsherrlichen Grundbesitzes und der ge-samten jetzigen Staatsmacht in Rußland sprach, da zeterte eine vor derRegierung kriechende Zeitung - sie heißt „Nowoje Wremja" - , der De-putierte Zereteli habe die Unwahrheit gesagt. Nein, der Deputierte derSozialdemokratischen Arbeiterpartei hat die Wahrheit gesagt. Nur kom-plette Dummköpfe oder käufliche Schreiberlinge können bestreiten, daßdie Abarbeit ein direktes Überbleibsel der Leibeigenschaft ist, daß un-sere gutsherrliche Wirtschaft sich durch die Abarbeit hält.

Worin besteht das Wesen der Abarbeit? Darin, daß das Gutsbesitzer-land nicht mit dem gutsherrlichen Inventar und von Lohnarbeitern bear-beitet wird, sondern mit dem Inventar des Bauern, der von dem benach-barten Gutsbesitzer geknechtet ist. Und in die Knechtschaft gehen mußteder Bauer, weil der Gutsbesitzer sich die besten Stücke Landes „abge-schnitten" und den Bauern auf „Sand" gesetzt, auf einen kümmerlichenBodenanteil verdrängt hatte. Die Gutsbesitzer nahmen sich so viel Land,daß die Bauern nicht nur keine Wirtschaft führen konnten, sondern nichteinmal genügend Boden hatten, „um ihr Huhn hinauszulassen".

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Entwurf einer Hede zur Agrarfrage in der zweiten Reidhsduma 265

Die gutsherrlichen Gouvernementskomitees im Jahre 1861 und dieGutsbesitzer als Friedensrichter (Friedensrichter nannte man sie wahr-scheinlich deshalb, weil sie die Gutsbesitzer völlig in Frieden ließen)74

befreiten die Bauern so, daß sich die Gutsbesitzer ein fünftel des Bauern-landes „abschnitten"! Sie befreiten die Bauern so, daß der Bauer für denihm nach diesem Raub verbleibenden Anteil einen unerhörten Überpreiszahlen mußte! Es ist doch für niemand ein Geheimnis, daß beim „Cos-kauf" des Jahres 1861 der Bauer gezwungen wurde, weitaus mehr zuzahlen, als das Land kostete. Es ist für niemand ein Geheimnis, daß derBauer damals gezwungen wurde, nicht nur das Bauernland loszukaufen,sondern auch die Bauernfreiheit. Es ist für niemand ein Geheimnis, daßdie „Wohltat" des staatlichen Loskaufs darin bestand, daß der Fiskusden Bauern mehr Geld für das Land abknöpfte (in Form der Loskauf-zahlungen), als er den Qutsbesitzern gab! Das war der Bruderbund desGutsbesitzers und des „liberalen" Bürokraten zwecks Ausplünderungdes Bauern. Wenn Herr Swjatopolk-Mirski alles das vergessen hat, sohaben es die Bauern ganz sicher nicht vergessen. Sollte Herr Swjatopolk-Mirski das nicht wissen dann möge er nachlesen, was schon vor dreißigfahren Professor Janson in seinem „Versuch einer statistischen Unter-suchung über die bäuerlichen Bodenanteile und Zahlungen" geschriebenhat und was seitdem in der ganzen statistisch-ökonomischen Literaturtausendfach wiederholt worden ist.

Der Bauer wurde 1861 so „befreit", daß er sofort in die Schlinge desGutsbesitzers geriet. Der Bauer ist durch die Ländereien, die der Guts-besitzer an sich gerissen hat, so eingeengt, daß ihm nichts anderes übrig-bleibt, als Hungers zu sterben oder sich in die Knechtschaft zu begeben.

Und der „freie" russische Bauer des 20. Jahrhunderts ist immer nochgezwungen, sich beim benachbarten Gutsbesitzer in die Knechtschaft zubegeben, ganz genauso, wie im 11. Jahrhundert die „Smerden" (so nenntdie „Russkaja Prawda"75 die Bauern) in die Knechtschaft gingen und sichden Gutsbesitzern „verschrieben".

Die Worte haben sich geändert, Gesetze sind erlassen worden undwieder verschwunden, Jahrhunderte sind vergangen, aber das Wesen derSache ist das alte geblieben. Abarbeit, das eben ist knechtende Abhän-gigkeit des Bauern, der gezwungen ist, mit seinem Inventar die benach-barten Gutsländereien zu bearbeiten. Auf Abarbeit beruhende Wirt-

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schaft, das ist dieselbe, nur ein wenig renovierte, frisch angestricheneund mit einer neuen Fassade versehene £e(l?e(^enenwirtschaft.

Um meinen Gedanken zu erklären, will ich eins der unzähligen Bei-spiele anführen, von denen die Literatur über die bäuerliche und diegutsherrliche Wirtschaft voll ist. Es existiert eine umfangreiche Publika-tion des Landwirtschaftsdepartements vom Beginn der neunziger Jahre,die sich auf Angaben der "Unternehmer über das System der Gutswirt-schaft in Rußland gründet („Landwirtschaftliche und statistische An-gaben, eingeholt hei den 'Unternehmern". Herausgegeben vom Departe-ment für Landwirtschaft, Lief. V, St. Petersburg 1892). Bearbeitet hatdiese Angaben Herr S. A. Korolenko - der nicht mit W. G. Korolenkozu verwechseln ist; nicht der progressive Schriftsteller, sondern einreaktionärer Beamter - das ist dieser Herr S. A. Korolenko. In dem vonihm bearbeiteten Buch kann man auf S. 118 lesen:

„Im Süden des Kreises Jelez" (Gouvernement Orjol) „wird in dengroßen Wirtschaften der Gutsbesitzer neben der Bodenbestellung durchJahresarbeiter ein bedeutender Teil des Bodens von Bauern als Entgeltfür das von ihnen gepachtete Land bearbeitet. Die früheren Leibeigenen"(hören Sie, Herr Swjatopolk-Mirski!) „pachten nach wie vor bei ihrenehemaligen Qutsherren Boden und bestellen dafür deren Land. DieseDörfer bezeichnet man auch jetzt noch (man beachte das!) als ,Tron-dörfer' des Gutsherrn Soundso."

Geschrieben wurde dies in den neunziger Jahren des vergangenenJahrhunderts, dreißig Jahre nach der vielgepriesenen „Befreiung" derBauern. Dreißig Jahre nach dem Jahre 1861 existiert noch dasselbe „Jron-dorf", dieselbe Bestellung des Bodens der eh emali gen Gutsherrenmit bäuerlichem Inventar!

Vielleicht wird man mir entgegenhalten, das sei ein Einzelfall? Aberjeder, der die.Wirtschaft des Gutsbesitzers im mittleren Schwarzerde-gebiet Rußlands kennt, jeder, der auch nur die leiseste Ahnung hat vonder russischen ökonomischen Literatur, wird zugeben müssen, daß daskeine Ausnahme, sondern die allgemeine Regel ist. In den eigentlich rus-sischen Gouvernements, gerade dort, wo die schlimmsten echt-russisdbenGutsherren überwiegen (nicht umsonst sind alle echt-russischen Männerauf den Bänken der Rechten ihnen so zugetan!), üb er wie gt auch bisheute die auf Abarbeit beruhende Wirtschaft.

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Entwurf einer Hede zur Agrarfrage in der zweiten Heidhsduma 267

Ich verweise zum Beispiel auf eine so bekannte wissenschaftliche Arbeitwie das Buch „Der Einfluß der Ernten und Getreidepreise", das voneiner Reihe von Gelehrten verfaßt wurde. Dieses Buch erschien imJahre 1897. In ihm wird das überwiegen der auf Abarbeit beruhendenWirtschaft bei den Gutsbesitzern für folgende Gouvernements nachge-wiesen: Ufa, Simbirsk, Samara, Tambow, Pensa, Orjol, Kursk, Rjasan,Tula, Kasan, Nishni-Nowgorod, Pskow, Nowgorod, Kostroma, Twer,Wladimir und Tschernigow, d. h. in 17 russischen Gouvernements.

überwiegen der auf Abarbeit beruhenden Wirtschaft... was bedeutetdas?

Das bedeutet, daß das Gutsbesitzerland mit eben dem bäuerlichenInventar, dem Fleiß des ruinierten, an den Bettelstab gekommenen, ge-knechteten Bauern bearbeitet wird. So sieht sie aus, die „Kultur", vonder der Deputierte Swjatopolk-Mirski sprach und von der alle Verteidigerder Herreninteressen sprechen. Die Gutsbesitzer haben natürlich besseresVieh, das im Herrenstall besser lebt als der Bauer in der Bauernhütte.Die Gutsbesitzer haben natürlich bessere Ernten, weil die gutsherrlichenKomitees schon im Jahre 1861 bei der Hand waren, den Bauern diebesten Ländereien „abzuschneiden" und sie den Gutsbesitzern zu ver-schreiben. Aber von „Kultiviertheit" der Wirtschaft der russischen Guts-besitzer kann man nur zum Hohn sprechen. In der Masse der Güter gibtes keine Spur gutsherrlicher Wirtschaft, sondern es wird eben eine bäuer-liche Wirtschaft betrieben, der Boden wird mit dem abgerackerten Bauern-pferd gepflügt und mit dem alten und schlechten Inventar des Bauernbearbeitet. In keinem einzigen Land Europas ist bis auf den heutigen Tagauf großen und größten Bodenflächen diese Leibeigenenwirtschaft mitHilfe des geknechteten Bauern erhalten geblieben - in keinem einzigenaußer Rußland.

Die gutsherrliche „Kultur" ist die Erhaltung des gutsherrlichen Leib-eigenenregimes. Die gutsherrliche Kultur ist Wucher gegenüber dem ver-elendeten Bauern, den man bis aufs Hemd ausplündert und knechtetgegen eine Desjatine Land, gegen Weide und Tränke, gegen Holz-nutzung, gegen ein Pud Mehl, das dem hungernden Bauern im Wintergegen unverschämte Zinsen vorgeschossen wurde, gegen einen RubelGeld, um den die Bauernfamilie gefleht hatte . . .

Und diese Herren auf den Bänken der Rechten reden noch von einer

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Ausbeutung der Bauern durch die Juden, von jüdischen Zinsen! Wahrlich,Tausende jüdische Kaufleute werden es nicht fertigbringen, den russischenBauern so zu rupfen, wie ihn die echt-russischen, rechtgläubigen Guts-herren rupfen! Keinerlei Zinsen des schlimmsten Wucherers sind zu ver-gleichen mit den Zinsen, die der echt-russische Gutsherr nimmt, der denBauern im Winter für die Sommerarbeit dingt oder ihn zwingt, eineDesjatine Land sowohl mit Geld als mit Arbeit, sowohl mit Eiern als mitHühnern und Gott weiß womit noch zu bezahlen!

Das klingt wie ein Scherz, aber dieser bittere Scherz gleicht der Wahr-heit nur allzusehr. Hier haben Sie ein faktisches Beispiel dafür, was einBauer für eine Desjatine Land zahlt (ein Beispiel, das dem bekanntenBuch Karyschews über die bäuerlichen Pachtungen entnommen ist): füreine Desjatine muß der Bauer IV2 Desjatinen bearbeiten, überdies 10 Eierund 1 Huhn abliefern und eine Frau für einen Arbeitstag stellen (sieheS. 348 des Buches von Karyschew)76.

Was ist das? „Kultur" oder schamloseste fronherrliche Ausbeutung?Diejenigen, die Rußland und Europa glauben machen wollen, unsere

Bauern kämpften gegen die Kultur, sagen die himmelschreiende Unwahr-heit über die Bauern und verleumden die Bauern. Das ist nicht wahr!Die russischen Bauern kämpfen für die Freiheit, gegen die fronberrlidbeAusbeutung. Die Bauernbewegung hat sich stärker denn je, kühner dennje ausgebreitet, der Kampf der Bauern gegen die Gutsbesitzer wurdeimmer schärfer gerade in jenen echt-russischen Gouvernements, wo dieecht-russische Leibeigenschaft, die echt-russische Abarbeit, Schuldknecht-schaft und Entwürdigung des verarmten und verschuldeten Bauern sicham festesten halten und am stärksten verwurzelt sind!

Die Abarbeit hält sich nicht kraft des Gesetzes - nach dem Gesetz istder Bauer „frei", Hungers zu sterben! - , sie hält sich kraft der ökono-mischen Abhängigkeit der Bauern. Keinerlei Gesetze, keiner-lei Verbote, keine „Überwachung" und „Vormundschaft" können irgendetwas gegen die Abarbeit und die Schuldknechtschaft ausrichten. Zur Be-seitigung dieses Geschwürs am Körper des russischen Volkes gibt es nure in e inz iges M i t t e l : d i e A b s c h a f f u n g d e s g u t s h e r r l i c h e nGrundeigentums, denn es ist in den weitaus meisten Fällen bisheute ein fronherrliches Eigentum, Quelle und Stütze der fronherrlichenAusbeutung.

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Entwurf einer Rede zur Agrarfrage in der zweiten Reidisduma 269

Alles und jedes Gerede über „Hilfe" für die Bauern, über eine „Ver-besserung" ihrer Lage, über „Förderung" des Bodenerwerbs durch Bauernund ähnliche bei den Gutsbesitzern und Beamten beliebte Redensarten,sie alle laufen auf leere Ausflüchte und Winkelzüge hinaus, da sie ja dieQrundfrage umgehen: ob man das gutsherrliche Grundeigentum beibe-halten soll oder nicht.

Das ist der Angelpunkt der Sache. Und ich muß im besonderen dieBauern und die Bauerndeputierten warnen: Man darf nicht gestatten,dieses Wesen der Sache zu umgehen. Man darf keinen Versprechungen,keinen schönen Worten Glauben schenken, solange nicht die Hauptsachegeklärt ist: Verbleibt das gutsherrliche Grundeigentum den Gutsbesit-zern, oder geht es an die Bauern über? Wenn es den Qutsbesitzern ver-bleibt, dann bleiben audh Abarbeit und Sdouidknedhtsdiaft. Dann blei-ben auch Elend und ständige Hungersnöte der Millionen von Bauern.Die Qualen des langsamen Hungertodes, das ist es, was die Erhaltungdes gutsherrlichen Grundeigentums für die Bauern bedeutet.

Um klar zu zeigen, welches dieses Wesen der Agrarfrage ist, mußman sich der wichtigsten Daten hinsichtlich der Verteilung des Grund-eigentums in Rußland erinnern. Die statistischen Angaben über denGrundbesitz in Rußland — die neuesten, die es überhaupt gibt — beziehensich auf das Jahr 1905. Das Zentrale Statistische Komitee hat sie ineiner besonderen Erhebung zusammengetragen, deren vollständige Er-gebnisse noch nicht veröffentlicht sind. Die Hauptergebnisse aber sindaus den Zeitungen schon bekannt. Insgesamt gibt es im EuropäischenRußland an 400 Millionen Desjatinen. Von den 39572 Millionen, überdie es vorläufige Daten gibt, gehören dem Fiskus, den Apanagegütern,den Kirchen und Institutionen 155 Millionen Desjatinen, privaten Grund-besitzern gehören 102 Millionen Desjatinen, und bäuerliches Anteillandbilden 138V2 Millionen Desjatinen.

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob das meiste Land demFiskus gehört und daß es darum gar nicht um die Gutsbesitzerländereiengeht.

Aber das ist ein Irrtum, dem man häufig verfällt und den man ein fürallemal beseitigen muß. Gewiß, dem Fiskus gehören 138 Millionen Desja-tinen, aber fast dieser gesamte Boden liegt in den nördlichen Gouver-nements - Archangelsk, Wologda, Olonez - und dazu in Gegenden, wo

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sich kerne Landwirtschaft betreiben läßt. An fiskalischen Ländereien, dieman den Bauern geben könnte, vermöchte die Regierung selber nach ge-nauen Berechnungen der Statistiker (ich verweise zum Beispiel auf HerrnProkopowitsch und sein Buch „Die Agrarfrage in Zahlen") nicht mehrals etwas über 7 Millionen Desjatinen zusammenzubekommen.

Also von den fiskalischen Ländereien kann man nicht ernstlich spre-chen. Auch von der Umsiedlung von Bauern nach Sibirien gibt es nichtszu reden. Das ist schon genügend geklärt durch einen Redner der Trudo-wiki in der Duma. Mögen die Herren Gutsbesitzer, wenn sie wirklichan den Nutzen von Umsiedlungen nach Sibirien glauben, doch selbernach Sibirien umsiedeln! Damit werden die Bauern wohl einverstandensein. . . Den Vorschlag aber, die Bauernnot mit Sibirien zu kurieren,werden sie sicherlich mit Gelächter aufnehmen.

Hinsichtlich der russischen Gouvernements und insbesondere der zen-tralen Schwarzerde-Gouvernements, wo die Not der Bauern am größtenist, handelt es sich gerade um Qutsbesitzerländereien und keine anderen.Und der Deputierte Swjatopolk-Mirski redet noch von „Ausnahmefälleneiner Bodenknappheit".

Die Bodenknappheit ist in Zentralrußland keine Ausnahme, sonderndie Regel. Und knapp ist der Boden bei den Bauern eben darum, weildie Herren Gutsbesitzer sich allzu ungebunden, allzu geräumig einge-richtet haben. „Knappheit für die Bauern" - das bedeutet, daß die Guts-herren die Masse des Landes an sich gebracht haben.

„Bodenarmut der Bauern", das bedeutet Bodenreichtum der Guts-besitzer.

Hier haben Sie, meine Herren, einfache und klare Zahlen. Das bäuer-liche Anteilland umfaßt 13872 Millionen Desjatinen. Privaten Grund-besitzern gehören 102 Millionen Desjatinen Boden. Wieviel von diesemletzteren gehört QroJIgrundbesitzern?

'NeununAskbzigeinbalb Millionen Desjatinen Land gehören Besitzern,von denen jeder über 50 Tiesjatinen hat.

Und wie groß ist die Zahl der Personen, denen diese riesige MasseLand gehört? Weniger als 135 000 (die genaue Zahl: 133 898 Besitzer).

Überlegen Sie sich diese Zahlen gut: 135 000 von über 100 MillionenEinwohnern des Europäischen Rußlands besitzen fast achtzig MillionenDesjatinen Land!!

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Entwurf einer Rede zur Agrarfrage in der zweiten Reidbsduma 271

Und daneben besitzen I2V4 (zwölfeinviertel!) Millionen Bauernhöfeauf Anteilland 13872 Millionen Desjatinen.

Auf einen Großgrundbesitzer, auf einen Gutsherrn (wie wir der Ein-fachheit halber sagen wollen) kommen 594 Desjatinen.

Auf einen Bauernhof kommen l i V3 Desjatinen.Das ist es, was Herr Swjatopolk-Mirski und seine Gesinnungsfreunde

„Ausnahmefälle einer wirklichen Bodenknappheit" nennen! Wie solltees denn keine allgemeine „Bodenknappheit" der Bauern geben, wenneine Handvoll Reicher (135 000 Personen) je 600 Desjatinen, MillionenBauern aber je 11 Desjatinen pro Wirtschaft besitzen? Wie sollte eskeine „Bodenarmut" der Bauern geben bei einem so riesigen und über-mäßigen Bodenreidbtum der Gutsherren?

Herr Swjatopolk-Mirski rät uns, „den Qedanken aufzugeben" an eineVergrößerung des bäuerlichen Grundbesitzes. Nein, die Arbeiterklassewird diesen Gedanken nicht aufgeben. Die Bauern werden diesen Gedan-ken nicht aufgeben. Millionen und aber Millionen können diesen Gedan-ken nidbt aufgeben, können den "Kampf um die Erreichung ihrer Zielenicht einstellen.

Die von mir angeführten Zahlen zeigen klar, worum der Kampf geht.Die Gutsbesitzer, die im Durchschnitt 600 Desjatinen pro Wirtschaftbesitzen, kämpfen um ihre Reichtümer, um ihre Einnahmen, die wahr-scheinlich über 500 Millionen Rubel im Jahr betragen. Und die größtenGutsbesitzer sind sehr häufig gleichzeitig auch die höchsten Würden-träger. Unser Staat vertritt, wie mein Genosse Zereteli bereits sehr rich-tig sagte, die Interessen eines Häufleins von Qutsbesitzern und nichtdie Interessen des Volkes. Es ist kein Wunder, daß sowohl die Masse derGutsbesitzer als auch die ganze Regierung erbittert gegen die Bauern-forderungen kämpft. Die Geschichte der Menschheit kennt noch keineBeispiele, daß herrschende und unterdrückende Klassen auf ihre Rechte,zu herrschen, zu unterdrücken, an den geknechteten Bauern und Arbei-tern Tausende zu verdienen, freiwillig verzichtet hätten.

Die Bauern aber kämpfen um ihre Befreiung von Knechtschaft, Ab-arbeit und fronherrlicher Ausbeutung. Die Bauern kämpfen für die Mög-lichkeit, halbwegs menschlich leben zu können. Und die Arbeiterklasseunterstützt voll und ganz die Bauern gegen die Gutsbesitzer, unterstütztsie im Interesse der Arbeiter selbst, auf denen ebenfalls das gutsherrliche

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Joch lastet, unterstützt sie im Interesse der gesamten gesellschaftlichenEntwicklung, die durch das Joch der Gutsherrenmacht gehemmt wird.

Um Ihnen, meine Herren, zu zeigen, was die Bauern durch ihrenKampf erreichen können und müssen, will ich Ihnen eine kleine Rech-nung aufmachen.

Der Minister für Landwirtschaft, Herr Wassiltschikow, sagte: „DieZeit ist gekommen, zwecks Klarstellung dieser Frage nicht so sehr zurBeredsamkeit von Worten als vielmehr zu der von Zahlen, von Tatsachen,zur Beredsamkeit der Wirklichkeit zu greifen." Ich bin durchaus, bin vollund ganz mit dem Herrn Minister einverstanden. Ja und jawohl, meineHerren, das eben ist es: mehr Zahlen, mehr Zahlen über den Umfang desgutsherrlichen Grundeigentums und über den Umfang des bäuer-lichen Anteileigentums. Ich habe Ihnen schon an Hand von Zahlen gezeigt,wieviel „überschüssigen" gutsherrlichen Boden es gibt. Jetzt will ichIhnen Zahlen geben über den Umfang des bäuerlichen Bodenmangels. ImDurchschnitt besitzt, wie ich schon sagte, jeder Bauernhof HV3 Desja-tinen Anteilland. Aber diese Durcfosdmittsrechnung verschleiert denbäuerlichen Bodenmangel, weil die Bodenanteile der Mehrheit der Bauernunter dem Durchschnitt liegen und nur eine verschwindende Minderheitmehr als den Durchschnitt besitzt. _

Von 12V4 Millionen Bauernhöfen besitzen 2 860 000 (die Zahlen sindabgerundet) Bodenanteile von weniger als 5 Desjatinen je Hof. 3 320 000besitzen zwischen 5 und 8 Desjatinen, 4 810 000 zwischen 8 und 20Desjatinen, 1100 000 Höfe besitzen zwischen 20 und 50 Desjatinen undnur eine viertel Million über 50Desjatinen (diese letzteren besitzen wahr-scheinlich im Durchschnitt nicht mehr als 75 Desjatinen je Hof).

Nehmen wir an, es würden 7972 Millionen Desjatinen Gutsbesitzer-ländereien zur Erweiterung des bäuerlichen Grundeigentums verwendet.Nehmen wir an, die Bauern - nach den Worten des Priesters Tichwinski,eines Anhängers des Bauernbundes - wünschten nicht, daß die Gutsher-ren leer ausgehen, und beließen jedem von ihnen 50 Desjatinen. Das istwahrscheinlich zuviel für so „kultivierte" Herreh wie unsere Gutsbesitzer,aber wir wollen trotzdem als Beispiel vorerst diese Zahl nehmen. NachAbzug von 50 Desjatinen für jeden der 135 000 Gutsbesitzer verbliebenfür die "Bauern 71 (zweiundsiebzig) Millionen Desjatinen Land. Vondieser Menge die Waldungen abzuziehen (wie das einige Autoren tun,"

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zum Beispiel Herr Prokopowitsch, dessen Zahlen ich wiederholt benutzthabe), liegt kein Grund vor, denn die Waldungen erbringen ebenfallsEinnahmen, und diese Einnahmen dürfen nicht in der Hand eines Häuf-leins von Gutsbesitzern bleiben.

Fügen Sie zu diesen 72 Millionen die geeigneten fiskalischen Lände-reien hinzu (an 7,3 Millionen Desjatinen), dann all e Apanageländereien(7,9 Millionen Desjatinen), alles Land der Kirchen und Klöster (2,7 Mil-lionen Desjatinen), und Sie erhalten als Summe an die 90 ^MillionenDesjatinen* Diese" Summe genügt, den Grundbesitz aller bettelarmenBauernhöfe auf nidht weniger als i 6 Desjatinen je Hof zu erweitern.

Begreifen Sie, meine Herren, was das bedeutet?Das wäre ein Riesenschritt vorwärts, es würde Millionen Bauern vom

Hunger erlösen, es würde den Lebensstandard von Dutzenden MillionenArbeitern und Bauern heben, würde es ihnen leichter möglich machen,einigermaßen menschlich zu leben, so wie halbwegs kultivierte Staats-bürger eines „Kultur"staates leben, und nicht so, wie das dahinsterbendeGeschlecht der heutigen russischen Bauernschaft lebt. Es würde natür-lich nicht alle Werktätigen von jeder Armut und Unterdrückung erlösen(dazu bedarf es der Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft indie sozialistische), aber es würde ihnen in gewaltigem Maße den Kampfum diese Erlösung erleichtern. Über sedhs Millionen Bauernhöfe, mehrah die Hälfte der Gesamtzahl der Bauern, besitzen, wie ich bereits ge-sagt habe, weniger als 8 Desjatinen je "Hof. Ihr Grundbesitz würde sichm e h r als v e r d o p p e l n , f a s t v e r d r e i f a c h e n .

Das bedeutet, daß die Hälfte der Bauernschaft, die ewig Not leidet,hungert und den Preis für die Arbeit der Arbeiter in den Städten, inden Fabriken und Werken drückt, daß die Hälfte der Bauernschaft sidhals Tdensch fühlen könnte'.

Und Herr Swjatopolk-Mirski oder seine Gesinnungsfreunde könntenden Millionen Arbeitern und Bauern im Ernst raten, den Qedariken auf-zugeben an einen solchen durchaus möglichen, gangbaren und naheliegen-den Ausweg aus der unerträglichen, aus der verzweifelten Lage?

Aber nicht genug damit, daß die größere Hälfte der Höfe der bäuer-lichen Armut ihren Grundbesitz auf Kosten unserer Herren Gutsbesitzer,

* Eine genaue Berechnung (für eingehendere Auskünfte) am Ende des3. Heftes."

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die zuviel Land besitzen, fast verdreifachen könnte. Außer diesen sechsMillionen Höfen der armen Bauern gibt es noch fast fünf (genau 4,8)Millionen Bauernhöfe, die zwischen 8 und 20 Desjatinen besitzen. Vondiesen fünf Millionen Familien darben zweifellos nicht weniger als dreiMillionen ebenfalls auf ihren kümmerlichen Bodenanteilen. Und diesedrei Millionen Höfe könnten ihren Grundbesitz bis auf 16 "Desjatinenje Hof bringen, d.h., ihn auf• das Anderthalbfache vergrößern und ineinigen Fällen sogar verdoppeln.

Insgesamt ergibt sich also, daß aus einer Gesamtzahl von 1274 Mil-lionen Bauernhöfen 9 Millionen Höfe ihre Lage (und die Lage der Ar-beiter, denen sie nicht mehr den Lohn drücken würden!) in gewaltigemUmfang verbessern würden auf Kosten des Landes der Herren Quts-besitzer, die zu viel Land besitzen und zu sehr an die Leibeigenenwirt-schaft gewöhnt sind!

Das besagen die Zahlen, wenn man den Umfang des gutsherrlichenQroßgrundbesitzes mit dem des unzureichenden bäuerlichen Eigentumsvergleicht. Ich fürchte sehr, daß diese Zahlen und Tatsachen dem Lieb-haber von Zahlen und Tatsachen, dem Herrn LandwirtschaftsministerWassiltschikow, nicht gefallen werden. Sagte er uns doch in seiner Rede,gleich nachdem er den Wunsch, Zahlen sprechen zu lassen, geäußert hatte:

. . . „Dabei kann man nicht umhin, der Befürchtung Ausdruck zugeben, daß die Hoffnungen, die von vielen mit der Verwirklichung der-artiger Reformen (d. h. umfassender Bodenreformen) verbunden werden,bei Qegenüberstellung mit den Zahlen keine Aussichten haben werden,vollständig verwirklicht zu werden . . . "

Das sind grundlose Befürchtungen, Herr Landwirtschaftsminister!Gerade bei Qegenüberstellung mit den Zahlen müssen die Hoffnungender Bauern auf Erlösung von der Abarbeit und der fronherrlichen Aus-beutung Aussichten auf vollständige Verwirklichung erhalten!! Und wieunangenehm diese Zahlen auch dem Herrn LandwirtschaftsministerWassiltschikow oder Herrn Swjatopolk-Mirski und den anderen Guts-besitzern sein mögen, so sind doch diese Zahlen nicht zu widerlegen!

Idi komme jetzt zu den Einwendungen, die man gegen die Bauern-forderungen erheben könnte. Und wie seltsam das auch auf den ersten

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Blick klingen mag - bei Prüfung der Einwendungen gegen die Bauern-forderungen muß ich mich hauptsädblidh mit den Argumenten des Ver-treters der Partei der sogenannten „Volksfreiheit", Herrn Kutlers, be-fassen.

Diese Notwendigkeit rührt durchaus nicht daher, daß ich mit HerrnKutler streiten möchte. Durchaus nicht. Ich wäre sehr froh, wenn dieParteigänger des Bauernkampfes um den Boden nur gegen die „Rechten"zu streiten brauchten. Aber Herr Kutler hat im Verlauf seiner ganzenRede im Grunde genommen gegen die Bauernforderungen, die von denSozialdemokraten und den Trudowiki vorgebracht wurden, Einwendun-gen erhoben; er hat ihnen sowohl direkt widersprochen (indem er zumBeispiel gegen den von meinem Genossen Zereteli im Namen der gesam-ten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands eingebrachten Antragsprach) als auch indirekt, indem er den Trudowiki zu beweisen suchte,sie müßten ihre Forderungen beschränken und einengen.

Der Deputierte Swjatopolk-Mirski hat ja eigentlich niemand über-zeugen wollen. Besonders fern lag ihm der Gedanke, die Bauern zu über-zeugen. Er suchte nicht zu überzeugen, sondern legte dar, was er will,richtiger: er legte dar, was die Masse der Gutsherren will. 'Keinerlei Ver-größerung des bäuerlichen Grundbesitzes - darauf lief, klipp und klargesagt, die „Rede" des Deputierten Swjatopolk-Mirski hinaus.

Der Deputierte Kutler dagegen suchte die ganze Zeit zu überzeugen,und zwar hauptsächlich die Bauern, suchte sie zu überzeugen, daß sie aufdas verzichten müßten, was er im Projekt der Trudowiki für undurch-führbar oder maßlos und im Projekt unserer - der Sozialdemokrati-schen - Partei nicht nur für undurchführbar, sondern auch für die „aller-größte Ungerechtigkeit" erklärte, wie er sich ausdrückte, als er von demAntrag des Vertreters der Sozialdemokratie sprach.

Ich will nunmehr die Einwendungen des Deputierten Kutler sowie diehauptsächlichen Grundlagen untersuchen, auf denen die Ansichten überdie Agrarfrage sowie die Projekte für eine Agrarreform beruhen, welchevon der Partei der sogenannten „Volksfreiheit" verfochten werden.

Beginnen wir mit dem, was der Deputierte Kutler in seiner Entgegnungan meinen Parteigenossen als „allergrößte Ungerechtigkeit" bezeichnete.„Mir scheint", sagte der Vertreter der Partei der Kadetten, „daß die Ab-schaffung des privaten Grundeigentums die allergrößte Ungerechtigkeit

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wäre, solange die übrigen Arten des Eigentums, des mobilen und desimmobilen Eigentums, existieren ..."!• Und dann weiter: . . .„Wennniemand beantragt, das Eigentum überhaupt abzuschaffen, dann ist esnötig, mit allem Nachdruck die Existenz des Eigentums an Grund undBoden anzuerkennen."

So argumentierte der Deputierte Kutler, wobei er den Sozialdemo-kraten Zereteli „widerlegen" wollte mit dem Hinweis, daß „auch dasandere Eigentum (außer dem Grundeigentum) auf einem Wege erwor-ben worden ist, der vielleicht noch weniger lobenswert ist". Und je mehrich über diese Argumentation des Deputierten Kutler nachdenke, destomehr finde ich sie . . . wie soll man es möglichst milde ausdrücken? . . .seltsam. . . . „Es ist ungerecht, das Grundeigentum abzuschaffen, wenn•nicht die anderen Arten des Eigentums abgeschafft werden . . . "

Aber erlauben Sie, meine Herren, erinnern Sie sich doch Ihrer eigenenPrämissen, Ihrer eigenen Worte und Projekte! Sie gehen doch selberdavon aus, daß bestimmte Arten des gutherrlichen Eigentums „unge-recht" sind, und zwar so ungerecht sind, daß es eines besonderen Ge-setzes über die Mittel und Wege bedarf, sie abzuschaffen.

Was kommt denn in der Tat dabei heraus? Es ist die „allergrößteUngerechtigkeit", eine Art von Ungerechtigkeit zu liquidieren, ohne ihreanderen Arten zu liquidieren?? Das ergibt sich aus den Worten desHerrn Kutler. Ich sehe zum erstenmal vor mir einen Liberalen, und dazunoch einen so gemäßigten, nüchternen, bürokratisch geschulten Libera-len, der das Prinzip proklamieren möchte: „Alles oder nichts!" Denn dieArgumentation des Herrn Kutler beruht ganz und gar auf dem Prinzip:„Alles oder nichts." Und als revolutionärer Sozialdemokrat muß ich michentschieden gegen diese Methode der Argumentation wenden . . .

Stellen Sie sich vor, meine Herren, ich müßte von meinem Hof zweiKehrichthaufen wegfahren. Ich habe aber nur einen Wagen. Und aufeinem Wagen kann man nicht mehr als einen Haufen wegfahren. Wassoll ich machen? Soll ich überhaupt darauf verzichten, meinen Hof zusäubern, mit der Begründung, es wäre die allergrößte Ungerechtigkeit,einen Kehrichthaufen wegzufahren, da es doch unmöglich ist, beideHaufen auf einmal wegzufahren?

Ich gestatte mir zu glauben, daß derjenige, der wirklidb die völligeSäuberung des Hofes will, der aufrichtig nach Reinheit und nicht nach

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Schmutz, nach Licht und nicht nach Finsternis strebt, anders urteilenwird. Wenn es wirklich unmöglich ist, beide Haufen auf einmal ab-zufahren, dann fahren wir zunächst den ersten Haufen ab, dervornan liegt und den man sofort auf den Wagen laden kann, dannwird der Wagen entleert, und wir kehren nach Hause zurück, umuns an den zweiten Haufen zu machen. Das ist alles, Herr Kutler'! Dasist alles!

Zunächst muß das russische Volk auf seinem Wagen den ganzen Keh-richt wegfahren, der fronherrliches, gutsherrliches Eigentum heißt, unddann mit dem entleerten Wagen zurückkehren auf den saubereren Hofund beginnen, den zweiten Haufen aufzuladen, beginnen, mit dem Keh-richt der kapitalistischen Ausbeutung aufzuräumen.

Gilt die Abmachung, Herr Kutler, wenn Sie- wirklich ein Gegner jeg-lichen Schmutzes sind? Wohlan denn, legen wir das, Ihre eigenen Wortezitierend, in einer Resolution der Reichsduma nieder: „Da die Reichs-duma gemeinsam mit dem Deputierten Kutler anerkennt, daß das kapita-listische Eigentum nicht lobenswerter ist als das fronherrliche, gutsherr-liche Eigentum, beschließt sie, Rußland zunächst von diesem letzterenzu erlösen, um sich dann dem ersteren zuzuwenden."

Wenn Herr Kutler diesen meinen Vorschlag nicht unterstützt, so be-stärkt mich das in der Annahme, daß die Partei der „Volksfreiheit",indem sie uns vom fronherrlichen Eigentum auf das kapitalistische Eigen-tum verweist, uns einfach, wie man zu sagen pflegt, von Pontius zu Pila-tus schickt oder, einfacher gesprochen, eine Ausrede sucht, sich vor einerklaren Fragestellung durch die Flucht retten möchte. Wir haben niemalsgehört, daß die Partei der „Volksfreiheit" für den Sozialismus kämpfenwolle ("Kampf gegen das kapitalistische Eigentum aber ist %ampf fürden Sozialismus). Davon jedoch, daß diese Partei für die Freiheit, fürdie Rechte des Volkes kämpfen wolle, haben wir sehr viel.. . sehr, sehrviel gehört. Und jetzt, da gerade die Frage nicht nach der unverzüglichenVerwirklichung des Sozialismus, sondern nach der unverzüglichen Ver-wirklichung der Freiheit, und zwar der Freiheit von der fronherrsdhaftauf die Tagesordnung getreten ist, verweist uns Herr Kutler plötzlichauf Fragen des Sozialismus! Herr Kutler erklärt die Abschaffung des sichauf Abarbeit und Schuldknechtschaft stützenden gutsherrlichen Eigen-tums deshalb, ausschließlich deshalb zur „allergrößten Ungerechtigkeit",

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weil er sich der Ungerechtigkeit des kapitalistischen Eigentums erin-nerte . . . Wie man die Sache auch drehen mag, sie ist ein wenig seltsam.

Bisher glaubte ich, Herr Kutler sei kein Sozialist. Jetzt komme ichzu der Überzeugung, daß er überhaupt kein Demokrat, überhaupt keinAnhänger der Volksfreiheit, der wirklichen, nicht in Anführungszeichengesetzten Volksfreiheit ist. Denn Leute, die in einer Zeit des Kampfesum die Freiheit es für die „allergrößte Ungerechtigkeit" erklären, dasabzuschaffen, was die Freiheit zugrunde richtet, was die Freiheit erdrücktund erwürgt, solche Leute als Demokraten zu bezeichnen und zu be-trachten, damit war noch niemand in der Welt einverstanden . . .

Der andere Einwand des Herrn Kutler war nicht gegen den Sozial-demokraten, sondern gegen den Trudowik gerichtet. „Mir scheint", sagteHerr Kutler, „man könnte sich politische Bedingungen vorstellen, unterdenen das Projekt der Nationalisierung des Bodens" (es handelt sichum das Projekt der Trudowikigruppe, und Herr Kutler charakterisiertes ungenau, aber nicht darauf kommt es jetzt an) „Gesetzeskraft erhal-ten könnte, aber ich kann mir in der nächsten Zukunft keine politischenBedingungen vorstellen, unter denen dies Gesetz wirklich durchführbarwäre."

Wiederum eine erstaunlich seltsame Argumentation, und seltsam durch-aus nicht vom Standpunkt des Sozialismus (nichts dergleichen!), selbstnicht einmal vom Standpunkt des „Rechtes auf Boden" oder eines an-deren „trudowikischen" Prinzips - nein, seltsam vom Standpunkt ebender „Volksfreiheit", über die wir soviel von der Partei des Herrn Kutlerhören.

Herr Kutler suchte die ganze Zeit die Trudowiki davon zu überzeugen,ihr Projekt sei „undurchführbar", sie sollten lieber nicht das Ziel ver-folgen, „die bestehenden Bodenverhältnisse von Grund auf umzugestal-ten" usw. usf. Jetzt sehen wir klar, daß Herr Kutler die „TAndurdiführ-barkeit" in nichts anderem sieht als in den politischen "Bedingungen derjetzigen Zeit und der nächsten Zukunft!!

Mit Verlaub, meine Herren, aber das ist doch einfach ein Nebel, einegeradezu unverzeihliche Begriffsverwirrung. Wir nennen uns hier dochdarum Volksvertreter und halten uns für Mitglieder einer gesetzgeben-den Körperschaft, weil wir die Änderung schlechter Bedingungen zumBesseren erörtern und beantragen. Und plötzlich, da wir die Frage der

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Änderung einer der schlechtesten Bedingungen behandeln, hält manuns entgegen: „undurchführbar . . . weder j e t z t . . . noch in nächster Zu-kunft . . . die politischen Bedingungen".

Von zwei Dingen eins, Herr Kutler: Entweder ist die Duma selbereine politische "Bedingung - und dann steht es einem Demokraten nichtan, sich darein zu schicken und sich den Beschränkungen anzupassen, dienoch von anderen „politischen Bedingungen" ausgehen können. Oder dieDuma ist keine „politische Bedingung", sondern eine bloße Kanzlei, diedem Rechnung trägt, was denen oben paßt oder nicht paßt - und dannhaben wir kein Recht, Volksvertreter zu markieren.

Sind wir Volksvertreter, dann müssen wir das sagen, was das Volkdenkt und was es will, und nicht das, was da den Spitzen oder nochirgendwelchen „politischen Bedingungen" paßt. Sind wir Beamte, dannbin ich wohl bereit zu begreifen, daß wir von vornherein das für „un-durchführbar" erklären werden, wovon uns die „Obrigkeit" zu verstehengegeben hat, daß es ihr nicht paßt.

. . . „Politische Bedingungen..."! Was bedeutet das? Das bedeutet:Standgerichte, außerordentliche Sicherheitsmaßnahmen, Willkür undRechtlosigkeit, Reichsrat und andere genauso nette £in-rich-tun-gen desRussischen Reiches. Herr Kutler will seinen Agrarentwurf dem anpas-sen, was angesichts der Standgerichte, der außerordentlichen Sicherheits-maßnahmen und des Reichsrats durchführbar ist? Ich würde mich niditwundern, wenn Herr Kutler dafür ausgezeichnet würde . . . nicht mit derSympathie des Volkes, nein, sondern . . . mit einem Orden für Liebe-dienerei !

Herr Kutler kann sich politische Bedingungen vorstellen, unter denenein Projekt der Nationalisierung des Bodens Gesetzeskraft erhaltenkönn te . . . Das wäre ja noch schöner! Ein Mann, der sich Demokratnennt, sollte sich demokratische politische Bedingungen nicht vorstellenkönnen ... Die Aufgabe eines Demokraten, der zu den Volksvertreternzählt, besteht doch aber nicht nur darin, „sich" gute oder schlechteDinge aller Art „vorzustellen", sondern auch darin, dem Volk echt-volkstümliche Projekte, Erklärungen und Darstellungen vorzulegen.

Möge Herr Kutler es sich nicht einfallen lassen, mit dem Hinweis zukommen, ich schlüge vor, in der Duma vom Gesetz abzugehen oder eszu verletzen . . . Nichts dergleichen! Es gibt kein Gesetz, das es verböte,

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in der Duma von Demokratie zu sprechen und wirklich demokratischeAgrargesetzentwürfe vorzulegen. Mein Kollege Zereteli hat keinerlei Ge-setz verletzt, als er die Deklaration der sozialdemokratischen Fraktioneinbrachte, die sowohl von „Enteignung des Bodens ohne Ablösung" als

• auch von einem demokratischen Staat spricht.Die Argumentation des Herrn Kutler aber läuft doch ganz und gar

darauf hinaus, daß wir, da unser Staat nicht demokratisch ist, auch keinedemokratischen Agrargesetzentwürfe einbringen sollen! Wie Sie dieArgumentationen des Herrn Kutler auch drehen und wenden mögen,Sie werden auch nicht die Spur eines anderen Gedankens, eines anderenInhalts darin finden. Da unser Staat den Interessen der Gutsbesitzerdient, dürfen wir (dieVertreter desVol-kes!) auch in den Agrarentwürfennicht das schreiben, was den Gutsbesitzern nicht paßt . . . Nein, nein,Herr Kutler, das ist kein Demokratismus, das ist keine Volksfreiheit, dasist etwas, was sehr, sehr weit von Freiheit entfernt ist, aber nahe an Ser-vilität grenzt.

Betrachten wir nunmehr, was Herr Kutler eigentlich über den Agrar-entwurf seiner Partei gesagt hat.

Vor allem machte Herr Kutler, als er über den Boden sprach, gegen-über den Trudowiki Einwendungen in bezug auf die „Verbrauchsnorm"und in bezug darauf, ob der Boden reicht. Herr Kutler nahm die „Normvon 1861", die noch niedriger als die Verbrauchsnorm gewesen sei, undteilte mit, daß „nadh seiner annähernden "Berechnung" (die Duma hatvon dieser Berechnung kein Wort gehört und weiß rein gar nichts vonihr!) selbst an dieser Norm noch 30 Millionen Desjatinen fehlen.

Ich erinnere Sie daran, meine Herren, daß der Deputierte Kutler nachdem Vertreter der Trudowikigruppe, Karawajew, sprach und gerade ihmentgegnete. Der Deputierte Karawajew aber hatte in der Duma klipp undklar gesagt und der Öffentlichkeit in einem besonderen Brief an die Zei-tung „Towarischtsch" (vom 21. März) bestätigt, daß für die Vergröße-rung des bäuerlichen Grundbesitzes bis zur Verbrauchsnorm an die70 Millionen Desjatinen erforderlich seien. Er hatte ferner gesagt, daßdie Summe des fiskalischen Grund und Bodens, der Apanageländereien,des kirchlichen und des gutsherrlichen Bodens eben dieser Zahl ent-spreche.

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Der Deputierte Karawajew hat die Quelle seiner Berechnungen nichtgenannt, hat die Duma mit dem Verfahren, durch das diese Zahl ge-wonnen wurde, nicht bekannt gemacht. Meine Berechnung, die auf einervon mir genau nachgewiesenen und zudem offiziellen und neuestenPublikation des Zentralen Statistischen Komitees beruht, ergab eine Zahl,die über 70 Millionen T)esjatinen hinausgeht. Allein an gutsherrlichemBoden sind für die Bauern 72 Millionen Desjatinen frei, und die Apa-nagegüter sowie die Ländereien des Fiskus, der Kirche usw. ergeben über10, ja an die 20 Millionen Desjatinen.

Auf jeden Fall bleibt es eine Tatsache: in seiner-Entgegnung an denDeputierten Karawajew bemühte sich der Deputierte Kutler zu beweisen,daß der Boden nicht ausreiche, um den Bauern zu helfen, aber er konntedas nicht beweisen und gab unbegründete und, wie ich gezeigt habe,falsche Zahlen an.

Ich muß Sie überhaupt warnen, meine Herren, vor dem Mißbrauchdieser Begriffe „Arbeitsnorm", „Verbrauchsnorm". Unsere Sozialdemo-kratische Arbeiterpartei handelt weitaus richtiger, wenn sie alle diese„Normen" vermeidet. Diese „Normen" tragen etwas Bürokratisches,Kanzleimäßiges in eine lebendige und kämpferische politische Frage hin-ein. Diese „Normen" führen die Menschen irre und verdunkeln daswahre Wesen der Sache. Den Streit auf diese „Normen" verlegen, jaheute auch nur von ihnen reden, heißt wahrhaftig das Fell des Bärenteilen, bevor er erlegt ist - und dabei dieses Fell in Worten teilen ineiner Versammlung von Menschen, die in Wirklichkeit das Fell bestimmtnicht teilen werden, wenn wir einmal den Bären erlegt haben.

Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren! Die Bauern selber werdenden Boden verteilen, sobald sie ihn in der Hand haben. Die Bauern wer-den den Boden leicht verteilen können, wenn sie ihn nur erst erlangthätten. Und niemanden werden die Bauern fragen, wie sie den Bodenverteilen sollen. 'Niemandem werden die Bauern gestatten, sich darin ein-zumischen, wie sie den Boden verteilen sollen.

Es wäre leeres Gerede, wollte man darüber sprechen, wie der Bodenzu verteilen ist. Wir sind hier keine Markscheiderkanzlei, keine Flur-bereinigungskommission, sondern ein politisches Organ. Wir müssendem Volke helfen, eine ökonomische und politische Aufgabe zu lösen,wir müssen der Bauernschaft helfen in ihrem Kampf gegen die Guts-

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282 IV.1. Centn

herren als die Klasse, die von fronherrlicher Ausbeutung lebt. Dieselebenswichtige, aktuelle Aufgabe wird durch das Gerede über „Normen"verdunkelt.

Warum verdunkelt? Weil statt der eigentlichen Frage, ob man die72 Millionen Desjatinen für die Bauernschaft den Gutsbesitzern abneh-men soll oder nicht, die nebensächliche und schließlich überhaupt nichtwichtige Frage der „Normen" diskutiert wird. Dadurch wird es erleich-tert, die Frage zu umgehen und einer Antwort auszuweichen, die dasWesen der Sache trifft. Der Streit um die Arbeits- und die Verbrauchs-norm sowie um irgendwelche sonstige Normen verwirrt den wirklichen"Kern der Frage: muß man die 72 Millionen Desjatinen Gutsherrenlandfür die Bauern nehmen oder nicht?

Man sucht zu beweisen, der Boden reiche für diese oder jene Normaus oder er reiche nicht aus.

Wozu diese Beweise, meine Herren? Wozu diese leeren Reden, diesestrübe Wasser, worin dieser oder jener leicht fischen kann? Ist es etwanicht von selbst klar: wo nichts ist, da ist auch nichts zu machen, dieBauern wollen kein ausgedachtes Land, sondern das ihnen sehr gut be-kannte benachbarte Qutsherrenland? Und man soll nicht über „Normen"sprechen, sondern über das Qutsherrenhnd, nicht darüber, ob da allemöglichen Nonnen ausreichen, sondern darüber, wieviel Gutsherren-land es gibt. Alles übrige sind einfach Winkelzüge, Ausreden, ja Ver-suche, den Bauern Sand in die Augen zu streuen.

Der Deputierte Kutler zum Beispiel hat doch das wirkliche Wesen derFrage umgangen. DerTrudowikKarawajew hatte immerhin klipp und klargesagt: 70 Tdillionen Desjatinen. Was antwortete darauf der Depu-tierte Kutler? Darauf hat er keine Antwort gegeben. Er verwirrte dieFrage durch die „Normen", d. h., er ist direkt einer Antwort darauf aus-gewichen, ob er einverstanden ist, ob seine Partei einverstanden ist,alle Qutsländereien den Bauern zu geben oder nicht.

Der Deputierte Kutler machte sich den Fehler des Deputierten Kara-wajew, die Frage nicht klar und scharf genug gestellt zu haben, zunutzeund umging das Wesen der Sache. Aber darin liegt doch gerade derAngelpunkt der Frage, meine Herren. Wer nicht einverstanden istr wirk-lich alle Gutsbesitzerländereien den Bauern zu geben (ich erinnere daran,daß ich als Bedingung annahm, jedem Gutsherrn 50 Desjatinen zu be-

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lassen, damit niemand leer ausgehe!), der ist nidit für die Bauern, derwill keine wirkliche Hilfe für die "Bauern. Denn wenn Sie es gestatten, dieFrage des gesamten gutsherrlidien Bodens zu verdunkeln oder beiseitez u s c h i e b e n , s o w i r d d a n n d i e g a n z e S a c h e i n T r a g e g e -stellt. Dann fragt es sich: "Wer wird denn nun bestimmen, wel-cher 7 eil des gutsherrlichen Bodens den Bauern gegeben werden soll?

Wer wird das bestimmen? Auch 9 Millionen Desjatinen von 79 Mil-lionen sind ein „Teil" und 70 Millionen sind ein „Teil". Wer wird be-s t i m m e n , w e n n n i c h t w i r b e s t i m m e n , w e n n n i c h t d i eJ i e i c h s d u m a k l a r u n d e n t s c h i e d e n s p r i c h t ?

Der Deputierte Kutler hat sich nicht umsonst über diese Frage aus-geschwiegen. Der Deputierte Kutler paradierte mit dem Wort „Zwangs-enteignung".

Meine Herren, lassen Sie sich nicht durch Worte einwickeln! LassenSie sich nicht durch eine schöne Phrase verführen! Betrachten Sie dasWesen der Sache!

Wenn man mir sagt: „Zwangsenteignung", dann frage ich mich: Werzwingt wen? Wenn die Millionen Bauern ein Häuflein Gutsbesitzerzwingen, sich den Interessen des Volkes unterzuordnen, dann ist dassehr gut. Wenn ein Häuflein von Gutsbesitzern die Millionen Bauernzwingt, ihr Leben der Habgier dieses Häufleins unterzuordnen, dannist das sehr schlecht.

Und eben diese so kleine Frage verstand der Deputierte Kutler völligzu umgehen! Durch seine Betrachtung über die „Undurchführbarkeit"und über die „politischen Bedingungen" rief er im Qrunde genommensogar das Volk dazu auf, sich damit abzufinden, daß es einem HäufleinGutsbesitzer untergeordnet ist.

Der Deputierte Kutler sprach unmittelbar nach meinem GenossenZereteli. Zereteli aber hatte in der Deklaration unserer sozialdemokra-tischen Fraktion zwei ganz bestimmte Erklärungen abgegeben, die ge-rade diese Haupt- und Kardinalfrage klar entscheiden. Die erste Er-klärung: Übergabe des Bodens an einen demokratischen Staat.Ein demokratischer, das bedeutet ein Staat, der die Interessen der Volks-massen und nicht die Interessen eines Häufleins Privilegierter vertritt.Wir müssen dem Volk geradeheraus und klar sagen, daß ohne einendemokratischen Staat, ohne politische Freiheit, ohne eine machtvollkom-

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284 W.3. Centn

m e n e Vo lksve r t r e tung k e i n e r l e i A g r a r u m g e s t a l t u n g zuguns t en de rB a u e r n möglich ist.

D i e zwei te E r k l ä r u n g : die N o t w e n d i g k e i t e iner v o r g ä n g i g e nE r ö r t e r u n g d e r Bodenfrage in ebensolchen demokra t i schen ö r t l i c h e nKomitees.

Womit antwortete darauf der Deputierte Kutler? Mit Schweigen. DieseAntwort ist schlecht, Herr Kutler. Sie schwiegen ausgerechnetüber die Frage, ob die Bauern die Gutsbesitzer zwingen sollen, den Inter-essen des Volkes nachzugeben, oder ob die Gutsbesitzer die Bauernzwingen werden, sich selber die neue Schlinge eines neuen ruinierendenLoskaufs um den Hals zu legen.

über eine solche Frage zu schweigen ist unzulässig.über die örtlichen Komitees, meine Herren, sprachen in der Duma

außer einem Sozialdemokraten auch die Volkssozialisten (der DeputierteBaskin) und die Sozialrevolutionäre (der Deputierte Kolokolnikow).über die örtlichen Komitees wurde schon seit langem in der Presse ge-sprochen, von ihnen war auch in der ersten Duma die Rede. Wir dürfendas nicht vergessen, meine Herren. Wir sind verpflichtet, uns und demVolke gut klarzumachen, warum man soviel über diese Frage gesprochenhat und welches ihre wirkliche Bedeutung ist.

Die erste Reichsduma debattierte die Frage der örtlichen Bodenkomi-tees in ihrer fünfzehnten Sitzung am 26. Mai 1906. Aufgeworfen wurdedie Frage von den Mitgliedern der Trudowikigruppe, die eine schrift-liche Erklärung mit der Unterschrift von 35 Dumamitgliedern (darunterzwei Sozialdemokraten, I.Saweljewund I.Schuwalow) einreichten. DieseErklärung wurde in der Duma zum erstenmal in ihrer 14. Sitzung am24. Mai 1906 verlesen (siehe S. 589 des „Stenografischen Berichts" überdie Sitzungen der ersten Reichsduma); dann, zwei Tage später, lag sieals Drucksache vor und wurde erörtert. Ich will die JTauptstellen dieserErklärung vollständig anführen:

. . . „Es ist notwendig, draußen im Lande unverzüglich Komitees zuschaffen, die auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und gehei-men Wahlrechts zu wählen sind und sich mit den notwendigen Vor-bereitungsarbeiten befassen, als da sind: Ausarbeitung der den örtlichenBedingungen angepaßten Verbrauchs- und Arbeitsnorm der Bodennut-zung, Bestimmung der Menge des geeigneten Bodens, des Anteils von

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Entwurf einer Hede zur Agrarfrage in der zweiten Reidhsduma 285

Pachtland und von mit eigenem und fremdem Inventar bearbeitetem Bö-den . . . usw. Angesichts der Notwendigkeit einer möglichst weitgehen-den Anpassung des Bodengesetzes an die ganze Mannigfaltigkeit derörtlichen Bedingungen ist es zweckmäßig, daß diese Komitees den leb-haftesten Anteil nehmen an der allgemeinen Erörterung der ganzenQ r u n d l a g e n d e r B o d e n r e f o r m , d ie i n d e n v e r s c h i e d e n e nder Duma unterbreiteten Entwürfen dargelegt worden sind..." DieTrudowiki beantragten darum, unverzüglich eine Kommission zu wählenund sofort einen entsprechenden Gesetzentwurf auszuarbeiten.

Wie nahmen die verschiedenen Parteien diesen Antrag auf? Trudo-wiki und Sozialdemokraten unterstützten ihn in ihren Presseorganeneinmütig. Die Partei der sogenannten „Volksfreiheit" sprach sich inihrem Zentralorgan, der „Retsch", am 25. "Mai i906 (d. h. einen Tagnach der ersten Lesung des Entwurfs der Trudowiki in der Duma) kate-gorisch gegen den Entwurf der Jrudowiki aus. Die „Retsch" gab direktd e r B e f ü r c h t u n g A u s d r u c k , solche B o d e n k o m i t e e s k ö n n t e n „ d i e C ö -s u n g d e r A g r a r f r a g e n a c h l i n k s v e r s c h i e b e n " * .

Die „Retsch" schrieb:„Wir werden uns bemühen, soweit das von uns abhängt, zu erreichen,

daß den örtlichen Komitees für Bodenangelegenheiten der dienstliche undspezial-fachliche Charakter gewahrt bleibt. Aus dem gleichen Grundesind wir der Meinung, daß die Bildung dieser Komitees durch allgemeineAbstimmung bedeuten würde, sie nicht für die friedliche Lösung derBodenfrage an Ort und Stelle, sondern für irgend etwas ganz anderesvorzubereiten. Die Leitung der allgemeinen Richtung der Reform mußin den Händen des Staates verbleiben: darum müssen die Vertreter derStaatsmacht in den örtlichen Kommissionen einen Sitz haben, um die Be-schlüsse der örtlichen Instanz wenn nicht zu fassen, so doch wenigstens zukontrollieren. Dann müssen - wiederum in den Grenzen der allgemeinenGrundlagen der Reform -in den örtlichenXommissionen möglichst gleich-mäßig die aufeinanderstoßenden Interessen der beteiligten Seiten ver-treten sein, die versöhnt werden können ohne Beeinträchtigung der staat-lichen Bedeutung der durchzuführenden Reform und ohne ihre Verwand-

* Siehe den ,W p e r j o d'm Nr. 1 vom 26. Mai 1906, Leitartikel „DieKadetten verraten die "Bauern", gezeichnet: Q. Al-ski.

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286 TV.3. Lenin

lung in einen Akt einseitiger Gewalt, durch die die ganze Sache mit einemvölligen Mißerfolg enden könnte."

Das ist durchaus klar und bestimmt. ^Die Partei der „Volksfreiheit" nimmt zu der vorgeschlagenen Maß-

nahme der Sache nadh Stellung und spricht sich gegen sie aus. Die Parteiwill draußen im Lande keine Komitees, die in allgemeiner, direkter, glei-cher und geheimer Abstimmung gewählt wären, sondern solche, worinsowohl das Häuflein Gutsbesitzer als auch die Tausende und Zehntau-sende Bauern gleichmäßig vertreten wären. Zur „Kontrolle" aber sollenVertreter der Staatsmacht teilnehmen.

Mögen die Deputierten der Bauern sich das gut durch den Kopf gehenlassen. Mögen sie begreifen, worum es hier geht, und mögen sie das derganzen Bauernschaft klarmachen.

Stellen Sie sich nur vor, meine Herren, worum es sich handelt. In denörtlichen Komitees sind zu gleichen Teilen sowohl die Gutsbesitzer alsauch die Bauern vertreten, und außerdem gibt es in ihnen einen Ver-treter des Staates zur Xontrolle, zur „Versöhnung". Das bedeutet: einDrittel der Stimmen für die Gutsbesitzer, ein Drittel für die Bauern undein Drittel für die Vertreter des Staates. Die höchsten Würdenträger desStaates aber, alle Leiter der Staatsangelegenheiten sind selber sehr reicheQutsbesitzer! Es kommt also so heraus, daß Gutsbesitzer sowohl Bauernals auch Gutsbesitzer „kontrollieren" werden! Qutsbesitzer werden dieBauern mit den Gutsbesitzern „versöhnen".

Ja, ja, das wird zweifellos eine „Zwangsenteignung" werden, nämlicheine durch die Qutsbesitzer erzwungene Enteignung des Geldes der-Bauern und der Arbeit der Bauern - genauso, wie 1861 die gutsherr-lichen Gouvernementskomitees den Bauern ein Fünftel des Bodens „ab-schnitten" und ihnen den doppelten Preis für den Boden auferlegten!

Eine solche Agrarreform bedeutet nichts anderes, als daß die Guts-besitzer die für sie unnötigen und schlechten Ländereien an die Bauernzu Tiberpreisen losschlagen, um die Bauern noch mehr zu knechten. Einesolche „Zwangsenteignung" ist weitaus schlechter als einefreiwillige Vereinbarung der Bauern mit den Gutsbesitzern, weil bei einerfreiwilligen Vereinbarung sowohl die Bauern als auch die Gutsbesitzerüber je eine Hälfte der Stimmen verfügen. Bei der kadettischen Zwangs-enteignung jedoch haben die Bauern ein Drittel der Stimmen, die Guts-

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Entwurf einer Hede zur Agrarfrage in der zweiten Reidhsduma 287

besitzer dagegen zwei Drittel •. das eine Drittel, weil sie Gutsbesitzer sind,das andere, weil ja auch die Beamten Gutsbesitzer sind!!

über die Bauernbefreiung" und den „Loskauj" unseligen Ange-denkens vom Jahre 1861 schrieb ein großer russischer Schriftsteller, einerder ersten Sozialisten in Rußland, der von den Henkern der Regierungzu Tode gequälte Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski: Eine frei-willige Vereinbarung der Bauern mit den Gutsherren wäre besser ge-wesen als eine solche „Befreiung mit Ablösung" durch Vermittlung dergutsherrlichen Gouvernementskomitees.* Bei einer freiwilligen Verein-barung über den Ankauf des Bodens hätte man die Bauern nicht soschröpfen können, wie man sie geschröpft hat mittels der von derRegierung zustande gebrachten „Versöhnung" der Bauern mit denGutsherren.

Und der große russische Sozialist hat recht behalten. Heute, 46 Jahrenach der vielgepriesenen „Befreiung mit Ablösung", kennen wir die Er-gebnisse der Ablösungsoperation. Der Verkaufspreis des Bodens, derden Bauern zufiel, betrug 648 Millionen Rubel, aber zu zahlen zwangman die Bauern 867 Millionen Rubel, um 2 1 9 Millionen Rubel mehr,als der Boden kostete. Und ein halbes Jahrhundert lang haben die Bauernauf solchen Anteilen, unter dem Joch solcher Zahlungen, unter dem Jochder „Versöhnung" der Bauern mit den Gutsherren durch die Regierungsich abgequält, sich abgezehrt, gehungert, sind sie dahingestorben, bisdie ganze Bauernschaft in die heutige unerträgliche Lage kam.

Die russischen Liberalen wollen die gleiche „Versöhnung" der Bauernmit den Gutsherren noch einmal wiederholen. Seht euch vor, Bauern!Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei warnt euch: Jahrzehnte neuerQualen, neuen Hungers, neuer Knechtschaft, Erniedrigung und Verhöh-nung - das ist es, was ihr dem Volke bringen werdet, wenn ihr euch aufeine derartige „Versöhnung" einlaßt.

Die Frage der örtlichen Komitees und des Loskaufs - das ist der wirk-liche Angelpunkt der Agrarfrage. Und man muß alle Aufmerksamkeitdarauf richten, daß hier nichts unklar und unausgesprochen bleibt, daßkeine Ausflüchte und keine Ausreden bleiben.

Als jedoch am 26. Mai 1906 diese Frage in der ersten Reichsduma er-

* Es wäre gut, das genaue Zitat zu ermitteln: die Stelle findet sich, wie mirscheint, in den „Briefen ohne Adresse" und noch irgendwo."

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288 IV.I.Lenin

örtert wurde, beschränkten sich die gegen die Trudowiki auftretendenKadetten Kokosdhkin und Kotljarewski auf bloße Ausflüchte und Aus-reden. Sie betonten, die Duma könne nicht sofort solche Komitees dekre-tieren - obwohl ja niemand derartige Dekrete beantragt hatte! Sie spra-chen davon, daß diese Frage mit der Reform des Wahlrechts und derörtlichen Selbstverwaltung zusammenhänge, d.h., sie suchten einfach diedringende und einfache Sache der Bildung von örtlichen Kommissionenzu verschleppen, die der Duma helfen sollten, die Agrarfrage zu lösen.Sie sprachen von einer „Verzerrung des Ablaufs der gesetzgeberischenArbeit", von der Gefahr, „draußen im Lande 80 oder 90 Dumas" zuschaffen, davon, daß „für die Schaffung solcher Organe wie der örtlichenKomitees im Grunde genommen keinerlei Notwendigkeit vorliegt"usw. usf.

Alles das ist eine einzige Ausrede, meine Herren, nichts weiter als einAusweichen vor der Frage, die klipp und klar von der Duma entschiedenwerden muß: Soll ein demokratischer Staat die Agrarfrage lösen oderder jetzige? sollen die Bauern, d. h. die Masse der Bevölkerung, in denörtlichen Bodenkomitees das Übergewicht haben oder die Gutsbesitzer?soll sich ein Häuflein von Gutsbesitzern die Millionen des Volkes unter-ordnen, oder sollen sich die Millionen Werktätigen das Häuflein Guts-besitzer unterordnen?

Man komme mir nicht mit Redensarten von der Kraftlosigkeit, derOhnmacht und der Rechtlosigkeit der Duma. Ich weiß das sehr, sehr gut.Ich erkläre mich gern bereit, das in jeder beliebigen Resolution, Erklä-rung oder Deklaration der Duma zu wiederholen und zu unterstreichen.Aber in der gegebenen Frage geht es nicht um die Rechte der Duma,denn keiner von uns denkt auch nur daran, den geringsten Vorschlag zumachen, der gegen das Gesetz über die Rechte der Duma verstieße. Esgeht darum, daß die Duma klar, bestimmt und - was die Hauptsacheist - richtig die wirklichen Interessen des Volkes zum Ausdruck bringt,daß sie die Wahrheit sagt über die Lösung der Agrarfrage, daß sie derBauernmasse die Augen öffnet über die Klippen, die einer Lösung derBodenfrage im Wege liegen.

Natürlich ist der Wille der Duma noch kein Gesetz, ich weiß das sehrwohl. Aber den Willen der Duma einzuengen, der Duma den Mund zustopfen, dafür soll sorgen wer will, nur nidht dit Duma selber! Natur-

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Entwurf einer Rede zur Agrarfrage in der zweiten Reidbsduma 289

lieh wird ein Dumabeschluß noch auf alle möglichen Widerstände stoßen,aber das rechtfertigt niemals diejenigen, die schon vorher beginnen möch-ten, sich zu bücken und zu winden, sich zu verbeugen und zu erniedrigen,um sich nach einem fremden Willen zu richten und einen Beschluß derVolksvertreter einem anderen Willen anzupassen.

Natürlich ist es nicht die Duma, die in letzter Instanz über die Agrar-frage entscheidet! nicht in der Duma vollzieht sich der entscheidende Aktim Kampf der Bauernschaft um den Boden. Aber dem Volk dadurchhelfen, daß wir die Frage erläutern, sie klar stellen, die Wahrheit voll-ständig darlegen, alle Zweideutigkeiten und Ausflüchte beseitigen, daskönnen wir und dazu sind wir v er p flieh t et, wenn wir tatsäch-lich Volksvertreter und keine liberalen Beamten sein wollen, wenn wirwirklich den Interessen des Volkes und den Interessen der Freiheit die-nen wollen.

Um aber dem Volk wirklich zu helfen, muß man in dem Dumabeschlußmit vollster Klarheit die drei grundlegenden Punkte der Boden-frage beleuchten, die ich in meiner Rede klarzustellen suchte und die derDeputierte Kutler umgangen und verwirrt hat.

Die erste Frage ist die der neunundsiebzig Millionen Desjatinen Guts-besitzerland und der Notwendigkeit, davon mindestens 70 MillionenDesjatinen den Bauern zu geben.

Die zweite Frage ist die der Ablösung. Die Bauern werden nur dannvon der Agrarumgestaltung einen einigermaßen ernsten Nutzen haben,wenn sie das Land ohne Ablösung erhalten. Die Ablösung wäre eineneue Schlinge um den Hals der Bauern, wäre ein untragbar schwerer 7ri-but, der der ganzen künftigen Entwicklung Rußlands auferlegt würde.

Die dritte Frage ist die der demokratischen Ordnung des Staates, diefür die Durchführung der Agrarreform notwendig ist, und besonders dieder örtlichen, in allgemeiner, direkter, gleicher und geheimer Abstimmunggewählten Boderikomitees. Ohne diese Voraussetzung wird die Boden-reform die Bauernmasse zwingen, in die Schuldknechtschaft der Guts-besitzer zu gehen, nicht aber das Häuflein Gutsbesitzer zwingen, denherangereiften Forderungen des ganzen Volkes Genüge zu tun.

Ich sagte zu Beginn meiner Rede, der Herr LandwirtschaftsministerWassiltschikow hätte die „Rechten" mit den „Kadetten" zu versöhnengesucht. Jetzt, wo ich klargestellt habe, welche Bedeutung der Frage der

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70 Millionen Desjatinen Gutsbesitzerland, der Ablösung und, was dieHauptsache ist, der Zusammensetzung der örtlichen Bodenkomitees zu-kommt, genügt es mir, eine Stelle aus der Rede des Herrn Ministers zuzitieren:

. . . „Wenn wir auf diesem Boden stehen", sagte der Herr Minister,wobei er die „Unantastbarkeit der Grenzen" des gutsherrlichen Eigen-tums und ihre „Verschiebung" lediglich „im Interesse des Staates" imAuge hatte, „wenn wir auf diesem Boden stehen und in bestimmten 3äl-len eine zwangsweise Verschiebung der Qrenzen zulassen, so sind wirzugleich der Meinung, daß wir . . . die Grundlagen des Eigentumsnicht erschüttern..."

Haben Sie, meine Herren, über diese bedeutungsvollen Worte desHerrn Ministers gut nachgedacht? Es lohnt sich, über sie nachzuden-ken . . . Man muß über sie nachdenken... Herr Kutler hat den HerrnMinister völlig davon überzeugt, daß in dem Wort „zwangsweise" nichtsliegt, was für die Gutsbesitzer unangenehm wäre. . . Warum?? Ebenweil die "Herren Qutsbesitzer ja selber den Zwang ausüben werden!!

Ich hoffe, meine Herren, daß es mir gelungen ist, Ihnen unsere sozial-demokratische Einstellung zur Agrarfrage sowohl gegenüber den „rech-ten" Parteien als auch gegenüber dem liberalen Zentrum (den Kadetten)klarzumachen. Ich muß jetzt noch auf einen wichtigen Unterschied ein-gehen zwischen dem sozialdemokratischen Standpunkt und den Ansich-ten der Trudowiki im weiteren Sinne des Wortes, d. h. den Ansichtenaller der Parteien, die auf dem Standpunkt des „Arbeitsprinzips" stehen,also sowohl der Volkssozialisten als auch der „Trudowiki" im engerenSinne sowie der Sozialrevolutionäre.

Aus allem, was ich vorher gesagt habe, ist schon zu ersehen, daß dieSozialdemokratische Arbeiterpartei voll und ganz die Bauernmasse unter-stützt in ihrem gegen die Gutsbesitzer gerichteten Kampf um den Boden,in ihrem Kampf um ihre Erlösung von der fronherrlichen Ausbeutung.Die Bauern haben in diesem Kampf keinen und können keinen zuver-lässigeren Verbündeten haben als das Proletariat, das für die Sache derErinnerung von Freiheit und Licht für Rußland die meisten Opfer ge-bracht hat. Die Bauern haben kein und können kein anderes Mittel haben.

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Entwurf einer Hede zur Agrarfrage in der zweiten Reidosduma 291

die Verwirklichung ihrer gerechten Forderungen durchzusetzen, als denAnschluß an das klassenbewußte, unter dem roten Banner der inter-nationalen Sozialdemokratie kämpfende Proletariat. Die liberalen Par-teien haben überall, in allen Ländern Europas, die Bauern verraten undderen Interessen den Gutsbesitzern geopfert; und auch bei uns in Ruß-land geschieht, wie ich in meiner Analyse des liberalen, kadettischen Pro-gramms gezeigt habe, genau das gleiche.

Den Unterschied zwischen den Ansichten der Trudowiki und denender Sozialdemokraten in der Agrarfrage habe ich in den vorhergehendenTeilen meiner Rede schon mehrmals berührt. Nunmehr muß eine dergrundlegenden Ansichten der Trudowikigruppe untersucht werden.

Zum Zwecke einer solchen Untersuchung gestatte ich mir, auf die Rededes Priesters Tichwinski einzugehen. Meine Herren! Die Sozialdemo-kraten teilen nicht die Anschauungen der christlichen Religion. Wir sindder Meinung, daß der wirkliche gesellschaftliche, kulturelle und politischeSinn und Inhalt des Christentums richtiger durch die Ansichten und Be-strebungen solcher Geistlichen wie des Bischofs Jewlogi zum Ausdruckgebracht werden als solcher wie des Priesters Tichwinski. Darum undkraft unserer wissenschaftlichen, materialistischen Weltanschauung, deralle Vorurteile fremd sind, sowie kraft unserer allgemeinen Aufgaben -Kampf für die Freiheit und das Glück aller Werktätigen - stehen wirSozialdemokraten der christlichen Lehre ablehnend gegenüber. Aber in-dem ich das erkläre, halte ich es für meine Pflicht, gleich hier klipp undklar zu sagen, daß die Sozialdemokratie für die volle Gewissensfreiheitkämpft und jeder aufrichtigen Überzeugung in Glaubenssachen volleAchtung entgegenbringt, wenn diese Überzeugung nicht durch Gewaltoder Betrug in die Tat umgesetzt wird. Ich halte mich für um so mehrverpflichtet, das zu unterstreichen, als ich beabsichtige, über meine Mei-nungsverschiedenheiten mit dem Priester Tichwinski zu sprechen, der einBauerndeputierter ist, der aller Hochachtung würdig ist wegen seiner auf-richtigen Ergebenheit für die Interessen der Bauernschaft, die Interessendes Volkes, die er furchtlos und entschieden verficht.

Der Deputierte Tichwinski unterstützt das Agrarprojekt der Trudo-wikigruppe, das auf den Prinzipien des Ausgleichs der Bodennutzungaufgebaut ist. In Verteidigung dieses Projekts sagte der Deputierte Tich-winski:

19«

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„Die Bauernschaft, das werktätige Volk, betrachtet den Boden so: Der Bodenist Gottes, und der werktätige Bauer hat darauf das gleiche Recht, wie jedervon uns ein Recht auf Wasser und Luft hat. Es wäre seltsam, wenn jemandbeginnen wollte, Wasser und Luft zu verkaufen, zu kaufen oder damit Handelzu treiben - ebenso seltsam klingt es für uns, wenn jemand mit dem BodenHandel treibt, ihn verkauft oder kauft. Der Bauernbund und die Trudowiki-gruppe wollen das Prinzip durchführen: alles Land dem werktätigen Volk.Aber was die Ablösung des Bodens betrifft - wie sie durchgeführt werdensoll, durch Loskauf oder durch einfache Enteignung ohne Loskauf - dieseFrage interessiert die werktätige Bauernschaft nicht..."

Das sagte der Deputierte Tichwinski im Namen des Bauernbundes undder Trudowikigruppe.

Der Fehler, der schwere Fehler der Trudowiki besteht eben darin, daßsie die Frage der Ablösung und der Art und Weise der "Durdbfübrungder Agrarreform nicht interessiert, während es doch in WirkHdbkeitgerade hiervon abhängt, ob die Bauern ihre Befreiung vom Gutsbesitzer-joch durchsetzen werden. Wohl aber interessieren sie sich für die Fragedes Kaufs und Verkaufs des Bodens und des gleichen Rechtes aller aufGrund und Boden, obwohl diese Frage im Kampf um die wirkliche Be-freiung der Bauernschaft vom Gutsbesitzerjoch keinerlei ernstlidhe Be-deutung hat.

Der Deputierte Tichwinski vertritt die Ansicht, daß man das Landweder kaufen noch verkaufen darf, daß alle Werktätigen das gleicheRecht auf Grund und Boden haben.

Ich verstehe durchaus, daß eine solche Anschauung den edelsten Be-weggründen, dem flammenden Protest gegen das Monopol, gegen diePrivilegien der reichen Nichtstuer, gegen die Ausbeutung des Menschendurch den Menschen entspringt, dem Bestreben entspringt, die Befreiungaller Werktätigen von jeder Unterdrückung und jeder Ausbeutung zuerreichen.

Für dieses Ideal, das Ideal des Sozialismus, kämpft die Sozialdemo-kratische Arbeiterpartei. Aber dieses Ideal ist nicht zu erreichen aufjenem Wege eines Ausgleichs der Bodennutzung kleiner Besitzer, vondem der Deputierte Tichwinski und seine Gesinnungsfreunde träumen.

Der Deputierte Tichwinski ist bereit, ehrlich, aufrichtig und entschie-den gegen die Macht der Gutsbesitzer zu kämpfen und, wie ich hoffe, biszu Ende zu kämpfen. Aber er hat eine andere Macht vergessen, die auf

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Entwurf einer Hede zur Agrarfrage in der zweiten Reidbsduma 293

dem werktätigen Menschen von heute noch schwerer lastet und ihn nochstärker unterdrückt, nämlich dieMadbt desXapitals, die Macht des Geldes.

Der Deputierte Tichwinski sagt, der Verkauf von Boden, Wasser oderLuft erscheine dem Bauern seltsam. Ich begreife, daß bei Menschen, dieihr ganzes Leben oder doch fast ihr ganzes Leben im Dorf verbringen,sich eine solche Anschauung herausbilden mußte. Aber man werfe einenBlick auf die ganze gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft, auf die gro-ßen Städte, die Eisenbahnen, die Kohlen- und Erzgruben, die Fabrikenund Werke. Sie werden sehen, wie die Reichen sowohl die Luft als auchdas Wasser und das Land in ihren Besitz gebracht haben. Sie werdensehen, wie Zehntausende und Hunderttausende Arbeiter der frischenLuft beraubt sind, dazu verurteilt sind, unter der Erde zu arbeiten, inKellern zu hausen, das von der benachbarten Fabrik verdorbene Wasserzu verwenden. Sie werden sehen, wie rasend die Bodenpreise in denStädten steigen und wie der Arbeiter nicht nur von den Fabrikanten undWerkherren ausgebeutet wird, sondern auch von den Hausbesitzern, diebekanntlich an den von Arbeitern bewohnten Quartieren, Kammern,Winkeln und Löchern weitaus mehr profitieren als an den Luxuswohnun-gen. Und wozu überhaupt über den Kauf und Verkauf von Wasser, Luftund Boden reden, wo doch die ganze heutige Gesellschaft sich nur aufden Kauf und Verkauf der Arbeitskraft gründet, d. h. auf die Cobn-sklaverei von Millionen Menschen!

überlegen Sie, ob angesichts dieser Macht des Geldes und der Machtdes Kapitals von einer Gleichheit des Grundbesitzes, von einem Verbot,Boden zu kaufen oder zu verkaufen, die Rede sein kann. Kann sich dasrussische Volk von Unterdrückung und Ausbeutung befreien, wenn jedemStaatsbürger das gleiche Recht auf ein gleiches Stück Land zuerkanntwird, während zur gleichen Zeit ein Häuflein von Menschen Zehn-tausende oder Millionen von Rubeln besitzt, die Masse aber bettelarmbleibt? Nein, meine Herren, solange die Macht des Kapitals fortbesteht,wird keinerlei Gleichheit zwischen den Grundbesitzern möglich sein,werden alle beliebigen Verbote, Land zu verkaufen oder zu kaufen, un-möglich, lächerlich und absurd sein. Alles, nicht nur der Boden, sondernsowohl die menschliche Arbeit, die menschliche Persönlichkeit, das Gewis-sen und die Liebe als auch die Wissenschaft, alles wird unvermeidlichkäuflich, solange die Macht des "Kapitals fortbesteht.

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Wenn ich das sage, will ich keineswegs den bäuerlichen Kampf um denBoden schwächen, will ich keineswegs seine Bedeutung, seine Wichtigkeit,seine Unaufschiebbarkeit herabsetzen. Nichts dergleichen. Ich habe schongesagt und wiederhole es, daß dieser Kampf gerecht und notwendig ist,daß die Bauern sowohl in ihrem eigenen Interesse als auch im Interessedes Proletariats sowie im Interesse der gesamten gesellschaftlichen Ent-wicklung das fronherrliche Joch der Gutsbesitzer abwerfen müssen.

Nicht schwächen, sondern verstärken wollen die klassenbewußten Ar-beiter den bäuerlichen Kampf um Boden. Nicht diesem Kampf Einhaltzu gebieten sind die Sozialisten bestrebt, sondern ihn noch weiter zuführen und zu diesem Zweck den naiven Glauben auszurotten, als ob esmöglich wäre, die kleinen Besitzer gleichzumachen oder den Kauf undVerkauf des Bodens zu verbieten, solange Tausch, Geld und die Machtdes Kapitals existieren.

Gegen die Gutsbesitzer unterstützen die Arbeiter, die Sozialdemo-kraten, die Bauern voll und ganz. Aber nicht durch die wenn auch aus-gleichende Kleinwirtschaft kann die Menschheit von dem Massenelend,der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschenerlöst werden. Dazu bedarf es des Kampfes um die Abschaffung der gan-zen kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Ablösung durch die soziali-stische Großproduktion. Diesen Kampf führen heute Millionen von klas-senbewußten Arbeitern, von Sozialdemokraten, in allen Ländern derWelt. Und nur, wenn sich die Bauernschaft diesem Kampf anschließt,kann sie, nachdem sie ihren ersten Feind, den Gutsbesitzer und Fron-herrn, niedergeworfen hat, erfolgreich gegen den zweiten, schlimmerenFeind kämpfen, gegen die Macht des Kapitals!

Qesdhrieben zwischen 21. und 25. März(3.-7. April) 1907.

Zuerst veröffentlicht 1925 Nach dem Manuskript.im £,enin-S ammeiband IV.

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H O N I G IM MUNDE, GALLE IM HERZEN

Die Agrardebatten in der Reichsduma sind außerordentlich aufschluß-reich. Es ist daher notwendig, auf die Reden der Führer der verschiede-nen Parteien ausführlicher einzugehen und in ihren Inhalt einzudringen.

Der Hauptpunkt der Agrarfrage ist zweifellos die Einstellung zumgutsherrlichen Grundeigentum. Die Bauernschaft kämpft gegen diesesEigentum in dem Bestreben, den Boden für sich zu gewinnen. Wie stehendie verschiedenen Parteien zu diesem Kampf?

Die Sozialdemokraten haben direkt und offen die Forderung nach Ent-eignung ohne Ablösung aufgestellt. Der Vertreter der Sozialdemokratie,Zereteli, hat in seiner Rede nachdrücklich bewiesen, wie verlogen es ist,die „Rechte" des gutsherrlichen Eigentums zu verteidigen, hat klarge-stellt, daß es aus Raub entstanden ist, hat die grenzenlose Heuchelei allder Reden über die Unantastbarkeit des Privateigentums gezeigt und denPremierminister widerlegt, der unter „Staatsprinzip" nicht die Volks-interessen versteht, sondern die Interessen jener Tiandvoll Qutsbesitzer,mit denen die Staatsmacht auf Qedeih und Verderb verbunden ist.

Man füge den gegen Schluß der Rede des Gen. Zereteli gemachten Vor-schlag hinzu, die örtlichen Bodenkomitees (die natürlich in allgemeiner,direkter, gleicher und geheimer Abstimmung zu wählen sind) mit derBehandlung der Frage zu beauftragen, und man erhält ein in sich geschlos-senes und deutliches Bild des proletarischen Standpunkts in der Boden-frage. Rechte der Gutsherren auf den Grund und Boden werden ver-neint. Das bei der Umgestaltung anzuwendende Verfahren wird klarbestimmt: örtliche Komitees, das heißt Übergewicht der Interessen derBauern über die der Gutsherren. Enteignung ohne Ablösung, das heißt

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restloses Eintreten für die Interessen der Bauern, unversöhnlicher Kampfgegen die klassenbedingte Habsucht der Gutsherren.

Gehen wir zu den Trudowiki über. Karawajew hat das Prinzip „Ent-eignung ohne Ablösung" nicht mit aller Klarheit und Bestimmtheit auf-gestellt. Der Vertreter der Bauern hat die Forderungen des Volkes andie Gutsbesitzer weniger entschieden erhoben als der Vertreter der Ar-beiter. Nicht klar herausgestellt wurde die Forderung, die örtlichen Ko-mitees mit der Frage zu beauftragen, es wurde kein Protest erhobengegen das Vorhaben der Liberalen (der Kadetten), die Erörterung derheiklen Frage in einem Ausschuß, möglichst weit weg vom Volke, mög-lichst fern vom Licht der Öffentlichkeit, möglichst weit von freier Kritik,verschwinden zu lassen. Aber trotz aller dieser Mängel in der Rede desTrudowiks im Vergleich zu der Rede des Sozialdemokraten müssen wirdennoch sagen, daß der Trudowik die Sache der Bauern gegen die Guts-besitzer verteidigt hat. Der Trudowik öffnete dem Volk die Augen überdie elende Lage der Bauernschaft. Er bestritt die Schlußfolgerungen Jer-molows und der anderen Verteidiger der Gutsbesitzerklasse, die die Not-wendigkeit einer Vergrößerung des bäuerlichen Grundbesitzes geleugnethatten. Er gab das Minimum des bäuerlichen Bodenbedarfs mit 70 Mil-lionen Desjatinen an und stellte klar, daß es zur Befriedigung dieses Be-darfs der Bauern über 70 Millionen Desjatinen Boden der Gutsbesitzer,der Apanagegüter und anderer Liegenschaften gibt. Der ganze Ton deiRede des Trudowiks war - wir wiederholen das, ungeachtet ihrer vonuns hervorgehobenen Mängel - ein Appell an das Volk, war gekenn-zeichnet durch das Bestreben, dem Volk die Augen zu öffnen . . .

Wenden wir uns der Rede des Kadetten Kutler zu. Sofort bietet sichuns ein ganz anderes Bild. Man merkt, daß wir aus dem Lager der völligkonsequenten (Sozialdemokraten) oder ein wenig schwankenden (Tru-dowiki) Verteidiger der Bauern gegen die Gutsbesitzer in das Lager derQutsbesitzer geraten sind, die die Unvermeidlichkeit von „Zugeständ-nissen" begreifen, aber alle Anstrengungen aufbieten, um mögtidbst wenigzugestehen zu müssen.

Kutler sprach von seinem „Einverständnis" mit den Trudowiki, vonseiner „Sympathie" für die Trudowiki nur, um die Pille der unverzüg-Hdhen Einschränkungen, Kürzungen und Streichungen, die angeblich indem Projekt der Trudowiki nötig wären, zu verzuckern. Die ganze Rede

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Honig im Munde, Qalle im Herzen 297

Kutlers ist voll von allen möglichen Argumenten gegen die Sozialdemo-kraten und gegen die Trudowiki.

Um den Beweis nicht schuldig zu bleiben, wollen wir die Rede KutlersSchritt für Schritt untersuchen.

Einleitung. Ein Knicks vor den Trudowiki. Der Kadett schließt sichdem Grundgedanken an, er sympathisiert von ganzem Herzen...aber ... aber ... das Projekt der Trudowikigruppe „beschränkt sichnicht auf die einjache und klare Aufgabe, dem bäuerlichen Bodenmangelabzuhelfen. Es geht weiter, es strebt danach, alle bestehenden agrarischenRechtsverhältnisse von Qrund auf umzuwandeln" (Zitate überall nachdem Bericht des „Towarischtsch").

Also „Sympathie" mit dem Bauern in Worten, Beschränkung derbäuerlichen Forderungen in der 7at, Für den Bauern - in Worten, fürden Gutsbesitzer - in der Tat.

Und dabei versichert Kutler noch der Duma, der Trudowik beschränkesich nicht auf eine einfache und klare Aufgabe! Der Leser überlege nur:Der Trudowik spricht geradeheraus von 10 Millionen Desjatinen Land.Sie muß man aus den Händen der Gutsbesitzer in die Hände der Bauerngeben. Das ist nicht „klar", das ist nicht „einfach"!!

Der „Klarheit" wegen muß man von der Arbeitsnorm reden, von derVerbrauchsnorm, von der Zuteilungsnorm des Jahres 1861. Und HerrKutler redet, redet, redet. Mit einem Wortschwall über alle diese un-nützen Fragen vernebelt er die Köpfe der Zuhörer, um zu der Schluß-folgerung zu kommen: „Meiner Meinung nach.. .fehlen 30 MillionenDesjatinen", um die bäuerlichen Anteile auf die Norm vom Jahre 1861zu bringen, und diese Norm ist noch niedriger als die Verbrauchsnorm.Und das ist alles. Das ist alles zur Frage nach dem Umfang des Bedarfsund seiner Befriedigung.

Aber ist das etwa eine Antwort hinsichtlich der 70 Millionen? Siemachen doch einfach Ausflüchte, Sie ehrenwerter Ritter der „Volksfrei-heit", Ihr Geschwätz ist doch einfach ein Ablenkungsmanöver! Sollenden Bauern die 70 Millionen Desjatinen Land übergeben werden odernicht? Ja oder nein?

Und um das Wesen dieser Ausflüchte noch klarer zu zeigen, wollenwir die von dem Trudowik angeführte Zahl durch die zusammenfassen-den Ergebnisse der neuesten Bodenstatistik belegen. Nach der Erhebung

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von 1905 waren insgesamt 101,7 Millionen Desjatinen Boden Privat-besitz. Davon gehörten 15,8 Millionen Vereinigungen und Genossen-schaften; 3,2 Millionen Desjatinen Besitzern, die bis zu 20 Desjatinenhatten; 3,3 Millionen Desjatinen Besitzern von 20 bis 50 Desjatinen;79,4 Millionen Desjatinen Besitzern von über 50 Desjatinen. Die Zahldieser letzteren Besitzer beträgt insgesamt 133 898. Also entfallen aufjeden von ihnen im "Durchschnitt je 594 Desjatinen. Nehmen wir an, wirlassen jedem dieser Herren 50 Desjatinen. Das macht 6,9 MillionenDesjatinen aus. Ziehen wir 6,9 Millionen von 79,4 Millionen ab, dannerhalten wir freie 72,5 Millionen Desjatinen Qutsbesitzerland, ohne die£ändereien der Apanagegüter, des Tiskus, der Kirchen und "Klöster usw.einzurechnen.

Wir sehen, daß der Trudowik die Bodenmenge, die die Bauern erhaltenkönnen und müssen, noch nicht ganz richtig bestimmt hat, wenn auchseine Gesamtzahl (70 Millionen Desjatinen) der Wahrheit nahe kommt.

Also haben Sie die Freundlichkeit, meine Herren Kadetten, eine, ein-fache und klare Antwort zu geben: soll man von den Gutsbesitzern70 Millionen Desjatinen nehmen und den Bauern übergeben, ja oder nein?

Anstatt eine direkte Antwort zu geben, windet sich unser ehemaligerMinister und jetziger liberaler Heuchler wie der Teufel vor der Früh-messe und ruft pathetisch aus:

„Ist dieses Recht" (das Recht auf Boden nach dem Projekt der Trudo-wikigruppe) „nicht das Recht, in einen Raum einzudringen, worin allePlätze schon besetzt sind?"

Nicht wahr, das ist gut? Die Frage nach den 10 "Millionen Desjatinenist umgangen. Der liberale Junker gibt den Bauern die Antwort: Der"Kaum ist besetzt.

Nachdem er so die unangenehme Frage der 70 Millionen Desjatinenhat unter den Tisch fallenlassen (es sind doch Flegel, diese Bauern! rückensie einem da mit irgendwelchen 70 Millionen auf den Pelz!), erhebt Kut-ler Einwendungen gegen die Trudowiki hinsichtlich der „praktischenDurchführbarkeit" einer Nationalisierung des Bodens.

Alles das ist ein böswilliges Ablenkungsmanöver, denn wenn die70 Millionen Desjatinen den Gutsbesitzern verbleiben, dann gibt es auchnichts zu nationalisieren 1 Herr Kutler aber redet ja eben, um seine Qe-danken zu verbergen.

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"Honig im Munde, Qalle im Herzen 299

Worin besteht sein Einwand gegen die Nationalisierang des Bodens?

„Mir scheint, man könnte sich politische Bedingungen vorstellen, unterdenen das Projekt der Nationalisierung des Bodens Gesetzeskraft erhaltenkönnte, aber ich kann mir in der nächsten Zukunft keine politischen Bedin-gungen vorstellen, unter denen dies Gesetz wirklich durchführbar wäre."

Das ist gewichtig und überzeugend. Der liberale Beamte, der sein gan-zes Leben lang „manierlich seinen Rücken krümmte", kann sidb keinepolitischen Bedingungen vorstellen, unter denen die gesetzgebende Ge-walt den Vertretern des Volkes gehörte. Gewöhnlich ist es so - deutetunser netter Liberaler an - , daß die Macht über das Volk einem Häuf-lein Gutsbesitzern gehört.

Jawohl, so ist es gewöhnlich. So liegen die Dinge in Rußland. Aber esgeht doch um den Kampf für die Volksfreiheit. Es steht doch gerade dieFrage zur Erörterung, wie die ökonomischen und „politischen Bedin-gungen" der Gutsbesitzerherrschaft zu verändern sind. Und Sie wendensidb dagegen mit dem Hinweis, daß heute die Gutsherren die Macht be-sitzen und daß man den Rücken noch tiefer beugen muß:

„Es ist unbegründet und ungerechtfertigt, die einfache und unbestreitbarnützliche Aufgabe, der bäuerlichen Bevölkerung zu helfen, zu komplizieren . . . "

Die Ohren wachsen nicht über die Stirn hinaus, nein, das tun sie nicht.Und Herr Kutler läßt sich des langen und breiten darüber aus, daß

man anstatt der „undurchführbaren" Nationalisierung nur eine „Erwei-terung der bäuerlichen Bodennutzung" brauche.

Als die Erweiterung des bäuerlichen Bodenbesitzes (und nicht derBodennutzung, mein Verehrtester!) um 70 Millionen Desjatinen Quts-besitzerlandes zur Sprache kommen sollte, da ging Kutler zur Frage der„Nationalisierung" über. Von der Frage der „Nationalisierang" aber kehrter zurück zur Frage der „Erweiterung" . . . Vielleicht, meint er wohl, hatman die 10 Millionen Desjatinen vergessen!

Herr Kutler verteidigt direkt das Privateigentum an Grund und Boden.Seine Aufhebung erklärt er für die „allergrößte Ungerechtigkeit".

„Wenn niemand beantragt, das Eigentum überhaupt abzuschaffen, dannist es nötig, mit allem Nachdruck die Existenz des Eigentums an Grund undBoden anzuerkennen."

Wenn es unmöglich ist, schon heute zwei Schritte vorwärts zu machen,„dann ist es nötig", auch auf einen Schritt vorwärts zu verzichten! Das

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300 W. 1 Centn

ist die Logik eines Liberalen. Das ist die Logik der gutsherrlichen Hab-sucht.

Als einzigen Punkt in der Rede des Herrn Kutler, den man mit derVerteidigung der bäuerlichen und nicht der gutsherrlichen Interessen inVerbindung bringen könnte, ließe sich auf den ersten Blick seine Aner-kennung der Zwangsenteignung privater Ländereien betrachten.

Aber schwer auf dem Holzwege wäre derjenige, der dem Klang dieserWorte glauben wollte. Die Zwangsenteignung gutsherrlichen Bodens istfür die Bauern dann und nur dann vorteilhaft, wenn wirklich die Guts-besitzer gezwungen werden, den Bauern viel Boden abzugeben und billigabzugeben. Wenn aber die Gutsbesitzer die Bauern zwingen, für jäm-merliche Bodenfetzen einen hohen Preis zu zahlen?

Das Wort „Zwangsenteignung" besagt an sich noch gar nichts, solangekeine wirklichen Garantien dafür gegeben sind, daß die Gutsbesitzerdie Bauern nicht prellen.

Herr Kutler schlägt nicht nur keine einzige dieser Garantien vor, son-dern, im Gegenteil, durch seine ganze Rede, durch seine ganze kadettischePosition schließt er sie aus. Arbeit außerhalb der Duma wollen die Ka-detten nicht, örtliche Komitees propagieren sie offen in einer antidemo-kratischen Zusammensetzung: gleiche Anzahl von Vertretern der Bauernund der Gutsbesitzer mit einem von der Regierung bestellten Vorsitzen-den! Das aber bedeutet schon in vollem Umfang Zwang der Gutsherrengegen die Bauern.

Man füge hinzu, daß die Bewertung des Bodens durch ebensolche guts-herrMche Komitees erfolgen soll - daß die Kadetten den Bauern schonjetzt (siehe den Schluß der Rede Kutlers) die "Hälfte der Zahlungen fürden Boden auferlegen wollen (die andere Hälfte sollen ebenfalls dieBauern zahlen, nur in Form erhöhter Steuern!) —, und man wird sichdavon überzeugen, daß die Herren Kadetten zwar "König im Munde,aber gafle im Herzen haben.

Die Sozialdemokraten und die Trudowiki haben in der Duma für dieBauern gesprochen, die Rechten und die Kadetten für die Gutsbesitzer.Das ist eine Tatsache, und keinerlei Ausflüchte und Phrasen werden sieverbergen können.

„Nasche Echo" 9Vr. 1, Nach dem 7ext von25. März i907. „Nasche Echo".

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Erste Seite der Zeitung „Nasche Echo" Nr. 2 — 1907

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303

DIE D U M A U N D DIE B E S T Ä T I G U N GDES H A U S H A L T S

Die Frage der Bestätigung des Haashalts durch die Duma ist vonernstester politischer Bedeutung. Nach dem Buchstaben des Gesetzes sinddie Rechte der Duma nicht der Rede wert, und die Regierung ist in ihrenHandlungen nicht im geringsten an die Zustimmung der Duma gebunden.Faktisch aber besteht eine bestimmte Abhängigkeit der Regierung von derBestätigung des Haushalts durch die Duma: das geben alle zu, das unter-streichen besonders auch die liberalen Bourgeois, die Kadetten, die gernschwülstige Phrasen über diese Abhängigkeit daherreden, anstatt die be-scheidenen Grenzen dieser bescheidenen Abhängigkeit festzustellen. DieRegierung braucht Geld, eine Anleihe ist notwendig. Aber eine Anleiheaufzunehmen ohne direkte oder indirekte Zustimmung der Duma wirdentweder überhaupt nicht oder lediglich unter großen Schwierigkeitengelingen, nämlich zu drückenden Bedingungen, die die Lage stark ver-schlechtern würden.

Es ist ganz offensichtlich, daß unter solchen Umständen die Behand-lung des Haushalts durch die Duma sowie die Abstimmung über ihn einedoppelte politische Bedeutung hat. Erstens muß die Duma dem Volke dieAugen öffnen über alle Methoden jenes organisierten Raubes, jener syste-matischen, schamlosen Ausplünderung des Volksvermögens durch einHäuflein von Gutsbesitzern, Beamten und allen möglichen Parasiten, diesich „Staatswirtschaft" Rußlands nennt. Das von der Dumatribüne herabklarmachen bedeutet dem Volk helfen in seinem Kampf um die „Volks-freiheit", von der die Balalaikins* des russischen Liberalismus soviel

* Balalaikin - Gestalt aus M. J. Saltykow-Schtschedrins Werk „Eine zeit-genössische Idylle". "Der Tibers.

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reden. Welches auch immer das weitere Schicksal der Duma sein mag undwelches auch immer die nächsten Schritte und „Absichten" der Regie-rung sein werden - auf jeden Fall wird nur die Bewußtheit und Organi-siertheit der Volksmassen in letzter Instanz den Ausgang des Kampfesum die Freiheit entscheiden. Wer das nicht begreift, der legt sich zu Un-recht den Namen eines Demokraten bei.

Zweitens sind eine schonungslose, offene Kritik des Haushalts und einekonsequent demokratische Abstimmung über den Haushalt von Bedeu-tung für Europa und das europäische Kapital, ja selbst für breite Schich-ten der europäischen Mittel- und Kleinbourgeoisie, die der russischen Re-gierung der Herren Stolypin Geld leiht. Sowohl Bankiers als auch andereinternationale Kapitalmagnaten leihen den Herren Stolypin und Konsor-ten Geld, um dafür den gleichen Profit einzuheimsen, dessentwegen auchjeder andere Wucherer ein „Risiko" eingeht. Bestände nicht die Über-zeugung, daß das geliehene Geld wohlaufgehoben ist und die Zinsenregelmäßig eingehen, dann würde keinerlei Liebe zur „Ordnung" (und„Rußland" ist das Musterbeispiel einer Friedhofsordnung, wie sie sichdie durch das Proletariat erschreckte europäische Bourgeoisie wünscht)alle diese Rothschild, Mendelssohn usw. veranlassen, den Beutel zu ziehen.Von der Duma hängt es in sehr beträchtlichem Maße ab, ob der Glaubeder europäischen Magnaten des Geldkapitals an die Solidität und dieZahlungsfähigkeit der Firma „Stolypin & Co." gestärkt oder geschwächtwird. Außerdem wären die Bankiers außerstande, Milliardenanleihen zugewähren, wenn die breite bürgerliche Masse Europas der russischenRegierung nicht vertraute. Diese Masse aber wird systematisch betrogenvon den käuflichen bürgerlichen Zeitungen der ganzen Welt, die sowohlvon den Bankiers als auch von der russischen Regierung bestochen wer-den. Die Bestechung verbreiteter europäischer Zeitungen zugunstenrussischer Anleihen ist eine „normale" Erscheinung. Sogar Jaures hat man200 000 Frank angeboten, damit er auf eine Kampagne gegen die rus-sische Anleihe verzichte: so sehr schätzt unsere Regierung die „öffent-liche Meinung" sogar derjenigen Schichten des Kleinbürgertums in Frank-reich, die imstande sind, mit dem Sozialismus zu sympathisieren.

Die ganze breite kleinbürgerliche Masse Europas besitzt nur ganz ge-ringe Möglichkeiten, den wirklichen Zustand der russischen Finanzen, diewirkliche Zahlungsfähigkeit der russischen Regierung nachzuprüfen —

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Die Duma und die Bestätigung des Haushalts 305

richtiger, sie besitzt fast keine Mittel, die Wahrheit aufzudecken. DieStimme der Duma, von deren Debatten und Beschlüssen die gesamteeuropäische Öffentlichkeit unverzüglich erfährt, ist in dieser Hinsicht vongewaltiger Bedeutung. Niemand könnte so viel tun wie die Duma, damitStolypin und Konsorten der finanziellen Unterstützung Europas verlustiggehen.

Die Pflicht einer „oppositionellen" Duma ergibt sich daraus ganz vonselbst. Erfüllt haben diese Pflicht nur die Sozialdemokraten. Nach demEingeständnis des halbkadettischen „Towarischtsch" haben gerade dieSozialdemokraten in der Haushaltsrede des Deputierten Alexinski dieFrage am prinzipiellsten gestellt. Und entgegen der Meinung des halb-kadettischen „Towarischtsch" haben die Sozialdemokraten richtig gehan-delt, als sie eine klare, offene und präzise Deklaration einbrachten, nachder es für Sozialdemokraten unzulässig ist, einen Haushalt wie den rus-sischen zu bestätigen. Man hätte in der Deklaration nur eine Darlegungdes sozialistischen Standpunkts hinsichtlich des Haushalts des bürger-lichen Klassenstaates hinzufügen sollen.

Den Sozialdemokraten folgten nur die extrem linken Volkstümler, d. h.die Sozialrevolutionäre. Die Masse der bäuerlichen Demokratie - Tru-dowiki und Volkssozialisten - schwankt, wie immer, zwischen der libe-ralen Partei und dem Proletariat: den Kleinbesitzer zieht es zur Bour-geoisie, obwohl der unerträgliche Druck des fronherrlich-fiskalischenJochs ihn mit Gewalt auf die Seite der kämpfenden Arbeiterklasse drängt.

Die Liberalen haben, solange ihnen die Trudowiki folgen, nach wievor die Führung der Duma. Den Hinweis der Sozialisten auf die Ver-räterrolle der Kadetten in der Haushaltsfrage beantworten sie mit . . .schlechten Witzen oder mit Phrasen ä la „Nowoje Wremja" oder ä laMenschikow, etwa wie die Äußerung Struves, der von einer effektvollenGeste der Sozialdemokraten sprach, usw.

Aber weder mit Witzchen noch mit Kniffen oder Phrasen werden siedavon loskommen, daß beide von uns weiter oben erwähnten Aufgabender "Demokraten vom bürgerlichen Liberalismus in den Schmutz getretenworden sind.

Der Verrat der Liberalen an der Revolution besteht, wie wir wieder-holt klargestellt haben, nicht in persönlichen Abmachungen, nicht in per-sönlichem Verrat, sondern in der Klassenpolitik eigennütziger Versöh-

20 Lenin, Werke, Bd. 12

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nung mit der Reaktion, ihrer direkten und indirekten Unterstützung.Gerade diese Politik betreiben die Kadetten auch in der Haushaltsfrage.Anstatt dem Volke die Wahrheit zu sagen, schläfern sie die Aufmerk-samkeit des Volkes ein, wobei sie absichtlich solche bürokratischen Män-ner im Futteral vorschicken wie Kutler. Anstatt Europa die Wahrheitzu sagen, festigen sie die Stellung der Regierung dadurch, daß sie ihreKritik auf Kleinigkeiten verzetteln, also darauf verzichten, vor den AugenEuropas den Bankrott der Firma Stolypin & Co. zu bestätigen.

Insgeheim haben die Kadetten auch früher diese feige, spießbürger-lich-jämmerliche Politik betrieben. Während der Wahlkampagne zurzweiten Duma in Petersburg wurde von den Sozialdemokraten in Volks-versammlungen klargestellt, daß die Kadetten im Frühjahr 1906 der Re-gierung geholfen haben, 2 Milliarden Frank aufzunehmen für Erschie-ßungen, Standgerichte und Strafexpeditionen. Clemenceau hatte den Ka-detten auseinandergesetzt, er werde eine Kampagne gegen die Anleiheeinleiten, falls die Partei der Kadetten in aller Form erklären werde, daßdiese Anleihe für das russische Volk unannehmbar sei. Die Kadetten lehn-ten es ab, das zu tun, und halfen dadurch, Geld für die Konterrevolutionzu beschaffen, über diesen Gaunerstreich schweigen sie. Aber jetzt in derDuma wird das Verborgene offenbar. Den gleichen unsagbar infamenStreich verüben sie offen in der Duma.

Es ist an der Zeit, von der Dumatribüne herab diesen Streich in allenseinen Einzelheiten bloßzulegen und dem Volk die ganze Wahrheit zusagen.

„Nasdhe Echo*"Mr. 1, Nad} dem Text von27. März 1907. .Masdoe Edho".

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DER KUCKUCK LOBT DEN H A H N . . . *

Die Kadetten loben die Leute vom „Nowoje Wremja". Die Leute vom„Nowoje Wremja" loben die Kadetten. Die Partei der „Volksfreiheit"ist mit der Schlußrede des Herrn Ministers über den Haushalt zufrieden.Die Partei der stets mit allen Ministern Zufriedenen ist damit zufrieden,daß die Kadetten als die Häupter des Duma„zentrums" willens sind, denHaushalt des Kabinetts der Dumaauflösung zu bestätigen.

„Wenn es eines Beweises bedurft hätte", beginnt hochtrabend der Leit-artikler der „Retsch" (vom 28. März), „daß die allgemeine Haushalts-debatte in der Reichsduma nicht fruchtlos war, dann wäre die Schlußrededes Herrn Finanzministers der glänzendste Beweis dafür."

Worin besteht denn nun dieser glänzende Beweis?Darin, daß bei dem Herrn Minister „auch nicht eine Spur übrigblieb"

von dem früheren „hochmütig-belehrenden und gereizt-ironischen Ton"...Die Antwort des Herrn Ministers war der Form nach korrekt, dem Inhaltnach zollte sie „der Kraft der Dumakritik den 7ribut der Achtung", derHerr Minister tröstete die Duma, sie habe mehr Rechte, als es schiene;er machte der Partei der Volksfreiheit Komplimente, „die sich übrigensdie gewaltige Dumamehrheit durch die folgende Abstimmung verdiente"(indem sie der Überweisung des Haushalts an einen Ausschuß zustimmte).

Ja, ja, so sehen die glänzenden Beweise der Kadetten dafür aus, daß dieArbeit der Duma „mcfot frudbtlos" war. Nicht darin bestehen ihre Früchte,daß es wenigstens eine Spur ernstlicher Aussichten auf eine Verbesserungder wirklichen Lage der Dinge gäbe. Und nicht darin, daß die Volks-

* Zu ergänzen:... weil dieser den Kuckuck lobt. Nach einer Fabel vonI. A. Krylow. Der Vbers.

20«

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massen irgend etwas gelernt hätten und sich über einige durch das kon-stitutionelle Flitterwerk verhüllte Aufgaben klargeworden wären. Durch-aus nicht. Die Früchte bestehen darin, daß der Minister anständiger, lie-benswürdiger geworden ist - liebenswürdiger denen gegenüber, die imNamen der „Volksvertretung" ihr Einverständnis gaben, auf alle mög-lichen Kompromisse einzugehen.

Die Liberalen sind einverstanden, die Volksvertretung zu prostituieren,um die Grundlagen der Schwarzhunderterherrschaft zu festigen. Die Re-gierung Stolypins und Konsorten ist einverstanden, unter dieser Bedin-gung die Duma (einstweilen . . .) nicht aufzulösen. Beide Seiten sind hocherfreut und voneinander gerührt.

Das heutige „Nowoje Wremja", das sich die Gelegenheit nicht ent-gehen läßt, den Kadetten wegen der „jüdischen" Zusammensetzung desKonfessionsausschusses den Kopf zu waschen, bringt zu gleicher Zeitlange Betrachtungen seines Dumareporters darüber, warum eine Ausein-anderjagung der Duma unvorteilhaft wäre. „Selbst vom Standpunkt sehrrechts stehender Elemente wäre eine Auflösung der Duma im gegenwär-tigen Augenblick sehr unerwünscht und schädlich." Das Wahlgesetz istnicht ohne Staatsstreich zu ändern, wählt man aber eine neue Duma aufGrund des jetzigen Wahlgesetzes, dann wird man möglicherweise „dasjetzige Zentrum der zweiten Reichsduma verlieren". Dieses Zentrum„beginnt" nach den Worten des Mannes vom „Nowoje Wremja" „mit denQktobristen und erstreckt sich dann über die Anhänger der friedlichenErneuerung, die Parteilosen, die Polen und die Kadetten bis unmittelbarzu den Trudowiki". „Das jetzige Zentrum steht zweifellos auf einemstreng konstitutionell-monarchistischen Standpunkt und hat bislang aufjede Weise eine organische Arbeit erstrebt. "Dieses Zentrum würden wirauf jeden7a.ll verlieren (bei einer Auseinanderjagung der zweiten Duma).Wir würden also einen von der Duma bestätigten "Haushalt verlieren,denn ich setze als absolut sicher voraus, daß der vom Kabinett einge-brachte Haushalt - mit einigen geringfügigen (hört! hört!) Änderun-gen - von der zweiten Duma angenommen werden wird."

So schreibt das „Nowoje Wremja". Sein Gedankengang ist außer-ordentlich klar. Der Standpunkt der ganz Rechten, die gleichzeitig wün-schen, momentan die Duma zu erhalten, ist ausgezeichnet dargelegt.

In den höchsten Sphären der herrschenden Aristokratie kämpfen zwei

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Der Xudkudk lobt den Tiahn... 309

Strömungen: die Duma auseinanderjagen oder sie einstweilen erhalten.Die erste Politik hat das „Nowoje Wremja" schon längst entwickelt, dar-gelegt, verteidigt, und von Fall zu Fall - richtiger: auf jeden Fall! - ver-teidigt es sie auch heute. Aber es gibt auch eine andere Politik der regie-renden Aristokratie. Mit der Auseinanderjagung der Duma kommen wirnoch zurecht. Aber mit einem von der Duma bestätigten Haushalt wirdes wahrscheinlich leichter sein, eine Anleihe zu erhalten. Also ist es vor-teilhafter abzuwarten. Die Drohung, die Duma auseinanderzujagen,bleibt, und auf die Kadetten drücken „wir" unentwegt mit dieser Dro-hung, wodurch wir sie veranlassen, in einer für alle offensichtlichen Weisenach rechts zu rücken.

Zweifellos ist die zweite Politik vom Standpunkt der Interessen derreaktionären Gutsbesitzer raffinierter und besser. Die erste Politik istplump, ungeschlacht und überstürzt. Die zweite ist durchdachter, denndie Auseinanderjagung „wird parat gehalten", während gleichzeitig die[Liberalen von der Regierung ausgenutzt werden. Ein von der Dumabestätigter Haushalt kommt fast der Zustimmung zur Akzeptation einesWechsels gleich, einer Zustimmung, die einem Bankrotteur gegeben wird.Es ist vorteilhafter, erst den Wechsel prolongiert zu erhalten und danndie Duma auseinanderzujagen, als sie sofort auseinanderzujagen, ohneden Versuch gemacht zu haben, den Wechsel zu prolongieren.

Außer einem bestätigten Haushalt aber gibt es doch auch andere der-artige Wechsel. Beispielsweise haben die Kadetten ihr Agrarprojektschon vom Standpunkt der Gutsbesitzer aus verbessert. Mag diesesProjekt von der Duma angenommen werden, mag es dann dem Reichs-rat zur Behandlung und weiteren Verbesserung zugehen. Jagen „wir"die Duma zu diesem Zeitpunkt auseinander, dann besitzen wir nichteinen, sondern zwei akzeptierte Wechsel. „Wir" werden die Möglichkeithaben, von Europa nicht nur eine, sondern vielleicht sogar zwei Milliar-den zu erhalten. Eine Milliarde - anläßlich des von der Duma bestätig-ten Haushalts, d. h. auf Qrund einer „Staatswirtschaft, die die Feuer-probe einer streng konstitutionellen Überprüfung bestanden hat". Dieandere Milliarde - anläßlich der „großen Agrarreform, die die Feuer-probe einer echt konstitutionellen schöpferischen Arbeit der Volksver-tretung besteht".

Der Reichsrat wird das kadettische Agrarprojekt ein wenig korrigie-

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ren. Dieses Projekt strotzt auch jetzt von den verschwommensten Phra-sen, die nicht das geringste festlegen. Praktisch hängt alles von der Zu-sammensetzung der örtlichen Flurbereinigungskomitees ab. Die Kadettensind gegen die Wahl solcher Komitees in allgemeiner, direkter, gleicherund geheimer Abstimmung. Die Kadetten sind für eine gleichmäßigeVertretung der Gutsbesitzer und der Bauern unter Regierungskontrolle.Nehmen die Regierung und die Gutsbesitzer diesen Qrundgedanken desprächtigen liberalen Projekts an, dann riskieren sie nicht das geringste,denn derartige Komitees werden bei wohlwollender Mitwirkung desReichsrats sowie Stolypins und Konsorten aus der „Zwangsenteignung"des Gutsbesitzerlandes unbedingt und ganz sicher die zwangsweiseKnechtung des Bauern machen durch neue ruinierende Loskaufzahlungenfür die ihm überlassenen sandigen und sumpfigen Böden oder abgeholz-ten Waldstücke.

Das ist die wirkliche Bedeutung der Regierungspolitik und der Politikder Kadetten. Die Liberalen helfen durch ihren Verrat den Gutsbesitzern,das Geschäftchen geschickt zu fingern. Wenn die Bauern - die „Trudo-wild" - fortfahren, trotz der Warnungen der Sozialdemokratie den Libe-ralen zu folgen, dann ist es unvermeidlich, daß der Gutsherr den Bauernmit Hilfe des liberalen Advokaten übertölpelt.

Qesdbrieben am 28. März (iO. April) i907.

Veröffentlicht am 29. März 1907 - Nach dem 7ext vonin „Nasche £cho" Nr. 4. „Nasche Echo".

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INTELLIGENZLERISCHE KÄMPENGEGEN DIE HERRSCHAFT DER INTELLIGENZ

Die „Narodnaja Duma"80 veröffentlicht in ihrer Nr. 13 eine endloslange Resolution über Massenorganisationen der Arbeiter und über denArbeiterkongreß, die von einer Gruppe von menschewistischen Literatenund Praktikern zum bevorstehenden Parteitag entworfen worden ist.Zum Unterschied von den anderen Resolutionen der Menschewiki (überdie Reichsduma und die „taktische Plattform") sind die Namen der Lite-raten nicht genannt. Es bleibt unbekannt, ob diese Lücke ein Zufall istoder ob sie bedeutet, daß sich die Menschewiki in der gegebenen Frageanders gruppieren. Wir erinnern daran, daß ein so glühender Mensche-wik und Anhänger des Arbeiterkongresses wie El erklärte: „Nur ein Teilder Menschewiki sympathisiert mehr oder weniger mit dem Arbeiterkon-greß." (S. 82 der Sammlung „über einen gesamtrussischen Arbeiterkon-greß. Zum ordentlichen Parteitag der SDAPR".)

Aber wenden wir uns dem Inhalt der Resolution zu. Sie zerfällt inzwei Teile: A und B. Der erste Teil bietet in der Begründung eine Unzahlvon Gemeinplätzen über den Nutzen der Organisierung und der Ver-einigung der Arbeitermassen. „Um der Wichtigkeit halber", wie Basa-row81 sagte, wird aus der Organisation sogar eine Seibstorganisation ge-macht. Freilich drückt dieses Wörtchen praktisch gar nichts aus und ent-hält keinen bestimmten Gedanken - dafür aber ist es bei den Anhän-gern des Arbeiterkongresses beliebt! Was macht es schon aus, daß diese.„Selbstorganisation" lediglich eine Finte von Intellektuellen ist, die ihreArmut an wirklichen Organisationsideen verdecken soll - einem Arbeiterwäre es niemals in den Kopf gekommen, die „Selbstorganisation" auszu-hecken . . .

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In der Begründung wird die Sozialdemokratie kritisiert wegen „derherrschenden und bestimmenden Rolle, die in ihr die Intelligenz im Ver-gleich zu ihren proletarischen Elementen spielt". Eine interessante Kritik.Wir werden uns vorläufig nicht mit einer Analyse ihrer wirklichen sozial-historischen Bedeutung befassen, denn das würde zu einer großen Ab-schweifung von dem gegebenen Thema führen. Wir fragen lediglich:Genossen „menschewistische Literaten und Praktiker", warum beginntihr nicht mit euch selber? Warum kuriert der Arzt sich nicht selber?In jedem Satz eurer Resolution schimmert doch das durch, was ihr die„herrschende und bestimmende Rolle der Intelligenz" nennt! Warumsoll eure „Intelligenz" nicht anfangen, sich auszuschalten, und es den„proletarischen Elementen" überlassen, Resolutionen auszuarbeiten?? Wosind die Garantien dafür, daß in den von euch, „den Literaten und Prak-tikern der Minderheit", projektierten „Selbstorganisationen" sich nichtdie gleiche Erscheinung wiederholen wird??

Larin, El und viele andere Anhänger eines Arbeiterkongresses „ma-chen" die Sozialdemokratie „herunter" wegen des Durchbringens vonResolutionen. Und im 'Namen dieser Kritik wollen die Citeraten neue,höchst langweilige und höchst dickflüssige Perioden über die „Selbst-organisation" „durchbringen" . . . Welch Schauspiel!

Unter gleichzeitiger Hervorhebung des „ideologischen und politischenEinflusses" der russischen sozialdemokratischen Partei (d. h. der SDAPR?oder ist hier absichtlich ein umfassenderes Wort gewählt, um auch Pro-kopowitsch, Kuskowa, Posse und andere Herrschaften einzubeziehen?)auf die fortgeschrittenen Schichten des Proletariats sagt die Resolution,wünschenswert sei eine „Vereinigung der Kräfte" der russischen Sozial-demokratie „mit den politisch bewußten Elementen des Proletariats"(A, Punkt 6).

Versucht, Genossen, wenigstens einmal über die Worte nachzudenken,aus denen ihr eure Phrasen flechtet! Kann es vorkommen, daß ein „poli-tisch bewußter" Proletarier kein Sozialdemokrat ist? Wenn nein, dannlaufen eure Phrasen auf eine leere Tautologie, auf ein aufgeblasenes undprätentiöses Nichts hinaus. Dann muß von Verbreiterung der SDAPRgesprochen werden, um die wirklichen Sozialdemokraten, die ihr bislangnicht angehören, in sie einzubeziehen.

Wenn ja, dann erklärt ihr auch einen Sozialrevolutionären Proletarier

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Jntelligenzlerisdbe Xämpen gegen die Herrschaft der Intelligenz 313

für einen klassenbewußten Proletarier. Ihm die „politische Bewußtheit"abzusprechen wäre lächerlich! Und es ergibt sich, daß ihr unter dem Deck-mantel tönender Phrasen über „Selbstorganisation" und „Selbständig-keit" der Xlassenpartei praktisch Propaganda macht für die "Desorgani-sation des Proletariats durch Einbeziehung nidhtproletarisdher Ideologen,durch das Zusammenwerfen der wirklichen Selbständigkeit (Sozial-demokraten) mit der Unselbständigkeit, mit der Abhängigkeit von derbürgerlichen Ideologie und der bürgerlichen Politik (Sozialrevolutionäre).

Man wollte in ein Zimmer und geriet in ein anderes . . .Ganz so wie seinerzeit die intelligenzlerischen „Ökonomisten" der

Jahre 1895-1901, die unter der Flagge der „Selbstorganisation", der„reinen Arbeiterbewegung usw. den Arbeitern die eigene Engstirnig-keit, die eigene Unsicherheit, den eigenen Kleinmut, die eigene Wankel-mütigkeit aufzudrängen suchten!

Die Schlußfolgerung aus Teil A: „Der Parteitag bezeichnet es alshöchst wichtige aktuelle Aufgabe der Sozialdemokratie, Hand in Handmit den fortgeschrittenen Elementen der Arbeitermassen (also audb Handin Hand mit den Sozialrevolutionären Arbeitern, und nicht gegen sie?)an dem Zusammenschluß der letzteren zu selbständigen Organisationenzu arbeiten, wie politisch bescheiden auch der Charakter sein mag, dendiese je nach den Umständen des Orts und der Zeit zuweilen annehmenmögen oder annehmen müssen."

Was gibt es hier Bestimmtes, Konkretes, das über die Grenzen intelli-genzlerischer Seufzer hinausginge? Wovon ist die Rede? Man weiß esnicht.

Nehmen wir die Konsumvereine. Das ist zweifellos ein Zusammen-schluß von Arbeitern. Ihr Charakter ist genügend politisch bescheiden.Sind das „selbständige" Organisationen?? Das ist eine Sache des Stand-punkts. Für Sozialdemokraten sind nur solche Arbeitervereine wirklichselbständig, die von sozialdemokratischem Geist durchdrungen sind, undnicht nur von diesem „Geist" durchdrungen, sondern auch taktisch undpolitisch dadurch mit der Sozialdemokratie verbunden sind, daß sie derSozialdemokratischen Partei angehören oder sich an sie anlehnen.

Für die Syndikalisten, für die „Bessaglawzen"82, für die AnhängerPosses83, für die Sozialrevolutionäre, für die „parteilosen (bürgerlichen)Progressisten" sind umgekehrt nur diejenigen Arbeitervereine selbstän-

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dig, die nidht zur Sozialdemokratischen Partei gehören und die sich nichtan sie anlehnen, die nicht durch ihre tatsächliche Politik, durch ihre Tak-tik gerade mit der Sozialdemokratie und nur mit der Sozialdemokratieverbunden sind.

Dieser Unterschied der zwei Standpunkte ist nicht unsere Erfindung.Jedermann gibt zu, daß es wirklich gerade diese zwei Standpunkte gibt,die einander ausschließen und überall und allerorts, bei jedem „Zusam-menschluß" von Arbeitern aus diesem öder jenem Anlaß, einander be-kämpfen. Das sind unversöhnliche Standpunkte, denn für Sozialdemo-kraten ist die „Parteilosigkeit" (in der Taktik und in der Politik über-haupt) lediglich eine versteckte und darum besonders schädliche Formder Unterordnung der Arbeiter unter die bürgerlidhe Ideologie, unter diebürgerliche Politik.

Fazit: zum Wesen der Sache hat die Resolution in ihrer Schlußfolge-rang gar nichts gesagt. Im besten Fall ist ihre Schlußfolgerung eine hohlePhrase. Im schlimmsten Fall ist sie eine schädliche Phrase, die das Prole-tariat irreführt, die sozialdemokratischen Grundwahrheiten verdunkeltund allen möglichen deklassierten Bourgeois sperrangelweit das Tor öff-net, die in allen Ländern Europas der sozialdemokratischen Arbeiter-bewegung viel und lange geschadet haben.

Wie muß man die Resolution korrigieren?Die Phrasen muß man streichen. Es muß einfach gesagt werden: Die

Sozialdemokraten müssen behilflich sein, verschiedene Arbeitervereine,zum Beispiel Konsumvereine, zu gründen, wobei sie unentwegt dafürSorge tragen müssen, daß alle Arbeitervereine als Stätte dienen geradejür die sozialdemokratische, Propaganda, Agitation und Organisation.

Das wäre wirklich eine „politisch bescheidene", aber sachliche undsozialdemokratische Resolution. Was aber bei euch, meine Herren intel-ligenzlerischen Krieger gegen die „herrschende und bestimmende Rolleder Intelligenz", herauskommt, ist keine proletarische Tat, sondern eineintelligenzlerische Phrase.

über den zweiten Teil der Resolution (B) das nächste Mal.

„"Nasche Echo" 3Vr. 5, Nach dem 7 ext von30. März 1907. „"Nasche Echo".

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K O N F U S I O N AUS V E R Ä R G E R U N G

(Zur Frage eines Arbeiterkongresses)

Der zweite Teil der zu untersuchenden* Resolution (B) ist der Fragedes Arbeiterkongresses gewidmet.

über diese Frage haben die Menschewiki schon so viel geschrieben undschon so viel gesprochen, daß man wohl hätte erwarten können, eine Re-solution zu erhalten, die wirklich das Fazit zöge, Mißverständnisse undMißhelligkeit in der Auslegung der Idee beseitigte, eine Resolution, dieder Partei eine klare und bestimmte Direktive gibt. Es genügt festzu-stellen, daß in dem neuesten Verzeichnis der russischen Veröffentlichun-gen über den Arbeiterkongreß (die weiter oben genannte Broschüre „übereinen gesamtrussischen Arbeiterkongreß") an die 15 Titel von Broschü-ren und Zeitschriften aufgezählt sind, die diese Frage in menschewisti-scher Weise behandeln.

Betrachten wir also die Früchte dieser ganzen „Diskussion".Der erste Punkt der Begründung:

„Die Massenorganisationen der Arbeiter, die auf der Basis allein von be-ruflichen, örtlichen (?) und überhaupt (?) gruppenmäßigen (??) Bedürfnissenund Erfordernissen von selbst entstehen und sich herausbilden, haben an undfür sich, wenn nicht proletarische sozialdemokratische Parteien oder Organi-sationen auf sie einwirken, die unmittelbare Tendenz, den geistigen und poli-tischen Gesichtskreis der Arbeitermassen einzuengen auf die beschränkteSphäre der beruflichen und überhaupt der speziellen Interessen und alltäg-lichen Bedürfnisse einzelner Schichten oder Gruppen des Proletariats."

* Siehe die Analyse des ersten Teils in „Nasche Echo" Nr. 58< (vorliegen-der Band, S. 311-314. Die Red.).

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316 W.3. Lenin

Was das für Massenorganisationen sind, die sich auf der Basis von£ruf>f>enbedürfnissen herausbilden können - das mögen die Götter wis-sen. Unter einer Gruppe versteht man immer irgend etwas Kleines, derMasse diametral Entgegengesetztes. Die Verfasser der Resolution reihenWort an Wort, ohne an den konkreten, bestimmten Inhalt zu denken.

Dann, was bedeutet das: Massenorganisationen auf der Basis örtlicherBedürfnisse? Was für ein Typ von Organisationen hier gemeint ist,bleibt wiederum unklar. Wenn es sich um solche Organisationen handelt,wie Konsumvereine, Genossenschaften usw., dann besteht ihr Unter-scheidungsmerkmal durchaus nicht in ihrem örtlichen Charakter. DieVorliebe der Menschewiki für allgemeine Phrasen, ihr Bemühen, einekonkrete Darlegung der Frage zu umgehen, das ist ein rein intelligenz-lerischer Zug. Er ist dem Proletariat von Grund aus fremd und vomStandpunkt des Proletariats schädlich.

Ihrer buchstäblichen Bedeutung nach schließen die Worte „Massen-organisationen der Arbeiter auf der Basis von örtlichen Bedürfnissen undErfordernissen" die Sowjets der Arbeiterdeputierten ein. Das ist ein inRußland sehr bekannter Typ von Massenorganisationen der Arbeiter ineiner revolutionären Epoche. Man kann mit Sicherheit sagen, daß einArtikel über den Arbeiterkongreß und über Massenorganisationen derArbeiter überhaupt nur selten ohne einen Hinweis auf diesen Organi-sationstyp auskommt. Die Resolution aber sagt - wie zum Hohn auf dieForderungen nach einer genauen und konkreten Darlegung bestimmterGedanken und Losungen - kein Wort über die Sowjets der Arbeiter-deputierten, kein Wort über die Arbeiterbevollmächtigtenräte usw.

Es ergibt sich, daß man uns irgendeine nicht zu Ende gedachte Kritikan irgendwelchen örtlichen Massenorganisationen aufgetischt hat, ohneim geringsten die Frage ihrer positiven Bedeutung, der Bedingungen ihrerTätigkeit usw. berührt zu haben. ""

Weiter, wie man auch Teil für Teil diesen fürchterlich plumpen erstenPunkt der Begründung korrigieren mag, ein allgemeiner, grundlegenderFehler bleibt darin. „Wenn nicht proletarische sozialdemokratische Par-teien auf sie einwirken", haben nicht nur berufliche, nicht nur örtliche,nicht nur gruppenmäßige, sondern auch nicht auf einzelne Orte be-schränkte politische Massenorganisationen „die Tendenz, den Gesichts-kreis der Arbeiter einzuengen".

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Konfusion aus Verärgerung 317

Der erste Punkt der Begründung soll nach der Absicht der Verfassererklären, weshalb man zum „gesamtrussischen Arbeiterkongreß" über-gehen müsse: die örtlichen, beruflichen u. a. Organisationen, heißt es,engen den Gesichtskreis ein, ein gesamtrussischer Arbeiterkongreß da-gegen usw. Aber die Logik läßt die höchst ehrenwerten „Literaten undPraktiker" endgültig im Stich, denn in beiden Fällen ist es möglich, sowohldaß die Sozialdemokratie einwirkt, als auch daß das nidit der Fall ist.Anstatt einer Gegenüberstellung kam eine Konfusion heraus . . .

Der zweite Punkt der Begründung:

„Der in Arbeiterkreisen mit Sympathie aufgenommene Gedanke der Ein-berufung eines gesamtrussischen Arbeiterkongresses zu dem Zweck, dort denGrundstein zu legen für die politische Vereinigung der russischen Arbeiter,wird das Prinzip der Vereinigung in die organisatorische Aufbautätigkeit derArbeitennassen tragen und ihnen die gemeinsamen Interessen der Arbeiter-klasse und ihre Aufgaben in der gegenwärtigen russischen Revolution vorAugen führen."

Erstens, stimmt es, daß der vielgepriesene „Gedanke" in Arbeiter-kreisen mit Sympathie aufgenommen wurde? In Punkt 5 der Begründungderselben Resolution heißt es: „Das Streben der Arbeiter selber, einensolchen Kongreß (den Arbeiterkongreß) einzuberufen, ist nodh nicht inirgendwelchen ernsten praktischen Schritten ihrerseits zu seiner Vor-bereitung sichtbar geworden."

Hier wird ungewollt die Wahrheit gesagt, über den Arbeiterkongreßgibt es schon einen Haufen intettigenzlerisdber Elaborate, aber keinerleiernste praktische Schritte der Arbeiter selber. Der Versuch, das intelli-genzlerische Hirngespinst den Arbeitern in die Schuhe zu schieben, ge-lingt nicht.

Weiter. Was ist das, ein Arbeiterkongreß? Sein Zweck ist, „denGrundstein zu legen für die politische Vereinigung der russischen Ar-beiter".

Also ist ein solcher Grundstein noch nicht von der SDAPR gelegt wor-den, auch nicht durch die Rostower Demonstration von 1902, noch durchdie Sommerstreiks 1903, er wurde weder am 9. Januar 1905 noch durchden Oktoberstreik 1905 gelegt! Bisher hat es Geschichte gegeben, aberes gibt keine mehr! Der „Grundstein" wurde erst dadurch gelegt, daß

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318 W J.Lenin

Axelrod und Konsorten den Arbeiterkongreß ausheckten . . . Das istunübertrefflich.

Was bedeutet das, „politische" Vereinigung der Arbeiter? Wenn dieVerfasser nicht speziell für die vorliegende Resolution eine neue Termi-nologie erfunden haben, so bedeutet das den Zusammenschluß um einbestimmtes politisches Programm und eine bestimmte politisdoe Taktik.Um welche denn nun aber?? Sollten unsere Intellektuellen wirklich nichtwissen, daß es in der ganzen Welt politische Vereinigungen der Arbeiterunter der Fahne bürgerlicher Politik gibt und gegeben hat? Oder gilt dasnicht für das heilige Russenland? Ist hn heiligen Russenland jede be-liebige politische Vereinigung der Arbeiter schon von selbst eine sozial-demokratische Vereinigung?

Die armen Verfasser der Resolution haben sich deshalb so hilflos ver-strickt, weil sie nicht wagten, dem Gedanken offen Ausdruck zu geben,der wirklich dem Arbeiterkongreß zugrunde liegt und der schon längstvon den aufrichtigeren oder jüngeren und hitzigeren seiner Anhängerausgesprochen wurde. Dieser Gedanke besteht darin, daß der Arbeiter-kongreß ein parteiloser Arbeiterkongreß sein soll. In der Tat, lohnte esdenn, im Ernst von einem parteilichen Arbeiterkongreß zu sprechen??

Aber klipp und klar die "Wahrheit zu sagen: „eine parteilose politischeVereinigung der Arbeiter", scheuten sich unsere Menschewiki...

Der Schluß des Punktes: der Gedanke der Einberufung des Kongres-ses „wird das Prinzip der Vereinigung in die organisatorische Aufbau-tätigkeit der Arbeitermassen tragen, wird ihnen die gemeinsamen Inter-essen der Arbeiterklasse und ihre Aufgaben vor Augen führen. . ."Zunächst die organisatorische Aufbautätigkeit und dann die Aufgaben,d. h. das Programm und die Taktik! Sollte man nicht umgekehrt argu-mentieren, Genossen „Literaten und Praktiker"? überlegt doch einmal:Kann man die organisatorische Aufbautätigkeit vereinigen, wenn dieAuffassung von den Interessen und Aufgaben der Klasse nicht einheitlichist? Wenn ihr das überlegt, so werdet ihr euch überzeugen, daß das nichtgeht.

Die verschiedenen Parteien aber haben eine verschiedene Auffassungvon den gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse und ihren Aufgabenin der gegenwärtigen Revolution. Von diesen Aufgaben haben selbst inder einheitlichen SDAPR die Menschewiki, die Anhänger Trotzkis und

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Xonfusion aus Verärgerung 319

die Bolschewiki eine verschiedene Auffassung, überlegt euch doch, Ge-nossen: Können diese Meinungsverschiedenheiten denn anders, als sichauf dem Arbeiterkongreß auszuwirken? auf ihm zum Vorschein zu kom-men? durch die Meinungsverschiedenheiten mit den Anarchisten, denSozialrevolutionären, den Trudowiki usw. usf. kompliziert zu werden?Kann der „Gedanke der Einberufung eines Arbeiterkongresses" oderseine Einberufung diese Meinungsverschiedenheiten beseitigen??

Und so ergibt sich: die Verheißung der Verfasser der Resolution -„Der Gedanke der Einberufung eines Kongresses wird das Prinzip derVereinigung hineintragen usw." - ist entweder der fromme Wunsch einesganz jungen und ganz von dem zuletzt gelesenen Büchlein beeindrucktenIntellektuellen oder aber Demagogie, d. h. der Versuch, die Masse durchein unerfüllbares Versprechen zu gewinnen.

Nein, Genossen. Was vereinigt, ist der wirkliche Kampf. Was ver-einigt, ist die Entwicklung der Parteien, ihr fortgesetzter parlamentari-scher und außerparlamentarischer Kampf, was vereinigt, ist ein General-streik usw. Aber durch das Experiment der Einberufung eines parteilosenKongresses wird eine wirkliche Vereinigung nicht herbeigeführt, wird dieEinheit in der Auffassung von den „Interessen und Aufgaben" nicht her-gestellt werden.

Natürlich kann man sagen: Der Kampf verschiedener Parteien aufeinem Arbeiterkongreß wird zu einer breiteren Aktionsarena der Sozial-demokraten und zu ihrem Siege führen. Wenn ihr den Arbeiterkongreßso betrachtet, dann müßt ihr das offen sagen und dürft nicht, was das„Prinzip der Vereinigung" betrifft, das Blaue vom Himmel herunter ver-sprechen. Wenn ihr das nicht offen sagt, dann riskiert ihr, daß die irre-geführten und durch Versprechungen geblendeten Arbeiter zum Kongreßkommen zwecks Vereinigung der Politik, daß sie in der Tat aber die ge-waltigen und unversöhnlichen Differenzen in der Politik sehen, daß siedie Unmöglichkeit einer sofortigen Vereinigung der Sozialrevolutionäre,der Sozialdemokraten usw. erkennen und daß sie enttäuscht weggeben,weggehen mit Verwünschungen gegen die Intellektuellen, von denen siebetrogen worden sind, gegen die „Politik" überhaupt, gegen den Sozia-lismus überhaupt. Das unvermeidliche Ergebnis einer solchen Enttäu-schung wird der Ruf sein: Nieder mit der Politik! nieder mit demSozialismus! sie entzweien die Arbeiter, statt sie zu vereinigen! Und

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320 W J.Lenin

irgendwelche primitive Formen eines reinen Tradeunionismus oder einesnaiven Syndikalismus würden davon profitieren.

Natürlich wird die Sozialdemokratie in letzter Instanz alles besiegen,alle Prüfungen bestehen, alle Arbeiter zusammenschließen. Aber ist dasetwa ein Argument für eine Politik der Abenteuer?

Der dritte Punkt der Begründung:„Indem sie in die zersplitterten organisatorischen Versuche der sozial-

aktiven" (welche Gespreiztheit „um der Wichtigkeit halber"!) „Massendes Proletariats ein solches vereinigendes konkretes Ziel hineinträgt wiedie Einberufung eines allgemeinen Arbeiterkongresses" (schon nicht mehreines gesamtrussischen, sondern eines allgemeinen!, d. h. eines interpartei-lichen oder parteilosen Kongresses? Habt doch keine Angst, Genossen!),„wird die Propaganda und Agitation für seine Einberufung ihrerseitsdem Streben dieser Schichten nach Selbstorganisation" (d. h. also ohneEinwirkung der Sozialdemokraten, denn dann würde es ja keine Selbst-organisation sein?) „einen starken Anstoß geben und ihre Aktivität indieser Richtung verstärken."

Das nennt man, einen von Pontius zu Pilatus schicken. Punkt 2: DerArbeiterkongreß trägt das Prinzip der Vereinigung hinein. Punkt 3: DieVereinigung zu dem konkreten Ziel eines Arbeiterkongresses gibt denAnstoß zur Selbstorganisation. Wozu Selbstorganisation? Für den Ar-beiterkongreß. Wozu einen Arbeiterkongreß? Für die Selbstorganisation.Wozu Resolutionen von Literaten gegen die Herrschaft der Intelligenz?Zur Selbstbefriedigung von Intellektuellen.

Der vierte Punkt:„Angesichts der in den Arbeiterkreisen wachsenden Popularität des

Gedankens eines Arbeiterkongresses würde ein passives und besondersein feindliches Verhalten seitens der Parteien" (?? ein Druckfehler? derSozialdemokratischen Partei?) „gegenüber den Versuchen, diesen Ge-danken in die Tat umzusetzen, prinzipienlosen Abenteurern weiten Spiel-raum dafür eröffnen, die Arbeiter auf einen falschen Weg zu stoßen, undwürde sie verschiedenen Demagogen in die Arme treiben."

Ein außerordentlich grimmiger Punkt. Sein Inhalt ist Konfusion ausVerärgerung. Auf wen man schimpft, weiß man selber nicht recht undnimmt darum die eigenen Leute unter Beschüß.

Ich nehme das letzte (V.) Heft der „Otgoloski"85. J. Tscharski schreibt

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Xonfusion aus Verärgerung 321

gegen J. Larin: J. Larin „entdeckt plötzlich ein organisatorisches Allheil-mittel" . . . „ein unerwartetes Rezept" . . . „Konfusion" . . . „J. Larin be-merkt nicht, daß er vorschlägt, durch einen ,bewußten' Akt die elemen-taren, der Sache des klassenmäßigen Zusammenschlusses der Arbeiter-massen direkt feindlichen Tendenzen der Revolution zu untermauern.Und das alles geschieht im Interesse des Arbeiterkongresses." . . . „Aufjeden Fall haben wir es hier mit einem Boden zu tun, der für jede Artvon ,Agrardemagogie' äußerst günstig i s t . . . Schlußfolgerungen des kon-fusen Denkens des Genossen Larin."

Das genügt doch wohl? Larin wird von den Menschewiki sowohl derDemagogie als auch des Abenteurertums beschuldigt, denn Rezept, All-heilmittel und ähnliche Komplimente sprechen gerade von Abenteurertum.

Es ergibt sich, daß man auf das eine gezielt, aber das andere getroffenhat! Fürwahr, der Freund erkennt den Freund nicht mehr. Man beachtenoch, daß, wenn Larin für die Verfasser der Resolution unter die Aben-teurer und Demagogen gerät, El und Konsorten noch weitergehen alsZarin. El schreibt direkt („Der gesamtrussische Arbeiterkongreß", Mos-kau 1907), es gebe zwei Strömungen in der Frage des Arbeiterkongresses,sie, die Moskauer Menschewiki, seien weder mit den „Petersburgern"(S. 10) noch mit Larin einverstanden. Die „Petersburger" wollten nureinen Kongreß der Arbeitervorhut, und das sei eine einfache „Varianteeines Parteitags" (S. 10/11). Larin „hält man in Petersburg für einen Ket-zer und Vorschubleister" (S. 10). Larin wolle eine „gesamtrussische Ar-beiterpartei". Die Moskauer wollten einen gesamtrussischen Arbeiter-bund.

Es fragt sich, wenn Larin in den „Otgoloski" so „fertiggemacht" wird,wozu sollen dann El, Achmet Z., Archangelski, Solomin und Konsortengerechnet werden? Es ergibt sich, daß sowohl Larin als auch die Mos-kauer unter den grimmigen Punkt 4 fallen!

Aber wenn ihr euch ärgert, liebwerte Genossen, und in eurer Resolu-tion den „jaischen Weg" tadelt, dann seid ihr mindestens verpflichtet zusagen, wo der richtige Weg ist. Sonst wird eure Konfusion aus Verärge-rung ganz und gar lächerlich. Ihr aber, die ihr sowohl einen „gesamt-russischen Arbeiterbund" als auch eine „gesamtrussische Arbeiterpartei"ablehnt, sagt doch kein Sterbenswörtchen davon, zu welchem praktischenZweck ihr denn nun den Arbeiterkongreß wollt!

21 Lenin, Werke, Bd. 12

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322 WJ. Centn

Demagogen und Abenteurer sind fähig, sich um falscher Ziele willenan einen Arbeiterkongreß zu machen. Darum müssen wir Sozialdemo-kraten mit einem Arbeiterkongreß sympathisieren, ohne diesem Kongreßirgendwelche Ziele zu zeigen . . . Bei Gott, die menschewistische Resolu-tion ist eine wahre Kollektion aller möglichen Ungereimtheiten.

Der fünfte Punkt:„Anderseits sind in sozialdemokratischen Kreisen die Fragen nach

den Aufgaben des Arbeiterkongresses, nach den Wegen und Methodenseiner Vorbereitung noch sehr wenig geklärt" (nun, doch schon insoweitgeklärt, als sowohl Larin wie auch die Moskauer die Aufgaben des Kon-gresses, die Wege und Methoden klar aufgezeigt haben! Es hat keinenZweck, den Kopf in den Sand zu stecken, Genossen „Petersburger". Daskann den von Axelrod ausgebrüteten Entlein nicht helfen, aus der Pfützeaufs Trockene zu kommen!), „während das Streben der Arbeiter selber,ihn einzuberufen, noch nicht sichtbar geworden ist in irgendwelchen ernst-lichen praktischen Schritten ihrerseits, die ihn vorbereiten könnten, wes-halb der Kongreß nur dann ein wirkliches und kein scheinbares Sprach-rohr des kollektiven Willens der klassenbewußten Schichten des Proleta-riats sein und der Sache seines klassenmäßigen Zusammenschlussesdienen wird, wenn seine Einberufung durch deren eigene organisato-rische Selbsttätigkeit bei verstärkter planmäßiger Mitwirkung der Parteivorbereitet wird."

Das nennt man vom Hochzeitsreigen in den Trauermarsch kommen.Kaum haben Larin und die jungen Moskauer „Selbsttätigkeit" gezeigt -und schon werden sie von den Petersburgern angeschrien: Halt! du bistnoch kein Sprachrohr des kollektiven Willens! du hast noch wenig ge-klärt! die Einberufung des (parteilosen) Kongresses ist noch nicht vor-bereitet durch verstärkte Mitwirkung der Partei!

Die armen Genossen El, Achmet Z. und Konsorten! Sie waren so fröh-lich, sie hatten mit solchem hinreißenden jugendlichen Übermut losgelegt,volle zwei Sammelhefte von Artikeln über den Arbeiterkongreß heraus-gegeben, die Frage von allen Seiten untersucht, sowohl seine „allgemein-politische" als auch seine organisatorische Bedeutung, sowohl die Be-ziehung zur Duma als auch die Beziehung zur Partei sowie die Beziehungzur „kleinbürgerlichen Elementargewalt" geklärt - und plötzlich, welcheWendung durch Axelrods Fügung!

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Konfusion aus Verärgerung 323

Wir fürchten, daß, wenn bislang Larin allein gegen den schablonen-haften Mensdhewismus* „meuterte" (man erinnere sich: „Ketzer undVorschubleister"), nunmehr diese Meuterei in einen Aufstand übergehenw i r d . . . Axelrod versprach Selbsttätigkeit und einen wirklichen Arbeiter-kongreß gegen die Herrschaft der Intelligenz, und nun beschließen dieLiteraten, die „Petersburger", und madben klarr daß man diese Selbst-tätigkeit auffassen muß . . . als Tätigkeit mit Genehmigung wiederum derbeschimpften „Intellektuellen"partei!

Es ist kein Wunder, daß sich aus einer solchen Begründung direktkuriose Schlußfolgerungen ergeben:

„Ausgehend von allen diesen Erwägungen, schlägt der Parteitag derSDAPR den Genossen Arbeitern und Intellektuellen" (wirklich? wiegnädig von den Kämpfern gegen die „Herrschaft" der Intelligenz!) „vor,sich einer allseitigen Erörterung der Fragen zuzuwenden" (aber nichtä la Larin und nicht ä la Achmet), „die sich auf das Programm und dieAufgaben des Arbeiterkongresses, auf die propagandistische, agitato-rische und organisatorische Arbeit an seiner Vorbereitung sowie auf dieWege und Methoden seiner Einberufung beziehen.

Der Parteitag hält es zugleich für die Pflicht der Parteistellen, die aufdie Vorbereitung des Arbeiterkongresses gerichteten propagandistischen,agitatorischen und organisatorischen Bemühungen auf jede Weise zuunterstützen; eine feindliche Agitation gegen Bemühungen solcherartdagegen betrachtet er als prinzipiell unzulässig, da sie darauf abzielt, dasveraltete Parteiregime in der russischen Sozialdemokratie zu erhalten undzu festigen, das bereits sowohl mit dem gegenwärtigen Entwicklungsstandund den Anforderungen der sich teils in der Sozialdemokratie, teils umsie herum gruppierenden proletarischen Elemente als auch mit den Erfor-dernissen der Revolution unvereinbar geworden ist."

Nun, wie soll man das nicht eine Konfusion aus Verärgerung nennen?Wie soll man über eine solche Resolution nicht lachen?

Der Parteitag verbietet, das veraltete Parteiregime zu verteidigen, wel-ches Regime dieser Parteitag selber bestätigt!

Der Parteitag schlägt keinerlei Reformen des veralteten Regimes vor,

* Siehe Werke, Bd. 11, S. 358. Die Red.

21«

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324 IV.1-Lenin

sogar den vielgepriesenen „Arbeiterkongreß" (mit dem Ziel einer un-erfindlichen „politischen Vereinigung") versdbiebt er, und zu gleicher Zeitverpflichtet er zur Unterstützung von ... „'Bemühungen" l

Ein richtiges impotentes intelligenzlerisch.es Geknurre: Ich bin unzufrie-den mit dem gegenwärtigen veralteten Parteiregime, bin nicht gewillt, eszu erhalten und zu festigen! - Schön, ihr wollt es nicht erhalten, dannschlagt bestimmte Veränderungen vor, wir werden sie gern erörtern. Seidso liebenswürdig, zu sagen, welche Art von Arbeiterkongreß wäre eucherwünscht? - Das ist noch nicht geklärt . . . das Streben ist noch nichtsichtbar geworden.. . die Einberufung ist nicht vorbereitet. Man mußsidh der Erörterung zuwenden. - Schön. In Resolutionen zu erklären,man müsse sich der Erörterung zuwenden, lohnt wirklich nicht, teure Ge-nossen, denn wir erörtern das ohnebin schon seit langem. Aber die Ar-beiterpartei ist doch kein Klub für intellektuelle „Erörterungen", sonderneine proletarische Kampforganisation. Erörterungen hin, Erörterungenher, aber man muß leben und wirken. In welcher Parteiorganisation aberdarf man leben und wirken? in der früheren? - Wagt es nicht, die ver-altete frühere Organisation zu verteidigen, wagt es nicht, sie zu erhaltenund zu festigen! - Schön usw.

Und wenn man nicht mehr weiter kann, dann fängt man wieder vonvorne an. Der Intellektuelle ist voller Launen und ärgert sich über seineeigene Unentschlossenheit, über seine eigene Konfusion.

Das ist das letzte Wort des „schablonenhaften Menschewismus".

Die wie die Katze um den heißen Brei herumgehenden menschewisti-schen Literaten sind glücklich einer spruchreif gewordenen und im Lebenwie in der Literatur aufgeworfenen Frage ausgewichen, der Frage: willman die selbständige Sozialdemokratische Arbeiterpartei oder ihre Er-setzung durch (Variante: ihre Unterordnung unter) eine parteilose poli-tische Organisation des Proletariats?

Unsere bolschewistische Resolution bringt diese Frage offen zurSprache, entscheidet sie direkt und bestimmt. Ein Ausweichen ist hiernutzlos, ganz gleich, ob die Neigung zum Ausweichen einer Verwirrungoder einem wohlmeinenden „Versöhnlertum" entspringt. Ein Ausweichenist nutzlos, denn die Ersetzung ist vorgeschlagen, und Bemühungen um

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"Konfusion aus Verärgerung 325

eine soldhe Ersetzung sind im Gange. Die intelligenzlerischen Glucken desMenschewismus haben Entlein ausgebrütet. Die Entlein sind losgeschwom-men. Die Glucken müssen wählen: auf dem Wasser oder auf dem Trock-nen? Die Antwort, die sie geben (diese Antwort kann man ziemlichgenau ausdrücken mit den Worten: weder auf dem Wasser noch auf demTrocknen, sondern durch den Schlamm), ist keine Antwort, sondern eineVertagung, ein Aufschub.

Axelrod konnte Latin nicht zurückhalten. Larin konnte El, Achmet Z.und Konsorten nicht zurückhalten. Diese letztere Kumpanei kann dieAnarchosyndikalisten nicht zurückhalten.

Auf dem Wasser oder auf dem Trocknen, meine Herren?Wir wollen auf dem Trocknen gehen. Wir prophezeien euch: Je eifri-

ger, je entschlossener ihr in den Schlamm hineinwatet, desto schnellerwerdet ihr aufs Trockne zurückkehren.

„Um den Einfluß der Sozialdemokratie auf die breiten Massen desProletariats zu erweitern und zu festigen", schlagen wir nicht die Er-setzung der Sozialdemokratie durch eine „Arbeiterpartei" von partei-losem Typus vor, keinen „gesamtrussischen Arbeiterbund", der über derPartei stünde, keinen Arbeiterkongreß für unbekannte Ziele, sondernetwas Einfaches, Bescheidenes, jeder Projektemacherei Fremdes: es gilt„einerseits stärker an der Organisierung von Gewerkschaften zu arbei-ten, die sozialdemokratische Propaganda und Agitation in ihnen zu ver-stärken, anderseits aber immer breitere Schichten der Arbeiterklasse zurMitarbeit in den verschiedensten Parteiorganisationen zu gewinnen"(letzter Punkt der bolschewistischen Resolution).

Blasierten Intellektuellen scheint das zu „veraltet", zu langweilig zusein. Mögen sie Projekte schmieden: wir werden den Arbeitern auch aufden „Arbeiterkongreß" folgen (falls er stattfindet), werden dort prak-tisch die Richtigkeit unserer Voraussagen zeigen und . . . und werden mitden enttäuschten (richtiger: mit den von gewissen intellektuellen Führernenttäuschten) Arbeitern zur „veralteten" Arbeit in den Gewerkschaftenund den Parteiorganisationen aller Art zurückkehren.

Woraus erklärt sich die „Arbeiterkongreß"-Strömung in unserer Par-tei? Wir können hier nur die drei unserer Ansicht nach wichtigsten

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326 WJ. Lenin

Ursachen kurz hervorheben: 1. die intelligenzlerisch-spießbürgerlicheRevolutionsmüdigkeit; 2. die Eigentümlichkeit des russischen sozialdemo-kratischen Opportunismus, dessen historische Entwicklung dahin geht,die „reine Arbeiterbewegung dem Einfluß der Bourgeoisie unterzuord-nen; 3. unverdaute Traditionen der russischen Revolution vom Oktober.

Ad 1. Bei einem Jet! der Anhänger des Arbeiterkongresses zeigt sichklar eine Revolutionsmüdigkeit und der Wunsch, um jeden Preis diePartei zu legalisieren, alles über Bord zu werfen, was die Republik, dieDiktatur des Proletariats usw. betrifft. Ein legaler Arbeiterkongreß istein geeignetes Mittel dafür. Daher (teilweise auch aus dem zweitenGrund) die Sympathie der Volkssozialisten, der bernsteinianischen „Bes-saglawzen" (vom „Towarischtsch" usw.) und der Kadetten für einensolchen Kongreß.

Ad 2. Man nehme die erste historische Form des sozialdemokratischenOpportunismus in Rußland. Der Beginn der proletarischen Massen-bewegung (in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre des vorigen Jahr-hunderts) ließ diesen Opportunismus in Gestalt des „Ökonomismus"und des Struvismus entstehen. Der Zusammenhang des einen mit demanderen wurde damals häufig sowohl von Plechanow als auch von Axel-rod sowie von allen Anhängern der alten ßshra" klargestellt. Das be-rühmte „Credo"* von Prokopowitsch und Kuskowa (1899/1900) brachtediesen Zusammenhang plastisch zum Ausdruck: die Intelligenz und dieLiberalen sollen den politischen Kampf führen, die Arbeiter aber denökonomischen. Eine politische Arbeiterpartei sei das Hirngespinst einesrevolutionären Intellektuellen.

In diesem klassischen „Credo" kommt klar der historische, der Klassen-sinn der intelligenzlerischen Begeisterung für die „reine Arbeiter-bewegung zum Ausdruck. Dieser Sinn besteht darin, daß die Arbeiter-klasse (im Namen der „reinen Arbeiter"aufgaben) sich der bürqerlidoenPolitik und Ideologie unterzuordnen habe. Die „Begeisterung" der Intel-lektuellen war ein Ausdruck der kapitalistischen Tendenz, die unent-wickelten Arbeiter den Liberalen unterzuordnen.

Jetzt, auf einer höheren Entwicklungsstufe, sehen wir genau dasgleidhe. Blocks mit den Kadetten, überhaupt die Politik der Unterstützung

* Glaubensbekenntnis, Programm, Darlegung einer Weltanschauung. Die•Red.

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Konfusion aus "Verärgerung 327

der Kadetten - und der parteilose Arbeiterkongreß, das sind zwei Sei-ten ein und derselben Medaille; die genauso miteinander verbunden sindwie der Liberalismus und die reine Arbeiterbewegung im „Credo". Prak-tisch ist der parteilose Arbeiterkongreß ein Ausdruck wiederum derkapitalistischen Tendenz, die Klassenselbständigkeit des Proletariats zusdnvädhen und es der Bourgeoisie unterzuordnen. Diese Tendenz trittklar in den Plänen zutage, die Sozialdemokratie durch eine parteiloseArbeiterorganisation zu ersetzen oder sie dieser letzteren unterzuordnen.

Daher die Sympathie der Volkssozialisten, der „Bessaglawzen", derSozialrevolutionäre u. a. für die Idee des „Arbeiterkongresses".

Ad 3. Die russische bürgerliche Revolution hat eigenartige Massen-organisationen des Proletariats hervorgebracht, die den gewöhnlicheneuropäischen (Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien) nichtähnlich sind. Das sind die Sowjets der Arbeiterdeputierten.

Wenn man derartige Einrichtungen schematisch zu einem System ent-wickelt (wie das Trotzki getan hat) oder überhaupt mit dem revolutio-nären Aufschwung des Proletariats sympathisiert, sich aber von der „mo-dischen" Phrase des „revolutionären Syndikalismus" hinreißen läßt (wieeinige Moskauer Anhänger des Arbeiterkongresses), kommt man leichtauch auf einem nicht opportunistischen, sondern revolutionären Weg zuder Idee des Arbeiterkongresses.

Das aber ist eine unkritische Einstellung gegenüber einer großen undruhmvollen revolutionären Tradition.

ön Wirklichkeit waren die Sowjets der Arbeiterdeputierten und ihnenähnliche Einrichtungen Organe des Aufstands. Ihre Stärke und ihr Erfolghingen ganz und gar von der Stärke und dem Erfolg des Aufstands ab.Nur wenn der Aufstand heranreifte, war ihre Entstehung keine Ko-mödie, sondern eine große Tat des Proletariats. Bei einem neuen Auf-schwung des Kampfes, bei seinem Übergang zu dieser Phase sind der-artige Einrichtungen natürlich unvermeidlich und wünschenswert. Ihrehistorische Entwicklung aber darf nicht darin bestehen, die örtlichenSowjets der Arbeiterdeputierten schematisch bis zu einem gesamtrussi-schen Arbeiterkongreß weiterzuführen, sondern muß darin bestehen, dieembryonalen Organe der revolutionären Staatsmacht (denn solche Or-gane waren die Sowjets der Arbeiterdeputierten) zu zentralen Organender siegreichen revolutionären Staatsmacht, zu einer revolutionären pro-

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visorischen Regierung zu machen. Die Sowjets der Arbeiterdeputiertenund ihre Zusammenfassung sind notwendig für den Sieg des Aufstands.Der siegreiche Aufstand schafft unausweichlich andere Organe.

Die Sozialdemokratie Rußlands darf die Beteiligung an einem Arbei-terkongreß natürlich nicht ein für allemal ablehnen, denn die Entwicklungder Revolution geht äußerst zickzackreiche Pfade und kann zu den ver-schiedensten und eigenartigsten Situationen führen. Aber eine Sache istes, die verschiedenen Bedingungen der bald ansteigenden, bald abebben-den Revolution aufmerksam zu studieren und bestrebt zu sein, diese Be-dingungen auszunutzen, und eine ganz andere Sache, sich mit konfuseroder antisozialdemokratischer Projektemacherei zu befassen.

Qesdhrieben im April i907.

Veröffentlidht 1907 in dem Sammelband 'Nadb dem 7exl des. „fragen der 7aktik" 11. Sammelbandes.Unterschrift-.71. Lenin.

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DIE AGRARFRAGEUND DIE KRÄFTE DER REVOLUTION

Die Zeitung „Trudowoi Narod" [Arbeitendes Volk], ein Organ derTrudowiki und der Mitglieder des Bauernbundes, definiert das Kräfte-verhältnis in der Duma hinsichtlich der Bodenfrage, der „Lebensfrage"der Bauernschaft

„Einmütig, im Interesse des werktätigen Volkes, können in der Bodenfragedie Trudowiki (100), die Volkssozialisten (14) und die Sozialrevolutionäre (34)vorgehen, insgesamt 148 Mann. Nehmen wir an, daß auch die Sozialdemo-kraten (64) in vielen Punkten der Bodenfrage mit ihnen sein werden, dannsind es insgesamt 212 Mann.

Aber gegen sie alle werden in der Bodenfrage die Kadetten (91), das pol-nische Kolo (46), die Parteilosen (52), die Oktobristen und die Gemäßigten (32)sein, insgesamt 221 Mann.

Dagegen sind mehr. Wir haben weder die Mohammedaner (30) noch dieKosaken (17) eingerechnet, von denen sich bestenfalls vielleicht die Hälfteauf die Seite der Linken, die Hälfte auf die Seite der Rechten stellen wird:auf jeden Fall sind mehr gegen das Bodengesetz der Trudowiki als dafür."

In dieser Berechnung fehlen noch die Monarchisten (22), aber zähltman sie hinzu, so bestätigt das die Schlußfolgerung der Trudowiki nurnoch mehr.

Diese Schlußfolgerung ist in zweierlei Hinsicht interessant: erstenswirft sie Licht auf die Grundfrage nach dem gesellschaftlichen Kräfte-verhältnis in der gegenwärtigen russischen Revolution; zweitens hilftsie, die Bedeutung der Duma und des Dumakampfes in der Freiheits-bewegung zu klären.

Alle Sozialdemokraten sind davon überzeugt, daß unsere Revolution

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nach dem Inhalt der vor sich gehenden sozial-ökonomischen Umwälzungeine bürgerliche ist. Das bedeutet, daß die Umwälzung auf dem Bodender kapitalistischen Produktionsverhältnisse erfolgt und daß das Ergebnisder Umwälzung unvermeidlich die Weiterentwicklung eben dieser Pro-duktionsverhältnisse sein wird. Einfacher gesagt: Die Unterordnung dergesamten Wirtschaft der Gesellschaft unter die Macht des Marktes, dieMacht des Geldes bleibt auch bei vollkommenster Jreiheit und beim voll-ständigsten Sieg der Bauern im Kampf um den Boden bestehen. DerKampf um den Boden, der Kampf um die Freiheit ist ein Kampf um dieExistenzbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, denn die Herrschaftdes Kapitals bleibt auch in der allerdemokratischsten Republik und beijedem beliebigen Übergang des „gesamten Bodens an das Volk" be-stehen.

Wer nicht mit der Lehre von Marx vertraut ist, dem kann eine solcheAnsicht sonderbar erscheinen. Aber es ist nicht schwer, sich von ihrerRichtigkeit zu überzeugen: man braucht sich nur der großen französi-schen Revolution und ihrer Ergebnisse, der Geschichte der amerikani-schen „freien Ländereien" usw. zu erinnern.

Wenn die Sozialdemokraten die gegenwärtige Revolution als eine bür-gerliche bezeichnen, so wollen sie damit keineswegs ihre Aufgaben her-absetzen, ihre Bedeutung schmälern. Im Gegenteil. Der Kampf derArbeiterklasse gegen die Klasse der Kapitalisten kann sich nicht ge-nügend breit entfalten und nicht siegreich enden, bevor nicht die älterenhistorischen Feinde des Proletariats gestürzt sind.

Darum ist es im gegenwärtigen Augenblick die Hauptaufgabe des Pro-letariats, die größtmögliche Freiheit zu erringen und den gutsherrlichen(fronherrlichen) Grundbesitz möglichst vollständig zu vernichten. Nureine solche Tätigkeit, nur die völlige demokratische Zertrümmerung deralten, halbfronherrlichen Gesellschaft kann das Proletariat voll und ganzzur selbständigen Klasse erstarken lassen, nur so kann es aus den „demganzen rechtlosen Volk" gemeinsamen demokratischen Aufgaben seinebesonderen, d. h. die sozialistischen Aufgaben voll und ganz heraus-heben und sich die besten Bedingungen eines möglichst freien, breit ent-falteten und verstärkten Kampfes für den Sozialismus sichern. Angesichtseiner nicht abgeschlossenen, nicht zu Ende geführten bürgerlich-demo-kratischen Freiheitsbewegung muß das Proletariat seine Kräfte weitaus

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stärker nicht für proletarisch-klassenmäßige, d. h. für sozialistische, son-dern für allgemein-demokratische, d. h. bürgerlich-demokratische Auf-gaben einsetzen.

Kann aber das sozialistische Proletariat selbständig und als führendeKraft die - bürgerliche Revolution vollbringen? Bedeutet nicht der Be-griff bürgerliche Revolution, daß nur die Bourgeoisie sie vollbringenkann?

Zu dieser Ansicht gelangen häufig die Menschewiki. Aber diese An-sicht ist eine Karikatur auf den Marxismus. Die - ihrem sozial-ökonomi-schen Inhalt nach - bürgerliche Befreiungsbewegung ist nicht ihren Trieb-kräften nach bürgerlich. Nicht die Bourgeoisie kann ihre treibende Kraftsein, sondern das Proletariat und die Bauernschaft. Warum ist das mög-lich? Weil das Proletariat und die Bauernschaft noch mehr als die Bour-geoisie unter den Überresten der Leibeigenschaft zu leiden haben, nochmehr der Freiheit und der Liquidierung des Gutsbesitzerjochs bedürfen.Umgekehrt bringt ein völliger Sieg die Bourgeoisie in Gefahr: das Pro-letariat wird sich die volle Freiheit gegen die Bourgeoisie zunutze machen,und zwar um so leichter zunutze machen, je vollständiger die Freiheit,je vollständiger die Vernichtung der Gutsbesitzermacht ist.

Daher das Bestreben der Bourgeoisie, mit der bürgerlichen Revolutionauf halbem Wege Schluß zu machen, sie zu beenden mit der halben Frei-heit, durch einen Pakt mit der alten Staatsmacht und mit den Gutsbesit-zern. Dieses Bestreben wurzelt in den Klasseninteressen der Bourgeoisie.Es trat schon in der deutschen bürgerlichen Revolution von 1848 so klarin Erscheinung, daß der Kommunist Marx die ganze Spitze der proleta-rischen Politik damals auf den Kampf gegen die liberale „Vereinbarer"-bourgeoisie (ein Ausdruck von Marx)86 richtete.

Bei uns in Rußland ist die Bourgeoisie noch feiger, das Proletariatjedoch weitaus klassenbewußter und besser organisiert als das deutscheim Jahre 1848. Bei uns ist der volle Sieg der bürgerlich-demokratischenBewegung nur möglich im Gegensatz zu der liberalen „Verembarer"bour-geoisie, nur wenn die Masse der. demokratischen Bauernschaft dem Pro-letariat im Kampf um die volle Freiheit und den ganzen Boden folgenwird.

Die zweite Duma bestätigt diese Einschätzung noch plastischer. Jetzthaben sogar die Bauern begriffen, daß man die liberalen Bourgeois, die

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Kadetten, zu den Rechten, die Bauern und Arbeiter aber zu den Linkenzählen muß. Gewiß, die „Trudowiki", die Volkssozialisten und die Sozial-revolutionäre schwanken ständig zwischen Bourgeoisie und Proletariatund befinden sich oft genug faktisch im politischen Sdhlepptau der Libe-ralen. (Die Stimmabgabe für Golowin, die „Taktik des Schweigens", dasEinverständnis, den Haushalt dem Ausschuß zu überweisen usw. usf.87)Diese Schwankungen sind nicht zufällig. Sie ergeben sich aus der Klassen-natur des Kleinbürgertums.

Warum muß man in einer so brennenden Frage wie der Bodenfragedie Kadetten zu den Rechten zählen? Weil die kadettische Agrarpolitikdem Wesen der Sache nach eine Qutsbesitzerpolitik ist. Die kadettische„Zwangsenteignung" besteht in der Tat darin, daß die Qutsherren dieBauern zu einem ruinierenden Loskauf zwingen, denn tatsächlich wer-den sowohl die Höhe der Ablösegelder als auch die Höhe der Steuernvon den Qutsherren bestimmt: überall im Lande werden in den Boden-komitees die Gutsbesitzer mitsamt den Beamten überwiegen (in der erstenDuma waren die Kadetten gegen eine Wahl dieser Komitees auf Grunddes allgemeinen Stimmrechts), und in der zentralen gesamtrussischenGesetzgebung werden die Gutsbesitzer auf dem Wege über den Reichs-rat usw. dominieren. Der kadettische „Liberalismus" ist der Liberalismuseines bürgerlichen Advokaten, der den Bauern mit den Gutsherren ver-söhnen will, und zwar versöhnen zum Vorteil des Qutsherrn*

Gehen wir zur zweiten Frage über. Kadetten und Rechte bilden dieMehrheit der Duma. „Wo ist der Ausweg aus dieser Lage?" fragt der„Trudowoi Narod". Die Antwort ist einfach: Um den „Ausweg aus die-ser Lage" zu finden, muß man sich über rein parlamentarische Wort-streitereien erheben.

* Zu der Phrase der „Retsch", man könne nur auf Kundgebungen vomGutsherrencharakter der Kadetten sprechen, wollen wir noch das folgendebemerken: Nach dem bekannten Buch „Die Mitglieder der II. Reichsduma"(St. Petersburg 1907) zählten wir 79 erklärte Kadetten, davon 20 Qutsbesit-zer. Wir nennen Jutsdikow, Boguslawski, TSytsdokow, Bakunin, Roditsdhew,Bogdanow, Salaskin, Jatarinow, Stadhawitsdb, Jkonnikow, Saweljew, T>olgo-rukow, Jsdbelnokow, Qolowin, beide Vereleschin, Wolozki, Jordanski, Tscher-noswitoW. Hervorgehoben sind Adelsmarschälle, Landeshauptleute und Prä-sidenten von Semstwoämtem.

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Das wäre selbst dann notwendig, wenn die Linken die Mehrheit in derDuma hätten, denn die Duma ist machtlos, und der Reichsrat wird jedesDumaprojekt im Interesse der Gutsbesitzer „verbessern". Das ist auchjetzt notwendig - notwendig nicht im subjektiv-parteilichen Sinne, son-dern im objektiv-historischen Sinne: sonst kann die Bodenfrage nurzugunsten der Gutsbesitzer gelöst werden.

„Nasdbe Sdho" 77r. 7, JVad? dem 7ext voni. April 1907. „Nasdhe Edbo".

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EINE ANÄMISCHE DUMAODER EIN ANÄMISCHES KLEINBÜRGERTUM

Allmählich wächst die Zahl der täglich erscheinenden Presseorgane, dielinks von den Kadetten stehen. Immer vernehmlicher wird die Stimmedes linken, zwischen den Kadetten und den Sozialdemokraten stehendenTeils der Duma.

Neu ist die Tagespresse der „Volkssozialisten". Ihre Zeitung, das„Obschtschestwennoje Delo" [Das Gemeine Wohl] (Sonntag, 1. April)schlägt sofort einen höchst charakteristischen und bezeichnenden Ton derKlage, des Bedauerns, der Reue an.

Worüber klagen sie? Darüber, daß die Duma „anämisch" (d. h. inunserer Sprache blutarm und saftlos) ist.

Was bedauern sie? Die lange Herrschaft der Losung „Erhaltet dieDuma".

Was bereuen sie? Daß sie der kadettischen Taktik Vorschub geleistethaben.

Gewiß ist diese Reue weit davon entfernt, eine vollständige, echte,aufrichtige Reue zu sein, jene Reue, die nach der bekannten Redensartschon der halbe Weg zur Besserung ist. Die Reue der „Volkssozialisten"ist so unaufrichtig, daß sie gleich in ihrer ersten, reumütigen Nummeruns mit einem gehässigen Ausfall antworten, wonach wir bolschewisti-schen Sozialdemokraten „Meinungsverschiedenheiten dadurch entschei-den, daß der Gegner als Ignorant und Jammerlappen usw. bezeichnetwird", wonach wir „ohne genaue Übereinstimmung mit den latsaänen"dem Gegner unterstellen, er habe einen „paktiererischen Weg betreten".

Wir würden natürlich den Leser nicht mit dieser Frage nach der Auf-richtigkeit der volkstümlerischen Reue beschäftigen, wenn diese Fragenicht aufs engste und unmittelbarste zusammenhinge mit Fragen, die vonentscheidender Bedeutung sind für die Einschätzung der ganzen zweiten

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Duma, mehr noch, für die Einschätzung der ganzen russischen Revo-lution. -

Die Volkstümler - das sind drei Fraktionen der Duma, die in einerganzen Reihe von Grundfragen solidarisch sind, eine mehr oder mindereinmütige gemeinsame Politik betreiben und auf diese oder jene Weisedie Interessen und den Standpunkt der großen Masse des russischen Vol-kes zum Ausdruck bringen.

In dieser Kategorie von Deputierten finden wir vor allem Bauern, undes läßt sich kaum bestreiten, daß die breite Masse der Bauernschaft ihreForderungen (und ihre Vorurteile) gerade über diese und keine andere Ka-tegorie von Dumadeputierten am genauesten zum Ausdruck gebracht hat.Folglich ist die Politik der Volkstümler in der Duma eine Frage, die zusam-menhängt mit der Frage nach der Politik der Bauernmasse, ohne derenBeteiligung von einem Sieg der Befreiungsbewegung keine Rede sein kann.

Die Volkssozialisten sagen die offenbare und himmelschreiende Unwahr-heit, wenn sie behaupten, die Sozialdemokraten entschieden Differenzendurch Geschimpf oder unterstellten den Trudowiki (d. h. den Volkstüm-lern) verleumderisch Paktierertum. Das ist nicht wahr, meine Herren, denngleich zu Beginn der Tätigkeit der zweiten Duma haben die Sozialdemo-kraten, völlig unabhängig von den Volkstümlern und dem Kampf gegensie, ausgesprochen, wie sie die berüchtigte Losung „Erhaltet die Duma"einschätzen - eine Einschätzung, der ihr euch jetzt zögernd nähert.

„,Erhaltet die Duma!'" sehrieb am 21. Jebruar unser Kollege N. R.88,„das ist der Ruf, der ständig aus dem Mund der bürgerlichen Wähler ertöntund der von der bürgerlichen Presse — und nicht nur von der kadettischen, son-dern auch von der .linken' nach Art des .Towarischtsch' - wiederholt wird . . .Das Geheimnis der Erhaltung der Duma ist längst von der Schwarzhunderter-und Oktobristenpresse wie auch von der Regierung enthüllt worden. Die Dumawird leicht zu erhalten sein, wenn sie .arbeitsfähig' und dem .Gesetz unter-tan' ist, d. h., wenn sie knechtselig vor der Regierung in den Staub fällt, ohnemehr zu wagen als zaghafte Bitten und erniedrigende Eingaben. Die Dumawird leicht zu erhalten sein, wenn sie die Sache der Befreiung des ganzenVolkes verrät und sie der Schwarzhunderterclique opfert. Nur so kann dieDuma erhalten bleiben, falls die Macht in den alten Händen bleibt. Das mußfür jedermann klar sein, das darf man nicht vergessen. Aber wie kann mandenn die Duma um den Preis des Verrats bewahren! Auf diese Frage ant-wortet die Sozialdemokratie laut und klar: niemals! Das Proletariat und die

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Bauernschaft brauchen keine Verräterduma. Nicht umsonst sagten auch dieMoskauer Bauern in ihrem Wählerauftrag ihrem Deputierten: ,Mag man euchauseinanderjagen, aber am Willen des Volkes übe nicht Verrat.' Wenn dieDuma hauptsächlich darum besorgt ist, die Regierung nicht zu reizen, wirdsie das Vertrauen des Volkes verlieren, wird sie die ihr obliegende Aufgabenicht erfüllen: nach Maßgabe des Möglichen dazu beizutragen, die Volks-massen zu organisieren für den Sieg über die Reaktion und den Triumph derBefreiungsbewegung . . . Nur die Starken fürchtet man. Und nur die Starkenachtet man. Das hysterische Geschrei: ,Erhaltet die Duma' ist eines freienVolkes und seiner Erwählten nicht würdig."

Das wurde geschrieben einen lag nach Eröffnung der zweiten Duma.Und, wie es scheint, ist es klar geschrieben!

Die Volkstümler, die in ihren Schriften, in ihrer gesamten Politik undebenso auch in der Duma die Interessen der verschiedenen Schichten desKleinbürgertums, der Kleinbesitzer (in der Stadt, besonders aber auf demLande, d. h. der Bauern) vertreten, haben nunmehr begonnen zu begrei-fen, daß die Sozialdemokraten die Wahrheit gesagt haben. Die Ereignissehaben unsere Politik bestätigt.

Aber um „nicht zu spät zu kommen", um nicht zu einem „afterklugen"Politiker zu werden, darf man sich nicht darauf beschränken, von denEreignissen zu lernen. Man muß den Gang der Ereignisse verstehen, mußdie grundlegenden Beziehungen zwischen den Klassen verstehen, die diePolitik der verschiedenen Parteien und der ganzen Duma bestimmen.

„Erhaltet die Duma" ist eine kadettische Losung, die die kadettischePolitik zum Ausdruck bringt. Worin besteht ihr Wesen? Im Paktierenmit der Reaktion gegen die Forderungen des Volkes. .Worin kommt diesPaktieren zum Ausdruck? Darin, daß man sich Einrichtungen unterordnetund seine Tätigkeit in einen Rahmen zwängen läßt, der von der Reak-tion gezogen ist. Darin, daß man die Forderungen der Freiheit, die For-derungen des Volkes in armselige, kümmerliche, verlogene „Reformen"verwandelt, die in diesen Rahmen passen. Warum nennen die Sozial-demokraten diese Politik der Liberalen eine verräterische Politik? Weildie Niederlage aller mißglückten bürgerlichen Revolutionen immer erstdadurch möglich wurde, daß die Liberalen mit der Reaktion paktierten,d. h. durch ihren faktischen Übergang von der Volksfreiheit zur Reak-tion. Der liberale Reformismus in der Revolution ist Verrat an der Volks-

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freiheit. Und entstanden ist er nicht zufällig, sondern er ist durch dieKlasseninteressen der Bourgeoisie und eines Teils der Gutsbesitzer her-vorgerufen, die das Volk und besonders die Arbeiterklasse fürdhten.

„Erhaltet die Duma", diese Losung hat eben darum Bedeutung, weilsie die allgemeine Linie dieser Verräterpolitik klar zum Ausdruck bringt.Ihre einzelnen Erscheinungsformen sind: Taktik des Sdbweigens als Ant-wort auf die Deklaration, Einschränkung der Aufgaben des Ernährungs-und des Arbeitslosenausschusses, Beschneidung der Reden in der Duma,Verzettelung der Duma in Ausschüsse, Überweisung des Haushalts anden Ausschuß u. a.

Die Volkstümler, die Vertreter des Kleinbürgertums, unterstützten undunterstützen diese Politik der Kadetten. Die Volkstümler stimmten fürGolowin, anstatt sich der Stimme zu enthalten. Die Volkstümler beteilig-ten sich an der jämmerlichen „Taktik des Schweigens", sowohl die Volks-sozialisten als audb die Sozialrevolutionäre. Nur unter der wiederholtenEinwirkung der Sozialdemokraten haben die Volkstümler von den Kadet-ten abzufallen begonnen. Aber auch jetzt schwanken sowohl die Trudo-wiki als auch die Volkssozialisten und ebenso die Sozialrevolutionärein ihrer ganzen Politik, verstehen sie nicht, daß die Aufgabe darinbesteht, gegen die Kadetten zu kämpfen und sie von der Dumatribüneherab zu entlarven.

Diese Schwankungen sind das Ergebnis der Anämie des "Kleinbürger-tums.

Die „Anämie" des teilweise revolutionsmüden, teilweise schwanken-den und seiner (sozialen) Natur nach wankelmütigen Kleinbürgers -das ist die Hauptursache für die „Anämie der Duma". Und wir sagenden Volkstümlern: Schilt nicht den Spiegel, wenn . . .

Seid in eurer Politik nicht anämisch, brecht mit den Kadetten, folgtentschlossen dem Proletariat, überlaßt es den Liberalen, die Duma zuerhalten, selber aber vertretet offen, kühn und unerschütterlich die Inter-essen und Traditionen der Freiheitsbewegung - dann wird eure Reuewirklich die „halbe Besserung" sein!

Qesdbrieben am 2. (i5.) April 1907.Veröffentlicht am 3. April i907 Nach dem 7ext vonin ."Nasche Echo" Nr. 8, .Nasche Echo".

22 Lenin, Werke, Bd. 12

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TRIUMPHIERENDES BANAUSENTUMODER

KADETTISIE.RENDE SOZIALREVOLUTIONÄRE

Gestern bemerkten wir, daß die Volkstümler, nachdem die Duma einenMonat besteht, sich anscheinend eines Besseren besonnen haben undbeginnen, die ganze Niederträchtigkeit der berüchtigten kadettischenLosung: Erhaltet die Duma... ich will nicht sagen zu begreifen, aberdoch wenigstens zu fühlen. Wir zeigten in dem betreffenden Artikel,daß die kadettische Losung kein Zufall, sondern Ausdruck einer durchdie tiefgreifenden Klasseninteressen der Bourgeoisie und der Gutsbesitzerbestimmten Politik ist.*

Heute (3. April) widmet das Hauptorgan der Kadetten, die „Retsch",dieser Frage einen Leitartikel. „Die scharfen Proteste der linken Zei-tungen in den letzten Tagen", schreibt der kadettische Leitartikler, „gegendie Taktik .Erhaltet die Duma' sind ein recht alarmierendes Symptom."

So, so. Wir sind froh, daß auch die Kadetten die Reue der Volkstümlerüber die Taktik der „Erhaltung der Duma" bemerkt haben. Also warunsere gestrige Beobachtung nicht falsch. Also gibt es im Kleinbürgertumwirklich eine Strömung von den liberalen Gutsbesitzern zur Arbeiter-klasse. Glück auf den Weg!

Die kadettische „Retsch" preist die Taktik der „Dumaerhaltung" inAusdrücken, die man als eine Perle des Banausentums verewigen sollte.Man höre nur: „Wenn die Duma lebt, so ist das doch eben gerade dasbewußte Ergebnis eurer (der Opposition) Anstrengungen. Es ist das erstefühlbare Ergebnis des Eingreifens eures Wollens in die Ereignisse. DiesesTeblen von Tatsachen ist ja an sich eine Tatsache von größter Wichtigkeit,ist die Erfüllung eines von euch erdachten und durchgeführten Plans."

* Siehe den vorliegenden Band, S. 334-337. Die Red.

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triumphierendes 'Banausentum oder kadettisierende Sozialrevolutionäre 339

Schade, daß Schtschedrin die „große" russische Revolution nicht erlebthat. Er hätte wahrscheinlich den „Herren Golowljow" ein neues Kapitelhinzugefügt. Er hätte einen Juduschka geschildert, der den verprügelten,mißhandelten, hungrigen, geknechteten Bauern zu beruhigen sucht: Duerwartest eine Verbesserung? Du bist enttäuscht durch das Ausbleibeneiner Änderung der Zustände, die auf dem Hunger, der Hinmetzelungdes Volkes, dem Stock und der Peitsche beruhen? Du beklagst dich überdas „Fehlen von Tatsachen"? Undankbarer! Aber dieses Fehlen von Tat-sachen ist doch gerade eine Tatsache von größter Wichtigkeit! Es ist dochdas bewußte Ergebnis des Eingreifens deines Wollens, daß die Lidwalsnach wie vor schalten und walten, daß die Bauern sich ruhig auf denPrügelbock legen, ohne sich verderblichen Träumen von der „Poesie desKampfes" hinzugeben.

Die Schwarzhunderter hassen ist schwer: das Gefühl ist hier bereitsabgestorben, wie es, sagt man, im Kriege stirbt nach einer langen Reihevon Schlachten, nach langen Erfahrungen im Schießen auf Menschen undim Aushalten unter berstenden Granaten und pfeifenden Kugeln. Kriegist Krieg, und mit den Schwarzhundertern ist der offene, allgemeine,gewohnte Krieg im Gange.

Aber der kadettische Juduschka Golowljow vermag das glühendsteGefühl des Hasses und der Verachtung einzuflößen. Auf diesen „libe-ralen" Gutsherrn und bürgerlichen Advokaten hört man doch, hörensogar die Bauern. Er streut doch wirklich dem Volk Sand in die Augen,stumpft wirklich die Hirne a b ! . . .

Die Kruschewans kann man nidot mit Worten, mit der Feder bekämp-fen. Sie muß man anders bekämpfen. Die Konterrevolution mit Worten,mit der Feder bekämpfen heißt in erster Linie und vor allen Dingen jenewiderlichen Heuchler entlarven, die im Namen der „Volksfreiheit", imNamen der „Demokratie" die politische Stagnation, das Schweigen desVolkes, die Verschüchterung des zum Spießer gewordenen Staatsbürgers,das „Fehlen von Tatsachen" lobpreisen. Man muß diese liberalen Guts-besitzer und bürgerlichen Advokaten bekämpfen, die durchaus zufriedendamit sind, daß das Volk schweigt und sie straflos und ohne Angst„Staatsmänner" markieren können, die diejenigen, welche sich „taktlos"über die Herrschaft der Konterrevolution empören, mit salbungsvollenReden zu beschwichtigen suchen.

22«

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Man kann doch nicht Reden ruhig anhören wie die folgende und dar-anf verzichten, sie anzuprangern i

„Der Tag, an dem Debatten im Taurischen Palast ein ebenso unvermeid-liches Zubehör des Tages zu sein scheinen werden wie das Mittagessen amTage und das Theater am Abend, der Tag, an dem das Tagesprogramm nichtalle gemeinsam, sondern die einen oder die anderen speziell (!!) interessierenwird, an dem Debatten über die allgemeine Politik zur Ausnahme und Parade-stücke gegenstandsloser Schönrederei faktisch unmöglich werden, weil niemandihnen zuhSrt — diesen Tag wird man begrüßen können als den Tag des end-gültigen Triumphs einer repräsentativen Regierung in Rußland."

Das bist du, Juduschka! Der Tag, an dem die Geprügelten, anstatt zu„debattieren", schweigen werden, weil sie das Bewußtsein verlieren, andem den Gutsbesitzern die alte Gutsherrenmacht (gefestigt durch „Übe*rale" Reformen) ebenso gesichert sein wird wie den liberalen Juduschkasdas Mittagessen am Tage und das Theater am Abend - dieser Tag wirdder Tag des endgültigen Triumphs der „Volksfreiheit" sein. Der Tag, andem die Konterrevolution endgültig triumphiert, wird der Tag des end-gültigen Triumphs der Verfassung sein . . .

So war es mit dem Verrat der Bourgeoisie in Europa. So wird e s . . .wird es in Rußland so sein, meine Herren?

Die Juduschkas suchen sich reinzuwaschen, indem sie dartun, daß esauch unter den Linksparteien Anhänger der „Erhaltung" gegeben habeund noch gebe. Zum Glück figuriert dieses Mal unter den von den Judusch-kas in die Irre Geführten kein Sozialdemokrat, wohl aber ein Sozial-revolutionär. Die Kadetten zitieren Stellen aus der Tammerforser Redeirgendeines Sozialrevolutionärs, der zur „Zusammenarbeit" mit denKadetten aufruft und bestreitet, daß es an der Zeit und notwendig sei,sie zu bekämpfen.

Wir kennen diese Rede nicht, wir wissen nicht, ob die „Retsch" sierichtig zitiert.

Aber wir kennen die Resolution des letzten Parteitags der Sozialrevo-lutionäre, und nicht eine einzelne Rede - und diese Resolution bezeugtwirklich die Verblödung eines Kleinbürgers, dem der liberale Juduschkaden Kopf verwirrt hat.

In dem offiziellen Organ der Partei der Sozialrevolutionäre89 (Nr. 6vom 8. März 1907) ist diese Resolution veröffentlicht, und es zeigt sich,

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triumphierendes "Banausentum oder kadettisierende Sozialrevolutionäre 341

daß die alten, im Februar gemachten Auszüge aus ihr von den Zeitungenrichtig angeführt worden sind. Dort steht wirklich schwarz auf weißgeschrieben: „Der Parteitag (der Sozialrevolutionäre) ist der Ansicht, daßdie schroffe Parteiengruppierung innerhalb der Duma angesichts des iso-lierten Vorgehens jeder einzelnen Gruppe und des scharfen interfrak-tionellen Kampfes die Tätigkeit der oppositionellen Mehrheit völlig läh-men und dadurch die ganze Idee der Volksvertretung in den Augen derwerktätigen Klassen diskreditieren könnte." Die „Retsch" hat gleichdamals (am 22. Februar) diese Banalität gelobt. Wir haben damals sofort(am 23. Februar) sie ins rechte Licht gerückt, haben die kleinbürgerlicheHerkunft und den liberal-verräterischen Sinn einer derartigen Parteitags-resolution gezeigt.*

Ob irgendein sozialrevolutionärer Führer durch den Kuß Juduschkaspolitisch getötet wird, interessiert uns nicht. Aber die kadettisdhe Reso-lution des Sozialrevolutionären Parteitags muß tausendmal vor den Arbei-tern beleuchtet werden - damit wankelmütige Sozialdemokraten gewarnt,damit jede Verbindung zwischen dem Proletariat und den pseudorevo-lutionären Sozialrevolutionären zerrissen wird.

Qesdhrieben am 3. (16.) April 1907.

VeröftentÜdbt am 4. April 1907 ^a6° dem ?&* von

in „Nasdhe Edho" Nr. 9. .Nasdbe Edio".

* Siehe den vorliegenden Band, S. 157-161. Die Red.

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DIE SOZIALDEMOKRATISCHE FRAKTIONUND DER 3. APRIL IN DER DUMA

Wir sehen uns genötigt, auf den Zwischenfall in der Reichsdumazurückzukommen, der sich im Zusammenhang mit der Interpellationwegen der Morde und Mißhandlungen im Rigaer Gefängnis und derbevorstehenden Aburteilung von 74 Personen durch das Standgerichtabgespielt hat. Man muß das, erklären wir, unter anderem deshalb tun,weil die „Narodnaja Duma" es aus irgendeinem Grunde für nötig gehal-ten hat, den wahren Sinn dieses Ereignisses zu verdunkeln, wodurch sieden äußerst ungünstigen Eindruck nur vertiefte, den das Verhalten dersozialdemokratischen Dumafralction in dieser Angelegenheit hervorgeru-fen hat.

Gewiß, auch die „Narodnaja Duma" sagt von diesem ersten Tag derInterpellationen in der Duma: „Die ersten Pflaumen sind madig"; gewißverweist die „Narodnaja Duma" anläßlich dieses Vorfalls darauf, daß„die Dumafraktionen sich noch wenig dem parlamentarischen Boden ange-paßt haben", aber nicht das ist das Wesentliche. Wir sind der Meinung,daß hier die sozialdemokratische Fraktion nicht etwa eine parlamen-tarische, sondern eine rein politische Unerfahrenheit an den Tag gelegthat. Nicht das ist das Schlimme, daß sich die sozialdemokratische Frak-tion manchmal in diesen oder jenen „formalen Fußangeln" (ein Aus-druck der „Narodnaja Duma") verfängt, sondern schlimm ist, daß siezuweilen ganz ohne Grund ihre Position aufgibt, eine gut begonneneKampfaktion nicht zu Ende führt, sich nicht den Sieg sichert, wenn dievolle Möglichkeit dazu gegeben ist.

So war es bei der Antwort auf die Regierungsdeklaration, als diesozialdemokratische Fraktion ganz unnötigerweise die gute Hälfte ihres

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Die sozialdemokratische Fraktion und der 3. April in der Vurna 343

Sieges . . . Herrn Stolypin überließ, so war es am 3. April bei der Inter-pellation über die Rigaer Greuel.

Die Kadetten sind gegen dringende Interpellationen; das ist ganz natür-lich: eine dringende Interpellation, noch dazu in einer solchen Ange-legenheit, wie es der standrechtliche Krieg der Regierung gegen das Volkist, enthält immer Elemente eines „demonstrativen Auftretens", Elementeeines Drucks auf die Minister. Eine dringende Interpellation in einer sol-chen Angelegenheit ist zweifellos eine der „Tatsachen", eine der „Hand-lungen" der Duma, die nicht zu dem üblichen „Mittagessen am Tage"oder dem „Theater am Abend" passen, mit denen die liebedienerische„Retsch" auch die Duma selbst so gern auf eine Stufe stellen möchte.Aber dieses Gift kadettischer Zersetzung wird doch wohl nicht auch aufdie Linke in der Duma, einschließlich der sozialdemokratischen Fraktion,seine Wirkung ausüben ?! Wir wollen das nicht annehmen, aber indessen...

„Eine dringende Interpellation ist nicht nötig", liebedienerte HerrRoditschew von der Tribüne herab, „eine dringende Interpellation in die-sem Fall kann das Selbstgefühl der Minister verletzen."

Uns verwundern nicht im geringsten derartige Reden aus dem Mundedes kadettisdienMirabeau, der so eifrig seine Rolle als Repräsentant eines„tas de blagueurs"* in der Duma spielt.

Und Roditschew erhielt eine ausgezeichnete Antwort von dem Depu-tierten Dshaparidse (Sozialdemokrat): „Es ist unsere Pflicht", erinnerteer den liebedienernden Kadetten, „unsere Stimme zu erheben, wenn dieHand des Henkers nach dem Opfer greift."

Dann besteigt Kusmin-Karawajew die Tribüne und verliest ein Tele-gramm aus Riga, das er von dem dortigen Satrapen Meller-Sakomelskierhalten hat, demselben Meller-Sakomelski, mit dessen Namen bis aufden heutigen Tag die Mütter in Sibirien ihre Kinder schrecken. Das Tele-gramm ist unsagbar frech und brutalsten Hohnes voll: . . . „In Riga gabes keine Veranlassung, weder 74 noch 70 noch 4 Mann vor Gericht zustellen,- vorläufig gibt es niemanden, der zu retten wäre."

Diesem Telegramm stellte der Deputierte Alexinski ein Telegrammgegenüber, das er von Rigaer fortschrittlichen Wahlmännern erhaltenhatte und das besagte, die standrechtliche Aburteilung werde vorbe-reitet.

* Haufens von Aufschneidern.

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344 IV. 3. Lenin

Und nach dem Deputierten Alexinski, der völlig zu Redit trotzdem aufder Dringlichkeit der Interpellation bestand, schlössen sich die Trudo-wikigruppe und die Gruppe der Sozialrevolutionäre der Dringlichkeits-forderung an.

Daraufhin traten die Kadetten den Rückzug an. Pergament argumen-tierte nicht einmal, sondern bat die Dumalinke, nicht auf der Dringlich-keit zu bestellen, wobei er im "Namen des JnterpeUationsausschusses dasAnerbieten machte, die vorliegende Interpellation binnen 24 Stundendurch den Ausschuß zu bringen. Nur möge man doch auf die Dringlich-keit verzichten!

Der salbungsvoll-mystische Bulgakow ergreift das Wort und bittet,wiederum um des Verzichts auf die Dringlichkeit willen, keine Partei-leidenschaft in diese Frage hineinzutragen. Herr Bulgakow hätte vor allenDingen seinen Parteifreunden klarmachen sollen, daß in derartigen An-gelegenheiten Liebedienerei noch weniger am Platze ist als in irgend-welchen anderen, und daß sie stets naturgemäß die Parteileidenschaft zuParoxysmen treiben wird, die niemand wünscht.

Nach Bulgakow erscheint Kiesewetter, der der Linken einen neuenSchritt entgegenkommt, ihr ein neues kleines Zugeständnis macht. Kiese-wetter beantragt, die Interpellation an den Ausschuß zu überweisen,unter der Bedingung, daß er seine Aufgabe „vordringlich" erledige.

Delarow von den Volkssozialisten spricht sich für die Dringlichkeit aus.Mit anderen Worten, die ganze Linke trat mit einer in der Duma sel-

tenen Einmütigkeit gegen die Kadetten auf. Es wurde immer klarer, daßes um eine politische Frage geht, daß die in Angriff genommene Sachedes Kampfes gegen die kadettische Liebedienerei bis zu Ende geführtwerden kann und muß. Man lese die „Notizen" A. Stolypins im „No-woje Wremja" vom 4. April. Wie ergeht er sich in Lobeserhebungen andie Adresse der Kadettenpartei! Wie fällt er über seine Verbündeten, die„Rechten", her, um ihnen endlich beizubringen, daß man in derartigenFällen nicht so scharf vorgehen darf, daß man die Kadetten nicht vondem paktiererischen Weg, den sie jetzt gehen, abschrecken darf! „Auf-richtigkeit und Ernsthaftigkeit", man denke nur, hat Herr Stolypin andiesem Tag „in den Reden der Kadetten" vernommen!

Und in diesem Augenblick, als die sozialdemokratische Fraktion denSieg in Händen hielt, stand Zereteli auf und erklärte, die Fraktion ziehe

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Die sozialdemokratisdoe Fraktion und der 3. April in der Duma 345

ihren Antrag auf Dringlichkeit der Interpellation zurück. Warum? auswelchen Gründen? Es gab absolut keinen Grund zu der Annahme, daßeine an den Ausschuß überwiesene Interpellation von größerer Wirkungsein würde als eine dringende Interpellation. Das wird natürlich niemandzu behaupten wagen.

Es gab keinerlei Grund zu der Erklärung Zeretelis. Das bedeutet imvollen Sinne des Wortes, sich selbst auszupeitschen. Den 3. April kannman der sozialdemokratischen Fraktion nicht als Aktivum anrechnen.Und es handelt sich hier nicht, wir wiederholen das, um parlamentarischeUnerfahrenheit. Es handelt sich hier um jene politische Laxheit, jene Un-entschlossenheit der sozialdemokratischen Fraktion, die schon mehr alseinmal in Erscheinung getreten sind und die sie so daran hindern, in derDuma den Platz des wirklichen Führers der ganzen Dumalinken einzu-nehmen. Man darf die Augen nicht davor verschließen, man muß danachstreben, sich davon frei zu machen!

gesdirieben am 4. 07.) April 1907.

VeröftentUdbt am 5. April 1907 Nadi dem 7ext vonin „Nasche Echo" "Nr. 10. „Nasche Echo".

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346

STÄRKE UND SCHWÄCHEDER RUSSISCHEN REVOLUTION

Der unter dieser Überschrift in der gestrigen „Narodnaja Duma" er-schienene Artikel stellt ein Muster ruhiger, klarer, einfacher Darlegungder wirklich grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten unter den So-zialdemokraten dar. Auf solchem Boden zu streiten ist ebenso angenehmund nützlich, wie es unangenehm und unmöglich ist, auf die Hysterie im„Priwet"90 oder in den „Otgoloski" zu antworten.

Zur Sache also. Zu Meinungsverschiedenheiten führt die Einschätzungder Kadetten und der Volkstümler. Was die Kadetten anbelangt, so lau-fen die Meinungsverschiedenheiten, nach der völlig richtigen Ansicht der„Narodnaja Duma", auf die Frage hinaus, wen sie vertreten. „Die mitt-lere und kleine, vor allem die städtische Bourgeoisie", antwortet die „Na-rodnaja Duma". „Die ökonomische Grundlage solcher Parteien", so heißtes in der Resolution der Bolschewiki, „bildet ein Teil der mittleren Guts-besitzer und der mittleren Bourgeoisie, besonders aber die bürgerlicheIntelligenz, während ein Teil des demokratischen städtischen und länd-lichen Kleinbürgertums diesen Parteien nur noch aus Tradition folgt undweil er von den Liberalen direkt betrogen wird."*

Es ist klar, daß die Menschewiki die Kadetten optimistischer beurteilenals wir. Sie vertuschen oder leugnen deren Verbindung mit den Guts-besitzern, wir unterstreichen sie. Sie unterstreichen ihre Verbindung mitder städtischen demokratischen Kleinbourgeoisie, wir halten diese Ver-bindung für äußerst schwach.

* Siehe den vorliegenden Band, S. 129. Die Red'.

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Stärke und Schwäche der russisdien Revolution 347

Was die Gutsbesitzer anbelangt, so erklärt die „Narodnaja Duma"unsere Betrachtung in Nr. 7 von „Nasche Echo", wo wir nicht in dervorigen (das ist ein Irrtum der „Narodnaja Duma"), sondern in der jet-zigen Dumafraktion der Kadetten 20 Gutsbesitzer zählten*, für naiv. Esgebe sogar unter den Sozialdemokraten Millionäre und Zivilgenerale,ironisiert die „Narodnaja Duma".

Eine schwache Ironie! Jedermann begreift, daß die Singer, Arons undNaliwkin Erscheinungen eines persönlichen Übergangs von der Bour-geoisie zum Proletariat sind. Wollt ihr denn ernstlich behaupten, Herr-schaften, daß die 20 Gutsbesitzer (von 79 gezählten Fraktionsmitglie-dern der Kadetten, d. h. der vierte 7ei\) persönlich den 60 bürgerlichenIntellektuellen folgen, und nicht umgekehrt?? Wollt ihr behaupten, daßder Gutsbesitzer eine liberale Intellektuellenpolitik betreibt, und nicht dieliberalen Intellektuellen die Politik der Gutsbesitzer?? Euer Scherz be-züglich Singers und des Genossen Naliwkin ist ein netter Spaß zur Be-mäntelung einer hoffnungslosen Position, mehr nicht.

Natürlich ist die Zusammensetzung der kadettischen Dumafraktionkein grandlegender Beweis, sondern nur ein Symptom. Der Hauptbeweisbesteht erstens in der Geschichte des gutsherrlichen Liberalismus in Ruß-land (das hat auch die „Narodnaja Duma" zugegeben); zweitens, unddas ist das Wichtigste, in der Analyse der heutigen Politik der Kadetten.„Die kadettische Agrarpolitik ist dem Wesen der Sadbe nach" (dies be-achte man) „eine Gutsbesitzerpolitik" („Nasche Echo" Nr. 7). „Der ka-dettische Liberalismus' ist der Liberalismus eines bürgerlichen Advo-katen, der den Bauern mit den Gutsherren versöhnen will, und zwar ver-söhnen zum Vorteil des Gutsherrn." (Ebenda.)**

Auf dieses Argument hat die „Narodnaja Duma" nichts zu antworten.Weiter. Womit beweist man die Klassenverbindung der Kadettenpartei

mit der demokratischen Kleinbourgeoisie der Städte? Mit der Wahl-statistik. Die Städte stellen am meisten Kadetten. Diese Angabe ist rich-tig. Die Tatsache ist jedoch nicht beweiskräftig. Erstens gibt unser Wahl-recht den nidht demokratischen Schichten der städtischen Bourgeoisie denVorzug. Jedermann weiß, daß die Volksversammlungen die Ansichtenund die Stimmung der „demokratischen Kleinbourgeoisie der Städte"

* Siehe den vorliegenden Band, S. 332. Die Red.** Siehe den vorliegenden Band, S. 332. Die Red.

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348 W.lCenin

genauer zum Ausdruck bringen. Zweitens sind in der städtischen Kurieder Großstädte die Kadetten stärker und die Linken schwächer als in derstädtischen Kurie der Kleinstädte. Das zeigt die Statistik der Wahlmän-ner. Daraus folgt jedoch, daß die Kadetten nicht demokratische Kleinbour-geoisie, sondern liberale Mittelbourgeoisie darstellen. Je größer dieStadt, um so schärfer der Antagonismus zwischen Proletariat und Bour-geoisie, um so stärker in der städtischen (bürgerlichen) Kurie die Kadet-ten gegenüber den Linken. Drittens haben in den 22 Großstädten, indenen ein Linksblock bestand, die Rechten 17 000 Stimmen erhalten, dieOktobristen 34 000, die Kadetten 74 000 und die Linken 41 000. DenKadetten mit einemmal so viel abzunehmen war nur möglich, weil siekeine Demokraten sind. Die liberalen Advokaten betrogen überall in derWelt die demokratische Kleinbourgeoisie, wurden aber dauernd von denSozialisten entlarvt.

„Ist es richtig", fragt die „Narodnaja Duma", „daß die Mittel- unddie Kleinbourgeoisie bei uns bereits an der Unterdrückung der Revolutioninteressiert sind, um die sie unmittelbar bedrohende Kraft des Proleta-riats zu brechen?" und sie antwortet: „Das ist zweifellos nicht richtig."

Hier sind unsere Ansichten zweifellos nicht richtig wiedergegeben. Dasist bereits keine prinzipielle Polemik mehr, teure Genossen . . . Ihr wißtselbst ausgezeichnet, daß wir zwischen dem konterrevolutionären Wesender Kadetten und dem der Oktobristen unterscheiden; daß wir die Be-schuldigung, konterrevolutionär zu sein, keineswegs auf die Kleinbour-geoisie ausdehnen; daß nach unserer Ansicht die kadettiscben Gutsbesit-zer nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Bauern fürchten. Dies istkeine Entgegnung, sondern eine Entstellung.

Eine Entgegnung ist folgendes Argument der „Narodnaja Duma". DieKadetten werden gemäßigter und reaktionärer nicht während des Auf-schwungs der Revolution, sondern bei ihrem Abebben, d. h. nicht infolgeihres konterrevolutionären Wesens, sondern infolge ihrer Schwäche. DieTaktik der Kadetten, schreibt die „Narodnaja Duma" in Kursiv, „ist nichteine Jäktik konterrevolutionärer Macht, sondern eine 7aktik revolutio-närer Ohnmacht".

Danach wären die Kadetten ebenfalls Revolutionäre, nur ohnmächtige.Eine ungeheuerliche Schlußfolgerung. Um sich zu diesem haarsträuben-den Unsinn zu versteigen, mußte man den Gedankengang mit einem

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Stärke und Schwädae der russischen Revolution 349

Grundfehler beginnen. Dieser Fehler ist die Leugnung des gutsherrlichenCharakters der Kadetten (in Rußland ist der Qutsbesitzer konterrevolu-tionär entweder nach der Manier des Schwarzhunderters und Oktobri-sten oder nach der Manier des Kadetten) sowie die Leugnung der Tat-sache, daß unter den Kadetten die bürgerliche Intelligenz überwiegt. NachRichtigstellung dieser beiden Fehler erhalten wir die richtige Schlußfolge-rung: Die Jaktik der Kadetten ist die Jaktik der gutsherrlidien Konter-revolution und der bürgerlidh-intetligenzlerisdben Ohnmadot. Die Guts-besitzer sind eine konterrevolutionäre Kraft. Die großen Bourgeois eben-falls. Der bürgerliche Intellektuelle und der liberale Beamte sind ihre fei-gen Lakaien, die ihre Kriecherei vor der Konterrevolution mit „demokra-tischer" Heuchelei bemänteln.

Es ist nicht richtig, daß die Kadetten nur beim Abebben der Revolution„nach rechts schwenkten" und nicht bei ihrem Aufschwung. Denkt an das„Natschalo"91, Genossen von der „Narodnaja Duma". Denkt an die Ar-tikel mit dem Tenor „Witte ist ein Agent der Börse, Struve ein AgentWittes". Das waren gute Artikel! Das war eine schöne Z e i t . . . damalstrennte uns nichts von den Menschewiki in der Einschätzung der Kadet-ten . . . Um die Einstellung der Kadetten zum Aufschwung der Revolu-tion bzw. zu den Aufschwüngen der Revolution richtig zu beleuchten,muß man sagen: Wenn die "Revolution sich auf der Straße zeigt - zeigtsidb der Kadett im "Vorzimmer des Ministers.

Struve bei Witte im November 1905. Dieser oder jener Kadett bei die-sem oder jenem Schwarzhunderter im Juni 1906. Miljukow bei Stolypinam 15. Januar 1907. So war es - so wird es sein . . .

In der ökonomischen Begründung ihrer Ansichten von den Kadettenkommt die „Narodnaja Duma" zu folgendem Schluß-

„Bei der schwachen Entwicklung der Städte in Rußland und dem vor-herrschenden Einfluß der Großindustrie im städtischen Gewerbe hatunsere städtische Mittel- und Kleinbourgeoisie zu wenig Einfluß auf dasgesamte Wirtschaftsleben des Landes, um sich ebenso als eine selbständigepolitische Kraft zu fühlen, wie das seinerzeit die englische und die fran-zösische taten . . . " Sehr gut und völlig richtig. Nur gilt das nidht für dieKadetten. Und dann fällt hier schon die angeblich marxistische Gegen-

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350 "W.1 Lenin

Überstellung der „großen städtischen fortschrittlichen" und der „kleinenländlichen rückständigen" Bourgeoisie völlig weg, mit der man die men-schewistische Taktik des öfteren zu rechtfertigen gesucht h a t . . . „DasProletariat jedoch zu ihrer Waffe zu machen, vermag sie nicht, weil dasProletariat bereits unter seinem eigenen, sozialdemokratischen Bannerkämpft . . ." Richtig!... „Hier liegt die Quelle aller ihrer Schwankungen,aller ihrer Unentschlossenheit im Kampf gegen die autokratische Leib-eigenenordnung . . . " Ebenfalls zutreffend, nur nicht bezüglich der Ka-detten, sondern bezüglich der ^rwiiotyifeiparteien und -gruppen, die sichnicht nur auf die ländliche, sondern auch auf die städtische Kleinbour-geoisie stützen!

. . . „Mit dieser relativen Schwäche der städtischen bürgerlichen Demokratieist es auch zu erklären, daß unsere bürgerlichen Demokraten, sobald sie nachlinks zu schwenken beginnen, sofort den städtischen Boden unter den Füßenverlieren und beginnen, im bäuerlich-volkstümlerischen Sumpf zu versinken."

Richtig! Tausendmal richtig! Von einer so vollständigen Bestätigungder bolschewistischen Taktik durch die „Narodnaja Duma" haben wirnicht einmal zu träumen gewagt. „Sobald unsere bürgerlichen Demokra-ten nach links zu schwenken beginnen, werden sie zu Volkstümlern."Genauso ist es: linke bürgerliche Demokraten, eben das sind die Volks-tümler. Die Kadetten jedoch geben sich lediglich als Demokraten aus,sind aber in Wirklichkeit überhaupt keine Demokraten. Deshalb ist dasProletariat, da es die bürgerliche Revolution gemeinsam mit der bürger-lichen Demokratie durchführen muß, dazu genötigt, in einem politischen„Block" im weitesten Sinne dieses Wortes aufzutreten, wobei wir hierzunicht nur wahltechnische und parlamentarische Vereinbarungen rechnen,sondern auch gemeinsame Aktionen ohne irgendwelche Abkommen mitder Unken, d.h. der volkstümlerischen Kleinbourgeoisie gegen die Schwar-zen und gegen die Kadetten!

Quod erat demonstrandum - was zu beweisen war.Das nächste Mal unterhalten wir uns mit der „Narodnaja Duma"

speziell über die Volkstümler.

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Stärke und Sdbwädhe der russischen Revolution 351

II*

Wenn man zugibt, daß die „Volkstümler linke Nachbarn der Kadet-ten" sind, daß sie „ständig zwischen den Kadetten und den Sozialdemo-kraten schwanken", dann ergibt sich hieraus unvermeidlich die Anerken-nung der bolschewistischen Politik: die Volkstümler dazu zu bringen, aufdie Seite der Sozialdemokraten gegen die Schwarzhunderter und gegendie Kadetten zu treten.

Die Menschewiki bemühen sich, diese unumgängliche Schlußfolgerungaus ihren eigenen Geständnissen abzuschwächen bzw. abzulehnen, indemsie sich darauf berufen, daß die Bauernschaft, obgleich „revolutionärerund demokratischer" als die Liberalen, gleichzeitig doch von „reaktionä-ren sozialen Utopien durchdrungen" und bestrebt sei, „das Rad derGeschichte auf ökonomischem Gebiet zurückzudrehen".

Diesem Urteil, das in unserer sozialdemokratischen Literatur sehr ver-breitet ist, liegt ein großer, sowohl logischer als auch historisch-ökonomi-scher Irrtum zugrunde. Man vergleicht Elle mit Pfund, den reaktionärenCharakter der bäuerlichen Ideen über die sozialistische Revolution mitdem reaktionären Charakter der liberalen Politik in der bürgerlichenRevolution.

Wenn die Bauern, was die Aufgaben des Sozialismus anbelangt, zwei-fellos für reaktionäre Utopien eintreten, so treten die liberalen Bourgeoisbezüglich dieser Aufgaben für reaktionäre Gewaltakte in der Art desJuni 1848 bzw. des Mai 1871 ein.

Wenn jedoch in der gegenwärtigen, d. h. bürgerlichen Revolution dieBauernschaft und ihre Ideologen, die Volkstümler, im Vergleich zu denLiberalen eine reaktionäre Politik treiben, dann wird ein Marxist dieVolkstümler niemals für linksstehender, revolutionärer und demokra-tischer als die Liberalen halten.

Es ist klar, daß hier etwas nicht stimmt.Man vergleiche die Agrarpolitik der Liberalen und der Volkstümler.

* Angesichts des Verbots der „Narodnaja Duma" durch die Regierung ent-halten wir uns nach Möglichkeit einer direkten Polemik gegen sie, befassen unsvielmehr mit einer grundsätzlichen Einschätzung der Volkstümlerrichtungdurch den Marxismus.

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352 W.J.Lenin

Gibt es in ihr gegenwärtig ökonomisch-reaktionäre Züge? Das Bestreben,die Mobilisierung des Grundbesitzes zu beschränken, ist bei beiden Par-teien reaktionär. Der bürokratische Charakter der kadettischen Agrar-politik aber (gutsherrlich-iwokrat)sd>e Bodenkomitees) macht ihr reak-tionäres Wesen praktisch und unmittelbar bei weitem gefährlicher. Indiesem Punkt fällt also der Vergleich ganz und gar nicht zugunsten derLiberalen aus.

Die „ausgleichende" Bodennutzung... Die Idee der Gleichheit derKleinproduzenten ist reaktionär als ein Versuch, die Lösung der Auf-gaben der sozialistischen Revolution in der Vergangenheit und nicht inder Zukunft zu suchen. Das Proletariat bringt nicht einen Sozialismusder Gleichheit der Kleinbesitzer, sondern den Sozialismus der vergesell-schafteten Großproduktion. Aber diese selbe Idee der Gleichheit ist dervollständigste, konsequenteste und entschiedenste Ausdruck der bürger-lich-demokratischen Aufgaben. Denjenigen Marxisten, die das vergessenhaben, kann man nur raten, den ersten Band des „Kapitals" von Marxund den „Anti-Dühring" von Engels zur Hand zu nehmen. Die Idee derGleichheit bringt am vollkommensten den Kampf gegen alle Überreste derLeibeigenschaft, den Kampf um die breiteste und reinste Entwicklung derWarenproduktion zum Ausdruck.

Bei uns wird das oft vergessen, wenn man von dem reaktionären Cha-rakter der „ausgleichenden" Agrarprojekte der Volkstümler spricht.

Die Gleichheit bringt nicht nur ideell die umfassendste Verwirklichungder Voraussetzungen des freien Kapitalismus und der Warenproduktionzum Ausdruck. Auch materiell, auf dem Gebiete der ökonomischen Bezie-hungen in der aus Leibeigenschaftsverhältnissen hervorgehenden Land-wirtschaft, ist die Gleichheit der IOeinproduzenten die Voraussetzung fürdie breiteste, umfassendste, freieste und rascheste Entwicklung der kapi-talistischen Landwirtschaft.

Diese Entwicklung ist in Rußland schon seit langem im Gange. DieRevolution hat sie beschleunigt. Das ganze Problem liegt darin, ob dieseEntwicklung sozusagen nach dem preußischen Typ verlaufen wird (Bei-behaltung der gutsherrlichen Wirtschaft mit Versklavung des Knechts,der einen Hungeranteil am Boden „nach gerechter Taxe" bezahlen muß)oder nach dem amerikanischen Typ (Beseitigung der gutsherrlichen Wirt-schaft, Übergang des gesamten Bodens an die Bauern).

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Stärke und Sdhwädhe der russisdhen Revolution 353

Das ist die Hauptfrage unserer ganzen bürgerlich-demokratischenRevolution, die Frage ihrer Niederlage oder ihres Sieges.

Die Sozialdemokraten fordern den Übergang des gesamten Bodens andie Bauern ohne Ablösung, d. h., sie kämpfen entschlossen für den zwei-ten, für das Volk vorteilhaften Typ der Entwicklung des Kapitalismus.Beim Kampf der Bauern gegen die Gutsbesitzer, die Fronherren, imKampf um den Boden ist der stärkste ideelle Impuls die Idee der Gleich-heit - und wird die Gleichheit zwischen den Kleinproduzenten herge-stellt, so bedeutet das die vollständigste Beseitigung aller und jeglicherÜberreste der Leibeigenschaft. Deshalb ist die Idee der Gleichheit fürdie Bauernbewegung die revolutionärste Idee nicht nur im Sinne einesImpulses zum politischen Kampf, sondern auch im Sinne eines Impulseszur ökonomischen Säuberung der Landwirtschaft von den Überresten derLeibeigenschaft.

Soweit die Volkstümler davon träumen, daß die Gleichheit sich auf derGrundlage der Warenproduktion behaupten, daß diese Gleichheit einElement der Entwicklung zum Sozialismus sein kann, insoweit sind ihreAnschauungen irrig, ist ihr Sozialismus reaktionär. Das muß jeder Mar-xist wissen und im Gedäditnis behalten. Ein Marxist würde jedoch seinePflicht, die darin besteht, die besonderen Aufgaben der bürgerlich-demo-kratischen Revolution historisch zu betrachten, nicht erfüllen, wenn ervergäße, daß-diese selbe Idee der Gleichheit sowie alle möglichen Pläneausgleichender Bodennutzung der vollständigste Ausdruck der Aufgabennidbt der sozialistischen, sondern der bürgerlichen Revolution, der Auf-gaben des Kampfes nicht gegen den Kapitalismus, sondern gegen diegutsherrliche und bürokratische Ordnung sind.

Entweder Evolution nach preußischem Typ: der Gutsbesitzer, derFronherr, wird zum Junker. Die gutsherrliche Macht im Staate ist fürJahrzehnte gefestigt. Monarchie. Ein „mit parlamentarischen Formen ver-brämter Militärdespotismus" an Stelle von Demokratie. Größte Ungleich-heit unter der ländlichen und unter der übrigen Bevölkerung. OderEvolution nach amerikanischem Typ. Beseitigung der gutsherrlichenWirtschaft. Der Bauer wird freier Farmer. Volksherrschaft. Bürgerlich-demokratische Ordnung. Größte Gleichheit unter der ländlichen Be-völkerung als Ausgangspunkt und Voraussetzung für den freien Kapi-talismus.

23 Lenin, Werke, Bd. 12

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354 H>.l£,enin

So lautet in Wirklichkeit die historische Alternative, verschleiert durchdie Heuchelei der Kadetten (die das Land den ersten Weg führen wollen)und den sozial-reaktionären Utopismus der Volkstümler (die es denzweiten führen).

Es ist klar, daß das Proletariat alle Kräfte darauf richten muß, auf demzweiten Weg vorwärtszukommen. Nur in diesem Fall werden die werk-tätigen Klassen die letzten bürgerlichen Illusionen am schnellsten über-winden — denn ein Sozialismus der Gleichheit ist die letzte bürgerlicheIllusion des Kleinbesitzers. Nur in diesem Fall werden die Volksmassen,nicht aus Büchern, sondern aus der Erfahrung lernend, in kürzester Zeitdie Ohnmacht aller und jeglicher gleichmacherischen Projekte, die Ohn-macht gegenüber der Macht des Kapitals, praktisch zu spüren bekommen.Nur in diesem Fall wird das Proletariat am schnellsten die „trudowi-kischen", d. h. kleinbürgerlichen Traditionen von sich abschütteln, sichvon den ihm jetzt unvermeidlich zufallenden bürgerlich-demokratischenAufgaben frei machen und sich völlig seinen eigenen, wirklich klassen-mäßigen, d. h. sozialistischen Aufgaben widmen können.

Nur das Unverständnis für die Wechselbeziehung zwischen den bür-gerlich-demokratischen und den sozialistischen Aufgaben veranlaßtmanche Sozialdemokraten, die Politik der Zuendeführung der bürger-lichen Revolution zu fürchten.

Nur das Unverständnis für die Aufgaben und das Wesen der bürger-lichen Revolution führt zu Erwägungen folgender Art: „Sie (unsere Revo-lution) wurde in letzter Instanz nicht von den Interessen der Bauern her-vorgerufen, sondern (??) von den Interessen der sich entwickelnden bür-gerlichen Gesellschaft" oder „diese Revolution ist eine bürgerliche, unddaher (!!??) kann sie nicht unter bäuerlicher Fahne und Führung von-statten gehen" („Narodnaja Duma" Nr. 21 vom 4. April). Demnachberuhte die bäuerliche Wirtschaft in Rußland auf irgendeiner anderenals auf bürgerlicher Grundlage! Die Interessen der bäuerlichen Masse sindeben gerade die Interessen der vollständigsten, raschesten und breitesten„Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft", der „amerikanischen" undnicht der „preußischen" Entwicklung. Gerade deshalb kann die bürger-liche Revolution unter „bäuerlicher Führung" verlaufen (richtiger: unterproletarischer Führung, wenn die Bauern, zwischen Kadetten und Sozial-demokraten schwankend, im großen und ganzen der Sozialdemokratie

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Stärke und Sdhwädhe der russischen Revolution 355

folgen). Eine bürgerliche Revolution unter Führung der Bourgeoisie kannnur eine nichtvollendete Revolution sein (d. h. strenggenommen keineRevolution, sondern eine Reform). Eine wirkliche Revolution kann sienur sein unter der Führung des Proletariats und der Bauernschaft.

„Nasche £dho" 5Vr. 10 und 12, Nach dem 7ext von5. und 7. April 1907. „Wasche Eöbo".

23*

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VORWORTZUR RUSSISCHEN ÜBERSETZUNG DES BUCHES

„BRIEFE UND AUSZÜGE AUS BRIEFEN VONJOH. PHIL. BECKER, JOS. DIETZGEN,

FRIEDRICH ENGELS, KARL MARX U. A.AN F. A. SORGE UND ANDERE"

Qesdirieben am 6. (.19.) April 1907.

Veröffentlicht 1907 in dem Buä> "Naäi dem 7ext des Tiudbes.„Briefe von J. Pb. Becker, 7. Bietzgen,7. Engels, X. Marx u. a. an 7. A. Sorge «. a.".Herausgeber T>. Q. Bauge, St. Petersburg.Vntersdhrift -.Ti.Zeni n.

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359

Die Sammlung der Briefe von Marx, Engels, Dietzgen, Becker undanderen Führern der internationalen Arbeiterbewegung des vorigen Jahr-hunderts, die dem russischen Publikum hier vorgelegt wird, bildet einenotwendige Ergänzung unserer führenden marxistischen Literatur.

Wir wollen hier nicht ausführlich auf die Wichtigkeit dieser Briefe fürdie Geschichte des Sozialismus und für die allseitige Beleuchtung derTätigkeit von Marx und Engels eingehen. Diese Seite der Sache bedarfkeiner Erläuterungen. Es sei lediglich festgestellt, daß zum Verständnisder vorliegenden Briefe die Kenntnis grundlegender Werke über dieGeschichte der Internationale (siehe Jaeckh, „Die Internationale", rus-sische Übersetzung im Verlag „Snanije"), ferner der deutschen und deramerikanischen Arbeiterbewegung (siehe Franz Mehring, „Geschichte derdeutschen Sozialdemokratie", und Morris Hillquit, „Geschichte des Sozia-lismus in Amerika") usw. notwendig ist.

Wir haben auch nicht die Absicht, zu versuchen, hier einen allgemeinenAbriß des Inhalts dieses Briefwechsels und eine Einschätzung der ver-schiedenen historischen Zeitabschnitte zu geben, auf die er sich bezieht.Das hat Mehring glänzend besorgt in seinem Artikel „Der SorgescheBriefwechsel" („Die Neue Zeit", 25. Jahrg., Nr. 1 und 2), der wahr-scheinlich dieser Übersetzung vom Verleger beigegeben oder in einerbesonderen russischen Ausgabe erscheinen wird.

Besonderes Interesse für die russischen Sozialisten in der revolutio-nären Epoche, die wir jetzt durchleben, bieten die Lehren, die das kämp-fende Proletariat aus der Bekanntschaft mit den persönlichen Seiten derTätigkeit von Marx und Engels im Verlaufe von fast 30 Jahren (1867

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360 W.3. Lenin

bis 1895) ziehen muß. Kein Wunder daher, daß auch in unserer sozial-demokratischen Literatur die ersten Versuche, die Leser mit den Briefenvon Marx und Engels an Sorge bekannt zu machen, im Zusammenhangmit „Kampf" fragen der sozialdemokratischen Taktik in der russischenRevolution unternommen wurden (die Plechanowsche „SowremennajaShisn", die menschewistischen „Otkliki"92). So wollen wir denn die Auf-merksamkeit der Leser auf die Würdigung derjenigen Stellen des vor-liegenden Briefwechsels lenken, die vom Gesichtspunkt der heutigen Auf-gaben der Arbeiterpartei in Rußland besonders wichtig sind.

Am häufigsten nahmen Marx und Engels in ihren Briefen Stellung zuden Tagesfragen der englisch-amerikanischen und der deutschen Arbeiter-bewegung. Das ist auch begreiflich, denn sie waren Deutsche, die damalsin England lebten und mit ihrem amerikanisdien Genossen korrespon-dierten, über die französische Arbeiterbewegung und besonders über diePariser Kommune äußerte sich Marx viel häufiger und eingehender inseinen Briefen an den deutschen Sozialdemokraten Kugelmann.*

Ein Vergleich dessen, was Marx und Engels über Fragen der englisch-amerikanischen und über Fragen der deutschen Arbeiterbewegung ge-äußert haben, ist äußerst aufschlußreich. Zieht man in Betracht, daßDeutschland einerseits, England und Amerika anderseits verschiedeneStadien der kapitalistischen Entwicklung, verschiedene Formen der Herr-schaft der Bourgeoisie als Klasse im ganzen politischen Leben dieser Län-der darstellen, so gewinnt ein solcher Vergleich besonders große Bedeu-tung. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sehen wir hier ein Muster-beispiel materialistischer Dialektik, die Fähigkeit, je nach den konkretenBesonderheiten dieser oder jener politischen und ökonomischen Verhält-nisse verschiedene Punkte, verschiedene Seiten einer Frage in den Vor-dergrund zu rücken und hervorzuheben. Vom Standpunkt der praktischenPolitik und Taktik der Arbeiterpartei aus sehen wir hier ein Musterbei-spiel dafür, wie die Schöpfer des „Kommunistischen Manifests" die Auf-gaben des kämpfenden Proletariats je nach den verschiedenen Etappender nationalen Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder bestimmten.

Am englisch-amerikanischen Sozialismus kritisieren Marx und Engels

* Siehe „Briefe von K. Marx an Dr. Kugelmann", übersetzt unter Redak-tion und mit einem Vorwort von N. Lenin, St. Petersburg 1907 (vorliegenderBand, S. 95-104. Die Red.).

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Vorwort zu den "Briefen an Sorge 361

am schärfsten seine Losgelöstheit von der Arbeiterbewegung. Wie einroter Faden zieht sich durch alle ihre zahlreichen Äußerungen über die„Sozialdemokratische Föderation" (Social Democratic Federation) in Eng-land und über die amerikanischen Sozialisten die Beschuldigung, daß sieden Marxismus in ein Dogma, in „starre Orthodoxie" verwandelt haben,daß er ihnen „ein Credo, keine Anleitung zum Handeln"93 ist, daß siees nicht verstehen, sich der theoretisch hilflosen, aber lebendigen, vonden Massen getragenen, machtvollen Arbeiterbewegung einzufügen, dieneben ihnen abläuft. „Hätten wir", ruft Engels in dem Brief vom 27. Ja-nuar 1887 aus, „von 1864 bis 1873 darauf bestanden, nur mit denenzusammenzuarbeiten, die offen unsere Plattform anerkannten — wo wärenwir heute?"94 Und in einem vorhergehenden Brief (vom 28. Dezem-ber 1886) schreibt er, auf den Einfluß der Ideen Henry Georges auf dieArbeiterklasse in Amerika eingehend:

„Ein oder zwei Millionen Arbeiterstämmen im nächsten November für einebona fide Arbeiterpartei sind augenblicklich unendlich viel mehr wert als hun-derttausend Stimmen für eine doktrinär einwandfreie Plattform."

Das sind sehr interessante Stellen. Bei uns fanden sich Sozialdemo-kraten, die sich beeilten, sie für die Verteidigung der Idee eines „Arbeiter-kongresses" oder einer Art Larinscher „breiter Arbeiterpartei" auszu-nutzen. Warum denn nicht für die Verteidigung des „Linksblocks"? fra-gen wir solche voreiligen Engels-„Benutzer". Die Briefe, denen die Zitateentnommen sind, entstammen der Zeit,, da die Arbeiter in Amerika beiden Wahlen für Henry George stimmten. Frau Wischnewetzky - eineAmerikanerin, die einen Russen geheiratet hatte und Schriften von Engelsübersetzte - bat ihn, wie aus der Engelsschen Antwort an sie zu ersehenist, Henry George tüchtig zu kritisieren. Engels schreibt (am 28. Dezem-ber 1886), daß die Zeit dafür nodh nidht gekommen sei, denn es sei vielwichtiger, daß sich die Arbeiterpartei konsolidiere, und sei es auch aufeiner nicht ganz korrekten Plattform. Später würden die Arbeiter selbsterkennen, worauf es ankomme, sie würden es verstehen, „durch die eig-nen Fehler zu lernen", „aber alles, was jene nationale Festigung derArbeiterpartei - gleichgültig auf welcher Plattform — verzögern oderverhindern kann, würde ich als großen Fehler ansehen . . ."95

Dabei verstand Engels natürlich ausgezeichnet, wie unsinnig und reak-tionär die Ideen H. Georges vom sozialistischen Standpunkt aus waren,

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362 W.J.Lenin

und stellte dies viele Male fest. Im Sorgeschen Briefwechsel gibt es einenüberaus interessanten Brief von K. Marx vom 20. Juni 1881, worin erH. George als einen Ideologen der radikalen Bourgeoisie beurteilt. „DerMann ist theoretisch total arriere*", schrieb Marx.96 Und mit diesem aus-gesprochen reaktionären Sozialisten scheut Engels sich nicht, bei denWahlen zusammenzugehen, wenn es nur Leute gibt, die den Massen „dieFolgen ihrer eignen Fehler vorhersagen können" (Engels im Brief vom29. November 1886)97.

über die „Ritter der Arbeit" (Knights of Labor), die damalige Orga-nisation der amerikanischen Arbeiter, schrieb Engels im gleichen Brief:„Die faulste Seite der Knights of Labor war ihre politische Neutra-lität ... Der erste große Schritt, worauf es in jedem neu in die Bewegungeintretenden Land ankommt, ist immer die Konstituierung der Arbeiterals selbständige politische Partei, einerlei wie, solange es nur eine distinkteArbeiterpartei ist."98

Offensichtlich kann man hieraus rein gar nichts zur Verteidigung desSaltos von der Sozialdemokratie zum parteilosen Arbeiterkongreß u. dgl.folgern. Jeder jedoch, der sich nicht von Engels vorwerfen lassen will, daßer den Marxismus zu einem „Dogma", zur „Orthodoxie", zum „Sek-tierertum" u. dgl. herabwürdige, muß daraus den Schluß ziehen, daß esnotwendig ist, zuweilen auf eine gemeinsame Wahlkampagne mit radi-kalen „Sozialreaktionären" einzugehen.

Interessanter ist es aber natürlich, nicht so sehr auf diese amerikanisch-russischen Parallelen einzugehen (wir mußten sie streifen, um den Geg-.nern zu antworten) als auf die grundlegenden Züge der englisch-ameri-kanischen Arbeiterbewegung. Diese Züge sind das Fehlen irgendwiebedeutender, gesamtnationaler demokratischer Aufgaben des Proletariats;die vollständige Unterordnung des Proletariats unter die bürgerliche Poli-

, tik; die sektiererische Losgelöstheit der sozialistischen Grüppchen undHäuflein vom Proletariat; das Ausbleiben auch des geringsten Wahlerfol-ges der Sozialisten bei den Arbeitermassen usw. Wer diese grundlegen-den Bedingungen übersieht und es unternimmt, weitgehende Schlußfolge-rungen aus den „amerikanisch-russischen Parallelen" zu ziehen, der offen-bart äußerste Oberflächlichkeit.

* zurückgeblieben. Der Tibers.

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Vorwort zu den 'Briefen an Sorge 363

Wenn Engels unter derartigen Bedingungen solchen Nachdruck auf dieökonomischen Organisationen der Arbeiter legt, so deshalb, weil es sichum die am weitesten ausgebildeten demokratischen Zustände handelt, diedem Proletariat rein sozialistische Aufgaben stellen.- Wenn Engels die Wichtigkeit einer selbständigen Arbeiterpartei, selbsteiner solchen mit schlechtem Programm, nachdrücklich betont, so des-halb, weil es sich um Länder handelt, in denen es bis dahin auch nicht dieSpur einer politischen Selbständigkeit der Arbeiter gab, in denen sich dieArbeiter in der Politik am meisten von der Bourgeoisie ins Schlepptaunehmen ließen und immer noch nehmen lassen.

Der Versuch, die Schlußfolgerungen aus solchen Ausführungen aufLänder oder auf geschichtliche Situationen auszudehnen, in denen dasProletariat früher als die liberalen Bourgeois seine eigene Partei geschaf-fen hat, wo beim Proletariat die Stimmabgabe für bürgerliche Politikasterauch nicht im mindesten Tradition geworden ist, wo auf der Tagesord-nung unmittelbar nicht sozialistische, sondern bürgerlich-demokratischeAufgaben stehen - dieser Versuch wäre ein Hohn auf die historischeMethode von Marx.

Unser Gedanke wird dem Leser noch klarer werden, wenn wir Engels'Äußerungen über die englisch-amerikanische Bewegung mit seinen Äuße-rungen über die deutsche Bewegung vergleichen.

Solche Äußerungen gibt es im vorliegenden Briefwechsel ebenfalls sehrviele und höchst interessante. Durch alle diese Äußerungen zieht sich wieein roter Faden aber etwas ganz anderes: die Warnung vor dem „rechtenFlügel" der Arbeiterpartei, der schonungslose (mitunter, wie bei Marx inden Jahren 1877-1879, ungestüme) Krieg gegen den Opportunismus inder Sozialdemokratie.

Belegen wir dies zuerst durch Zitate aus den Briefen, um dann eineEinschätzung dieser Erscheinung zu geben.

Vor allem muß hier auf die Äußerungen von K. Marx über Höchbergund Konsorten hingewiesen werden. Fr. Mehring bemüht sich in seinemArtikel „Der Sorgesche Briefwechsel", die Angriffe von Marx wie auchdie späteren Angriffe von Engels auf die Opportunisten abzuschwächen- und zwar, unserer Ansicht nach, mit etwas zu großem Eifer. Speziellim Fall Höchberg und Konsorten verficht Mehring seine Meinung/Las-salle und die Lassalleaner seien von Marx falsch beurteilt worden. Uns

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jedoch interessiert hier, wir wiederholen das, nicht das historische Urteil,ob die Angriffe von Marx auf diese oder jene Sozialisten richtig oderübertrieben waren, sondern Marx' prinzipielle Einschätzung bestimmterStrömungen im Sozialismus überhaupt.

Marx beklagt sich über die Kompromisse der deutschen Sozialdemo-kraten mit den Lassalleanern und mit Dühring (Brief vom 19. Okto-ber 1877) und verurteilt auch das Kompromiß „mit einer ganzen Bandehalbreifer Studiosen und überweiser Doctores" („Doktor" ist im Deut-schen ein wissenschaftlicher Grad, der unserem „Kandidaten" oder einem„Universitätsabsolventen erster Kategorie" entspricht), „die dem Sozia-lismus eine .höhere, ideale' Wendung geben wollen, d. h. die materiali-stische Basis (die ernstes objektives Studium erheischt, wenn man auf ihroperieren will)" ersetzen wollen „durch moderne Mythologie, mit ihrenGöttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und fraternite" (Brüder-lichkeit). „Herr Dr. Höchberg, der die .Zukunft' herausgibt, ist ein Ver-treter dieser Richtung und hat sich in die Partei .eingekauft' - ich unter-stelle mit den .edelsten' Absichten, aber ich pfeife auf .Absichten'. EtwasMiserableres wie sein Programm der .Zukunft' hat selten mit mehr be-scheidner Anmaßung' das Licht erblickt." (Brief Nr. 70.)09

In einem anderen Brief, geschrieben fast zwei Jahre später (am 19. Sep-tember 1879), widerlegt Marx den Klatsch, daß er und Engels hinter]. Most stünden, und berichtet Sorge ausführlich über seine Haltung zuden Opportunisten in der deutschen sozialdemokratischen Partei. DieZeitschrift „Zukunft" wurde von Höchberg, Schramm und Ed. Bernsteingeleitet. Marx und Engels lehnten es ab, an einer solchen Publikationmitzuarbeiten, und als man von der Begründung eines neuen Parteiorgansunter Teilnahme des gleichen Höchberg und mit seiner materiellen Unter-stützung zu sprechen begann, verlangten Marx und Engels zunächst —zur Kontrolle über dieses „Doktoren- und Studenten- etc. Pack undKathedersozialistengesindel" —, daß der von ihnen benannte verantwort-liche Redakteur Hirsch akzeptiert werde. Dann richteten sie ein Rund-schreiben direkt an Bebel, Liebknecht und andere Führer der sozialdemo-kratischen Partei, worin sie drohten, gegen eine „solche" Herabwürdigung(deutsch „Verluderung" - ein nod) kräftigeres Wort) „der Partei undder Theorie" offen zu kämpfen, wenn die Richtung Höchberg, Schrammund Bernstein sich nicht ändere.

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Vorwort zu den Briefen an Sorge 365

Es war die Zeit in der deutschen sozialdemokratischen Partei, die Meh-ring in seiner „Geschichte" „Ein Jahr der Verwirrung" nannte. Nach dem„Ausnahmegesetz" fand die Partei nicht sofort den richtigen Weg. Sieverfiel zunächst in den Anarchismus Mosts und in den Opportunismusvon Höchberg und Konsorten. „Diese Burschen", schreibt Marx überHöchberg, „theoretisch Null, praktisch unbrauchbar, wollen dem Sozialis-mus (den sie sich nach den Universitätsrezepten zurechtgemanscht) undnamentlich der sozialdemokratischen Partei die Zähne ausbrechen, dieArbeiter aufklären oder, wie sie sagen, ihnen ,Bildungselemente' durchihre konfuse Halbwisserei zuführen und vor allem die Partei in denAugen des Spießbürgers respektabel machen. Es sind arme konterrevo-lutionäre Zungendrescher."100

Der „ungestüme" Angriff von Marx führte dazu, daß die Oppor-tunisten zurückwichen u n d . . . sich dünne machten. Im Brief vom 19. No-vember 1879 teilt Marx mit, daß man Höchberg aus der Redaktions-kommission entfernt habe und daß alle einflußreichen Führer der Partei- Bebel, Liebknecht, Bracke usw. - seine Ideen desavouiert haben.101

Der „Sozialdemokrat", das Parteiorgan der Sozialdemokratie, erschiennunmehr unter der Redaktion Vollmars, der damals auf dem revolutio-nären Flügel der Partei stand. Nach einem weiteren Jahr (am 5. Novem-ber 1880) berichtet Marx, wie er und Engels ständig gegen die „mise-rable" Leitung dieses „Sozialdemokrat" gekämpft haben, „wobeiVoftsdbarf hergeht". Liebknecht war im Jahre 1880 bei Marx und verspracheine „Besserung" in jeder Beziehung.102

Der Friede war wiederhergestellt, der Krieg war nicht nach außengeflammt. Höchberg trat ab, Bernstein wurde revolutionärer Sozialdemo-krat . . . jedenfalls bis zum Tode von Engels im Jahre 1895.

In seinem Brief an Sorge vom 20. Juni 1882 behandelt Engels diesenKampf bereits als etwas Vergangenes: „In Deutschland gehen die Sachenim ganzen vortrefflich. Zwar haben die Herren Literaten der Partei ver-sucht, eine reaktionär-bürgerlich-zahm-gebildete Schwenkung durchzu-führen, aber sie ist glänzend gescheitert. Die Infamien, denen die sozial-demokratischen Arbeiter überall ausgesetzt sind, haben diese überall vielrevolutionärer gemacht, als sie noch vor drei Jahren gewesen . . . DieseLeute" (die Literaten der Partei) „möchten um jeden Preis das Sozia-listengesetz durch Milde und Sanftmut, Kriecherei und Zahmheit weg-

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betteln, weil es mit ihrem literarischen Erwerb kurzen Prozeß macht.Sobald das Gesetz beseitigt.. . wird die Spaltung wahrscheinlich offenwerden und die Vierecks, Höchbergs einen separaten rechten Flügel bil-den, wo man dann von Fall zu Fall mit ihnen verhandeln kann, bis sieendlich definitiv auf den Arsch fallen. Wir haben das schon gleich nachErlaß des Sozialistengesetzes erklärt, als Höchberg und Schramm imJahrbuch' eine unter den Umständen ganz infame Beurteilung der bis-herigen Parteitätigkeit losließen und ein mehr jebildetes" („jebildetes"statt „gebildetes" - Engels zielt auf die Berliner Aussprache deutscherLiteraten), „wohlanständiges, salonfähiges Betragen der Partei ver-langten . . ."m

Die im Jahre 1882 gemachte Voraussage der Bernsteiniade sollte sich1898 und in den folgenden Jahren glänzend bestätigen.

Seitdem, besonders nach dem Tode von Marx, ist Engels, man kannes ohne Übertreibung sagen, unermüdlich dabei, das von den deutschenOpportunisten Verbogene „geradezubiegen".

Ende 1884. Engels verurteilt das „kleinbürgerliche Vorurteil" der deut-schen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, die für die Dampfer-subvention (siehe in Mehrings „Geschichte") gestimmt hatten. Engels teiltSorge mit, daß ihm dies Korrespondenz genug mache (Brief vom 31. De-zember 1884).104

1885. Engels gibt eine Einschätzung der ganzen Geschichte mit der„Dampfersubvention" und schreibt (am 3. Juni), daß „es fast zur Spal-tung kam", die „Spießbürgergelüste" der sozialdemokratischen Abgeord-neten seien „kolossal" gewesen. „Eine kleinbürgerlich-sozialistische Frak-tion ist in einem Lande wie Deutschland unvermeidlich", sagt Engels.105

1887. Engels antwortet Sorge, der ihm geschrieben hat, daß die Parteisich blamiere, wenn Leute wie Viereck (ein Sozialdemokrat vom SchlageHöchbergs) als Abgeordnete gewählt werden. Das geht nicht anders -rechtfertigt sich Engels - , die Arbeiterpartei müsse die Kandidaten neh-men, wo sie sie findet und wie sie sie findet. „Die Herren vom rechtenFlügel wissen, daß sie nur infolge des Sozialistengesetzes noch toleriertwerden und sofort an die Luft fliegen an dem Tag, wo die Partei wiederBewegungsfreiheit erhält." Es ist Engels überhaupt lieber, „wenn diePartei besser ist als ihre Parlamentshelden - als umgekehrt" (3. März1887). Liebknecht ist ein Versöhnler, klagt Engels, er vertuscht dauernd

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Vorwort zu den Briefen an Sorge 367

die Gegensätze durch Phrasen, kommt es aber zur Spaltung, wird er imentscheidenden Moment mit uns sein.106

1889. Zwei internationale sozialdemokratische Kongresse in Paris. DieOpportunisten (mit den französischen Possibilisten107 an der Spitze) habensich von den revolutionären Sozialdemokraten abgespalten. Engels (erwar damals 68 Jahre alt) stürzt sich wie ein Jüngling in den Kampf.Eine Reihe von Briefen (vom 12. Januar bis zum 20. Juli 1889) ist demKampf gegen die Opportunisten gewidmet. Nicht nur sie, sondern auchdie Deutschen, Liebknecht, Bebel usw., bekommen wegen ihres Versöhn-lertums ihren Teil ab.

Die Possibilisten haben sich an die Regierung verkauft, schreibt Engelsam 12. Januar 1889. Die Mitglieder der englischen „SozialdemokratischenFöderation" (SDF) überführt er des Bündnisses mit den Possibilisten.108

„Die Schreibereien und Laufereien wegen des verdammten Kongresseslassen mir kaum Zeit zu etwas anderem." (11. Mai 1889.) Die Possibi-listen sind auf den Beinen, die Unsrigen schlafen, ärgert sich Engels. Jetztverlangen Auer und Schippel sogar, daß wir auf den Possibilistenkongreßgehen. Dies aber hat „endlich" Liebknecht die Augen geöffnet. Engelsschreibt gemeinsam mit Bernstein Pamphlete gegen die Opportunisten(gezeichnet von Bernstein - Engels nennt sie „unsere Pamphlete").109

„Die Possibilisten haben außer der Social Democratic Federation keineeinzige sozialistische Organisation in ganz Europa." (8. Juni 1889.) „Siefallen daher auf die nichtsozialistische Trade-Union zurück. . ." (UnserenAnbetern einer breiten Arbeiterpartei, des Arbeiterkongresses usw. zurKenntnis!) „Von Amerika erhalten sie einen Xnight of Labor." Der Geg-ner ist derselbe wie im Kampf gegen die Bakunisten: „ . . . nur daß dieanarchistische Flagge mit der possibilistischen vertauscht ist: Verkauf desPrinzips an die Bourgeoisie gegen Konzessionen im Detail und namentlichgegen gutbezahlte Posten für die Führer (Stadtrat, Arbeitsbörse etc.)."Brousse (der Führer der Possibilisten) und Hyndman (der Führer derSDF, die sich mit den Possibilisten vereinigt hat) greifen „le Marxismeautoritaire"* an und wollen „den Kern der neuen Internationale" bilden.

„Aber von der Naivität der Deutschen hast Du keinen Begriff. Es hatmich unendliche Mühe gekostet, selbst Bebel beizubringen, um was essich eigentlich handel t . . ." (8. Juni 1889.)110 Und als beide Kongresse

* „den autoritären Marxismus". Der übers.

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stattfanden, als sich die revolutionären Sozialdemokraten zahlenmäßigstärker erwiesen als die Possibilisten (die sich mit den 7rade-Unionisten,mit der SDF, mit einem Teil der Österreicher usw. vereinigt hatten),jubelt Engels (17. Juli 1889)."1 Es freut ihn, daß die versöhnlerischenPläne und Anträge Liebknechts und anderer gescheitert sind (20. Juli1889). „Recht aber ist es unseren sentimentalen Versöhnungsbrüdern, daßsie für alle ihre Freundschaftsbeteuerungen diesen derben Tritt auf denAllerwertesten erhalten. Das wird sie wohl auf einige Zeit kurieren."112

. . . Mehring hat recht („Der Sorgesche Briefwechsel"), wenn er sagt,daß Marx und Engels vom „guten Ton" wenig verstanden haben:„ . . . wenn sie nicht lange jeden Puff überlegten, den sie austeilten, sogreinten sie auch nicht über jeden Puff, den sie empfingen... ,Wennsie glauben, daß ihre Nadelstiche mein altes, wohlgegerbtes und dick-häutiges Fell durchdringen können, so irren sie sich', schreibt Engels ein-mal."113 Und diese Unempfindlichkeit, die sie sich angeeignet hatten,schreibt Mehring über Marx und Engels, setzten sie auch bei anderenvoraus.

1893. Eine Abrechnung mit den „Fabians", die sich von selbst auf-drängt, wenn man . . . sich ein Urteil über die Bernsteinianer bilden will{hat doch Bernstein nicht umsonst seinen Opportunismus in England beiden „Fabians" „großgezogen"). „Die Fabians sind hier in London eineBande von Strebern, die Verstand genug haben, die Unvermeidlichkeit dersozialen Umwälzung einzusehn, die aber dem rohen Proletariat unmög-lich diese Riesenarbeit allein anvertrauen können und deshalb die Gewo-genheit haben, sich an die Spitze zu stellen. Angst vor der Revolutionist ihr Grundprinzip. Sie sind die Jebildeten' par excellence*. Ihr Sozia-lismus ist Munizipalsozialismus; die Kommune, nicht die Nation, sollwenigstens vorläufig Eigentümerin der Produktionsmittel werden. Dieserihr Sozialismus wird dann dargestellt als eine äußerste, aber unvermeid-liche Konsequenz des bürgerlichen Liberalismus, und daher folgt ihreTaktik, die Liberalen nicht als Gegner entschieden zu bekämpfen, son-dern sie zu sozialistischen Konsequenzen fortzutreiben, ergo** mit ihnenzu mogeln, to permeate Liberalism with Socialism***, und den Liberalen

* in Reinkultur. Die Red.** also. Der Tibers.

*** den Liberalismus mit Sozialismus zu durchdringen. Der Tibers.

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Vorwort zu den Briefen an Sorge 369

sozialistische Kandidaten nicht entgegenzustellen, sondern aufzuhängenund aufzuzwingen resp. aufzulügen. Daß sie dabei entweder selbst belo-gen und betrogen sind oder den Sozialismus belügen, sehn sie natürlichnicht ein.

Sie haben mit großem Fleiß unter allerlei Schund auch manche gutePropagandaschrift geleistet und in der Tat das Beste, was die Engländerin dieser Beziehung geleistet. Aber sowie sie auf ihre spezifische Taktikkommen: den Klassenkampf zu vertuschen, wird's faul. Daher auch ihrfanatischer Haß gegen Marx und uns alle - wegen des Klassenkampfs.

Die Leute haben natürlich viel bürgerlichen Anhang und daherGeld.. .""4

EINE KLASSISCHE BEURTEILUNGDES INTELLIGENZLER-OPPORTUNISMUS

IN DER SOZIALDEMOKRATIE

1894. Die Bauernfrage. „Auf dem Kontinent", schreibt Engels am10. November 1894, „wächst mit den Erfolgen die Lust nach noch mehrErfolg, und die Bauernfängerei im buchstäblichen Sinn wird Mode. Ersterklären die Franzosen in Nantes durch Lafargue nicht n u r . . . , daß wirkeinen Beruf haben, den Ruin der Kleinbauern, den der Kapitalismus füruns besorgt, durch direktes Eingreifen unsrerseits zu beschleunigen, son-dern auch, man müsse den Kleinbauer gegen Fiskus, Wucher und Groß-grundbesitzer direkt schützen. Das können wir aber nicht mitmachen,weil es erstens dumm und zweitens unmöglich ist. Nun aber kommtVollmar in Frankfurt und will den Bauer überhaupt bestechen, undzwar ist der Bauer, mit dem er in Oberbayern zu tun hat, nichtder verschuldete rheinische Kleinbauer, sondern der Mittel- und selbstGroßbauer, der Knechte und Mägde exploitiert und Vieh und Getreidein Massen verkauft. Und das geht nicht ohne Aufgeben des ganzenPrinzips.""5

1894. 4. Dezember: . . . „Die Bayern, die sehr, sehr opportunistischgeworden und fast schon eine ordinäre Volkspartei (d. h. die meistenFührer und viel neuer Parteizulauf) sind, hatten für das Gesamtbudgetim bayerischen Landtag gestimmt, und namentlich Vollmar hatte eineBauernagitation eingerichtet, um die oberbayerischen Großbauern - Leute

24 Lenin, Werke, Bd. 12

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mit 25 bis 80 Acres Land (10 bis 30 Hektaren), die also ohne Lohn-arbeiter gar nicht fertig werden können - einzufangen, nicht aber ihreKnechte..."116

Daraus sehen wir, daß Marx und Engels mehr als zehn Jahre syste-matisch, unentwegt gegen den Opportunismus in der deutschen sozial-demokratischen Partei kämpften und das intelligenzlerische Philistertumund Spießbürgertum im Sozialismus verfolgten. Das ist eine äußerst wich-tige Tatsache. Weite Kreise wissen, daß die deutsche Sozialdemokratieals ein Vorbild marxistischer Politik und Taktik des Proletariats gilt, abersie wissen nicht, welchen ständigen Krieg die Begründer des Marxismusgegen den „rechten Flügel" (ein Ausdruck von Engels) dieser Partei zuführen hatten. Daß dieser Krieg bald nach Engels' Tode aus einem ver-steckten zu einem offenen wurde, ist kein Zufall. Es ist das unvermeid-liche Ergebnis der jahrzehntelangen historischen Entwicklung der deut-schen Sozialdemokratie.

Und heute erkennen wir besonders deutlich zwei Linien in den Rat-schlägen, Hinweisen, Richtigstellungen, Drohungen und Ermahnungenvon Engels (und Marx). Den englisch-amerikanischen Sozialisten legtensie mit größter Beharrlichkeit nahe, sich mit der Arbeiterbewegung zuverschmelzen, den engen und verknöcherten sektiererischen Geist ausihren Organisationen auszumerzen. Die deutschen Sozialdemokratenlehrten sie mit größter Beharrlichkeit: Verfallt nicht in Philistertum, in„parlamentarischen Idiotismus" (ein Ausdruck von Marx im Brief vom19. September 1879)117, in kleinbürgerlich-intelligenzlerischen Oppor-tunismus.

Ist es nicht charakteristisch, daß unsere sozialdemokratischen Klatsch-basen sich über die Ratschläge der ersten Art des langen und breitenauslassen, über die Ratschläge der zweiten Art aber mit Schweigen hin-weggehen? Zeigt diese Einseitigkeit in der Beurteilung der Briefe vonMarx und Engels nicht am besten eine gewisse, uns eigene russische,sozialdemokratische . . . „Einseitigkeit" ?

Heute, wo die internationale Arbeiterbewegung Symptome einer tiefenGärung und großer Schwankungen offenbart, wo die Extreme des Oppor-tunismus, des „parlamentarischen Idiotismus" und des philisterhaftenReformismus die entgegengesetzten Extreme des revolutionären Syndika-lismus hervorgerufen haben - heute erlangt die gesamte Linie der Marx-

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Vorwort zu den "Briefen an Sorge 371

sehen und Engelsschen „Richtigstellungen" am englisch-amerikanischenund am deutschen Sozialismus außerordentliche Bedeutung.

In Ländern, wo es keine sozialdemokratische Arbeiterpartei, keinesozialdemokratischen Abgeordneten in den Parlamenten, keine systema-tische, prinzipienfeste sozialdemokratische Politik bei den Wahlen, inder Presse usw. gibt - in solchen Ländern, lehrten Marx und Engels,müssen die Sozialisten um jeden Preis mit dem engen Sektierertum auf-räumen und sich der Arbeiterbewegung anschließen, um das Proletariatpolitisch aufzurütteln. Denn in England wie in Amerika zeigte das Prole-tariat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fast keine politische Selb-ständigkeit. Der politische Schauplatz in diesen Ländern - in denen esfast keine bürgerlich-demokratischen historischen Aufgaben gibt - wurdeausschließlich von der triumphierenden, selbstzufriedenen Bourgeoisieeingenommen, die in der Kunst, die Arbeiter zu betrügen, zu demorali-sieren und zu bestechen, in der Welt nicht ihresgleichen findet.

Zu glauben, daß diese Ratschläge von Marx und Engels für die eng-lisch-amerikanische Arbeiterbewegung einfach und direkt auf die rus-sischen Verhältnisse angewandt werden können - heißt sich den Marxis-mus zunutze machen, nicht um sich über seine Methode klarzuwerden,nicht um die konkreten historischen Besonderheiten der Arbeiterbewe-gung in bestimmten Ländern zu untersuchen, sondern um ihn zu klein-lichen fraktionellen, intelligenzlerischen Zwecken zu mißbrauchen.

In einem Lande dagegen, wo die bürgerlich-demokratische Revolutionunvollendet geblieben ist, wo „ein mit parlamentarischen Formen ver-brämter Militärdespotismus" (ein Ausdruck von Marx in seiner „Kritikdes Gothaer Programms")118 herrschte und herrscht, wo das Proletariatbereits seit langem in die Politik einbezogen ist und eine sozialdemo-kratische Politik betreibt - in einem solchen Land fürchteten Marxund Engels vor allem die parlamentarische Verflachung, die philister-hafte Herabwürdigung der Aufgaben und des Schwungs der Arbeiter-bewegung.

In der Epoche der bürgerlich-demokratischen Revolution in Rußlanddiese Seite des Marxismus zu betonen und in den Vordergrund zurücken, sind wir um so mehr verpflichtet, als bei uns eine weitverbreitete,„glänzende", reiche bürgerlich-liberale Presse mit Tausenden Stimmendem Proletariat die „vorbildliche" Loyalität, die parlamentarische Lega-

24»

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lität, die Bescheidenheit und Mäßigung der benachbarten deutschen Arbei-terbewegung anpreist.

Diese eigennützige Lüge der bürgerlichen Verräter an der russischenRevolution entsprang nicht einem Zufall und nicht der persönlichen Ver-derbtheit irgendwelcher ehemaligen oder künftigen Minister aus demkadettischen Lager, sondern den tiefgreifenden, ökonomischen Interessender liberalen Gutsbesitzer und der liberalen Bourgeois in Rußland. Undim Kampf gegen diese Lüge, diese „Massenverdummung" (ein Ausdruckvon Engels in dem Brief vom 29. November 1886)119 müssen die Briefevon Marx und Engels allen russischen Sozialisten als eine unersetzlicheWaffe dienen.

Die eigennützige Lüge der liberalen Bourgeois verweist das Volk aufdie vorbildliche „Bescheidenheit" der deutschen Sozialdemokraten. DieFührer dieser Sozialdemokraten, die Begründer der Theorie des Marxis-mus, sagen uns:

„Die revolutionäre Sprache und Aktion der Franzosen hat die Heul-meierei der Vierecks u. Co." (opportunistische Sozialdemokraten in derdeutschen sozialdemokratischen Reichstagsfraktion) „erst recht matt er-scheinen lassen" (es handelt sich um die Bildung einer Arbeiterpartei inder französischen Kammer und um den Decazeviller Streik, der die fran-zösischen Radikalen vom französischen Proletariat abspaltete120), „undso sind in der letzten Sozialistengesetzdebatte nur Bebel und Liebknechtaufgetreten, und beide sehr gut. Mit dieser Debatte können wir uns wie-der in anständiger Gesellschaft sehen lassen, was keineswegs mit allen derFall war. überhaupt ist es gut, daß den Deutschen, namentlich seitdemsie so viel Philisterelemente gewählt (was freilich unvermeidlich war), dieFührung" (der internationalen sozialistischen Bewegung) „etwas strei-tig gemacht wird. 3n "Deutschland wird alles in ruhigen Zeiten philister-haft; da ist der Stachel der französischen Konkurrenz absolut nötig . . . "(Brief vom 29. April 1886.)m

Das sind die Lehren, die sich die Sozialdemokratische ArbeiterparteiRußlands, die unter dem ideologischen Einfluß vor allem der deutschenSozialdemokratie steht, am gründlichsten zu eigen machen muß.

Diese Lehren werden uns nicht vermittelt durch diese oder jene ver-einzelte Stelle aus dem Briefwechsel der größten Männer des 19. Jahr-hunderts, sondern durch den ganzen Geist und den ganzen Inhalt ihrer

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Vorwort zu den Briefen an Sorge 373

kameradschaftlichen, offenen, jeder Diplomatie and kleinlichen Erwägun-gen abgeneigten Kritik an den internationalen Erfahrungen des Prole-tariats.

Wie sehr alle Briefe von Marx und Engels in der Tat von diesem Geistdurchdrungen sind, zeigen auch folgende Stellen, die zwar Fragen ver-hältnismäßig spezieller Art betreffen, dafür aber höchst charakteristischsind.122

Im Jahre 1889 begann in England eine junge, frische, von neuem, revo-lutionärem Geist erfüllte Bewegung ungelernter, unqualifizierter, ein-facher Arbeiter (Arbeiter der Gaswerke, Hafenarbeiter usw.). Engels wardavon begeistert. Er hebt triumphierend die Rolle der Tochter von Marx,Tussy, hervor, die unter ihnen Agitation betrieb. „Das widerwärtigstehier ist", schreibt er aus London am 7. Dezember 1889, „die den Arbei-tern tief ins Fleisch gewachsne bürgerliche ,respectability'*. Sozial ist dieGliederung der Gesellschaft in zahllose, unbestritten anerkannte, Abstu-fungen, von denen jede ihren eignen Stolz, aber auch ihren angebornenRespekt vor ihren ,betters'** und ,superiors'*** hat, so alt und fest-gegründet, daß die Bourgeois noch immer das Ködern ziemlich leichthaben. Ich bin keineswegs sicher, z. B., daß John Burns nicht auf seinePopularität bei Kardinal Manning, dem Lord Mayor+ und den Bourgeoisüberhaupt im stillen stolzer ist als auf die bei seiner eignen Klasse. UndChampion - Exleutnant - hat vor Jahren mit bürgerlichen, namentlichkonservativen Elementen gemogelt, auf dem pfäffischen Church Con-gressw Sozialismus gepredigt etc. Und selbst Tom Mann, den ich fürden Bravsten halte, spricht gern davon, daß er mit dem Lord Mayor lun-chen wird. Wenn man dagegen die Franzosen hält, merkt man doch, wozueine Revolution gut ist."123

Kommentar überflüssig.Ein weiteres Beispiel. Im Jahre 1891 bestand die Gefahr eines euro-

päischen Krieges. Engels korrespondierte darüber mit Bebel, und siewaren sich darüber einig, daß sich die deutschen Sozialisten bei einem

* Wohlanständigkeit. Der Tibers.** Bessergestellten. Der Tibers.

*** übergeordneten. Der Tibers.+ Oberbürgermeister. Der Tibers.

•H- Kirchenkongreß. Der Tibers.

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374 "W. 3. Lenin

Angriff Rußlands auf Deutschland verzweifelt mit den Russen und mitallen Verbündeten der Russen werden schlagen müssen. „Wird Deutsch-land erdrückt, dann auch wir, während der Kampf im günstigsten Falleein so heftiger wird, daß Deutschland sich nur durch revolutionäre Mittelhalten kann und daß daher sehr möglicherweise wir gezwungen werden,ans Ruder zu kommen und 1793 zu spielen." (Brief vom 24. Okto-ber 1891.)m

Mögen sich das jene Opportunisten merken, die vor aller Welt dasGeschrei erhoben, die „jakobinischen" Perspektiven der russischen Ar-beiterpartei im Jahre 1905 seien etwas Nichtsozialdemokratisches!Engels wies Bebel geradezu auf die Möglichkeit hin, daß sich die So-zialdemokraten an einer provisorischen Regierung werden beteiligenmüssen.

Es ist durchaus natürlich, daß Marx und Engels bei solchen Auffas-sungen von den Aufgaben der sozialdemokratischen Arbeiterparteienvom freudigsten Glauben an die russische Revolution und ihre gewaltigeBedeutung für die ganze Welt erfüllt waren. Durch eine Zeitspanne vonfast zwanzig Jahren können wir in dem vorliegenden Briefwechsel diesesleidenschaftliche Warten auf die Revolution in Rußland verfolgen.

Da ist der Brief von Marx vom 27. September 1877. Die orientalischeKrise125 löst bei Marx helle Freude aus. „Rußland . . . stand schon langan der Schwelle einer Umwälzung; alle Elemente dazu fertig. Die bravenTürken haben die Explosion um Jahre beschleunigt durch die Keile, dies i e . . . höchsteigen persönlich erteilt. Die Umwälzung wird secundumartem" („nach allen Regeln der Kunst") „mit Konstitutionsspielereienbeginnen, et puis il y aura un beau tapage" (und dann wird es einenschönen Spektakel geben). „Wenn uns Mutter Natur nicht besondersungünstig, erleben wir den Jubel noch!"126 (Marx war damals 59 Jahrealt.)

Mutter Natur ließ Marx „den Jubel" nicht erleben — und konnte eswohl auch nicht. Aber die „Konstitutionsspielereien" hat er vorausgesagt,und seine Worte erwecken den Eindruck, als wären sie erst gestern überdie erste und über die zweite russische Duma geschrieben worden. Unddie Warnung des Volkes vor „Konstitutionsspielereien" bildete ja den„lebendigen Odem" der den Liberalen und den Opportunisten so ver-haßten Boykottaktik...

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Vorwort zu den Briefen an Sorge 375

Da ist der Brief von Marx vom 5. November 1880. Er frohlockt überden Erfolg des „Kapitals" in Rußland und ergreift Partei für die Narodo-wolzen gegen die damals eben entstandene Gruppe der „schwarzenUmteiler". Marx erfaßte richtig die anarchistischen Elemente in ihrenAnsichten, und da er damals von der sich anbahnenden Evolution dervolkstümlerischen „schwarzen Umteiler" zu Sozialdemokraten nichtwußte und auch nicht wissen konnte, griff er die „schwarzen Umteiler"mit aller Schärfe seines beißenden Sarkasmus an:

„Diese Herrn sind gegen alle politisch-revolutionäre Aktion. Rußland solldurch einen Salto mortale ins anarchistisch-kommunistisch-atheistische Millen-nium springen! Unterdes bereiten sie diesen Sprung vor durch ennuyantenDoktrinarismus, dessen sogenannte principes courent la nie depuis feuBakounine*."07

Man kann daraus ersehen, wie Marx für das Rußland des Jahres 1905und der nachfolgenden Jahre die Wichtigkeit „politisch-revolutionärerAktionen" der Sozialdemokratie eingeschätzt hätte.**

Da ist der Brief von Engels vom 6. April 1887. „Dagegen scheint dieKrisis in Rußland bevorzustehn. Die letzten Attentate haben dem Faßden Boden so ziemlich ausgeschlagen . . . " Ein Brief vom 9. April 1887 -dasselbe . . . „Die Armee ist voll malkontenter konspirierender Offiziere."(Engels stand damals unter dem Eindruck des revolutionären Kampfesder Narodowolzen, er setzte seine Hoffnungen auf die Offiziere und sahnoch nicht den revolutionären Geist des russischen Soldaten und Matro-sen, der sich achtzehn Jahre später so glänzend offenbaren sollte.. .). . . „Ich glaube nicht, daß es noch dies Jahr vorhält; wenn t s erst in Ruß-land losgeht, dann Hurra!"129

Der Brief vom 23. April 1887: „In Deutschland Verfolgung über Ver-folgung" (gegen die Sozialisten). „Es scheint, Bismarck will alles fertig

* Prinzipien seit Bakunin selig auf der Straße streunen. Der Tibers.** Apropos. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, erzählten mir Plecha-

now oder W. I. Sassulitsch 1900-1903 von einem Brief Engels' an Plechanowüber „Unsere Meinungsverschiedenheiten" und über den Charakter der, in Ruß-land bevorstehenden Revolution. Es wäre interessant, genas zu erfahren, obes einen solchen Brief gab, ob er erhalten ist und ob es nicht an der Zeit wäre,ihn zu veröffentlichen.128

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376 W J.Lenin

haben, damit "bei Ausbruch der Revolution in Rußland, die jetzt wohl nurnoch eine Frage von Monaten, auch in Deutschland gleich losgeschlagenwerden kann."130

Die Monate zogen sich sehr, sehr in die Länge. Kein Zweifel, daß sichPhilister finden werden, die stirnrunzelnd, mit strenger Miene Engels'„Revolutionarismus" scharf verurteilen oder sich herablassend über diealten Utopien des alten revolutionären Emigranten lustig machen.

Jawohl, Marx und Engels irrten viel und häufig in der Bestimmung derZeitspanne bis zur Revolution, in ihren Hoffnungen auf den Sieg der Revo-lution (z. B. 1848 in Deutschland), in dem Glauben an die nahe bevor-stehende deutsche „Republik" („Für Republik zu sterben", schrieb Engelsüber diese Epoche, sich an seine Stimmung als Teilnehmer der militäri-schen Reichsverfassungskampagne 1848/49 erinnernd131). Sie irrten imJahre 1871, als sie dabei waren, „das südliche Frankreich zum Aufstandzu bringen, und dafür haben" sie (Becker schreibt „wir" und meint damitsich und seine nächsten Freunde: Brief Nr. 14 vom 21. Juli 1871) „wasmenschenmöglich ist gewirkt, geopfert und gewagt". In dem gleichenBrief: „Hätten wir im März und April über mehr Mittel verfügt, so hät-ten wir das ganze mittägliche Frankreich zur Schiiderhebung gebrachtund die Kommune in Paris gerettet." (S. 29.) Aber soldbe Fehler der Gi-ganten des revolutionären Denkens, die das Proletariat der ganzen Weltüber die kleinlichen, alltäglichen Groschenaufgaben zu erheben suchtenund erhoben, sind tausendmal edler, erhabener, bistorisdb wertvoller undwahrhafter als die banale Weisheit des zopfigen Liberalismus, der dekla-miert, lamentiert, trompetet und orakelt über die Eitelkeit der revolutio-nären Eitelkeiten, über die Vergeblichkeit des revolutionären Kampfes, überden Zauber konterrevolutionärer „konstitutioneller" Hirngespinste . . .

Die russische Arbeiterklasse wird sich durch ihre mit vielen Fehlernbehafteten revolutionären Aktionen die Freiheit erkämpfen und Europaeinen Anstoß geben - fade Tröpfe aber mögen sich brüsten mit der Un-fehlbarkeit ihrer revolutionären Untätigkeit.

6. April 1907

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377

DIE DUMA UND DIE RUSSISCHEN LIBERALEN

St. Petersburg, 10. April

Die Stimmung der sogenannten russischen „Gesellschaft" ist gedrückt,eingeschüchtert, verwirrt. Und der Artikel des Herrn F. Malower132 -der sein Pseudonym* äußerst treffend gewählt hat - im „Towarischtsch"vom Sonntag (8. April) stellt eben darum eine aufschlußreiche undcharakteristische Erscheinung dar, weil er diese Stimmung richtig wider-spiegelt.

Der Artikel des Herrn Malower ist betitelt: „Duma und Gesellschaft"*Unter Gesellschaft versteht er hier entsprechend dem alten russischenSprachgebrauch das Häuflein liberaler Beamter, bürgerlicher Intellek-tueller, sich langweilender Rentiers und anderer dünkelhafter, selbstzu-friedener, müßiger Leute, die sich einbilden, das Salz der Erde zu sein,sich selber stolz als „Intelligenz" bezeichnen, die „öffentliche Meinung"machen usw. usf.

Herrn Malower „scheint der gegen die Duma gerichtete Feldzug, derin den letzten Tagen in den Spalten der Linkspresse zu beobachten ist,äußerst riskant". Das ist der Grundgedanke des Artikels. Die Beweis-führung des Herrn Malower besteht darin, daß er sich auf die Stimmungder Gesellschaft beruft. Die Gesellschaft sei müde geworden, „entsageresigniert" der Politik, protestiere nicht gegen Gemeinheiten, lese in denBibliotheken und kaufe in den Buchhandlungen „leichte" Belletristik.„Ein schlappes Milieu . . . " „damit die Duma auflebt, ist es nötig, daß dasLand von neuem auflebt." „Die Duma könnte natürlich in jedem gegebe-

* „Malower" - der Kleingläubige. Der Tibers.

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378 IV.I.Lenin

nen Augenblick eines heldenhaften Todes sterben, aber nach den um-laufenden Gerüchten zu urteilen, käme das nur denjenigen gelegen, diedie Duma unfreiwilligerweise aus der Taufe gehoben haben. Was aberwürde das Volk dabei gewinnen, außer einem neuen Wahlgesetz?"

Wir führen diese Zitate an, weil sie typisch sind für die überwiegendeMehrheit der russischen Liberalen und für das ganze intellektuelle Ge-sinde des Liberalismus.

Man beachte, daß in dem letzten Satz an Stelle der „Gesellschaft"plötzlich das „Volk" auftaucht! Der Kleingläubige, Herr Malower, dervor sich selbst Versteck spielt (wie das alle intelligenzlerischen Kleingläu-bigen stets tun), hat seine ganze Beweisführung gefälscht, hat die Sacheso hingestellt, als ob die vielberühmte „Gesellschaft" wirklich die „Unter-stützung von außen" oder die Haltung der Massen bestimme. Aber wiegerissen diese Fälschung auch war, sie ist trotzdem mißlungen: man mußtevon der „Gesellschaft" zum „Volk" übergehen. Und der ganze Staub,der sich in den sorgfältig gegen die Straße abgeschirmten und geschütz-ten, ungelüfteten und muffigen Kabinetten der Männer aus der „Gesell-schaft" angesammelt hat, wirbelt in Wolken auf, sobald die Tür zur„Straße" auch nur einen Spalt breit geöffnet wird. Die Sophistik desStockfisches*, der sich für „intelligent" und „gebildet" hält, wird vor allerAugen offenbar.

Thesis: Der Feldzug der Linken gegen die Duma ist riskant.Beweis: Die Qesettsdbaft ist müde geworden und entsagt resigniert der

Politik, sie gibt leichter Belletristik den Vorzug.Schlußfolgerung: Von einem Heldentod der Duma hätte das Volk nicht

den geringsten Nutzen.Die politische Losung: „Jetzt zweifelt wohl schon niemand mehr daran,

daß in nächster Zukunft ein politischer Kampf nur zur Festigung und Er-weiterung der Rechte der Duma geführt werden kann, da sie das ein-zige (!) Instrument des Kampfes gegen die Regierung ist, das das Volk (!)vorläufig in Händen hat."

Nicht wahr, eine unvergleichliche Logik von konterrevolutionärenHeuchlern, die sich in die vornehme Toga des Skeptizismus und blasier-ten Gleichmuts hüllen.

* Titel eines Märchens von Saltykow-Schtschedrin. Der Tibers.

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Die Duma und die russischen Liberalen 379

Thesis: Wir, die „Gesellschaft", sitzen im Dreck. Ihr, die Linken, ver-sucht ihn wegzufegen? Rührt ihn nicht an, der Dreck stört uns nicht.

Beweis: Wir sind der (nicht von uns unternommenen) Versuche müdegeworden, den Dreck wegzuräumen. Unsere Stimmung hinsichtlich desWegräumens ist unentschlossen.

Schlußfolgerung: Es ist riskant, den Dreck anzurühren.Die Betrachtungen der Herren Kleingläubigen sind von großer Bedeu-

tung, denn sie spiegeln, wir wiederholen das, richtig eine Stimmung wi-der, deren Quelle in letzter Instanz der Kämpf der Klassen in der russi-schen Revolution ist. Die Müdigkeit der Bourgeoisie und ihr Hang zur„leichten" Belletristik sind keine zufällige, sondern eine unvermeidlicheErscheinung. Die Gruppierung der Bevölkerung nach Parteien, diese wich-tigste Lehre und wichtigste politische Errungenschaft der Revolution wäh-rend der Wahlen zur II. Duma, zeigte anschaulich an Hand von Tatsachenin gesamtnationalem Maßstab diese Rechtsschwenkung breiter Schichtender Gutsbesitzer und der Bourgeoisie. Die „Gesellschaft" und die „Intel-ligenz" sind einfach klägliche, kümmerliche, feige und niederträchtigeSchleppenträger dieser oberen Zehntausend.

Ein großer Teil der bürgerlichen Intelligenz lebt und nährt sich vomTische derjenigen, die der Politik den Rücken kehren. Nur wenige Intel-lektuelle arbeiten in Propagandazirkeln der Arbeiterpartei und kennenden „Wolfshunger" der Volksmassen nach politischen Büchern und Zei-tungen, nach sozialistischem Wissen aus Erfahrung. Und natürlich neh-men solche Intellektuelle wenn nicht den Heldentod, so doch tatsächlichdas heldenhafte Zuchthausleben des schlecht bezahlten, immer hungrigen,ewig übermüdeten, aufs äußerste überanstrengten „einfachen" Partei-funktionärs auf sich. Als Belohnung dient einer soldben Intelligenz, daßsie sich befreit hat von den Misthaufen der „Gesellschaft" und sich keineGedanken mehr darüber zu machen braucht, daß ihr Auditorium Gleich-mut gegenüber gesellschaftlich-politischen Fragen an den Tag legenkönnte. Ein „Intellektueller" aber, der es nicht versteht, ein diesen Fra-gen gegenüber nicht gleichgültiges Auditorium zu finden, ähnelt docheinem „Demokraten" und einem Intellektuellen im guten Sinn des Wor-tes genausowenig, wie eine Frau, die sich des Geldes wegen in eine legaleEhe verkauft hat, einer liebenden Gattin ähnelt. Sowohl hier wie dort

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380 WJ.Lenin

handelt es sich um einfache Spielarten einer offiziell hochanständigen undvöllig legalen Prostitution.

Die Linksparteien dagegen sind nur insoweit wirklich Linksparteienund verdienen diese Bezeichnung nur insoweit, als sie die Interessen unddie Mentalität nicht der „Gesellschaft", nicht der Häuflein alles möglichenjammernden Intellektuellenplunders zum Ausdruck bringen und wider-spiegeln, sondern der untersten Schichten des Volkes, des Proletariatsund eines gewissen Teils der ländlichen und städtischen kleinbürgerlichenMasse. Linksparteien sind diejenigen, deren Auditorium gesellschaftlich-politischen Fragen gegenüber niemals gleichgültig ist, so wie einem Hung-rigen ein Stückchen Brot niemals gleichgültig ist. Ein „gegen die Dumagerichteter Feldzug" dieser Linksparteien ist die Widerspiegelung einerbestimmten Strömung in den untersten Volksschichten, ist der Widerhalleiner gewissen... nun, sagen wir, Massenempörung gegen die selbst-zufriedenen Narzisse, die in die sie umgebenden Misthaufen verliebt sind.

Einer dieser Narzisse, Herr F. Malower, schreibt: „Die Mentalität derVolksmassen ist für die Periode, die wir durchleben, eine absolut unbe-kannte Größe, und niemand wird sich dafür verbürgen, daß diese Massenauf die Auflösung der zweiten Duma anders reagieren werden, als sie aufdie Auflösung der ersten Duma reagiert haben."

Wodurch unterscheidet sich das von der Mentalität einer „ehrbarenFrau" aus der bürgerlichen Gesellschaft, die erklärt: Niemand wird sichdafür verbürgen, daß ich nicht aus Liebe denjenigen heiraten werde, deram meisten für mich zahlt?

Und Ihre eigenen Gefühle, Madame, können niemandem als Bürgschaftdienen? Und Sie, meine Herren Kleingläubigen, fühlen Sie sich nicht alsein Teilchen der „Volksmassen", fühlen Sie sich nicht als Beteiligter(nicht nur als Zuschauer), sind Sie sich nicht bewußt, einer der Schöpferder allgemeinen Stimmung, eine der vorwärtstreibenden Kräfte zu sein?

Die Bourgeoisie „wird sich nicht verbürgen" dafür, daß das Proleta-riat von Niederlagen zum Sieg schreitet. Das Proletariat wird sich ver-bürgen dafür, daß die Bourgeoisie sich sowohl bei Niederlagen als auchbei Siegen des Volkes im Kampf um die Freiheit durch die gleiche Nie-dertracht auszeichnet.

Mögen die Sozialdemokraten, die zu Schwankungen und Zweifeln nei-gen, an den Beispielen der Herren Kleingläubigen lernen, mögen sie

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T>ie t>uma und die russischen Liberalen 381

begreifen lernen, bis zu welchem Grade reaktionär heute nicht nur dieRedereien über die von den Sozialdemokraten gegenüber den Liberaleneingenommene „einseitig-feindliche" Haltung sind, sondern auch dieRedereien über eine „gesamtnationale" Revolution (mit den Kleingläu-bigen an der Spitze!?).

„Nasche Echo" Nr. u, Nach dem Jext von10. April 1907. „Nasche Echo".

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FRANZ MEHRING ÜBER DIE ZWEITE DUMA

In einer der letzten Nummern der deutschen sozialdemokratischenZeitschrift „Die Neue Zeit"* erschien ein Leitartikel mit der üblichenChiffre des üblichen „Leitartiklers" dieser Zeitschrift, Franz Mehrings.Der Autor hebt hervor, daß in den üblichen Etatsdebatten die sozial-demokratischen Redner Singer und David die Gelegenheit benutzt haben,zu zeigen, wie standhaft die bei den letzten Wahlen angeblich besiegteSozialdemokratie ihre proletarische Position verteidigt. Die deutschenLiberalen dagegen, die sich bei den Wahlen gegen das klerikale „Zen-trum" und gegen die Sozialdemokratie mit der Regierung zusammen-getan hatten, waren in die jämmerliche Lage von erniedrigten Verbün-deten der Reaktion geraten. „Gegen das eine oder das andere dürftigeTrinkgeld", sagt Mehring, „soll die liberale Bourgeoisie die willige Dirnedes ostelbischen Junkertums spielen."

Wir zitieren diese scharfen Worte präzise, um den Lesern anschaulichzu zeigen, wie sich die sozialdemokratische Fragestellung bezüglich derLiberalen in Deutschland in Ton und Inhalt von der Fragestellung unter-scheidet, die man jetzt häufig in den russischen Kadettenzeitungen an-trifft. Bekanntlich haben diese Zeitungen anläßlich des Ausgangs derWahlen in Deutschland ein ganz anderes Lied angestimmt; sie sprachenvon Fehlern der Sozialdemokratie, die, so hieß es, die bürgerliche Demo-kratie ignoriert oder ihr gegenüber eine „einseitig-feindliche" Haltungeingenommen habe usw.

Aber das nur nebenbei. Uns interessiert hier Mehrings Einschätzungnicht des deutschen Liberalismus, sondern der russischen Duma und des

* Nr. 23 (25. Jahrg., Bd. 1) vom 6. März 1907.

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franz !Mehrincj über die zweite T)uma 383

russischen dberdlismus, dessen Losungen („die Duma erhalten", „posi-tive Arbeit" leisten) er wunderbar treffend und klar analysiert.

Wir bringen die vollständige Übersetzung des ganzen zweiten Teilsvon Mehrings Artikel.

DEUTSCHER LIBERALISMUS U N D R U S S I S C H E D U M A

Um die unendliche Kläglichkeit dieser Debatten* zu verstehen, lohntes sich wohl, einen Augenblick sechzig Jahre zurückzublicken, auf denVereinigten Landtag in Berlin, wo die Bourgeoisie zum ersten Male ihreLenden zum parlamentarischen Kampfe gürtete. Eine Heldengestalt warsie auch damals nicht, wie Karl Marx sie geschildert hat: „Ohne Glau-ben an sich selbst, ohne Glauben an das Volk, knurrend gegen oben,zitternd gegen unten, egoistisch nach beiden Seiten und sich ihres Egois-mus bewußt, revolutionär gegen die Konservativen, konservativ gegen dieRevolutionäre, ihren eigenen Stichworten mißtrauend . . . , eingeschüch-tert vom Weltsturm, den Weltsturm exploitierend - Energie nach keinerRichtung, Plagiat nach allen Richtungen, gemein, weil sie nicht originellwar, originell in der Gemeinheit - schachernd mit ihren eigenen Wün-schen, ohne Initiative, ohne weltgeschichtlichen Beruf - ein vermaledeiterGreis, der sich dazu verdammt sah, die ersten Jugendströmungen einesrobusten Volks in seinem eigenen altersschwachen Interesse zu leiten undabzuleiten - ohn' Aug! ohn' Ohr! ohn5 Zahn, ohn' alles."133

Aber bei alledem verstand die damalige Bourgeoisie doch noch, denDaumen auf den Beutel zu halten, dem König- und dem Junkertum dieTemporalien zu sperren, ehe denn ihr eigenes Recht gesichert war, lieberder königlichen Ungnade zu trotzen, als dem königlichen Bankrott da-durch abzuhelfen, daß sie ihr Erstgeburtsrecht opferte.

Verglichen mit den heutigen Freisinnigen, waren die Liberalen des Ver-einigten Landtags allerdings noch heller. Sie pfiffen auf das Geschwätzvon der „positiven Arbeit" und ließen lieber ein so notwendiges Werk,wie damals der Bau der Ostbahn im Interesse der Landeswohlfahrt war,ins Stocken geraten, ehe sie sich dazu bequemten, auf ihr konstitutionel-les Recht zu verzichten.

* Gemeint sind die Etatsdebatten im Reichstag.

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384 WJ. Centn

Die Erinnerung an die damalige Zeit liegt um so näher, als mit demSchlüsse der Etatsdebatte im Reichstag die Eröffnung der zweiten rus-sischen Duma zusammenfiel. Unzweifelhaft hat die parlamentarischeGeschichte der russischen Revolution bisher größere Ähnlichkeit gehabtmit der parlamentarischen Geschichte der preußischen Revolution von1848, als mit der parlamentarischen Geschichte der französischen Revo-lution von 1789; die Geschichte der ersten russischen Duma glich in man-cher Beziehung auffallend der Geschichte der Vereinbarerversammlungberufenen Angedenkens, die einst im Berliner Schauspielhaus tagte, bisauf den wirkungslos ins Wasser klatschenden Aufruf zur Steuerverwei-gerung,, den die konstitutionell-demokratische Mehrheit nach ihrer Spren-gung erließ. Auch in Preußen kam damals die neue Versammlung, diedie Regierung einberief, wie jetzt die russische Duma, mit stärkerer oppo-sitioneller Färbung zurück, um dann nach Monatsfrist wieder durch Waf-fengewalt gesprengt zu werden, und es fehlt nicht an Stimmen, die derneuen Duma ein gleiches Schicksal vorhersagen, woran denn die liberalenNeunmalweisen den trefflichen Rat fügen, sie möge durch „positiveArbeit" ihr.Leben zu erhalten und das Vertrauen des Volkes zu erwerbensuchen, was im Sinne der Ratgeber ungefähr der sinnloseste Rat ist, dersich der neuen Duma geben läßt.

Die Geschichte liebt die Wiederholungen nicht, und die neue Dumaist in ganz anderem Sinne ein Geschöpf der Revolution, wie es einst daszweite preußische Parlament war. Sie ist gewählt trotz eines Wahldrucks,gegenüber dessen Infamie und Nichtswürdigkeiten selbst der deutscheReichslügenverband beinahe noch auf milderq4e Umstände plädierendarf, und ihre Linke ist nicht mehr von der konstitutionellen Demokratiebeherrscht, sondern durch eine starke sozialistische Fraktion gestählt.Zudem hat es mit ihrer baldigen Auflösung einen besonderen Haken. DerZarismus hätte sich nicht erst die Mühe gemacht, einen gewaltsamenWahldruck der mühseligsten nicht minder als der widerlichsten Art aus-zuüben, wenn es.ganz in seinem Belieben stünde, die Duma auseinander-zujagen oder nicht. Er braucht aber seinen Gläubigern gegenüber eineVolksvertretung, die ihn vor dem finanziellen Bankrott rettet, und er hatnicht die geringste Möglichkeit - selbst wenn ihm das Feuer nicht aufdie Nägel brannte - , ein noch elenderes Wahlgesetz zu ersinnen und einennoch grausameren Wahldruck auszuüben. •

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3ranz Tdehring über die zweite T>uma 385

In dieser Beziehung hatte die preußische Reaktion im Jahre 1849 aller-dings noch einen großen Trumpf auszuspielen, indem sie das allgemeineWahlrecht kassierte, das Dreiklassenwahlrecht oktroyierte und sich soeine sogenannte Volksvertretung verschaffte, die ihr keinen ernsthaftenWiderstand entgegensetzte, aber den Staatsgläubigern noch die nötigeGarantie bot.

Die russische Revolution hat gerade auch durch die Wahl dieser Dumabewiesen, daß sie einen ungleich längeren und tieferen Atem hat, alsehedem die deutsche Revolution hatte. Es ist auch ganz sicher, daß sie dieneue Duma nicht.um nichts und wieder nichts gewählt hat, sondern sichrecht behaglich darin einzurichten gedenkt. Jedoch sie würde sich selbstbetrügen, wenn sie sich auf die weisen Ratschläge der. deutschen Libe-ralen einließe und in deren Sinne durch „positive Arbeit" das Vertrauendes Volkes.zu gewinnen suchte; damit würde sie nur denselben Weg desJammers und der Schande betreten, den der deutsche Liberalismus seitsechzig Jahren gewandelt ist. Was dieser sonderbare Held unter „posi-tiver Arbeit" versteht, würde darauf hinauslaufen, daß die neue Dumadem Zarismus aus seiner finanziellen Klemme hülfe und sich dafür durchdas eine oder das andere dürftige Trinkgeld von „Reformen" abspeisenließe, wie sie ein Ministerium Stolypin auszuhecken versteht. ,

Oder um den Begriff der „positiven Arbeit" an einem historischen Bei-spiel zu erläutern: Wenn die französische Bauernbefreiung durch dieNationalversammlung in einer einzigen Sommernacht des Jahres 1789vollbracht wurde, so war das nach dem geflügelten Worte des gefeiertstenHelden, den die konstitutionelle Demokratie je gehabt hat, des genial-feilen Abenteurers Mirabeau, eine „widerliche Orgie", während es nachunserer Auffassung „positive Arbeit" war. Umgekehrt: Wenn sich diepreußische Bauernbefreiung sechzig Jahre hinschleppte, von 1807 bis1865, unter unsäglichem Hängen und Würgen und grausam-ruchlosemErschlagen unzähliger Bauernexistenzen, so war das nach Ansicht unsererLiberalen „positive Arbeit", über die sie nicht genug in die Posaune bla-sen können, während es nach unserer Auffassung eine „widerliche Orgie"war.

Also - „positive Arbeit" wird die neue Duma gewiß leisten müssen,wenn sie ihrer historischen Aufgabe gerecht werden will. Darüberherrscht die erfreulichste Übereinstimmung. Es kommt nur darauf an, was

25 Lenin, Werke, Bd. 12

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für eine Art „positive Arbeit". Wir an unserem Teile hoffen und wün-schen, daß sie sich als ein Werkzeug der russischen Revolution erweisenwird, wie sie als Geschöpf dieser Revolution geboren ist.

Dieser Artikel Mehrings fordert unwillkürlich zum Nachdenken überdie gegenwärtigen Strömungen in der russischen Sozialdemokratie heraus.

Vor allem muß bemerkt werden, daß der Autor, wo er die russischeRevolution des Jahres 1905 und der folgenden Jahre mit der deutschenvon 1848 und 1849 vergleicht, die erste Duma mit der berühmten „Ver-einbarerversammlung" vergleicht. Der zitierte Ausdrude stammt vonMarx. Er verlieh diesen Beinamen in seiner „Neuen Rheinischen Zei-tung"134 den deutschen Liberalen jener Epoche. Und dieser Beiname gingin die Geschichte ein als unverlierbarer Besitz des proletarischen Denkensbei Beurteilung der bürgerlichen Revolution.

„Vereinbarer" nannte Marx die deutschen Liberalen der Revolutions-epoche, weil der politischen Taktik der liberalen Bourgeoisie damals die„Vereinbarungstheorie" zugrunde lag, die Theorie der Vereinbarung derKrone mit dem Volk, der alten Staatsmacht mit den Kräften der Revolu-tion. Diese Taktik brachte die Klasseninteressen der deutschen Bour-geoisie in der deutschen bürgerlichen Revolution zum Ausdruck: dieBourgeoisie fürchtete die Zuendeführung der Revolution, fürchtete dieSelbständigkeit des Proletariats, fürchtete den vollen Sieg der Bauern-schaft über ihre mittelalterlichen Ausbeuter, die Gutsbesitzer, deren Wirt-schaft damals noch viele feudale Züge aufwies. Die Klasseninteressender Bourgeoisie drängten sie zur Verständigung mit der Reaktion (zur„Vereinbarung") gegen die Revolution, und die liberalen Intellektuellen,die die „Vereinbarungstheorie" ausgeheckt hatten, bemäntelten damitihren Abfall von der Revolution.

Das ausgezeichnete Zitat, das Mehring anführt, zeigt deutlich, wieMarx in der Revolutionsepoche diese Vereinbarerbourgeoisie geißelte.Und wer Mehrings Ausgabe der Werke von Marx und Engels aus denvierziger Jahren, besonders ihre Artikel aus der „Neuen RheinischenZeitung", kennt, der weiß natürlich, daß man eine ganze Reihe soldherZitate anführen könnte.

Mögen darüber diejenigen nachdenken, die wie Plechanow versuchen,

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Jranz Mehring über die zweite Duma 387

sich auf Marx zu berufen, um die Taktik des "rechten Flügels der Sozial-demokratie in der russischen bürgerlichen Revolution zu rechtfertigen!Die Argumentation solcher Leute beruht auf einer unpassenden Auswahlvon Zitaten: sie greifen allgemeine Thesen über die Unterstützung derGroßbourgeoisie gegen das reaktionäre Kleinbürgertum heraus und wen-den sie kritiklos auf die russischen Kadetten, auf die russische Revolu-tion an.

Mehring erteilt diesen Leuten eine gute Lektion. Wer sich bei Marxüber die Aufgaben des Proletariats in der bürgerlichen Revolution Ratserholen will, der muß diejenigen Urteile von Marx nehmen, die sicheben auf die Epoche der deutschen bürgerlichen Revolution beziehen.Und nicht umsonst gehen unsere Menschewiki diesen Urteilen so ängst-lich aus dem Wege! In diesen Urteilen finden wir den vollsten, den klar-sten Ausdruck jenes schonungslosen Kampfes gegen die 'Vereinbarerbour-geoisie, den die russischen „Bolschewiki" in der russischen bürgerlichenRevolution führen.

Während der deutschen bürgerlichen Revolution betrachtete Marx esals die Hauptaufgabe des Proletariats, die Revolution zu Ende zu füh-ren, sich die führende Rolle zu erkämpfen, den Verrat der „Vereinbarer" -bourgeoisie zu entlarven und die Volksmassen und besonders die Bauern-schaft* aus der Einflußsphäre dieser Bourgeoisie herauszulösen. Das isteine historische Tatsache, die nur diejenigen verschweigen oder umgehenkönnen, die den Namen von Marx mißbräuchlich im Munde führen.

Eng und untrennbar verbunden damit ist die Einschätzung der „posi-tiven Arbeit" und der „widerlichen Orgie" bei Mehring.

Diese seine Parallele trifft so haargenau auf die russischen Liberalen,die Kadetten, zu, die jetzt in der zweiten Duma den Haushalt der stand-rechtlichen Selbstherrschaft verabschieden, daß den Worten Mehringsetwas hinzuzufügen im Grunde nur bedeuten würde, sie abzuschwächen.

Wir konfrontieren die Fragestellung Mehrings mit der Fragestellungdes rechten Flügels der deutschen Sozialdemokraten. Den Lesern istnatürlich bekannt, daß Mehring ebenso wie das ganze Redaktionskolle-

* Die deutsche Bourgeoisie verrät ihre natürlichsten "Bundesgenossen, dieTSauernsdhaft, sagte Marx im Jahre 1848, als er die Rolle der Bauernschaft inder bürgerlichen Revolution einschätzte.135

25«

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388 TV.lZenin

gium der „Neuen Zeit" auf dem Standpunkt der revolutionären Sozial-demokratie steht. Die entgegengesetzte, opportunistische Haltung neh-men die Bernsteinianer ein. Ihr Hauptorgan sind die „SozialistischenMonatshefte". Im letzten Heft dieser Zeitschrift (April 1907) finden wirden Artikel eines gewissen Herrn Roman Streltzow: „Das zweite rus-sische Parlament". Der Artikel strotzt von boshaften Ausfällen gegendie Bolschewiki, die der Autor, wahrscheinlich damit es recht giftig klingt,„Leninianer" nennt. Wie gewissenhaft dieser Strelitze das deutsche Publi-kum unterrichtet, ist schon daraus ersichtlich, daß er zwar die schärfstenStellen aus Lenins während der Wahlen in Petersburg geschriebenenBroschüren zitiert, die treubrüchige Spaltung, die von den Menschewikiins Werk gesetzt wurde und die den Kampf auf dem Boden der Spaltunghervorrief, dagegen verschweigt!" ,

Das jedoch nur nebenbei. Uns ist die prinzipielle Fragestellung desBernsteinianers wichtig. Er streicht die Menschewiki und besonders Ple-doanow als den reälistisdhen 7lügel der russischen Sozialdemokratie her-aus. Das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie, der „Vorwärts",bekommt für den Satz, daß das Volk nicht Fürsprecher, sondern Vor-kämpfer in die zweite Duma geschickt hat, von dem „Realisten" einenRüffel: „Der ,Vorwärts' scheint die jetzige Situation in Rußland ebensorosafarben zu sehen wie die Leninianer" (S. 295 des genannten Heftes).*Die Schlußfolgerung des Autors ist klar und bestimmt. „Also", schreibter am Ende seines Artikels, „also Erhaltung der Duma: das ist vorläufigdas Ziel der gesamten Opposition." Und weiter: Die Sozialisten solltennicht „in völlig nutzlosem Kampf gegen die Kadetten ihre Kräfte ver-geuden" (S. 296, ebenda).

Wir überlassen es dem Leser, aus einem Vergleich zwischen MehringsGedankengang über die „widerliche Orgie" und Herrn Streltzows Gedan-kengang über die Losung „Erhaltung der Duma" die Schlußfolgerungzu ziehen.

* Apropos. Es ist vielleicht nicht überflüssig, hinzuzufügen, daß wir aufjeden Fall Herrn Streltzow für sein Bestreben, die Bolschewiki bei der deut-schen Sozialdemokratie anzuschwärzen, aus tiefstem Herzen erkenntlich sind.Herr Streltzow macht das s o . . . geschickt, daß wir uns gar keinen besserenVerbündeten zur Propagierung des Bolschewismus unter den deutschen Sozial-demokraten wünschen könnten. Weiter so, weiter so, Herr Streltzow!

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Jranz Mehring über die zweite Duma <- 389

Ein solcher Vergleich ist durchaus geeignet, einen Kommentar zu derbolschewistischen und zu der menschewistischen Politik in der jetzigenDuma zu ersetzen — einen Kommentar zu dem bolschewistischen und zudem menschewistischen Resolutionsentwurf über die Stellung zur Reichs-duma.

Qesdbrieben im April 1907.

Veröftentlidbt i907 in dem Sammelband Jiaän dem 7ext des„fragen der 7aktik" II. Sammelbandes.Untersdbrift: X. 7.

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390

LARIN UND CHRUSTALJOW136

In der ersten Nummer der menschewistischen „Narodnaja Gaseta"[Volkszeitung] (vom 10. April) veröffentlichte Genosse G. Chrustaljoweinen kämpferischen, außerordentlich interessanten und (vom Standpunktder bolschewistischen Fraktion) vortrefflichen Artikel über den Arbeiter-kongreß. Für vortrefflich halten wir den Artikel deshalb, weil der Men-schewik Chrustaljow uns mit seiner Veröffentlichung genauso - wennnicht mehr - hilft wie der Menschewik Larin. Ihnen beiden in gleicherWeise dankbar, werden wir ihre Ideen dem Wesen nach analysieren unddabei beide einander anschaulich gegenüberstellen.

Erinnern wir uns, was J. Larin in seiner Broschüre „Eine breite Arbei-terpartei und der Arbeiterkongreß" propagierte. Die breite Arbeiter-partei soll, nach Larins Idee, ungefähr 900 000 von den insgesamt 9 Mil-lionen russischen Proletariern erfassen. Das „Aushängeschild" muß her-untergenommen werden, d. h., sozialdemokratisch darf diese Partei nichtsein. Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre sollen sich verschmelzen.Die neue Partei soll eigentlich eine „parteilose Partei" (wie Larin selbstsich ausdrückt) sein. Die Sozialdemokraten ebenso wie die Sozialrevolu-tionäre sollen die Rolle „von Propagandavereinen innerhalb der breitenPartei" spielen.

Jedermann sieht, daß Larins Plan völlig klar ist, und seine Ideen überden Arbeiterkongreß zeichnen sich dadurch aus, daß sie frei sind von jeg-licher Unbestimmtheit, jeglicher Nebelhaftigkeit, durch die sich Axelrodauszeichnet. Für diese Klarheit des Denkens lobten wir Bolschewiki denwahrheitsliebenden Genossen Larin und stellten sie den Nebelhaftig-keiten des „schablonenhaften Menschewismus" (ein Ausdruck Larins)

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Earin und Chrustaljow 391

gegenüber. Gleichzeitig erklären wir den Plan Larins für ein opportuni-stisches Abenteuer, weil eine Vereinigung mit den Sozialrevolutionärenund eine „parteilose Partei" nur dazu angetan wären, das Bewußtseindes Arbeiters zu trüben und die Organisierung der Sozialdemokraten zuerschweren.

Nunmehr möge der Leser den Plan des Gen. Chrustaljow aufmerksamprüfen. Er schreibt direkt: „Die Partei darf die Einberufung des Kon-gresses nicht in ihre Hand nehmen." „Die Initiative seiner Einberufungmuß bei den Gewerkschaften und bei speziellen Komitees zur Einberu-fung des Kongresses liegen."

Wie sollen diese Komitees zusammengesetzt sein?Eine direkte Antwort darauf gibt Gen. Chrustaljow nicht. Aber fol-

gende Worte enthalten eine recht klare, wenn auch indirekte Antwort:

„Wie soll sich der Kongreß zusammensetzen? Wird irgendein Zensus fest-gelegt werden?" fragt er und antwortet: „Da wir bestrebt sind, die Organi-sation zu erweitern, sprechen wir uns schon damit gegen jegliche Beschrän-kung aus. Auf dem Kongreß ist für alle gewählten Vertreter der ArbeiterPlatz. Die Gewerkschaften, die Konsumgenossenschaften, die Arbeiterkassen,die Arbeitervereinigungen für gegenseitige Hilfe, die Betriebskomitees, diespeziell zur Organisierung des Kongresses gegründeten Komitees, gewählteDeputierte der Werke und Fabriken, in denen keine Betriebskomitees be-stehen - sie alle sollen ihre Vertreter auf dem gesamtrussischen Arbeiterkon-greß haben. So wird er zusammengesetzt sein."

Das ist völlig klar. „Gegen jegliche Beschränkung" - geht alle hin,die ihr so oder so von Arbeitern gewählt wurdet. Darüber, wie man die„Arbeiter" von allen möglichen Angestellten (des Handels, der Post, desTelegrafenamts, der Eisenbahn usw.) und von Bauern, die unseren sozial-demokratischen Organisationen oder auch „Konsumgenossenschaften"angehören, abgrenzen soll, spricht der Autor nicht. Das ist gewiß einetechnische Kleinigkeit von seinem Standpunkt: „Gegen jegliche Beschrän-kung" ! wozu sollte man die kleinbürgerlichen Elemente einschränken?

Aber gehen wir weiter. Die Zusammensetzung des Kongresses hatGen. Chrustaljow klar bestimmt, über seine Aufgaben hat er sich eben-falls klar ausgesprochen. „Auf alle Fälle", so schreibt er, „werden dieKomitees des Arbeiterkongresses und die örtlichen sozialdemokratischenOrganisationen gleichzeitig bestehen."

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392 TVJ.Zenin

... „Die erste organisatorische Zelle werden die Betriebskomitees sein. Dasie teilhaben am Leben des Betriebs in allen seinen Erscheinungsformen, an-gefangen mit der Schlichtung von Konflikten zwischen Arbeit und Kapital, ander planmäßigen Leitung ökonomischer Streiks, der Arbeitsvermittlung usw.bis zur Organisierung von Kassen, Klubs, Lektionen, Bibliotheken, werdendie Betriebskomitees, die wählbar und rechenschaftspflichtig sind, breiteSchichten des Proletariats erfassen.

Die Betriebskomitees einer Stadt oder eines Industriezentrums werden einKomitee des Arbeiterkongresses bilden. Ihm wird die Leitung, die Vertiefungund Erweiterung der gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Bewegungobliegen, ferner die Organisierung von Hilfsmaßnahmen für die Arbeitslosen,die Einwirkung auf die städtischen Selbstverwaltungen zwecks Organisierungöffentlicher Arbeiten, die Agitation gegen die Lebensmittelteuerung, die Ver-bindung mit der Dumakommission zur Hilfeleistung für die Arbeitslosen, dieErörterung aller Qesetzentwürfe, die die Interessen der Arbeiterklasse berüh-ren, unten in den Betrieben (hervorgehoben vom Autor); bei einer Reform derörtlichen Selbstverwaltung wird ihm die Durchführung der Wahlkampagneusw. obliegen. >

Der Arbeiterkongreß wird nur das führende und lenkende Organ der ge-samten Bewegung sein. Das ist das ungefähre Schema. Natürlich wird dasLeben Korrekturen daran vornehmen."

Das ist völlig klar. Parteilose Betriebskomitees. Parteilose Komiteesdes Arbeiterkongresses. Ein parteiloser Arbeiterkongreß. „Durch dieseKomitees und vermittels ihrer", sagt Gen. Chrustaljow, „wird die Parteieinen mächtigen Hebel der Einwirkung auf die gesamte Arbeiterklasse indie Hand bekommen."

Es fragt sich, wodurch unterscheidet sich dies von Larin?? Das istgenau derselbe Plan, nur mit ein klein wenig anderen Worten ausge-drückt. Faktisch ist es ganz dieselbe Herabsetzung der Sozialdemo-kratie auf die Rolle eines „Propagandavereins innerhalb der breiten Par-tei", denn der „Plan" des Gen. Chrustaljow läßt der Sozialdemokratiepraktisch keine andere Aufgabe übrig. Die politische Tätigkeit der Arbei-terklasse überläßt er genauso wie Larin der „parteilosen Arbeiterpartei",denn „Erörterung aller Qesetzentwürfe", „Durchführung der Wahlkam-pagne usw.", das ist ja eben die gesamte politische Tätigkeit der Arbeiter-klasse.

Larin ist nur wahrheitsliebender und offener als Chrustaljow, praktischaber schlagen beide vor und sind beide dabei, „die Sozialdemokratische

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Sjirin und Chrustaljow 393

Arbeiterpartei zu liquidieren und eine parteilose politische Organisationdes Proletariats an ihre Stelle zu setzen". Geradeso heißt es gleich imersten Punkt der bolschewistischen Resolution über parteilose Arbeiter-organisationen, die den Gen. Chrustaljow furchtbar erboste, derentwegener uns Staatsanwälte usw. schimpfte.

Gen. Chrustaljow erboste sich deshalb, weil er die Notwendigkeit emp-fand, der in unserer Resolution direkt gestellten Frage auszuweichen:Wer soll den Kampf des Proletariats leiten, die Sozialdemokratische Par-tei oder „die parteilose politische Organisation des Proletariats"? Wersoll „das führende und lenkende Organ" sein bei der Einwirkung auf diestädtischen Selbstverwaltungen, im Verkehr mit der Dumakommission(Gen. Chrustaljow umgeht die sozialdemokratische Vumafraktion mitSchweigen! Ist das ein Zufall oder der „providentielle Schnitzer" einesMenschen, der das dunkle Gefühl hatte, daß die parteilosen „Komiteesdes Arbeiterkongresses" unterschiedslos sowohl mit den Sozialdemo-kraten als auch mit den Sozialrevolutionären und mit den Trudowiki ver-kehren werden?), bei der Erörterung der Gesetzentwürfe, bei der Durch-führung der Wahlkampagne usw. ?

Dem Gen. Chrustaljow bleibt nichts anderes übrig, als sich zu erbosen,wenn man ihm diese Frage stellt, denn zuzugeben, daß parteilose„Komitees" die politische Tätigkeit des Proletariats leiten sollen, wäredoch peinlich. „Wer von den Sozialdemokraten", fragt er ergrimmt,„betrieb oder betreibt Agitation für die Einberufung eines parteifeind-lichen Kongresses? Die Gegner werden keinen einzigen Namen nennenkönnen!" Erbosen Sie sich nicht, Gen. Chrustaljow, wir haben bereits imersten Punkt unserer Resolution eine Reihe Namen genannt! und wirkönnten jetzt den Namen des Qen. Q. Chrustaljow hinzufügen. Praktischagitiert Gen. Chrustaljow, ebenso wie Larin, für eine breite trudowi-kische Partei*. Wir sagen „trudowikische" Partei und nicht Arbeiter-partei, weil 1. weder Larin noch Chrustaljow die trudowikische, d. h.die kleinbürgerliche Demokratie (zum Beispiel Delegierte von „Konsum-genossenschaften" zum Arbeiterkongreß oder die Losung „Gegen jeg-

* Dieser Ausdruck stammt von Gen. G. Lindow, der seine Richtigkeit indem Aufsatz „Der Arbeiterkongreß", enthalten in dem Sammelband „Fragender Taktik", ausgezeichnet begründet und bewiesen hat.

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394 W.J.Lenin

liehe Beschränkung") von der parteilosen politischen Organisation aus-schließt und weil 2. Parteilosigkeit einer politischen Arbeiterorganisationunweigerlich eine Vermischung der sozialdemokratischen und der „trudo-wikischen" Auffassungen bedeutet.

Gen. Chrustaljow schreibt: „Die von Subatow und Gapon geschaf-fenen Organisationen befreiten sich schnell von dem polizeilichen Bei-geschmack und betrieben dann eine reine Klassenpolitik." Siebefreiten sichdavon dank der bewußten Einwirkung der organisierten Sozialdemokra-tisdhen Partei, die niemals damit einverstanden war, die Leitung der Poli-tik der Proletarier parteilosen Organisationen zu überlassen. Gen. Chru-staljow macht, wie es scheint, einen Unterschied zwischen der „reinenKlassen"politik und der sozialdemokratischen Politik? Wir möchten ihnsehr bitten, seinen Gedanken offen zu erläutern.

„Der Arbeiterkongreß findet statt", gebietet Gen. Chrustaljow, „unddie Sozialdemokraten werden daran teilnehmen." Freilich werden wirteilnehmen, sofern er stattfindet. Wir haben an der Subatowschen undGaponschen Arbeiterbewegung teilgenommen, um für die Sozialdemo-kratie zu kämpfen. Wir werden auch an dem trudowikischen Arbeiter-kongreß teilnehmen, um gegen die trudowikischen und trudowistisch-parteilosen Ideen, für die Sozialdemokratie zu kämpfen. Das ist ein Argu-ment weder zugunsten der alten Gaponiade noch zugunsten der neuenParteilosigkeit.

Gen. Chrustaljow wendet sich an die „bolschewistischen Arbeiter" undist dabei bemüht, sie mit den Bolschewiki zu entzweien, die gegen denSowjet der Arbeiterdeputierten agitierten. Auf diesen Ausfall werdenwir nicht antworten. Wir berufen uns auf den fraktionslosen Trotzki.Möge Gen. Chrustaljow dessen Buch „Zur Verteidigung der Partei"lesen, möge er den Artikel unter dieser Überschrift, § 2, „Die gehässigeUnparteilichkeit des Herrn Prokopowitsch", Seite 82, nachschlagen.Wenn Gen. Chrustaljow ihn durchliest, wird er sich schämen, fraktio-nelle Ausfälle mit der Idee eines fraktionslosen Arbeiterkongresses bemän-telt zu haben.

Die klassenbewußten Arbeiter aber wollen wir nur mit ein paar Wor-ten darauf hinweisen, daß die führende Rolle parteiloser Komitees in derPolitik des Proletariats (Wahlkampagne usw.) eine rein intelligenz-lerische Schrulle ist, die nur zur Verzehnfadhung des Zanks und Streits

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Latin und Cbrustaljow 395

und über diesen Zank und Streit „zurück zur Sozialdemokratie" führenwürde.

Abschließend danken wir dem Gen. Chrustaljow nochmals für dieKlarheit und Unmißverständlichkeit seiner Propaganda zugunsten einesArbeiterkongresses. Larin und Chrustaljow sind die besten Verbündetender Bolschewiki gegen Axelrod.

„7rud" SNfr. 1, Tiad] dem 7ext des „7rud"15. April 1907.

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396

REORGANISATION UND LIQUIDIERUNGDER SPALTUNG IN PETERSBURG

Den Lesern ist bereits aus der legalen Tagespresse bekannt, daß inder Petersburger Organisation der SDAPR die von der Mehrheit der ört-lichen Parteimitglieder schon seit langem beabsichtigte Reorganisationendlich abgeschlossen ist. Eine von allen Mitgliedern der Lokalorganisa-tion speziell gewählte Konferenz trat am 25. März 1907 zusammen137,erörterte den vom Petersburger Komitee vorgelegten Reorganisierungs-entwurf (veröffentlicht in Nr. 15 des „Proletari") sowie den Gegenent-wurf der Menschewiki (veröffentlicht in Nr. 51 der „Russkaja Shisn")und nahm, den Entwurf des PK mit unbedeutenden Änderungen an.

Das Wesen dieses Organisationsstatuts besteht in der folgerichtigenDurchführung des Prinzips des demokratischen Zentralismus. An derSpitze der ganzen Organisation steht die von allen Parteimitgliedern indirekter Wahl (zweistufige Wahlen nur bei unüberwindlichen Hinder-nissen) nach einer bestimmten Norm gewählte Konferenz (die erste Kon-ferenz bestand aus Delegierten, von denen je einer auf 50 Parteimit-glieder gewählt worden war). Diese Konferenz ist eine ständige Einrich-tung. Sie tritt mindestens zweimal im Monat zusammen und ist dasoberste Organ der Organisation. Nach jeweils einem halben Jahr findenNeuwahlen statt.

Die Konferenz ihrerseits wählt das Petersburger Komitee aus der Zahlaller Parteimitglieder und nicht nur derjenigen, die in diesem oder jenemBezirk der Lokalorganisation arbeiten.

Bei diesem Organisationstypus wird jede Ungleichmäßigkeit in der

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Reorganisation und Liquidierung der Spaltung in Petersburg 397

Vertretung der Bezirke beseitigt und - was die Hauptsache ist - anStelle des ungefügen, vielstufigen, undemokratischen Systems, dem zufolgesich das PK aus Vertretern der Bezirke zusammensetzt, die wirkliche Ein-heit aller Parteimitglieder geschaffen, die unmittelbar durch die einheit-liche führende Konferenz zusammengefaßt sind. Die Zusammensetzungdieser Konferenz macht es möglich, ja unvermeidlich, daß die meistenhervorragenden Arbeiter an der Leitung aller Angelegenheiten der gan-zen Lokalorganisation teilnehmen.

Die Konferenz hat diesen neuen Organisationstypus bereits verwirk-licht, hat sich zu einem ständigen Organ erklärt, ein neues PetersburgerKomitee von 19 Genossen gewählt und hatte schon zwei Sitzungen (rich-tiger: trat zweimal zu Sitzungen zusammen), um über alle laufendenFragen zu entscheiden.

Um zu kennzeichnen, wie der von der Konferenz abgelehnte mensche-wistische Reorganisationsentwurf beschaffen war, wollen wir einen - denwichtigsten — Umstand hervorheben. An die Spitze der Organisationstellt dieser Entwurf eine ebensolche Konferenz (die er Rat nennt). Aberdas Exekutivorgan der Konferenz, das Petersburger Komitee, wird nachdiesem Entwurf völlig beseitigt! „Der gesamtstädtische Rat", heißt es imEntwurf der Menschewiki, „zerfällt zwecks Erledigung der laufendenArbeit in eine ganze Reihe von Kommissionen (für Propaganda, Agita-tion, Literatur, Gewerkschaften, Finanzen usw.)." Und „mit der Vertre-tung der Organisation gegenüber anderen Parteien und dem Verkehr mitden Zentralinstanzen unserer Partei wird ein Präsidium beauftragt", dasaus 5 Personen besteht und vom Rat gewählt wird.

Man kann sich vorstellen, wie es mit der Arbeitsfähigkeit einer Orga-nisation bestellt wäre, in der die laufende Arbeit durch isolierte Kommis-sionen erledigt würde, die durch kein Exekutivorgan der Konferenz zu-sammengefaßt wären! Der demokratische Zentralismus wird hier zueiner Fiktion: im Grunde genommen ist das ein Schritt in Richtung aufden vielberühmten Larinschen Plan, die Sozialdemokratische Partei zureduzieren auf die Rolle eines Propagandavereins inmitten der so losewie möglich zu einer einheitlichen Organisation zusammengefaßten Ar-beitermasse. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß dieser Entwurfder Menschewiki sofort abgelehnt wurde. Uns bleibt nur übrig, seine Ur-heber zu bitten, sie möchten uns mit den Erfahrungen aus der auf solchen

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398 WJ. Lenin

Grundlagen beruhenden Arbeit mensdbewistisdier Komitees oder Orga-nisationen der SDAPR bekannt machen.

Weiter. Es ist außerordentlich wichtig hervorzuheben, daß die neueKonferenz der Petersburger Organisation der Petersburger Spaltung einEnde gesetzt hat. Bekanntlich vollzogen die Menschewiki in Petersburgdie Spaltung während der Wahlen zur zweiten Duma, indem sie (angeb-lich aus formalen Gründen) die Konferenz vom 6. Januar 1907 verließen,jene Konferenz, auf der über die Wahlkampagne der SDAPR in Peters-burg entschieden wurde. Die Wahlen zu der neuen Konferenz, die am25. März zum erstenmal zusammentrat, wurden durchgeführt unter derunmittelbaren Kontrolle einer besonderen, vom Zentralkomitee derSDAPR speziell zu diesem Zweck eingesetzten Kommission, der auch einZK-Mitglied von der lettischen Sozialdemokratie angehörte. Die Konfe-renz vom 25. März (die auch jetzt ihre Tätigkeit fortsetzt, da sie sich,wie wir schon sagten, zu einer • ständigen Einrichtung erklärt hat) wardarum die erste sozialdemokratische Konferenz während des letzten Jah-res in Petersburg, die sich ohne die geringsten Auseinandersetzungenüber die Richtigkeit des Vertretungsmodus, über die Rechtmäßigkeit undZahl der Mandate usw. konstituierte.

Für Petersburg mit seinem äußerst erbitterten Kampf zwischen Bol-schewiki und Menschewiki ist das eine bislang beispiellose Tatsache.Sowohl die Boykottkonferenz (vom Februar 1906)138 als auch dieKonferenz zur Frage nach der Unterstützung der Forderung eines„Dumakabinetts" (Juni 19O6)W brachten zwar den Bolschewiki den Sieg,begannen aber jedesmal mit obligatorischen Auseinandersetzungen überdie Richtigkeit des Vertretungsmodus.

Wer sich daher Klarheit verschaffen will über die wahren Gründe unddie wahre Bedeutung der nun wieder der Vergangenheit angehörendenSpaltung vor den Wahlen in Petersburg, der wird sich dieser unbestrit-tenen, zum erstenmal unbestrittenen, Angaben über die Stärke derbeiden Fraktionen der Sozialdemokratie in Petersburg mit größtem Nut-zen bedienen können. Bekanntlich suchten die Menschewiki diese Spal-tung mit formalen Gründen zu rechtfertigen: 1. mit einem unrichtigenVertretungsmodus auf der Konferenz vom 6. Januar (man beschuldigtedie Bolschewiki, die Zahl der Stimmen, besonders die der Handelsange-stellten, aufgebauscht und unrechtmäßig menschewistische Mandate kas-

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Reorganisation und Liquidierung der Spaltung in Petersburg 399

siert zu haben); 2. mit der Weigerung der Konferenz, der Forderung desZK nach Teilung in eine Stadt- und eine Gouvernementskonferenz nach-zukommen.

Daß die zweite „Rechtfertigung" in Wirklichkeit auf eine Beteiligungdes ZK (d. h. seines menschewistischen Teils) an der Organisierung derPetersburger Spaltung hinausläuft, ist in den früheren Nummern des„Proletari" schon zur Genüge klargestellt worden. Das ist auch für allein andern Städten wohnhaften Mitglieder unserer Partei leicht zu be-greifen, die sehr wohl wissen, daß das ZK nirgends gefordert hat undaudb nicht fordern konnte, daß allgemeine Stadtkonferenzen sich in Stadt -und Gouvernementskonferenzen aufteilen. Die ultimative Form, in derdas Zentralkomitee diese Forderung in Petersburg stellte, sollte ihm dazudienen, die St.-Petersburger Organisation zu spalten und dann den abge-spaltenen Menschewiki behilflich zu sein, Verhandlungen mit den Kadet-ten einzuleiten (oder sie fortzusetzen).

Die erste „Rechtfertigung" der Spaltung aber bleibt für alle Mitgliederunserer Partei außer den Petersburgern ganz unklar und strittig. Sie sindaußerstande, sich ein Urteil zu bilden über die Richtigkeit des Vertre-tungsmodus auf der Konferenz vom 6. Januar und über das wirklicheVerhältnis der bolschewistischen und der menschewistischen Kräfte inPetersburg. Dies Verhältnis dokumentarisch nachzuweisen ist eine Auf-gabe, die die sozialdemokratische Presse keinesfalls erfüllen kann, dennnur eine besondere Kommission könnte die entsprechenden Dokumentesammeln und prüfen. Aber die überprüften und unbestrittenen Vertre-tungszahlen auf der Konferenz vom 15. März geben uns die Möglichkeit,unserer ganzen Partei zu zeigen, inwieweit der menschewistische Versucheiner Rechtfertigung der Spaltung in Petersburg vor den Wahlen aufWahrheit beruhte. Hierzu bedarf es nur eines Vergleichs der bezirks-weisen Angaben über die Anzahl der Sozialdemokraten, die bei denWahlen zu der Konferenz vom 6. Januar und zu der Konferenzvom 25. März für die Bolschewiki bzw. für die Menschewiki gestimmthaben.

Die Angaben über die Ergebnisse der Wahlen zur Konferenz vom25. März sind unbestritten: sie sind von einer Kommission des ZK über-prüft und sowohl von den Bolschewiki als auch von den Menschewikiakzeptiert worden.

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400 W.lCenin

Um also unstrittige Angaben über die Ergebnisse der Wahlen zurKonferenz vom 6. Januar zu verwenden, wollen wir die mensdbewisti-sdhen Zahlen nehmen. Als die 31 Menschewiki die Konferenz vom 6. Ja-nuar verließen, gaben sie eine besondere Erklärung aus - eine gedruckteFlugschrift mit der Überschrift „Warum waren wir genötigt, die Kon-ferenz zu verlassen? (Erklärung von 31 Konferenzteilnehmern an dasZK)". In Nr. 12 des „Proletari" haben wir diese Flugschrift untersucht.*Jetzt wollen wir die „Zahlenangaben über die bei der Wahl der Konfe-renzdelegierten der Petersburger Organisation abgegebenen Stimmen"(zur Konferenz vom 6. Januar) nehmen, die auf den Seiten 7 und 8 die-ser Flugschrift gedruckt sind. Hier ist für jeden von 11 Bezirken die Zahlderjenigen angegeben, die für die Bolschewiki** bzw. für die Menschewikigestimmt haben, wobei alle Stimmen noch unterteilt sind in unstrittigeund angefochtene, und diese letzteren in von den Bolschewiki angefoch-tene und von den Menschewiki angefochtene.

Wir brauchen hier nicht alle diese detaillierten Unterteilungen zureproduzieren. In der Anmerkung werden wir alle von den Menschewikivorgenommenen Korrekturen besonders erläutern. Zum Vergleich jedochnehmen wir die Qesamtzählen der für die Bolschewiki bzw. die Mensche-wiki „abgegebenen Stimmen", d. h., wir zählen die unstrittigen und dieangefochtenen Stimmen zusammen, damit sich jedes Parteimitglied durchden Vergleich dieser Angaben mit den Angaben über die Stimmen beiden Wahlen zur Konferenz vom 25. März selbst davon überzeugen kann,weldhe Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen zur Konferenz vom 6. Ja-nuar vorgekommen sind und auf wessen Seite.

Für den 12. Bezirk der Petersburger Organisation, den Bezirk derHandelsangestellten, enthält die Flugschrift der 31 keine tabellierten An-gaben. Im Text (S. 4) wird gesagt, das Petersburger Komitee habe 313organisierten Handelsangestellten das Recht zuerkannt, 5 Vertreter zuwählen, angesichts des andemokratischen Charakters der Wahlen je 1nicht auf 50 (die allgemeine Norm), sondern auf 60. Die Menschewiki

* Siehe den vorliegenden Band, S. 15-18. "Die "Red.** Diese Zahlen sind noch unterteilt in bolschewistische Stimmen und solche

der Dissidenten („Plattform des revolutionären Blodks"). Die einen wie dieandern sind Bolschewiki, die untereinander ober die Frage stritten: Linksblockoder rein sozialdemokratische Liste.

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Reorganisation und Liquidierung der Spaltung in "Petersburg 401

erkannten aus diesem Grunde die Stimmen der Angestellten Überhauptnicht an. Da von den 5 Vertretern einer Menschewik und 4 Bolschewikiwaren, werden wir 63 Stimmen für die Menschewiki und 250 für dieBolschewiki rechnen.

Dann teilen wir alle 12 Bezirke der Petersburger sozialdemokratischenOrganisation auf in sechs unstrittige und sechs strittige. Zu den letzterenhaben wir diejenigen gezählt, wo auf der Konferenz vom 6. Januar ent-weder die Menschewiki oder die Bolschewiki mehr als die Hälfte der fürdie Bolsdiewiki bzw. die Menschewiki abgegebenen Stimmen angefodh-ten haben. Hierher gehören der Wiborger Bezirk (von 256 Stimmen fürdie Menschewiki fochten die Bolschewiki 234 als nicht ganz richtig ge-wonnene an), der Stadtbezirk (von 459 Stimmen für die Menschewikifochten die Bolschewiki 370 an), der Moskauer Bezirk (von 248 Stimmenfür die Menschewiki haben die Bolschewiki 97, die Menschewiki 107 an-gefochten; die 185 Stimmen für die Bolschewiki fechten die Menschewikisämtlich an*), die Eisenbahner (von 21 Stimmen für die Bolschewiki an-gefochten 5; von 154 Stimmen für die Menschewiki angefochten 107);die Esten (alle 100 Stimmen für die Bolsdiewiki angefochten von denMenschewiki) und die Handelsangestellten (gegen alle 313 Stimmen ins-gesamt protestierten die Mensdiewiki, die diese Stimmen und nur dieseStimmen für überhaupt nidit abgegeben erklärten: gewählt hätten dieSpitzen der Organisation an Stelle der Mitglieder der Organisation).

Zu den unstrittigen Bezirken zählen der Bezirk Wassiljewski-Ostrow,der Narwaer Bezirk, der Landbezirk, die Letten (für diese vier Bezirkewurden keine Stimmen angefoditen); dann der Newski-Bezirk (von 150Stimmen für die 'Bolschewiki angef oditen 15; von 40 für die Mensche-wiki angef oditen 4) und der Petersburger Bezirk (von 120 Stimmen fürdie Menschewiki angef oditen 22).

Bezirksweise ergeben die Angaben über die Stimmenzahlen folgen-des Bild:

* Als angefochten werden überall die Stimmen bezeichnet, die von der an-deren Seite für nicht ganz richtig, für nicht überprüft, für zu hoch angegeben,aber nicht für völlig fiktiv gehalten wurden. Die Bolschewiki beschlossen aufder Konferenz vom 6. Januar für alle angefochtenen Stimmen die Vertrettmgs-norm zu erhöhen und für sie je einen Delegierten auf 75 anstatt einen Dele-gierten auf 50 zu rechnen.

26, Lenin, Werke, Bd. 12

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402 1/9.1. Lenin

St.-Petersbnrger Organisa-tion der SDAPR

Bezirke:jg Wassiljewski-Ostrow..•g Petersburger™ Narwaer•£ Newskits Landbezirk3 Letten

Insgesamt

o Wiborger% Stadtbezirkm Moskauer8> Eisenbahner'S

5 EstenHandelsangestellte

Insgesamt

Qesamtsummt

Konferenz vom 6. JanaarZahl der Stimmen für

Bolsch. Mensch. Insges.

329

161

24

150

451

117

1232

97

220

185

21

100

250

873

2105

339

120

6

40

63

47

615

256

459

248

154

63

1180

1795

668

281

30

190

514

164

1847

353

679

433

175

100

313

2053

3900

Konferenz vom 25. MärzZahl der Stimmen ßr

Bolsch. Mensch. Insges.

798

528

202

585

737

100

2950

155

701

331

29

150

300

1666

4616

435

254

231

173

1093

267

558

83

105

50

1063

2156

1233

782

433

758

737

100

4043

422

1259

414

134

150

350

2729

6772

Aus diesen Daten ergeben sich nachstehende Schlußfolgerungen:1. Die Petersburger sozialdemokratischen Arbeiter zeigten ein unver-

gleichlich größeres Interesse für die Reform der St.-Petersburger Orga-nisation (Zweck der Konferenz vom 25. März) als für die Dumawahlenin der städtischen Kurie (Zweck der Konferenz vom 6. Januar).

Die Zahl der Mitglieder der sozialdemokratischen Organisation konntesich in den zweieinhalb Monaten nicht sehr beträchtlich geändert haben.Die polizeilichen Bedingungen für Versammlungen und für die Auszäh-lung der Stimmen waren im März nicht besser, sondern eher schlechter(es gab keine Versammlungen in der Universität; die Arbeiterverfolgun-gen waren schärfer geworden).

Die Zahl der an der Abstimmung teilnehmenden Mitglieder der sozial-demokratischen Organisation stieg auf mehr als das Anderthalbfache, jaum mehr als zwei Drittel (von 3900 auf 6772).'

1. Das Übergewicht der Bolschewiki über die Menschewiki war, wie

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Reorganisation und Liquidierung der Spaltung in Petersburg 403

sich erwies, bei einer beträchtlich größeren Zahl der an der Abstimmungteilnehmenden Mitglieder unvergleichlich stärker als bei einer schwachenBeteiligung an der Abstimmung. Am 6. Januar hatten die Menschewiki1795 Stimmen von 3900, d. h. 46 Prozent, am 25. März erhielten sie2156 von 6772, d. h. 32 Prozent.

3. In den unstrittigen Bezirken (den ersten sechs) stieg die Zahl sowohlder für die Bolschewiki als auch der für die Menschewiki abgegebenenStimmen (die erste Zahl stieg weitaus stärker). In den strittigen Bezirken(den letzten sedhs) stieg die Zahl der für die Kölschewiki abge-gebenen Stimmen, während sich die Zahl der für die Menschewikiabgegebenen Stimmen verringerte.

Die Zahl der Stimmen für die Bolschewiki wuchs von 873 auf 1666.Die Zahl der Stimmen für die Menschewiki verringerte sich von 1180auf 1063. Ein Übergewicht der Menschewiki in den strittigen Bezirkenerwies sich als nicht vorhanden.

Diese lafsadhe entscheidet die Jrage, auf wessen Seite die Schuld ander Spaltung liegt.

Die jüngsten, zugleich der Überprüfung dienenden und von einer Son-derkommission des ZK nachgeprüften Wahlen haben gezeigt, daß dieangegebene Zahl der bolschewistischen Stimmen in den strittigen Bezir-ken kleiner als die tatsächliche war, die Zahl der menschewistischen Stim-men dagegen größer als die tatsächliche!!

Die Menschewiki sagten und ließen drucken, die Bolschewiki hättendie Stimmenzahl in den strittigen Bezirken aufgebauscht. Die Bolschewikierhoben die gleiche Beschuldigung gegen die Menschewiki. Die Kontroll-wahlen ergaben eine Vergrößerung der Zahl der bolschewistischen Stim-men und eine Verringerung der menschewistischen. Kann man sich einenüberzeugenderen und entscheidenderen Beweis dafür vorstellen, daß dieBolschewiki recht hatten?

Wer diese Schlußfolgerung widerlegen wollte, der könnte sich wederdarauf berufen, daß die Angaben nach Bezirken zufällig sein könnten,noch darauf, daß wir für den 6. Januar die strittigen und die unange-fochtenen Stimmen zusammengefaßt hätten. Der erste Einwand entfällt,weil wir absichtlich nicht nur die einzelnen Bezirkej sondern Qruppen vonBezirken nahmen, weil wir sechs und sechs Bezirke verglichen, eben umso jede Berufung auf einen Zufall auszuschließen. Die Angaben nach ein-

26»

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404 W.lCenin

zelnen Bezirken (z. B. für den Moskauer!!) wären für uns noch zehnmalgünstiger gewesen.

Der zweite Einwand entfällt, weil wir uns absichtlich auf die mensdhe-wistisdhen Zahlen stützten, an welchen die Menschewiki selber nur ganzgeringfügige Berichtigungen vorgenommen haben. Stimmen, „die wirk-lich nicht bestätigt werden durften", waren nach der Meinung der 31,wie sie sie in gedruckter Form in ihrer Flugschrift (S. 7) zum Ausdruckbrachten, nur die folgenden: 15 von 150 bolschewistischen Stimmen imNewski-Bezirk und alle estnischen bolschewistischen; 107 von 248 men-schewistischen Stimmen im Moskauer Bezirk und 41 von 154 mensche-wistischen bei den Eisenbahnern, d. h. alles in allem 115 bolschewistischeund 143 menschewistische Stimmen. Die Stimmen der Handelsangestell-ten (alle 313) lehnten die Menschewiki in Bausch und Bogen ab. Es istleicht zu sehen, daß diese Abänderungen die von uns gezogenen Schluß-folgerungen nicht im geringsten erschüttern können.

Die Wahlen zu der Konferenz vom 25. März, die von einer Kommis-sion des ZK speziell nachgeprüft wurden, sind von allen als unanfechtbaranerkannt worden, und diese Konferenz hat bewiesen, daß in dem Streitwegen des Vertretungsmodus auf der Konferenz vom 6. Januar das Rechtrestlos auf Seiten der Bolsdiewiki war, deren Übergewicht sich als sehrbeträchtlich erwies, während die Behauptung vom angeblichen Über-gewicht der Menschewiki endgültig widerlegt worden ist. Natürlich kannman noch gegen unsere Beweisführung einzuwenden versuchen, die Kon-ferenz vom 25. März habe nach der Wahlkampagne stattgefunden undzeige somit nur, daß die sozialdemokratischen Arbeiter in dieser Frageauf die Seite der Bolschewiki übergegangen wären, und zwar erst nachdem 6. Januar 1907, Aber ein solcher Einwand macht natürlich die Schuldeben der Menschewiki an der Spaltung wegen der Wahlen nicht geringer,sondern eher noch größer (wenn auch von einer etwas anderen Seite aus).

Die Schuld an der Petersburger Spaltung bei den Wahlen zur zweitenDuma liegt ganz und gar bei den Tdensdhewiki. Wir haben das immerbehauptet und uns verpflichtet, das der Partei zu beweisen.

Nunmehr haben wir den endgültigen Nachweis dafür erbracht.

Qesdhrieben im April 1907.Veröffentlicht am 2. TAai 1907 Nadh dem 7ext des „Proletari".im „Troletari" SVr. 16.

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405

ZUR FRAGEDER G E S A M T N A T I O N A L E N R E V O L U T I O N

In einem bestimmten Sinn des Wortes kann nur eine gesamtnationaleRevolution siegreich sein. Richtig ist das in dem Sinne, daß es für denSieg der Revolution des Zusammenschlusses der gewaltigen Bevölke-rungsmehrheit zum Kampf für die Forderungen dieser Revolution bedarf.Diese gewaltige Mehrheit muß entweder gänzlich zu einer Klasse ge-hören oder zu verschiedenen Klassen, die gewisse gleichartige Aufgabenhaben. In bezug auf die gegenwärtige russische Revolution ist es natür-lich ebenfalls richtig, daß sie nur siegen kann als gesamtnationale Revo-lution in dem Sinne dieses Wortes, daß es für ihren Sieg der bewußtenBeteiligung der gewaltigen Bevölkerungsmehrheit am Kampf bedarf.

Aber darauf beschränkt sich auch die bedingte Richtigkeit des land-läufigen Ausdrucks „gesamtnationale" Revolution. Irgendwelche weiter-gehende Schlußfolgerungen als die erwähnte, die eigentlich eine Binsen-wahrheit ist (gegen eine organisierte und herrschende Minderheit siegenkann nur die gewaltige Mehrheit), dürfen aus diesem Begriff nicht ge-zogen werden. Darum ist es grundfalsch und zutiefst antimarxistisch, ihnals allgemeine Formel, als Schablone, als Kriterium der Taktik anzuwen-den. Der Begriff „gesamtnationale Revolution" muß einen Marxistendarauf hinweisen, daß es notwendig ist, die verschiedenen Interessen derverschiedenen Klassen, die hinsichtlich gewisser bestimmter, beschränkterallgemeiner Aufgaben miteinander übereinstimmen, genau zu analysie-ren. Auf keinen Fall darf dieser Begriff dazu dienen, das Studium desKlassenkampfes im Zuge dieser oder jener Revolution zu vertuschen, zurSeite zu drängen. Den Begriff „gesamtnationale Revolution" so verwen-den heißt sich völlig vom Marxismus lossagen und zu der vulgären Phrase

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406 IV.1. Centn

kleinbürgerlicher Demokraten oder kleinbürgerlicher Sozialisten zurück-kehren.

Unsere Sozialdemokraten vom rechten Flügel vergessen häufig dieseWahrheit. Noch häufiger vergessen sie, daß sich mit dem 7ortsdbreitender Revolution das gegenseitige Verhältnis der "Klassen in der Revolutionändert Jeder wirkliche Fortschritt der Revolution bedeutet, daß breitereMassen in die Bewegung hineingezogen, also die Klasseninteressen be-wußter, also die politischen, Parteiform annehmenden Gruppierungenbestimmter werden, daß sich das Klassengesicht der verschiedenen Par-teien genauer abzeichnet, daß also die allgemeinen, abstrakten, in ihrerAbstraktheit unklaren und verschwommenen politischen und ökonomi-schen Forderungen immer mehr durch konkrete, genau bestimmte ver-sdhiedenartige Forderungen der verschiedenen Klassen abgelöst werden.

Beispielsweise beginnt die russische bürgerliche Revolution, wie jedebürgerliche Revolution, unweigerlich unter den allgemeinen Losungen„politische Freiheit", „Volksinteressen", wobei die konkrete Bedeutungdieser Losungen den Massen und den Klassen erst im Verlauf des Kamp-fes klar wird, erst in dem Maße, wie praktisch an die Verwirklichungdieser „Freiheit" herangegangen wird, wie, sagen wir, ein so leeres Wortwie „Demokratie" mit einem bestimmten Inhalt gefüllt wird. Vor derbürgerlichen Revolution, zu ihrem Beginn, treten alle im Namen derDemokratie auf: sowohl das Proletariat als auch die Bauernschaft zusam-men mit den städtischen kleinbürgerlichen Elementen, und ebenso dieliberalen Bourgeois gemeinsam mit den liberalen Gutsbesitzern. Erst imLaufe des Klassenkampfes, erst während der sich über einen mehr oderminder langen Zeitraum erstreckenden historischen Entwicklung der Re-volution tritt zutage, daß die verschiedenen Klassen diese Demokratieverschieden auffassen. Mehr noch: zutage tritt die tiefe Kluft zwischenden von den verschiedenen Klassen vertretenen Interessen, die verschie-dene ökonomische und politische Maßnahmen im Namen ein und der-selben „Demokratie" erfordern.

Erst im Verlauf des Kampfes, erst während der Entwicklung der Revo-lution wird klar, daß die eine „demokratische" Klasse oder Schicht nichtso weit gehen will oder kann wie die andere - daß die Verwirklichungder „gemeinsamen" (angeblich.gemeinsamen) Aufgaben den Boden bil-det für erbitterte Zusammenstöße wegen der Art und Weise ihrer Ver-

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"Zur frage der gesamtnationalen Revolution 407

wirklichung, beispielsweise wegen dieses oder jenes Grades und Uiri-fangs, wegen dieser oder jener Folgerichtigkeit der Freiheit, der Volks-herrschaft, wegen dieses oder jenes Übergangs des Grund und Bodens andie Bauernschaft usw.

An alle diese in Vergessenheit geratenen Wahrheiten mußten wir er-innern, um dem Leser den Streit zu erklären, der unlängst zwischen zweiZeitungen geführt wurde. Hier das, was die eine von ihnen, die „Narod-naja Gaseta", gegen die andere, „Nasche Echo", schrieb:

„ ,Die Gruppierung der Bevölkerung nach Parteien', schreibt ,Nasche Echo',.diese wichtigste politische Lehre und wichtigste politische Errungenschaft derRevolution während der Wahlen zur II. Duma, zeigte anschaulich an Handvon Tatsachen in gesamtnationalem Maßstab diese Rechtsschwenkung breiterSchichten der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie.' Das ist völlig richtig; aberdie Stimmung und die Mandate, die die .linken' Deputierten - Sozialrevolu-tionäre, Trudowiki und Volkssozialisten - aus dem Lande mitbrachten, habenebenfalls .anschaulich in gesamtnationalem Maßstab gezeigt', daß das .Volk'im gegenwärtigen Augenblick in nicht geringem Maße von kadettischen .kon-stitutionellen Illusionen' durchdrungen ist, daß das .Volk' übergroße Hoffnun-gen auf die sich selbst genügende Tätigkeit der Duma setzt, daß es übermäßigdarum besorgt ist, die Duma ,zu erhalten'. Gerade dieses Allerwichtigste ha-ben die Literaten der Zeitung .Nasche Echo' nicht bemerkt. Sie merkten, wendas Volk in die Duma geschickt hat, sie merkten nicht, wozu es sie dahin ge-schickt hat. Wenn dem aber so ist, wird ,Nasche Echo' dann nicht zugeben,daß es mit seiner Aufforderung an das Proletariat, die .gesamtnationalen'Aufgaben zu ignorieren, es dazu auffordert, sich selber nicht nur von derbürgerlichen ,Gesellschaft', sondern auch von dem kleinbürgerlichen .Volk'zu isolieren?"

Das ist eine außerordentlich aufschlußreiche und bemerkenswerte Ti-rade, die drei große Fehler des Opportunismus enthüllt: Erstens wirdden Wahlresultaten die Stimmung der Deputierten gegenübergestellt; dasbedeutet, als Stimmung des Volkes die Stimmung der Deputierten aus-zugeben, vom Tieferen, Breiteren, Grundlegenden an das Kleinere,Engere, Abgeleitete zu appellieren.* Zweitens wird die Frage nach einer

* Was die „Mandate" betrifft, so weisen wir dieses Argument völlig zu-rück. Wer zählt die revolutionären und die opportunistischen Wähleraufträgeund Mandate? Wer wüßte nicht, wieviel Zeitungen wegen der Veröffent-lichung revolutionärer Wähleraufträge verboten wurden?

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408 TV J.Lenin

festen und konsequenten politischen Linie und Taktik des Proletariatsumgangen und dafür die Frage nach der Berücksichtigung dieser oderjener „Stimmung" untergeschoben. Drittens-und das ist dieHauptsadbe-schreckt man um des vulgär-demokratischen Fetisches einer „gesamtnatio-nalen Revolution" willen das Proletariat mit der „Isolierung" vom „klein-bürgerlichen Volk".

Auf die beiden ersten Fehler wollen wir möglichst kurz eingehen. DieWahlen rührten die Massen auf und zeigten nicht nur deren Augenblicks-stimmung, sondern auch ihre tiefgreifenden Interessen. Marxisten geziemtes überhaupt nicht, von den Klasseninteressen (ausgedrückt durch dieGruppierung der Parteien bei den Wahlen) an eine Augenblicksstim-mung zu appellieren. Die Stimmung der Deputierten kann niedergeschla-gen sein, während die ökonomischen Interessen der Massen zu einemMassenkampf führen können. Darum kann die Berücksichtigung der„Stimmung" notwendig sein zur Bestimmung des Zeitpunkts dieser oderjener Aktion, dieses oder jenes Schritts, Aufrufs usw., aber keinesfallszur Bestimmung der Taktik des Proletariats. Anders urteilen heißt diekonsequente proletarische Taktik durch eine prinzipienlose Abhängigkeitvon „Stimmungen" ersetzen. Und es handelte sich ja die ganze Zeit ge-rade um die Linie, also absolut nicht um den „Zeitpunkt". Ob im ge-gebenen Zeitpunkt das Proletariat zu Kräften gekommen ist oder nicht(wie die „Narodnaja Gaseta" glaubt), das ist wichtig zur Berechnung des„Zeitpunkts" für Aktionen, nicht aber zur Festlegung der taktischenLinie für Aktionen der Arbeiterklasse.

Der dritte Fehler ist der weitestreichende und wichtigste: die Angst,die Sozialdemokratie oder (was dasselbe ist) das Proletariat von demkleinbürgerlichen Volk zu „isolieren". Das ist schon eine durchaus un-anständige Angst.

Soweit die Sozialrevolutionäre, die Trudowiki und die Volkssozialistenwirklich den Kadetten nachlaufen - und das kommt und kam sehr häufigvor, angefangen damit, daß sie für Golowin stimmten, dann weiter beider berühmten Taktik der Grabesstille usw. —, soweit ist die Sozialdemo-kratie verpflichtet, sich von dem kleinbürgerlichen Volk zu isolieren.Denn von zwei Dingen eins: Entweder zeigen die Schwankungen des klein-bürgerlichen Volks überhaupt die wankelmütige Natur der Kleinbürger,zeigen sie die schwere und mühsame Entwicklung der Revolution, bedeu-

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Zur Trage der gesamtnationalen Revolution 409

ten aber nidit ihr Ende, bedeuten nicht, daß sie ihre Kräfte erschöpft hat(so denken wir). Dann erzieht das sozialdemokratische Proletariat, indemes sich von allen und jeglichen Schwankungen und Schaukeleien des klein-bürgerlichen Volks isoliert, dieses Volk zum Kampf, bereitet es für denKampf vor, entwickelt sein Bewußtsein, seine Entschlossenheit, seineFestigkeit usw. Oder die Schwankungen des kleinbürgerlichen Volksbedeuten das endgültige Finale der gegebenen bürgerlichen Revolution(wir halten diese Ansicht für falsch, und kein Sozialdemokrat hat siedirekt und offen vertreten, obwohl die extrem rechten Sozialdemokratenihr zweifellos zuneigen). Dann ist das sozialdemokratische Proletariatebenfalls verpflichtet, sich von den Schaukeleien (oder vom Verrat) desKleinbürgertums zu isolieren, um das Klassenbewußtsein der Arbeiter-massen zu erziehen und sie für eine planmäßigere, festere, entschlos-senere Teilnahme an der nächsten Revolution vorzubereiten.

Sich von dem mit kadettischen Illusionen durchseuchten kleinbürger-lichen Volk zu isolieren, ist das sozialdemokratische Proletariat in beidenFällen, in allen Fällen unbedingt verpflichtet. Es muß auf jeden Fall diefeste, konsequente Politik einer wirklich revolutionären Klasse betreibenund darf sich durch keinerlei reaktionäre oder spießbürgerliche Faseleien,sei es über gesamtnationale Aufgaben überhaupt, sei es über eine gesamt-nationale Revolution, verwirren lassen.

Es ist möglich, daß bei dieser oder jener Kräftekombination und beimZusammentreffen ungünstiger Umstände die erdrückende Mehrheit derbürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten zeitweilig mit Kriecherei,Servilität oder Feigheit infiziert wird. Das wäre eine „gesamtnationale"Feigheit, und von ihr isoliert sich das sozialdemokratische Proletariat imInteresse der gesamten Arbeiterbewegung als Ganzes.

„Troletari" K!r. 16, TSaöo dem Jext des „Troletari".2. Mai 1907.

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410

. ZU DEN PROTOKOLLENDER NOVEMBERKONFERENZ

DER MILITÄR- UND KAMPFORGANISATIONENDER SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI

RUSSLANDS140

In Nr. 20 der „Narodnaja Duma" (vom 3. April d. J.) war zu lesen:„Das ZK der SDAPR hat folgendes Schreiben an die Parteiorganisa-tionen gerichtet: ,Dieser Tage erschien ein Büchlein mit dem Titel „Pro-tokolle der ersten Konferenz der Militär- und Kampf Organisationen"*.Um alle eventuellen Mißverständnisse aus der Welt zu schaffen, hält esdas ZK für notwendig, dazu folgende Erläuterungen zu geben: 1. DieseKonferenz war einberufen worden von Vertretern einiger Militär- undKampforganisationen nicht nur ohne Zustimmung, sondern sogar gegenden entschiedenen Protest des ZK, das alle wie immer gearteten Formeneiner Zusammenfassung von Kampforganisationen als unzulässig be-trachtet. 2. Die technische Gruppe beim ZK hatte nicht die Genehmigungdes ZK zur Teilnahme an der „Konferenz" erhalten, und das Mitglieddieser Gruppe, das sich erlaubte, ohne Wissen des ZK an der Konferenzteilzunehmen, ist vom ZK scharf gerügt worden. Wir halten es für nötig,dem hinzuzufügen, daß die Militärorganisationen des Baltikums an derKonferenz teilnahmen entgegen einem Beschluß des ZK der Sozialdemo-kratischen Partei Lettlands.'"

Der Leser ersieht hieraus, daß unser ZK sehr erbost ist und sich beeilt,eine gewisse Konferenz bei der Partei anzuschwärzen und das Wesen derSache durch eine Aufzählung formaler Regelwidrigkeiten zu verdunkeln.

Wir raten allen Parteimitgliedern, sich mit den außerordentlich inter-

* Der wirkliche Titel, der vom ZK gekürzt wurde, lautet: „ . . . Organisa-tionen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands - (einer Konfe-renz), abgehalten im November 1906". (St. Petersburg 1907. Preis 60 Kope-ken. IV + 168 Seiten.)

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Zu den Protokollen der TJovemberkonferenz 411

essanten „Protokollen der Militär- und Kampforganisationen derSDAPR" bekannt zu machen, um sich persönlich davon zu überzeugen,wie komisch der Zorn und die Entrüstung des ZK sind. Unserseits hal-ten wir es für notwendig, auf dies Buch (und den damit zusammenhän-genden „Konflikt") wenigstens kurz einzugehen.

Zunächst ein paar Worte über die formale Seite der Sache in der zor-nigen Erklärung des ZK. Die Konferenz sei gegen seinen Protest ein-berufen worden, denn es betrachte „alle wie immer gearteten Formeneiner Zusammenfassung von Kampf Organisationen als unzulässig". Dasist sehr zornig gesagt, nur ist es unlogisch bis zur Zusammenhangslosig-keit. Wenn das ZK nicht Konferenzen schlechthin zu den „Formen einerZusammenfassung" zählt, dann geht der ganze Schuß daneben. Wenneine Beratung (eine „Konferenz") von Angehörigen der Kampfgruppenebenfalls als „Form der Zusammenfassung" unzulässig ist, dann fragenwir uns mit Befremden: wie kann man verbieten, daß Vertreter vonPartei-organisationen sich beraten, solange sie Parteiorganisationen sind, solangesie weder durch einen Parteitag noch durch das Zentralkomitee aufgelöstwurden?? Das ZK scheut sich offenbar, seinen wirklichen Gedanken (denWunsch, überhaupt alle Kampforganisationen aufzulösen) unumwundenauszusprechen, und überläßt sich deshalb seinem lächerlichen Ärger. Inder Tat, hätte man nicht ganz natürlich sachliche Einwendungen gegenbestimmte Schritte oder Beschlüsse der Konferenz erwarten können anStelle dieses Anschnauzers: „Beratungen lasse ich nicht zu"? Unwillkür-lich kommt einem der Gedanke: will man nicht durch diesen Anschnauzerverhindern, daß der Streit um die Frage selbst ausgetragen wird?

Wenden wir uns der Geschichte der Einberufung der Konferenz derMilitär- und Kampforganisationen der SDAPR zu. Im Herbst des ver-gangenen Jahres kam es aus diesem Anlaß zu einem Konflikt zwischender Petersburger Militärorganisation und dem Zentralkomitee. Dieerstere_wollte eine Konferenz der Militär- und Kampf Organisationen ein-berufen und machte dabei das „den Lokalorganisationen durch das Par-teistatut zuerkannte Recht, Konferenzen einzuberufen"*, geltend. Das

* Siehe den vom Zentralkomitee herausgegebenen „Kurzen Auszug ausden Protokollen der ersten Konferenz der Organisationen der SDAPR, die inder Armee arbeiten" - eine Flugschrift von 13 Seiten, verlegt in der Druk-kerei des ZK.

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412 IV J.Lenin

ZK war gegen die Initiative der Petersburger Militärorganisation undgegen die Zulassung der Kampforganisationen. So kam es, daß zweiKonferenzen stattfanden: 1. die Ofetofcerkonferenz nur der Militärorga-nisationen unter Teilnahme von Vertretern des ZK; 2. die November-konferenz sowohl der Militär- als auch der Xamp/organisationen ohneTeilnahme eines ZK-Vertreters (obwohl das ZK eines seiner Mitgliederzur Teilnahme an dieser Konferenz bestimmt hatte). An der Oktober-konferenz beteiligten sich Vertreter von 8 Militärorganisationen, an derNovemberkonferenz von 14 Militär- und 8 Kampf Organisationen. Anbeiden Konferenzen nahmen Vertreter des Petersburger Komitees derSDAPR und andere Parteifunktionäre mit beratender Stimme teil.

Die Resolutionen der Ofetoterkonferenz wurden vom Zentralkomiteein der obengenannten Flugschrift („Kurzer Auszug") herausgegeben. DieResolutionen der !AFot>emberkonferenz wurden in Nr. 9 des „Proletari"abgedruckt und sind nunmehr in die separat erschienenen „Protokolle"aufgenommen. Der Protest des ZK, mit dem wir den Artikel angefangenhaben, bezieht sich auf die Wouemberkonferenz:

Selbstverständlich ist es zu verurteilen, daß zwei Konferenzen statt-gefunden haben. Das ist unbedingt eine unerwünschte Erscheinung ineiner einheitlichen Partei. Wir wollen von der formalen Seite absehenund fragen nach dem Wesen des Konflikts, der zu den zwei Konferenzenführte: War die Teilnahme der Kampf Organisationen an der Konferenznützlich oder schädlich? In der Resolution der Oktoberkonferenz lesenwir: „ . . . ein dringendes Erfordernis für die Partei ist die Einberufungeiner speziell den Militärorganisationen gewidmeten Konferenz, die dieFrage nach der Vorbereitung des Heeres auf die Teilnahme an einembewaffneten Kampf des Volkes zu erörtern hätte - einer Konferenz, zuderen erfolgreicher Arbeit die Teilnahme von Vertretern der Kampf-gruppen in keiner Weise beitragen kann" (S. 4 der Flugschrift des ZK).Und damit Punktum. Das sind die ganzen Gründe.

Ihre Unrichtigkeit springt ins Auge. Nehmen wir das Schlimmste gegendie Mitglieder der Kampfgruppen an. Aber daß sie an den Aufstands-versuchen teilgenommen haben, ist Tatsache. Und schon allein deswegenist eine Beratung mit ihnen nützlich und notwendig. Es wäre nützlichgewesen, wenn man ihre schädlichen Tendenzen vor der Partei aufge-deckt hätte, wenn man auf der Konferenz in ihrem Beisein enthüllt hätte,

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Zu den Protokollen der TJovemberkonferenz 413

daß ihre Tätigkeit den und den Charakter trägt. Sowohl das ZK als auchjeder Konferenzteilnehmer hätte das tun können und wäre dazu ver-pflichtet gewesen. Die Beschlüsse der Konferenz, die sowohl für das ZKals auch für die lokalen Komitees absolut nicht verbindlich war, konntenniemand in irgendeiner 7rage binden. Die 7urdht vor einer gemeinsamenBeratung ist unter solchen Umständen einfach lächerlich.

Und wenn das ZK jetzt die Konferenz mit Beteiligung von Ange-hörigen der Kampfgruppen offen verurteilt, ohne dabei ebenso offenirgendeine Resolution dieser Konferenz zu verurteilen, so bedeutet das,daß diese Konferenz die Annahmen des ZK widerlegt hat!

Um sofort zu den Beschlüssen dieser Konferenz überzugehen, nehmenwir beispielsweise ihre Resolution über die Aufgaben der Kampforgani-sationen. Wir lesen: „Die Konferenz der Militär- und Kampf Organisa-tionen stellt fest, daß die Hauptaufgaben der Kampforganisationendarin bestehen, i . eine richtige Auffassung von der Idee des bewaffnetenAufstands zu verbreiten und die konkreten Bedingungen zu erläutern,unter denen der bewaffnete Aufstand beginnen, verlaufen und erfolgreichvollendet werden kann, da selbst in den Reihen der Parteifunktionäreeine ganz verschwommene, falsche Vorstellung vom bewaffneten Auf-stand besteht; 2. alle notwendigen technischen Voraussetzungen für eineerfolgreiche Durchführung des bewaffneten Aufstands vorzubereiten;3. die Kader der sich um die SDAPR gruppierenden klassenbewußtenArbeiter für ein aktives Vorgehen zu organisieren; 4. die Organisierungder revolutionär-demokratischen Schichten der Bevölkerung zu Kampf-zwecken zu fördern und die Kampfführung der Sozialdemokratie in die-sen Schichten zu festigen."

Als Hauptaufgabe der Kampforganisationen wird also vor allem dieVerbreitung einer richtigen Auffassung vom bewaffneten Aufstand pro-klamiert. Noch deutlicher wird dieser Gedanke in der Resolution über dieRolle der Militär- und Kampforganisationen im bewaffneten Aufstandwiederholt: „Die Rolle der Kampf Organisationen besteht darin, in denVolksmassen eine richtige Auffassung vom bewaffneten Aufstand zu ent-wickeln . . . "

Wie denn, eine Beratung darüber betrachtet unser menschewistischesZK als „unzulässig"?? Oder hat es sich eilends versteckt hinter dembürokratisch-schablonenhaften Schutzschild: „Alle Aktionen, selbst Bera-

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414 "W.1. Lenin

tungen, sind in Bausch und Bogen unzulässig", weil es den Zwedk ver-folgte, sich der unangenehmen Pflicht zu entziehen, vor der Partei inbestimmter Weise auseinanderzusetzen, weldbe Aufgaben der Kampf-organisationen denn nun es als richtig und welche es als unrichtig gestelltbetrachtet??

Das ist es ja eben, daß unter den Menschewiki eine wahrhaft pharisäer-hafte Einstellung zu den Kampf Organisationen verbreitet ist: sie sindnicht abgeneigt, sich dieses oder jenes „Resultat" der Tätigkeit partei-loser Kampforganisationen zunutze zu machen, aber dafür verbreiten sieüber die Kampforganisationen der Partei Altweiberklatsch, der ihnengestattet, die Frage ganz zu umgehen, welche Methoden angewendetwerden sollen, um in den Massen eine richtige Auffassung vom bewaff-neten Aufstand usw. zu verbreiten.

Zu diesen Klatschereien gehört zum Beispiel die landläufige Behaup-tung, die Mitglieder der Kampfgruppen überschätzten (den Bolschewikifolgend) die Jedmtk des Aufstands.

Ausgezeichnet, meine Herrschaften! Ihr beschuldigt uns der Über-schätzung der ^Technik" ? Vielleicht seid ihr so freundlich, zur Klarstel-lung der Wahrheit in dieser Frage zwei Resolutionen zu lesen: die dermenschewistischen (vom Oktober) und die der bolschewistischen sozial-demokratischen Militärkonferenz (vom November).

Tiber die Arbeit unter den Offizieren. Resolution der menschewisti-schen (Oktober-)Konferenz:

„Die Konferenz stellt fest, daß die revolutionäre Propaganda unter denOffizieren eine wichtige Aufgabe ist, sowohl weil die Arbeit der sozialdemo-kratischen revolutionären Militärorganisation unter den Offizieren in fried-lichen Zeiten unsere Arbeit in den Truppenverbänden in vielen Fällen erleich-tern kann, als auch weil während des bewaffneten Aufstands revolutionäreOffiziere als technische Leiter des Aufstands dienen können. Darum emp-fiehlt die Konferenz der revolutionären Militärorganisation, der Arbeit unterden Offizieren ernste Beachtung zu schenken und danach zu streben, die Offi-ziere nach Möglichkeit als bewußte Anhänger der Sozialdemokratischen Parteizu gewinnen." (S. 13 der Flugschrift des ZK.)

Die Resolution der bolschewistischen (November-)Konferenz:„In der Erwägung, 1. daß sowohl die klassenmäßige soziale Zusammenset-

zung des Offizierskorps als auch die Interessen der Offiziere als einer be-rufsmäßigen Militärkaste diese veranlassen, die Beibehaltung des stehenden

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7M den Protokollen der 'Novemberkonjerenz 415

Heeres und der Rechtlosigkeit des Volkes anzustreben; 2. daß infolgedessen inder vor sich gehenden bürgerlich-demokratischen Umwälzung das Offiziers-korps als Ganzes eine reaktionäre Rolle spielt; 3. daß die bestehenden, oppo-sitionell gesinnten Gruppen des Offizierskorps keine aktive Rolle spielen;4. daß gleichzeitig der übertritt einzelner Offiziere in unsere Partei möglichist, die durch ihre Spezialkenntnisse und ihre militärische Spezialausbildungim Augenblick eines Aufstands der Armee und ihres Übergangs auf die Seitedes Volkes sowie bei der technischen Vorbereitung des bewaffneten Aufstandswesentliche Dienste leisten können — stellt die Konferenz der Militär- undKampforganisationen fest, 1. daß die Militärorganisationen keine selbstän-dige sozialdemokratische Organisation innerhalb des Offizierskorps aufbauenkönnen; 1. daß es notwendig ist, die bestehenden, oppositionell gesinntenOffiziersgruppen auszunutzen, um Informationen zu erlangen und um ein-zelne Mitglieder als Instrukteure und praktische Leiter in die Militär- undKampforganisationen unserer Partei aufzunehmen." (S. 132 der „Proto-kolle".)

Bei den Menschewiki nicht ein Wort-, weder über die klassenmäßigeZusammensetzung des Offizierskorps noch über seine Rolle in der gesam-ten bürgerlichen Revolution. Bei den Bolschewiki ist die Einschätzung deseinen wie des anderen an die Spitze gestellt. Das zum ersten. Bei denMenschewiki die nackte Technik, denn alle Beweise für die „Wichtigkeit"der Arbeit unter den Offizieren laufen ausschließlich darauf hinaus, daßdie Arbeit unter den Offizieren unsere Arbeit in den Truppenverbänden„erleichtern kann" (Quartiere beschaffen? legale Tarnung bieten?) undaußerdem technische Leiter stellen kann. Bei den Bolschewiki ist derTechnik in Form von Dienstleistungen „einzelner Offiziere" ein unter-geordneter Platz zugewiesen, während in den Vordergrund der Nach-weis gerückt wird, daß die Arbeiterpartei keine „selbständige sozialdemo-kratische Organisation" innerhalb des Offizierskorps aufbauen kann. Daszum zweiten. Bei den Menschewiki wird die spießbürgerliche Denkweise,die Angst davor hat, den Klassenzusammenhang des Offizierskorps mitder Bourgeoisie nachzuweisen, ergänzt durch die Zaghaftigkeit derSchlußfolgerung: sie „nach 'Möglichkeit als bewußte Anhänger derSozialdemokratischen Partei zu gewinnen". Bei den Bolschewiki hat dieoffene proletarische Einschätzung der im ganzen reaktionären Schicht zuder entschiedenen Schlußfolgerung geführt: die oppositionellen Offizieresind auszunutzen, „um Informationen zu erlangen", während „einzelne

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Mitglieder" in die Militär- und Kampforganisationen unserer Partei auf-zunehmen sind. Das zum dritten.

Es fragt sich, wie man nach alledem das menschewistische Gerede vonder Oberschätzung der „Technik" durch die Bolschewiki im allgemeinenund durch die bolschewistischen Kampfgruppenmitglieder im besonderenanders als Altweiberklatsch nennen kann. Praktisch hat dieses Gerede,wie wir sehen, dazu gedient, einerseits die technische Beschränktheit dermenschewistischen Ansicht vom Offizierskorps zu bemänteln, und ander-seits zu bemänteln, daß man sich auf rein intelligenzlerische, opportuni-stische Art davor scheut, sich über die bürgerliche Klassenzusammen-setzung des Offizierskorps klarzuwerden, sich davor scheut, in die Arbeitinnerhalb des Heeres die Idee des Klassenzwistes hineinzutragen zwi-schen der Masse der aus der Bauernschaft und der Arbeiterschaft stam-menden „unteren Dienstgrade" und dem Häuflein der Söhnchen vonAdligen oder von Bourgeois, die den Militärdienst als Weg benutzenmöchten, um sich in den Adel hineinzuschlängeln.

Diese „technische" und spießbürgerlich-opportunistische Ansicht vomOffizierskorps haben nicht nur die menschewistischen Teihiehmer derkleinen Oktoberkonferenz an den Tag gelegt. Dieselbe Ansicht sehen wirbei unserem menschewistischen ZK: man braucht nur an seinen berühm-ten vierten Brief an die Organisationen zu erinnern (aus der Zeit derAuseinanderjagung der Duma), wo die Losung „Für die Duma" alsMachtorgan, das eine konstituierende Versammlung einberuft, mit demBestreben gerechtfertigt wird, sich den Interessen und dem Bewußtseins-niveau der „mittleren Bourgeoisie und des Offizierskorps" anzupassen.In demselben BrieKverstieg sich das ZK zu der Behauptung, ein Siegder Sowjets der Arbeiterdeputierten im Kampf um die Macht würdelediglich zur Militärdiktatur der auf die Seite des Volkes übergegangenenArmee führen! Ohne die „liberalen" Offiziere, man denke nur, wärendie Soldaten nicht einmal zusammen mit dem Sowjet der Arbeiterdepu-tierten imstande, etwas anderes als eine Militärdiktatur zu gewähr-leisten !

Eine spießbürgerliche Ansicht vom Offizierskorps sehen wir auchbei Plechanow, dem ideologischen Führer der Menschewiki. Im Verlaufdes ganzen Jahres 1906 sehen wir, wie er sich anstrengt, den Bolschewikieine Überschätzung der technischen Aufgaben des Aufstands zur Last

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Zu den Protokollen der "Novemberkonjerenz 417

zu legen. Über welche Seite des Aufstands aber schrieb der ehrenwerteGen. Plechanow selber während dieser Zeit? über die Massenwurzelndes Aufstands, über die Rolle der bäuerlichen und der proletarischenElemente in ihm? Nichts dergleichen. Während dieser ganzen Zeitschrieb Gen. Plechanow nur in Nr. 7 des „Dnewnik"141 (August 1906)über einen Brief eines liberalen Offiziers, den er höflich, ja überhöflich„korrigierte" wegen seiner bürgerlichen Ansichten von den „unterenDienstgraden", von dem „ruhigen" Charakter der Periode des KabinettsWitte usw. „Ich glaube sogar", schrieb Gen. Plechanow, „daß nur" (manbeachte dieses „nur"!) „die Teilnahme von Offizieren an den Militärorga-nisationen diesen Meutereien (der Soldaten und Matrosen) ein Endemachen wird, die eine planlose und unproduktive Verausgabung der fürdie Revolution nötigen Kräfte darstellen." Sehe doch einer an, wie ener-gisch : nur die Teilnahme von Offizieren werde den Meutereien ein Endemachen!! Ohne Offiziere wird die „planlose" Verausgabung der dum-men, bäuerlichen Kräfte kein Ende nehmen. Wenn aber die bolschewi-stischen Kampfgruppenmitglieder sich zu einer Beratung zusammenfindenund der Sozialdemokratischen Partei den bescheidenen Rat geben möch-ten, es zur Hauptaufgabe der Kampforganisationen zu machen, den^Massen militärische Kenntnisse, Verständnis für den Verlauf des Auf-stands, Verständnis für die Bedingungen seiner planmäßigen Durchfüh-rung zu vermitteln, dann fangen die Pharisäer des schablonenhaftenMenschewismus an zu zetern: welche eng-technische Auffassung der„Planmäßigkeit"! Welche „unzulässige" Beratung der Kampfgruppen-mitglieder gegen den Willen des ZK!

Aber genug von diesen Pharisäern. Kehren wir zu den Protokollenzurück. An einer Stelle fanden wir dort nicht „bescheidene Ratschläge"an die Sozialdemokratische Partei, sondern eine prätentiöse und absurdeProjektemacherei. Wir meinen das Referat des Gen. Isarow142 über dieRolle der Partei im bewaffneten Aufstand. Gen. Isarow ist hier tatsäch-lich zu Absurditäten gelangt wie Aufteilung aller Parteiorganisationenin drei Haupttypen: Militär-, Kampf- und proletarische Organisationen!!Er verstieg sich sogar zu „Plänen" einer Bildung von „Militär- undKampfsowjets" aus einer paritätischen Zahl von Delegierten dieser dreiOrganisationstypen (S. 95) usw. Selbstverständlich distanzieren wir Bol-schewiki uns stets aufs entsdhiedenste von einem soldben „Kampftrara".

27 Lenin, Werke, Bd. 12

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Daß die allgemein-proletarische Organisation unbedingt dominieren unddie entscheidende Stimme haben muß, daß alle Militär- und Kampforga-nisationen ihr völlig untergeordnet sein müssen, daß es notwendig ist,die besagten Kampforganisationen ganz und gar auf die Kader partei-organisierter sozialdemokratischer Arbeiter zu gründen (oder vielleichtsogar die Kampforganisation durdh eine Parteimiliz zu ersetzen) - allesdas steht für uns außer Zweifel.

Und wenn man uns zu fraktionellen Zwecken die albernen Verstiegen-heiten des Gen. Isarow unter die Nase reiben will, dann bitten wir der-artige „Kritiker", nicht zu vergessen, daß die bolschewistische "Konferenzder Militär- und Kampforganisationen den Jsarowsdhen Übertreibungennicht gefolgt ist! Die beste Widerlegung der Verleumdungen gegenunsere Kampfgruppenmitglieder ist die Tatsache, daß sie selber auf ihrerKonferenz die Isarowsche Projektemacherei einfach beiseite geschobenhaben. Damit ihre Meinung über die Rolle der SozialdemokratischenPartei im bewaffneten Aufstand nicht als prätentiöse Aufdringlichkeitoder Befehlshaberei usw. aufgefaßt werden konnte, verwandelten sieselber ihre Konferenz zu dieser Frage in eine private Beratung (sieheNr. 9 des „Proletari" und S. 116 der „Protokolle"). Und erst in dieserprivaten Beratung nahm man einmütig eine Resolution an, in der es kei-nerlei Projektemacherei ä la Isarow gibt, in der vielmehr nur von der„Sicherstellung der engsten Verbindung und Zusammenarbeit der allge-mein-proletarischen Organisationen und der Militär- und Kampforgani-sationen" gesprochen wird. Dabei ist in der Resolution über die Auf-gaben der Militärorganisationen die „"Unterordnung der ganzen Arbeit"unter die „politische Führung der allgemein-proletarischen Organisa-tionen" besonders unterstrichen (Nr. 9 des „Proletari" und S. 137 der„Protokolle"). Wenn die bolschewistischen Kampfgruppenmitglieder es so-gar allein fertiggebracht haben, Isarow zu korrigieren, dann kann man sichvorstellen, inwieweit die Ängste des ZK vor einer gemeinsamen Beratungder Militär- und Kampforganisationen der ganzen Partei begründet sind.

Der Platz erlaubt es uns nicht, mit der gleichen Ausführlichkeit auf dieanderen Seiten der Konferenzarbeit einzugehen. Hervorheben wollen wir,daß fast die "Hälfte des umfangreichen Buches den Berichten über dieArbeit unter den Truppen (S. 10-49) und über die früheren bewaffnetenAufstandsversuche (S. 53-59, 64-79) gewidmet ist. Das ist ein außer-

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Zu den Protokollen der "Novemberkonferenz 419

ordentlich wertvolles Material, und für das Verdienst, es zusammen-getragen und verarbeitet zu haben, werden alle klassenbewußten sozial-demokratischen Arbeiter der Konferenz der Militär- und Kampforgani-sationen Dank wissen. Hervorheben wollen wir das Referat des Gen.Warin143 „über die unternommenen bewaffneten Aufstandsversuche";in diesem Referat steht das Studium des bewaifneten Aufstands als einerbesonderen Art der Massenbewegung, einer besonderen Art des prole-tarischen Klassenkampfes im Vordergrund. Unterstrichen wird das histo-rische Moment der äußersten Zuspitzung des Kampfes bestimmter Klassenals Voraussetzung des Aufstands. Untersucht wird die Rolle der ein-zelnen Klassen, die Abhängigkeit der Bewegung in den Truppenverbän-den von dem sozialen Kräfteverhältnis, die Unabtrennbarkeit der poli-tischen Seite des Aufstands von seiner militärischen, die Bedeutung„breiter demokratischer Organisationen der Volksmassen" als der Vor-aussetzungen für eine provisorische revolutionäre Regierung usw. SolcheFragen zu studieren ist natürlich etwas schwieriger, als „taktische Platt-formen" zu schreiben mit kadettischen Phrasen über den „Glauben derproletarischen Massen an das Wunder eines plötzlichen Aufstands"(siehe die „Taktische Plattform" von Martow und Konsorten).

Hervorheben wollen wir schließlich noch die Diskussion über die gegen-wärtige Lage mit der vortrefflichen Rede des Gen. Iljan144, der im Novem-ber 1906, auf der Konferenz der Militär- und XampfOrganisationen, An-sichten über die zweite Duma vorzutragen wußte, die durch die Ereig-nisse glänzend bestätigt worden sind. „Ich gestatte mir, die Duma zustreifen", sagte er. „In der Duma werden wir absolut nicht die Zusam-mensetzung haben, wie wir sie in der vergangenen Duma hatten. Wirwerden die mobilisierte Revolution und die mobilisierte Reaktion haben.Die Bauernschaft wird besonders infolge der Nichterfüllung ihrer Erwar-tungen revolutionärere Elemente entsenden als in die vorangegangeneDuma. Zweifellos wird dasselbe auch mit dem Proletariat der Fall sein . . .Unser Unglück ist, daß ein Teil der Sozialdemokratie danach strebt, dieDuma mit irgendeiner Zwischenschicht von Liberalen zu füllen." (S. 84der „Protokolle".)

Auf der Konferenz der Kampfgruppen hat man die Politik richtigereinzuschätzen gewußt, als Plechanow und das menschewistische ZK imNovember 1906 es konnten!

27.

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420 TV. 1 Lenin

Den Inhalt der „Protokolle" in einem Zeitungsartikel zu erschöpfen,ist selbstverständlich unmöglich, und wir schließen mit dem dringendenRat, sie zu studieren. Dieser Rat gilt denjenigen Sozialdemokraten, diefähig sind, über Fragen des Aufstands ohne liberales Gekicher zusprechen.

Qesdbrieben im April 1907.

Veröffentlicht am 2. Mai 1907 Tiado dem 7ext des ,J>roletari'.im .Vroletari' Nr. 16.

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421

BERICHT AN DEN V. PARTEITAG DER SDAPR

OBER DIE PETERSBURGER SPALTUNG, UND DIE

DAMIT ZUSAMMENHÄNGENDE EINSETZUNG EINES

PARTEIGERICHTS145

Das ZK unserer Partei hat, wie aus bürgerlichen Zeitungen („Towa-rischtsdi" u. a.) bekannt ist, ein Parteigericht eingesetzt zur Untersuchungmeiner Handlungsweise - nämlich meiner Broschüre „Die Wahlen inPetersburg und die 'Heudhelei der 31 TWensdbewiki"*, die erschien, alsdie Petersburger sozialdemokratische Organisation bei den Wahlen zurzweiten Duma gespalten war.

Das Gericht wurde zusammengesetzt aus drei von mir benannten Ver-tretern, drei Vertretern der 31 Menschewiki und drei Präsidiumsmit-gliedern, die von den Zentralkomitees der lettischen und der polnischenSozialdemokratie sowie des „Bund" benannt wurden. Ich unterbreitetediesem Gericht eine Gegenklage gegen die 31 Menschewiki und denGen. Dan (Mitglied der Redaktion des Zentralorgans - und über das ZOauch Mitglied des ZK) wegen unzulässigen Verhaltens. Diese Gegenklagewurde unterstützt einerseits durch eine Versammlung von 234 Peters-burger bolschewistischen Parteimitgliedern (ihre Resolution wurde zusam-men mit ihrem Bericht, der ein Resümee der ganzen Angelegenheit gibt,in Nr. 13 des „Proletari" veröffentlicht) und anderseits durch die Peters-burger sozialdemokratische Konferenz (abzüglich der abgespaltenen Men-schewiki). Die Resolution dieser Konferenz ist in Nr. 14 des „Proletari"veröffentlicht.146

Das Gericht als eine vom Zentralkomitee bestellte Einrichtung hieltsich nicht für berechtigt, selbständig die 31 und den Gen. Dan unterAnklage zu stellen, und wandte sich zwecks Feststellung seiner Kom-

* Siehe den vorliegenden Band, S. 19-30. D)'e Red.

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422 W J.Lenin

petenz in der Frage der Gegenklage an das gleiche ZK. Das ZK behan-delte diese Frage in einer Sondersitzung von neuem und bestätigte, daßdas betreffende Gericht nur gebildet worden sei, um die AngelegenheitLenins zu untersuchen, und eine neue gerichtliche Klage gegen neue Per-sonen hänge ganz und gar vom ZK ab, das es natürlidi für seine Pflichthalten werde, jeden, gegen den das gegebene Gericht eine Anklagewegen unzulässiger Handlungsweise formuliere, vor ein Gericht zu stel-len. Die Zusammensetzung dieses neuen Gerichts bleibt wiederum voll-ständig dem Ermessen desselben ZK überlassen.

Auf diese Weise ergab sich ein ganzer Knäuel toller Ungereimtheitenund Widersprüche. Das menschewistische ZK spielt die Rolle einerInstanz, die Genossen vor Gericht stellt und die Zusammensetzungsowohl wie die Kompetenz des Gerichts bestimmt. Eine Gegenklage istgegen einen Führer des menschewistischen Teils des ZK erhoben worden.Ein und dieselben Personen erweisen sich als diejenigen, die das Gerichternennen, die Anklage vertreten und über die Frage nach der Einleitungeiner Gegenklage gegen sie selbst entscheiden!

Es ist verständlich, daß solche Zustände die Achtung vor der Parteinicht heben können. Den Knäuel von Ungereimtheiten kann nur derParteitag entwirren. Und deshalb richte ich an den Parteitag das Ersuchen,dem Gericht unmittelbar vom Parteitag aus die ganze Fülle der Gerichts-gewalt zuzusprechen; das Gericht völlig unabhängig vom ZK zu machen,das (in seinem menschewistischen Teil) ganz offensichtlich in der Sacheparteiisch ist; dem Gericht das Recht zuzugestehen, die Sache allseitig,ohne alle Einschränkungen zu untersuchen und alle Parteimitglieder undParteiinstanzen einschließlich des menschewistischen Teils des ZK unterAnklage zu stellen usw.

Damit die Delegierten des Parteitags der SDAPR sich über dieSache informieren können, füge ich bei: 1. den vollständigen Textmeiner Verteidigungsrede (bzw. Anklagerede gegen den menschewi-stischen Teil des ZK), der von mir in der ersten Gerichtssitzungverlesen wurde. (Das Gericht hatte im ganzen zwei Sitzungen undvernahm drei Zeugen von mehreren Dutzend. Die Sitzungen des Gerichtssind durch den Parteitag unterbrochen worden.) 2. Ich füge einekurze Darstellung der faktischen Geschichte der Spaltung in Peters-burg bei.

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"Bericht an den V. Parteitag der ST)JPH 423

I .LENINS VERTEIDIGUNGSREDE (BZW. ANKLAGE-REDE GEGEN DEN MENSCHEWISTISCHEN TEIL

DES ZK) VOR DEM PARTEIGERICHT

Genossen Richter!

Das ZK hat gegen mich die Anklage erhoben, ich sei (in der Presse)in einer für Parteimitglieder unzulässigen Weise aufgetreten. So heißt esin dem Beschluß des ZK über die Einsetzung eines Parteigerichts. Ichwill unmittelbar mit dem Wesen der Sache beginnen und verlese denvollen Text der „Erklärung", 'die das ZK „dem Gericht zur Unter-suchung vorlegt" .-

. . . „Das ZK konstatiert, daß in der von Genossen Lenin gezeichneten Bro-schüre ,Die Wahlen in Petersburg und die Heuchelei der 31 Menschewiki'31 Mitglieder der St.-Petersburger Organisation direkt beschuldigt werden,daß sie mit der Partei der Kadetten in Verhandlungen getreten seien ,zumVerkauf von Arbeiterstimmen an die Kadetten' und daß ,die Menschewikimit den Kadetten gefeilscht haben, um mit Hilfe der Kadetten gegen den Wil-len der Arbeiter einen der ihren in die Duma zu schmuggeln'.

Das ZK konstatiert, daß das Erscheinen einer derartigen Beschuldigung inder Presse, besonders am Vorabend der Wahlen, Verwirrung in die Reihendes Proletariats hineintragen muß, da sie die politische Ehrlichkeit von Partei-mitgliedern anzweifelt und von den Feinden des Proletariats zum Kampfgegen die Sozialdemokratie ausgenutzt werden wird.

Da das ZK findet, daß ein derartiges Auftreten für Parteimitglieder unzu-lässig ist, läßt es die Handlungsweise des Gen. Lenin von einem Parteigerichtuntersuchen."

Das ist der vollständige Text der Anklage. Ich will vor allen Dingenbemerken, daß hier eine grobe, den Tatsachen glatt widersprechende"Unwahrheit vorliegt, die ich das Gericht bitten werde, auf Grund desTextes meiner inkriminierten Broschüre richtigzustellen. In dieser Bro-schüre ist nämlich klipp und klar gesagt, daß ich nidht nur die 31 Men-schewiki, sondern audh Qen. "Dan, d. h. ein Mitglied des Zentralkomiteesanklage.

Als das ZK seinen Beschluß faßte, wußte es selbstverständlidb sowohl,daß Gen. Dan Mitglied des ZK ist (vielleicht war er sogar an der Er-örterung der Frage oder an dem Beschluß, mich wegen einer Beschuldi-

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gung gegen Dan vor Gericht zu stellen, beteiligt?), als auch daß ich nichtnur die 31 beschuldige, sondern auch Dan. Also hat das ZK aus der Zahlder von mir beschuldigten Personen sein TAitgUed bewußt herausgenom-men. Hier handelt es sich schon nicht mehr um die faktische Unwahrheitallein, sondern um etwas Schlimmeres, etwas absolut Unzulässiges, undin der Folge werde ich ausführlich auf die Würdigung dieser Seite derSache eingehen, werde mich bemühen, gerade sie mit allem Material dergerichtlichen Untersuchung aufzuklären.

Ich komme nun zum Wesen der Anklage.Das ZK führt zwei Zitate aus meiner-Broschüre an, und jedes dieser

Zitate muß ich möglichst gründlich untersuchen. Ich verstehe natürlich,daß es sich um die ganze angegebene Broschüre handelt und nicht nurum diese beiden Zitate. Aber ich nehme sie nach dem Beispiel des Zen-tralkomitees als das Grundlegende und Wichtigste.

Das erste Zitat ist dem Anfang der Broschüre entnommen. Ich erlaubemir, eine ganze Seite vorzulesen, um zu zeigen, in welchem Zusammen-hang dieses Zitat steht:

„Die Zeitung ,Towarischtsch' veröffentlicht heute (am 20. Januar)" -ich erinnere daran, daß die Sache sich also fünf Tage vor der Bildungdes Linksblocks in St. Petersburg und 16 Jage vor den Wahlen zurReichsduma in der Stadt St. Petersburg abspielte - „umfangreiche Aus-züge aus dem Aufruf der 31 Menschewiki, die sich am Vorabend derWahlen in St. Petersburg von der sozialistischen Organisation abgespal-ten haben."*

Ich unterstreiche, daß gleich der erste Satz der Broschüre die grund-legende Tatsache der Spaltung in St. Petersburg am Vorabend der Wah-len an die Spitze stellt. Ich unterstreiche diesen Umstand, denn ich werdein der Folge noch oft auf seine Bedeutung hinzuweisen haben.

Ich zitiere weiter;„Erinnern wir zunächst mit ein paar Worten an die faktische Ge-

schichte der Machenschaften, die sich die von der Sozialdemokratie ab-gespaltenen Menschewiki nach dem Verlassen der Konferenz geleistethaben . . . " Diesem Verlassen der Konferenz und seiner Bedeutung hatteich die Broschüre „Die Sozialdemokratie und die Wahlen in Petersburg",

* Siehe den vorliegenden Band, S. 19. Die Red.

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'Bericht an den V.Parteitag der SVÄPR 425

ferner die Broschüre „Der Narr als Richter (Aus den Notizen einessozialdemokratischen Publizisten)"* gewidmet, die einige Tage vor derzur Untersuchung stehenden Broschüre erschienen. Die letztere ist vonder Polizei fast vollständig beschlagnahmt worden. Es sind nur einigeExemplare erhalten, und ich berufe mich auf sie, damit das Gericht dasBild der damaligen Vorgänge in seiner Gesamtheit und nicht nur in ein-zelnen Bruchstücken studieren kann.

. . . „ 1 . Nachdem sie sich von den sozialdemokratischen Arbeitern abge-spalten hatten, bildeten sie einen Block mit dem Kleinbürgertum (Sozialrevo-lutionären, Trudowiki und Volkssozialisten) zu gemeinsamem Mandats-schacher mit den Kadetten. Den schriftlichen Vertrag über diesen Eintritt derabgespaltenen Sozialdemokraten in den kleinbürgerlichen Block verheimlich-ten sie vor den Arbeitern und vor der Öffentlichkeit.

Wir geben indessen die Hoffnung nicht auf, daß dieser Vertrag doch nochveröffentlicht wird und daß das Verborgene offenbar wird."

Ich mache das Gericht darauf aufmerksam, daß in meiner Broschüre,worin Dan und die 31 Menschewiki angeklagt werden, sogleich das Mo-ment der Verheimlichung des schriftlichen Vertrags vor den Arbeiternunterstrichen wird. Gehen wir weiter:

„2. Als Bestandteil des kleinbürgerlichen Blocks (der in den Zeitungenfälschlich als .Linksblock' bezeichnet wird) haben die abgespaltenen Men-schewiki mit den Kadetten darum gefeilscht, daß diesem Block drei von sechsDumasitzen überlassen werden. Die Kadetten wollten zwei Sitze geben. Manwurde nicht handelseins. Die kleinbürgerliche .Konferenz' (der Ausdruckstammt nicht von uns, sondern aus den Zeitungen) mit den Kadetten tagte ami8. Januar. Ober diese Tagung haben die .Retsch' und der .Towarischtsch'berichtet. Die .Retsch' erklärt heute, das Abkommen sei nicht zustande ge-kommen (wenn wir auch natürlich darauf gefaßt sein müssen, daß hinter ver-schlossenen Türen trotzdem noch Verhandlungen stattfinden).

Die Menschewiki berichten einstweilen in der Presse nichts über diese ihre,Äktion' zum Verkauf von Arbeiterstimmen an die Kadetten."

In diesem Zusammenhang also steht das erste Zitat. Meine Wortegegen die Menschewiki wurden an demselben Tage geschrieben, an demidb zum ersten THale aus den Zeitungen erfuhr, daß der Block der Men-schewiki und der Volkstümler mit den Kadetten gegen die Mehrheit derPetersburger sozialdemokratischen Organisation nicht zustande gekom-

* Siehe Werke, Bd. 11, S. 435-460 und 461-480. Die "Red.

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men war, wobei ich gleich den Vorbehalt machte, daß ich das Abkommennicht für endgültig gescheitert halten könne, daß man auf das Sdhiimmstegefaßt sein müsse: auf die Fortsetzung der Verhandlungen „hinter ver-schlossenen Türen". Warum meinte ich damals (und ich halte meine da-malige Anschauung auch jetzt für richtig), daß man auf dieses Schlimmstegefaßt sein müsse? Weil die Verheimlichung des schriftlichen Vertragsder Menschewiki mit dem kleinbürgerlichen Block vor der Öffentlichkeiteine falsche, eines Sozialisten unwürdige Handlungsweise war, die un-vermeidlich den schlimmsten Verdadot erwecken mußte.

Von was für einem „Verkauf" von Arbeiterstimmen an die Kadettenist- hier die Rede? Einige Spaßvögel sagten mir, sie hätten es so verstan-den, daß ich hier von einem Verkauf gegen Qeld spreche. Dieser Spaßentbehrt natürlich nicht des Witzes. Aber ein des Lesens und Schreibenskundiger Mensch, der ernsthaft die ganze Broschüre und nicht heraus-gerissene Stellen liest, wird selbstverständlich aus dem Zusammenhang,aus allen vorhergegangenen und folgenden Sätzen sofort ersehen, daß essich hier um einen Verkauf nidht gegen Qeld, sondern gegen T>umasitzehandelt. Unter „Feilschen" und „Kauf und Verkauf" ist der Austauschpolitischer Äquivalente und nicht ökonomischer, der Tausch von Stim-men gegen Sitze und nicht von Stimmen gegen Geld zu verstehen.

Es fragt sich, ob es sich gelohnt hat, auf einen so klaren und offen-sichtlichen Umstand einzugehen.

Ich bin fest überzeugt, daß es sich gelohnt hat, denn in diesem Punktekommen wir dicht an die Klärung der Frage heran, die vom Zentral-komitee gestellt ist, nämlich der Frage, welche Ausführungen in der Pressezulässig und welche unzulässig sind.

Wenn an der fraglichen Stelle der Broschüre gesagt worden wäre: die31 haben die Stimmen der Arbeiter den Kadetten für Geld verkauft,dann hieße das dem Gegner eine schimpfliche und verbrecherische Hand-lungsweise zuschreiben. Für eine solche Behauptung gehörte der, der sieaufgestellt hat, vor Gericht, selbstverständlich durchaus nicht wegen„Hineintragens von Verwirrung in die Reihen des Proletariats", sondernwegen Verleumdung. Das ist völlig klar.

Umgekehrt, wenn an der fraglichen Stelle der Broschüre gesagt wor-den wäre: die 31 sind dafür eingetreten, die Stimmen der Arbeiter mitden Stimmen der Kadetten zu vereinigen, unter der Bedingung, daß die

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"Bericht an den V. Parteitag der SVAPR 427

Sozialdemokraten einen Dumasitz erhalten - dann wäre es das Muster-beispiel einer loyalen, korrekten, für Parteimitglieder zulässigen Polemik.

Wodurch unterscheidet sich nun von dieser Formulierung diejenige, dieich gewählt habe? Sie unterscheidet sich durch den Ton, der die ganzeMusik macht. Diese Formulierung ist nämlich gleichsam darauf berech-net, beim Leser Haß, Abscheu, Verachtung gegenüber Leuten zu wecken,die solche Taten begehen. Diese Formulierung ist nicht darauf berechnet,zu überzeugen, sondern darauf, Reihen zu zerschlagen; nicht darauf, denFehler des Gegners zu korrigieren, sondern darauf, seine Organisationzu vernichten, sie vom Erdboden wegzufegen. Tatsächlich ist diese For-mulierung derart, daß sie die schlimmsten Gedanken, den schlimmstenVerdacht gegenüber dem Gegner hervorruft und tatsächlich, im Gegen-satz zu einer Formulierung, die überzeugen und korrigieren will, „Ver-wirrung in die Reihen des Proletariats hineinträgt".

Also geben Sie zu, daß eine solche Formulierung unzulässig ist? wirdman mich fragen. Natürlich, ja, antworte ich, nur mit einem kleinen Zu-satz: unzulässig für Mitglieder einer einigen Partei. Dieser Zusatz bildetden ganzen Angelpunkt der Frage. Die vom Zentralkomitee gegen micherhobene Beschuldigung ist deshalb so unrichtig, ja noch mehr: so unehr-lich, weil das ZK verschweigt, daß es eine einige Partei zu der Zeit, dadie Broschüre geschrieben wurde, in der Organisation, von der sie (nichtformal, wohl aber dem Wesen der Sache nach) ausging und deren Zielensie diente, nicfet gab. Es ist unehrlich, jemand zu beschuldigen, er sei ineiner „für Parteimitglieder unzulässigen Weise in der Presse aufgetreten",wenn bei dem gegebenen Anlaß die Partei gespalten war.

Die Spaltung ist der Abbruch jeder organisatorischen Verbindung, derden Meinungsstreit vom Boden der Einwirkung innerhalb der Organisa-tion auf den Boden der Einwirkung außerhalb der Organisation, vomBoden der Richtigstellung und der Überzeugung von Genossen auf denBoden der Vernichtung ihrer Organisation, auf den Boden der Aufrei-zung der Arbeiter- (und überhaupt der Volks-) Masse gegen die abge-spaltene Organisation verlegt.

Das, was zwischen Mitgliedern einer einigen Partei unzulässig ist, dasist zulässig und unbedingt notwendig zwischen den Teilen einer ge-spaltenen Partei, über Parteigenossen darf man nicht in einer Spracheschreiben, die in den Arbeitermassen systematisch Haß, Abscheu, Ver-

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achtung usw. gegen Andersdenkende sät. Aber man darf und muß geradein der erwähnten Weise schreiben über eine abgespaltene Organi-sation.

Warum muß man das? Weil die Spaltung dazu verpflichtet, die Mas-sen der Führung durch die Abgespaltenen zu entreißen. Man sagt mir:Sie haben Verwirrung in die Reihen des Proletariats hineingetragen. Ichantworte: Ich habe bewußt und mit Berechnung Verwirrung in die Reihendes Teils des Petersburger Proletariats getragen, der den Menschewikifolgte, die am Vorabend der Wahlen sich abgespalten hatten, und idbwerde bei einer Spaltung immer so handeln.

Mit meinen scharfen, beleidigenden Angriffen auf die Menschewiki amVorabend der Wahlen in St. Petersburg habe ich wirklich die Reihen desan sie glaubenden und ihnen folgenden Proletariats ins Wanken ge-bracht. Das war mein Ziel. Das war meine Pflicht als Mitglied der Peters-burger sozialdemokratischen Organisation, die die Kampagne des Links-blocks durchführt. Denn nadb der Spaltung mußte man, um diese Kam-pagne durchführen zu können, die Reihen der Menschewiki zerschlagen,die das Proletariat hinter die Kadetten bringen wollten, mußte man Ver-wirrung in ihre Reihen hineintragen, mußte man in der Masse Haß, Ab-scheu und Verachtung gegen diese Menschen erwecken, die aufgehört hat-ten, Mitglieder einer einigen Partei zu sein, die zu politischen Feindengeworden waren und die unserer sozialdemokratischen Organisation inihrer Wahlkampagne in den Rücken fielen. Gegen soldhe politischenFeinde habe ich damals einen Vernidhlungskzmpt geführt, und idh werdeihn im Falle einer Wiederholung oder Vertiefung der Spaltung stetsfuhren.

Wenn wir nach der von den Menschewiki in St. Petersburg bewerk-stelligten Spaltung nicht Verwirrung in die Reihen des von den Mensche-wiki geführten Proletariats hineingetragen hätten, so hätten wir unsereWahlkampagne, die Kampagne des Linksblocks, nicht durchführen kön-nen. Und ich bedaure nur, daß ich infolge meiner Abwesenheit von Pe-tersburg nidht genügend mithelfen konnte, die Massen dem Einfluß derMenschewiki, die sich abgespalten hatten, zu entreißen, denn bei einereifrigeren und erfolgreicheren Erfüllung dieser Aufgabe würde der Links-block in St. Petersburg gesiegt haben. Das ist durch das Zahlenmaterialüber die Wahlergebnisse bewiesen.

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Beridht an den V. Parteitag der SVAPR 429

Der logische (und natürlich nicht nur logische) Grundfehler der An-klage besteht gerade darin, daß man die Frage der Spaltung perfide um-geht, die Tatsache der Spaltung verschweigt und versucht, Forderungen,die vom Gesichtspunkt der Einheit der Partei aus berechtigt sind, unterVerhältnissen geltend zu machen, wo es keine Einheit, keine einige Parteigibt, und noch dazu - ich werde das später beweisen - nicht gibt durchdie Schuld des Anklägers, des ZK selber, das die Spaltung bewerkstelligtund bemäntelt hat.

Wollte jemand den Maßstab des innerhalb der Partei zulässigen Kamp-fes an den Kampf auf dem Boden der Spaltung anlegen, an einen Kampf,der von außen gegen die Partei oder (bei örtlicher Spaltung) gegen diebetreffende Parteiorganisation geführt wird, so müßte man einen solchenMenschen entweder für kindlich naiv oder für einen Heuchler halten.Vom organisatorischen Standpunkt aus bedeutet die Spaltung den Ab-bruch jeder organisatorischen Verbindung, d. h. den Übergang von einemKampfe, der Genossen innerhalb der Organisation überzeugen soll, zueinem Kampfe, der die feindliche Organisation zerstören und ihren Ein-fluß auf die Massen des Proletariats zunichte machen soll. Vom psycho-logischen Standpunkt aus ist es ganz klar, daß der Abbruch jeder organi-satorischen Verbindung zwischen Genossen sdbon die hödbsteStufe gegen-seitiger Erbitterung und Feindschaft bedeutet, die in Haß übergegan-gen ist.

Bei der Petersburger Spaltung aber waren noch zwei besondere Um-stände im Spiel, die die Schärfe und Unerbittlichkeit des Kampfes ver-zehnfachten.

Der erste Umstand ist die Rolle des Zentralkomitees der Partei. „LautStatut" mußte es auf die Einigkeit hinarbeiten, und eine örtliche Spaltungdurfte niemals zum Kampfe auf dem Boden der Spaltung führen, son-dern zu einer Beschwerde beim ZK oder, allgemeiner gesprochen, zueinem Ersuchen an das ZK, es solle helfen, die Einheit wiederherzustel-len. In Wirklichkeit aber war das ZK in St. Petersburg am Vorabend derWahlen Initiator der Spaltung und selbst an ihr beteiligt. Gerade dieserUmstand, der in der Begründung zu dem Beschluß der Konferenz, eineGegenklage einzureichen, ausführlich und dokumentarisch dargelegt ist,nötigt uns auch, die Petersburger Spaltung als eine unehrliche Spaltungzu bezeichnen. Ich werde darüber noch besonders sprechen und darauf

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bestehen, daß das Gericht die Fragen aufwerfe, die sich aus der recht-lichen Natur dieser vom Angeklagten gegen den Ankläger erhobenen An-klage ergeben.

Der zweite Umstand ist die Wahlkampagne in Petersburg zur Zeit derSpaltung. Wenn ein offenes, massenhaftes politisches Auftreten oderüberhaupt eine politische Aktion der Partei nicht sofort erfolgen muß, sokann es zuweilen vorkommen, daß die Spaltung nicht den unverzüglichenschonungslosen Vernichtungskampf notwendig macht. Wenn aber einesolche Massenaktion, wie zum Beispiel eine Wahl, im Gange ist, wennes notwendig ist, um jeden Preis sofort in die Wahlen einzugreifen undsie so oder so durchzuführen - dann bedeutet die Spaltung unbedingtden sofortigen Vernichtungskampf, den Kampf um die Frage, wer dieWahlen durchführt: die betreffende sozialdemokratische Organisationoder die Gruppe, die sich von ihr abgespalten hat. Bei einer solchen Spal-tung darf die Aufgabe, die Massen dem Einfluß der Spalter zu entreißen,deren Organisation zu zerschlagen und sie selber zu politischen Nullenzu machen, auch nicht eine Minute aufgeschoben werden. Und nur dankder unerbittlichen Wucht des bolschewistischen Angriffs auf die Men-schewiki, nach deren Abspaltung am 6. Januar, kam in der Hauptstadtnoch eine verhältnismäßig einmütige, einigermaßen parteimäßige, einersozialdemokratischen zumindest ähnliche Wahlkampagne zustande.

Man sagt: Kämpft, aber nicht mit vergifteten Waffen! Das ist zweifel-los ein sehr schöner, effektvoller Ausspruch. Er ist jedoch entweder eineschöne leere Phrase, oder er drückt in verschwommener, unklar-verwor-rener Form eben den Gedanken eines Kampfes aus, der in der MasseHaß, Abscheu und Verachtung gegen die Gegner weckt, eines Kampfes,der in einer einigen Partei unzulässig, aber angesichts einer Spaltung kraftdes ganzen Wesens der Spaltung unvermeidlich und notwendig ist -jenen Gedanken, den ich schon zu Beginn meiner Rede entwickelt habe.Wie immer man auch diese Phrase oder Metapher drehen und wendenmag, man wird nicht eine Spur realen Inhalts aus ihr herauspressenaußer eben den Unterschied zwischen einer loyalen und korrektenKampfmethode mittels Überzeugung innerhalb der Organisation undeiner Kampfmethode mittels der Spaltung, d. h. durch Vernichtung derfeindlichen Organisation, durch Schürung von Haß, Abscheu, Verachtungin der Masse gegen diese Organisation. Vergiftete Waffen - das sind

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unehrliche Spaltungen, aber nicht der Vernichtungskampf, der sich auseiner vollzogenen Spaltung ergibt.

Gibt es Grenzen des zulässigen Kampfes auf dem Boden der Spaltung?Parteimäßig zulässige Grenzen eines solchen Kampfes gibt es nicht undkann es nicht geben, denn eine Spaltung ist das Ende des Bestehens d«rPartei. Geradezu lächerlich ist der Gedanke, man könnte auf dem Partei-wege, durch Parteibeschluß usw. gegen Kampfmethoden ankämpfen, diesich aus einer Spaltung der Partei ergeben. Die Grenzen des Kampfesauf dem Boden der Spaltung — das sind nicht parteimäßige, sondern dieallgemein politischen oder, richtiger sogar, die allgemein staatsbürger-lichen Grenzen, die Grenzen des Strafgesetzes und sonst gar nichts.Wenn ihr euch von mir abgespalten habt, so könnt ihr von mir nichtmehr verlangen als von einem Kadetten oder einem Sozialrevolutionäroder von irgendeinem Menschen auf der Straße usw.

Ich will meine Gedanken noch durch ein anschauliches Beispiel klar-machen. Der „Proletari" wird in seiner nächsten Nummer einen Berichtüber die Wahlen in der Stadt Kowno bringen, der von dort eingegangenist. Der Berichterstatter ist sehr unzufrieden mit dem Block zwischen„Bund" und „Dostishenzen"147 gegen die litauischen Sozialdemokratenund übt scharfe Kritik am „Bund". Was für eine Kritik ist für Mitgliedereiner einigen Partei zulässig? Die Unzufriedenheit müßte beispielsweiseso ausgedrückt werden: Die Bundisten handelten nicht richtig, als sieeinen Block mit den jüdischen Bourgeois gegen Sozialisten einer anderenNation eingingen; in dieser Handlungsweise zeigt sich der Einfluß derIdeen des kleinbürgerlichen Nationalismus usw. usf. Solange wir uns mitdem „Bund" in einer einigen Partei befinden, wäre eine Broschüre gegenihn absolut unzulässig, die, am Vorabend von Wahlen unter die Massengebracht, die Bundisten als Verräter des Proletariats behandeln würde.Aber wenn sich die Geschichte des Jahres 1903 wiederholen sollte - dieGeschichte wiederholt sich überhaupt nicht, und ich nehme ein erdachtesBeispiel - und der „Bund" spaltete sich von der Partei ab, könnte dannetwa jemand ernstlich die Frage der Unzulässigkeit von Broschüren auf-werfen, die darauf abzielen, der Arbeitermasse des „Bund" Haß, Ab-scheu und Verachtung gegen ihre Führer einzuflößen als gegen verkleideteBourgeois, die sich der jüdischen Bourgeoisie verkauft haben und durchVermittlung der Bourgeoisie ihre Leute in die Duma schmuggeln wollen

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usw.? Jedem, der eine solche Anklage erhöbe, würde man einfach insGesicht lachen: Macht keine Spaltung, verwendet nicht die „vergiftetenWaffen" der Spaltung, oder ihr dürft euch hinterher nicht beklagen, daßdie, die das vergiftete Schwert erhoben haben, durch das vergifteteSchwert umkommen!

Nach allem bereits Gesagten brauche ich auf das zweite Zitat nichtnäher einzugehen. Es lautet: „Die Menschewiki haben mit den Kadettengefeilscht, um mit Hilfe der Kadetten gegen den Willen der Arbeitereinen der ihren in die Duma zu schmuggeln - das ist die einfache Lösungdes Rätsels aller dieser Wanderungen von den Sozialdemokraten zumkleinbürgerlichen Block und vom kleinbürgerlichen Block zu den Kadet-ten."* Man versuche, dieses Zitat formal und äußerlich zu zergliedernvom Standpunkt einer einigen Partei aus, und man wird natürlich sagen:Statt „gefeilscht" müßte man von Parteimitgliedern schreiben „Verhand-lungen geführt"; statt „zu schmuggeln" müßte man schreiben „durchzu-bringen", statt „einen der ihren" - „einen sozialdemokratischen Abgeord-neten" usw. usf. Aber kann denn eine solche „Zergliederung" des Zitatsoder ein solches „Urteil" über die Ausdrucksweise etwas anderes hervor-rufen als ein Lächeln? Ist es nicht klar, daß die beleidigendste, verächt-lichste, alles im schlechtesten und nicht im besten Sinne auslegendeAusdrucksweise ebenKampf auf dem Boden derSpaltung zwedksVernidb-tung der Organisation ist, die die politische Kampagne des sozialdemo-kratischen Proletariats an dem betreffenden Ort hintertreibt? Sich überden kränkenden, beleidigenden und verdächtigenden Charakter solcherAusdrücke beschweren wäre dasselbe, wie wenn sich ein Streikbredberbeklagen wollte, man spiele ihm übel mit! Beschwerden oder Anklagenauf dieser Ebene zu untersuchen wäre dasselbe, wie wenn wir das Wort„Streikbrecher" als unzulässig verurteilen wollten, ohne überhaupt sadh-lidb untersucht zu haben, ob die Handlungsweise der betreffenden Personwirklich Streikbruch war.

Es gibt Spaltungen und Spaltungen. Schon verschiedentlich habe ichden Ausdruck „unehrliche" Spaltung gebraucht. Auf diese Seite der Fragewill ich jetzt eingehen. Das ZK schreibt in seiner Anklage, daß ich diepolitische Ehrlichkeit von Parteimitgliedern anzweifle. Das ist viel zumilde ausgedrückt und auf die eben angeführten Zitate nicht richtig an-

* Siehe den vorliegenden Band, S. 25/26. Die Red. -

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gewandt. Von mir wird nicht nur die „politische Ehrlichkeit" der 31 und-Dans „angezweifelt". Ich beschuldige sie mit dem ganzen Inhalt meiner„Wahlbroschüren" der politisch unehrlichen oder vom Standpunkt derPartei unehrlichen Spaltung. Und ich halte diese Anklage aufrecht. AlleVersuche, den Schwerpunkt dieser Anklage von der allgemeinen, grund-legenden und wesentlichen Frage nach den Urhebern der Spaltung aufirgendwelche wie immer geartete kleinliche, spezielle, abgeleitete Fragenzu verlegen, werden ganz zwecklos sein.

Jede Spaltung ist ein ungeheuerliches Verbrechen gegen die Partei,denn sie vernichtet die Partei, zerreißt den Zusammenhalt der Partei.Aber es gibt Spaltungen und Spaltungen. Der Ausdruck „unehrlicheSpaltung", den ich häufig gebraucht habe, kann nicht auf jede Spaltungangewandt werden. Ich will das an einem Beispiel klarmachen.

Nehmen wir an, in der Partei kämpfen seit langem zwei Richtungen,von denen die eine, sagen wir, für Unterstützung der Politik der Kadet-ten und die andere dagegen ist. Es tritt ein wichtiges politisches Ereignisein, das.die kadettischen Tendenzen verschärft und einen Pakt der Ka-detten mit der Reaktion näherriickt. Die Anhänger der Unterstützungder Kadetten brechen mit den Gegnern einer solchen Unterstützung. Einederartige Spaltung ruft, wie jede Spaltung, unausweichlich den schärf-sten, wütendsten Haß usw. weckenden Kampf hervor, aber unehrlichkann man diese Spaltung nicht nennen, denn ihr liegt nichts anderes zu-grunde als die Verschärfung prinzipieller Meinungsverschiedenheiten.

Stellen Sie sich eine andere Spaltung vor. Angenommen, die beidenStrömungen in der Partei sind übereingekommen, an verschiedenen Or-ten eine verschiedene Taktik zuzulassen. Wenn nun dies allgemeineÜbereinkommen an einem Orte gebrochen wird, wenn man es heimlich,hinterrücks bricht, also Verrat an den Genossen übt, dann wird bestimmtjeder zugeben, daß eine solche Spaltung eine unehrliche Spaltung ist.

In Petersburg haben die Menschewiki am Vorabend der Wahlen ge-rade eine solche unehrliche Spaltung herbeigeführt. Erstens hatten beideStrömungen in der Partei auf der Gesamtrussischen Konferenz feierlichversprochen, sich der lokalen Taktik der lokalen Organisationen bei denWahlen zu fügen. Die Petersburger Menschewiki haben als einzige inganz Rußland dieses Versprechen gebrochen. Das ist unehrlich. Das istein Vertrauensbruch gegenüber der Partei.

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Zweitens hat das ZK, anstatt die Partei zu einigen, eine so sehr vonFraktionsinteressen bestimmte Politik getrieben, daß es die menschewi-stisdie Spaltung direkt unterstützt hat, und'das ZK-Mitglied Dan hat andieser Spaltung den lebhaftesten Anteil genommen. Das ist unehrlich.Das bedeutet, die von der Partei verliehene Macht gegen die Partei zugebrauchen. Das bedeutet, heimlich, hinterrücks mit einem vergiftetenMesser zuzustechen, während man in Worten als Wahrer der Parteiein-heit auftritt.

Das sind die beiden grundlegenden Tatsachen, die mich veranlaßthaben, sowohl die 31 als auch Dan als politisch unehrliche Leute zu be-handeln. Und eben von diesem Geist ist meine ganze Broschüre durch-drungen.

Ich habe diese Beschuldigung vor Gericht aufrechterhalten. Ich habealles getan, damit das Gerichtsverfahren alle Umstände der PetersburgerSpaltung vor den Richtern aufdecke, damit es ihnen die Möglichkeit gebe,aus voller Überzeugung die Frage zu entscheiden: Handelte es sich umeine ehrliche Spaltung oder nicht? Wurden „vergiftete Waffen" vondenen geführt, die diese Spaltung bewerkstelligten, oder von denen, dieeinen unerbittlichen Vernichtungskampf gegen die Spalter geführt haben?

Die restlose Klärung dieser Frage, die den Dingen auf den Qrund gehtund audb ihre weiteren Hintergründe aufklärt, ihre Klärung durch Dele-gierte der nationalen sozialdemokratischen Parteien, die zum ersten Malepraktisdh der SDAPR angehören, kann von gewaltiger Bedeutung seinfür die Herstellung wirklich parteimäßiger Beziehungen in unserer Parteian Stelle der schlecht verdeckten Spaltung.

Nicht eine formale, nicht eine juristische Spezialfrage bildet den Inhaltdes gegenwärtigen Gerichtsverfahrens. Der Angelpunkt liegt doch wahr-haftig nicht darin, ob man in einer einigen Partei schreiben soll: feilschenoder Verhandlungen führen, durchbringen oder durchschmuggeln, Stim-men gegen Sitze verkaufen oder seine Stimmen mit anderen vereinigen,um einen Sitz zu erlangen usw. Eine solche Auffassung der Frage könnteman natürlich nur belächeln.

Der Angelpunkt ist, ob uns wirklich die Einheit unserer Partei amHerzen liegt, oder ob wir uns mit Spaltungen abfinden, nur einen Papier-krieg dagegen führen und dies Geschwür mit einer formalen Ausfluchtabtun. Vom Urteil Ihres Gerichts, Genossen Richter, wird es - und viel-

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leicht in nicht geringem Maße - abhängen, ob die Petersburger Spaltungsich als der letzte, wirklich der letzte Nachklang einer vergangenenEpoche der durch die ganze Partei gehenden Spaltung erweisen wirdoder.. . oder ob sie der Anfang einer neuen Spaltung, also auch einesneuen, überall und mit vergifteten Waffen geführten Kampfes sein wird.

Von Ihrem Urteil hängt es ab, ob die erschütterte Einheit der Sozial-demokratischen Arbeiterpartei Rußlands geschwächt oder gestärkt wird.

II. KURZER ABRISSDER TATSÄCHLICHEN GESCHICHTE

DER PETERSBURGER SPALTUNG

Auf der Novemberkonferenz (1906) der SDAPR wurde einstimmigbeschlossen, daß sich bei den Wahlen alle den Beschlüssen der lokalensozialdemokratischen Organisationen zu fügen haben.

Lenin erklärt auf eben dieser Konferenz: „Soll aber auch der Wibor-ger Bezirk (Bericht des menschewistischen Teils der sozialdemokratischenOrganisation in St. Petersburg) nicht gegen die Beschlüsse des Petersbur-ger Komitees verstoßen!" - womit er gleichsam im voraus auf die Gegen-seitigkeit der Verpflichtung aufmerksam machte.

In Nr. 8 des „Proletari" (November 1906) werden die Bolschewiki ineinem besonderen Artikel aufgefordert, Blocks mit den Kadetten scharfzu kritisieren, sich jedoch den lokalen Organisationen zu fügen.

Im gleichen Monat (November 1906) nimmt Gen. Dan, Mitglied desZK, „durdhaus privat" (wie er vor Gericht erklärte) an einer von demIngenieur Fjodorowitsch veranstalteten Versammlung teil, in der Milju-kow und Nabokow (Führer des ZK und des Petersburger Komitees derKadetten), ein Führer der Sozialrevolutionäre und Peschechonow (Führerder Volkssozialisten) anwesend sind. Man sprach über die Wahlen, abernicht über die in Petersburg (nach den Worten des Gen. Dan). Gen. Danhielt es nicht für nötig, von dieser Versammlung dem Zentralkomitee oderdem Petersburger Komitee Mitteilung zu machen.

Im Dezember 1906 erscheint Gen. Dan in einer informatorischen Ver-sammlung zur Frage der Wahlen, an der Vertreter des PK der SDAPRund ferner der Kadetten, der Volkssozialisten und der Sozialrevolutio-

28«

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näre teilnehmen. Dan erklärt, er vertrete das ZK, legt jedoch „seine per-sönlidbe Ansidht" dar, daß bezirksweise Abkommen in St. Petersburgwünschenswert seien.

Am 4. Januar 1907 faßt das ZK in einer Sitzung den Beschluß, vonder Konferenz der Petersburger sozialdemokratischen Organisation ulti-mativ die Aufteilung in eine Stadt- und eine Qouvernementskonferenzzu verlangen. Die bolschewistischen ZK-Mitglieder (Maximow, Simin,Strojew)148 erheben Protest gegen diesen Schritt, der faktisch einer Auf-spaltung der Petersburger Organisation durch das Zentralkomitee gleich-kommt.

Am 6. Januar 1907 fand die Konferenz der sozialdemokratischen Or-ganisation von St. Petersburg statt, die über die Frage der Wahlen ent-scheiden sollte. Anwesend waren 39 Bolschewiki und 31 Menschewiki.Die Menschewiki verließen die Konferenz aus zwei formalen Gründen:1. weil sie die Verteilung der Mandate für falsch hielten; 2. infolge derWeigerung der Konferenz, sich entsprechend der Forderung des ZK ineine Stadt- und eine Gouvernementskonferenz zu teilen.

Zur Beurteilung dieser für die Spaltung vorgebrachten Gründe füh-ren wir drei Tatsachen an: 1. Auf der Konferenz vom 6. Januar waren42 Mandate der Bolschewiki und 28 der Menschewiki bestätigt worden.Die Menschewiki selber erklärten in einer von ihnen herausgegebenenJlugsdhrift, man hätte 35 Bolschewiki und 32 Menschewiki rechnen müs-sen, d. h., sie erkannten das Übergewicht der Bolschewiki an. 2. Infolgeder Spaltung wurde zur nächsten Konferenz .der sozialdemokratischenOrganisation in St. Petersburg unter der besonderen Kontrolle einer vomZentralkomitee speziell eingesetzten Kommission gewählt. Die Wahlenergaben für die Konferenz vom 25. März 92 Bolschewiki und 41 Men-schewiki. Die neuen Wahlen bestätigten ein noch größeres Übergewichtder Bolschewiki. 3. In keiner einzigen Stadt Rußlands ^ weder in Wilnanoch in Odessa oder in Baku - verlangte das ZK die Aufteilung einerKonferenz. Diese ultimative Forderung war sowohl rechtswidrig als auchganz offensichtlich durch fraktionelle Erwägungen ausschließlich gegenPetersburg hervorgerufen.

Nachdem sie die Konferenz verlassen hatten, wählten die Mensche-wiki ein eigenes Exekutivorgan, brachten eigene Flugschriften heraus(unter Beteiligung menschewistischer ZK-Mitglieder, zu denen auch Gen.

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Dan gehörte) und führten eine selbständige Wahlkampagne durch. Sieverständigten sich ohne die Bolschewiki mit den Volkstümlerparteien (denVo|kssozialisten, den Sozialrevolutionären und den Trudowiki) über eingemeinsames Abkommen mit den Kadetten.

Die bürgerliche Presse Petersburgs („Retsch", „Strana", „Towa-rischtsch" usw.) beglückwünschte die Menschewiki wärmstens wegen derSpaltung, nannte sie eine „gemäßigt sozialistische Partei", rief zum küh-nen Kampf gegen die Bolschewiki auf, frohlockte über die Isolierung die-ser „Blanquisten" usw. Die Bolschewiki, die am 6. Januar den Volkstüm-lern einen Block gegen die Kadetten vorgeschlagen hatten, nahmen ankeinerlei Unterhandlungen teil.

Am 14. Januar verspricht die „Retsch" im Leitartikel den Mensche-wiki einen Sitz von der Arbeiterkurie, falls der Block gegen die Bolsche-wiki Erfolg haben sollte.

Die Menschewiki beschließen in einer Versammlung am 17. Januar,alle Sitze, die sie erlangen würden, der Arbeiterkurie zur Verfügung zustellen. Am 19. Januar wird das durch den „Towarischtsch" bekannt.

Am 15. Januar wird Miljukow von Stolypin empfangen, worauf dieKadetten eindeutig nach rechts rücken.

Am 18. Januar fand eine Konferenz der Menschewiki, der Volkstümlerund der Kadetten statt. Die Kadetten wollten zwei Sitze geben, man ver-langte von ihnen drei. Bruch mit den Kadetten.

Am 20. Januar veröffentlicht der „Towarischtsch" Auszüge auseiner Flugschrift der Menschewiki, die gegen die Bolschewiki gerichtetist und deren Wahlkampagne hintertreiben soll. Ich schreibe am sel-ben Tag die Broschüre „Die Wahlen in Petersburg und die Heucheleider 31" ; sie erscheint nach etwa drei Tagen.

Am 25. Januar wird der Linksblock in Petersburg gebildet. Am 28. Ja-nuar findet eine Versammlung der (am 7. und 14. Januar) in der Arbeiter-kurie der Stadt St. Petersburg gewählten Bevollmächtigten der Fabrikenund Werke statt. Anwesend sind 200-250 von 271 Bevollmächtigten.Mit einer Mehrheit gegen 10-12 Stimmen wird eine Resolution für denLinksblock angenommen. Die Resolution fordert die Menschewiki spe-ziell auf, „auch nicht in versteckter 7orm die Kadetten zu unterstützen".

Die Menschewiki, die am 17. Januar versprochen hatten, „ihre" Sitzeder Arbeiterkurie abzugeben, setzten sich nicht nur über die Meinung

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der Versammlung aller Bevollmächtigten hinweg, sondern erklärten siegeradezu für einen „Sozialrevolutionär-bolschewistischen Hexensabbat".

Am 30. Januar findet eine Versammlung der sozialdemokratischenBevollmächtigten statt. Als Wahlmänner werden die Kandidaten des Pe-tersburger Komitees aufgestellt.

Am 29. Januar veranlaßt der Linksblock die parteilosen Progressistendes Kolomnaer Wahlbezirks, ihren schriftlichen Vertrag mit den Men-schewiki zu zerreißen, denn in diesem Vertrag (wie auch in der gedrudk-ten Flugschrift der Menschewiki) steht die Bedingung: „Die Wahlmännerder Menschewiki halten sich nicht für gebunden durdh die Bedingungendes volkstümleriscb-bolschewistischen Blocks hinsichtlich der Verteilungder Deputiertensitze" (Punkt II, Unterabschnitt 3). Diese Bedingung istein offenkundiger Versuch, sich die Möglichkeit zu sichern, im zweitenStadium mit den Kadetten gegen den Linksblock zu stimmen.

Am 7. Februar gehen die Wahlen in Petersburg vor sich. Die Behaup-tung von einer Schwarzhundertergefahr ist endgültig widerlegt. Die Ka-detten erhielten 28 798 Stimmen, der Linksblock 16 703, die Oktobristen16 613 und die Monarchisten 5270. Der Linksblock hätte den Kadettennur noch 1573 Stimmen in 5 Bezirken zu entreißen brauchen, um in ganzPetersburg zu siegen. Im Kolomnaer Bezirk erhielt der Linksblock nur196 Stimmen weniger als die Kadetten.

Das ist eine kurze Aufzählung der Tatsachen. Aus ihnen ist klar zuersehen, daß dem Wesen der Sache nach die Menschewiki die Wahlkam-pagne in St. Petersburg hintertrieben haben. Dem Wesen der Sache nachhatte die auf Spaltung abzielende Verschwörung schon im November be-gonnen, und begonnen wurde sie von dem ZK-Mitglied Dan. Dem We-sen der Sache nach haben gerade Dan und die anderen menschewistischenMitglieder des ZK in St. Petersburg die Spaltung gegen die Mehrheit derlokalen Organisation durchgeführt...

Veröffentlicht im April i907 "Nach dem 3'ext der Brosdhüre.als "Broschüre.'Unterschrift.-SV. Lenin. ,

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V. PARTEITAG DER SDAPR"9

30. April - 19. Mai (13. Mai - l.Juni) 1907

Zuerst veröffentlicht i909 in dem Budb TJadh dem Manuskript, ver-„Der Londoner Parteitag der SVJPn glidhen mit dem Budrtext.(abgehalten im Jahre 1907). Vollstän-diger 0'ext der Protokolle", Paris.

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REDE IN DER DISKUSSIONÜBER DIE TAGESORDNUNG DES PARTEITAGS

2. (15.) MAI

In der zu dieser Frage geführten Diskussion hat sich völlig klar er-geben, daß die verschiedenen Strömungen in der Sozialdemokratie durchgroße taktische Meinungsverschiedenheiten getrennt sind. Wer hätte den-ken können, daß man uns unter solchen Umständen vorschlagen würde,alle allgemein-prinzipiellen Fragen von der Tagesordnung des Parteitagsabzusetzen? Und mit was für sophistischen Argumenten hat man hier- angeblich im Interesse der praktischen Arbeit und der Sachlichkeit -diese Absetzung der prinzipiellen Fragen verteidigt!

Ich erinnere Sie daran, daß sich die russische Sozialdemokratie schonseit langem vor die Frage gestellt sieht, welches die Aufgaben des Prole-tariats in der bürgerlich-demokratischen Revolution sind. Schon Anfang1905, vor der Revolution, wurde diese Frage erörtert, sowohl auf demIII. Parteitag der SDAPR, d. h. dem Parteitag ihres bolschewistischenTeils, als auch auf der Genfer Konferenz der Menschewiki, die zu der-selben Zeit stattfand. Damals setzten die Menschewiki selber allgemein-prinzipielle Fragen auf die Tagesordnung ihrer Konferenz.

Damals erörterten sie selber die Grundlagen der Taktik des Proleta-riats in der bürgerlichen Revolution und faßten zu dieser Frage moti-vierte Beschlüsse. Wenn man jetzt beantragt, derartige Fragen abzuset-zen, so ist das das Ergebnis einer Niedergangsstimmung, und dieseStimmung muß man bekämpfen, statt sich ihr zu überlassen!

Man spricht von den Erfahrungen der westeuropäischen sozialdemo-kratischen Parteien mit ihren „sachlichen" Parteitagen, ich aber sageIhnen, daß die Deutschen auf ihren Parteitagen mehr als einmal Fragenerörtert haben, die abstrakterer, theoretischerer Natur sind, als es die

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Einschätzung der bei uns vor sich gehenden Revolution und der Aufgabendes Proletariats in ihr ist. Aus den Erfahrungen der anderen Parteiendürfen wir nicht das nehmen, was uns auf das Niveau dieser oder jenerPeriode des grauen, routinierten Alltags hinabdrückt. Wir müssen dasnehmen, was uns zu den allgemeinen Fragen, zu den Aufgaben des gan-zen revolutionären Kampfes des Proletariats insgesamt hinaufführt. Wirmüssen von den besten und nicht von den schlechtesten Beispielen lernen.

Man sagt: „Ernste taktische Fragen dürfen nicht mit einer Mehrheitvon einem Dutzend Stimmen entschieden werden." Nun, ist das etwakeine Sophistik? Ist das etwa kein schwächlicher Rückzieher von derPrinzipienfestigkeit zur Prinzipienlosigkeit?

Die Entscheidung einer Frage wird niemals durch eine Abstimmung er-zielt. Wir entscheiden schon seit mehreren Jahren über Fragen der mar-xistischen Einschätzung unserer Revolution. Wir überprüfen schon seitmehreren Jahren an Hand der Erfahrungen unserer Revolution unseretheoretischen Ansichten und allgemeinen taktischen Beschlüsse. Und jetztwill man uns erzählen, es sei immer noch nicht an der Zeit, das Fazitdieser Parteiarbeit zu ziehen! Man dürfe nicht, so wird uns gesagt, dieGrundlagen seiner Taktik festlegen, man müsse vielmehr hinter den Er-eignissen herhinken und Entscheidungen von Fall zu Fall treffen . . .

Erinnern Sie sich des Stockholmer Parteitags. Die Menschewiki, diedort den Sieg davontrugen, zogen ihre eigene Resolution über die Ein-schätzung der damaligen Lage zurück, zogen ihre eigene Resolution überdie Stellung zu den bürgerlichen Parteien zurück. Was war die Folge?Die Folge war, daß das ZK keinerlei prinzipielle Grundlagen hatte fürdie Lösung der vor ihm auftauchenden Fragen. Die Folge war, daß sichdas ZK das ganze Jahr drehte und wendete, ohne irgendeine Politik zuhaben. Heute war es für eine konstituierende Versammlung, morgenwarf es sich auf die Propagierung eines Dumakabinetts, übermorgeneiner „Duma als Machtorgan zur Einberufung einer konstituierendenVersammlung", dann einer machtvollkommenen Duma, dann eines Blocksmit den Kadetten . . . Das nennen Sie eine konsequente proletarische Po-litik? ( B e i f a l l a u s d e m Z e n t r u m u n d v o n d e n B ä n k e nd e r B o l s c h e w i k i . )

Man sagt: „Im Interesse des Parteifriedens . . . im Interesse der prak-tischen Arbeit wollen wir die allgemeinen Fragen umgehen." Das ist ein .

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Sophismus. Derartige Fragen darf man nicht umgehen. Die Umgehungdieser Fragen führt nicht zum Frieden, sondern lediglich zu einem blin-deren und darum wütenderen, minder fruchtbaren Parteikampf.

Solche Fragen darf man nicht umgehen. Sie brechen immer wiederdurch. Denken Sie an die Rede Plechanows bei Eröffnung des Parteitags.Da die Revolution bei uns eine bürgerliche ist, so argumentierte er, müsseman sich besonders beeilen, um Verbündete aus der Bourgeoisie ausfindigzu machen. Ich behaupte, die Grundlagen dieser Argumentation sindfalsch. Ich behaupte, daß Sie, wenn diese Grundlagen nicht untersuchtwerden, die Partei zu einer Unzahl weiterer praktischer Fehler ver-urteilen.

Plechanow sagte in derselben Rede, der Opportunismus sei in derSozialdemokratie Rußlands schwach. Mag sein, wenn man die WerkePlechanows selbst für schwach halten will! ( B e i f a l l v o n d e n B ä n -k e n d e r B o l s c h e w i k i.) Ich aber bin der Meinung, daß der Oppor-tunismus sich bei uns gerade darin äußert, daß man auf dem ersten wirk-lich die ganze Partei vertretenden Kongreß die allgemeinen Fragen nachden Grundlagen unserer Taktik in der bürgerlichen Revolution von derErörterung ausschließen will. Nicht absetzen dürfen wir die theoretischenFragen, sondern wir müssen unsere ganze Parteipraxis auf die Höhe dertheoretischen Beleuchtung der Aufgaben einer Arbeiterpartei heben.( B e i f a l l d e r B o l s e h e w i k i . ) .

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REDE Z U M TÄTIGKEITSBERICHT DES ZK4. (17.) MAI

Ich wollte ausschließlich über die politische Seite der Frage sprechen.Aber die letzte Rede des Gen. Abramowitsch nötigt mich, kurz auf seineBemerkungen einzugehen. Als Gen. Abramowitsch von dem „belagerten"menschewistischen ZK sprach, dachte ich bei mir: „Die armen Mensche-wiki! Wieder befinden sie sich im Belagerungszustand. Man .belagert' sienicht nur dann, wenn sie in der Minderheit sind, sondern auch dann,wenn sie die Mehrheit haben!"

Gibt es nicht innere, im ganzen Charakter der menschewistischen Po-litik wurzelnde Ursachen, die die Menschewiki veranlassen, sich ewigdarüber zu beklagen, daß die proletarische Partei sie belagere?

Welches sind die Tatsachen, mit denen Gen. Abramowitsch beweisenwollte, daß das menschewistische ZK belagert werde? Es sind ihrer drei:die Agitation für einen außerordentlichen Parteitag, die Konferenz derMilitär- und Kampforganisationen und schließlich „andere organisato-rische Fragen", wie sich Gen. Abramowitsch ausdrückte.

Untersuchen wir diese drei Tatsachen.Die Agitation für einen außerordentlichen Parteitag wurde breit ent-

faltet, als klargeworden war, daß die Politik des ZK zweifellos dem Wil-len der Mehrheit der Partei zuwiderläuft. Ich erinnere daran, daß diesgeschah, nachdem das ZK die Losung aufgestellt hatte, ein verantwort-liches Ministerium zu unterstützen. Zu dieser Zeit gehörte der „Bund"unserer Partei noch nicht an, wohl aber die Polen und die Letten. Sowohldiese wie jene lehnten die Politik des ZK ganz entschieden ab. Also istes eine ganz unbestreitbare Tatsache, daß das ZK damals einen andernWeg ging als die gewaltige Mehrheit der Partei. Wer hat denn wen

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belagert: hat etwa die Parteimehrheit das ZK der Partei belagert, weilsie verlangte, es solle einem Parteitag Rechenschaft ablegen? oder hat dasZK, indem es sich gegen die Partei stellte, die Partei belagert? DenkenSie daran, wie weit damals Plechanow ging. Sein Brief gegen den Partei-tag wurde in dem offiziell vom Zentralkomitee herausgegebenen „Sozial-demokrat" nachgedruckt. Und in diesem Brief beantwortete Plechanowden Aufruf zu einem Parteitag mit Verdächtigungen bezüglich der Mo-tive der Agitation und mit Tiraden über Arbeitergroschen! überlegenSie: Hatte Plechanow nicht unrecht, als er sich derartige Dinge gegen dieMehrheit der Partei erlaubte, die einen Parteitag forderte?

Ich aber sage nur: Nach dem Beschluß der Gesamtrussischen Konfe-renz der SDAPR vom November wurde die Agitation für einen außer-ordentlichen Parteitag eingestellt.

Die zweite Tatsache: die Konferenz der Militär- und Kampf Organi-sationen. Es kam zu zwei Konferenzen. Das ist natürlich traurig, aberhier eine „Belagerung" des Zentralkomitees zu sehen, ist seltsam. Wärees nicht besser gewesen, auseinanderzusetzen, was an den Beschlüssender gegen den Willen des ZK abgehaltenen Konferenz schlecht war,statt sich mit Klagen über Belagerung aus der Affäre zu ziehen? Ich er-innere daran, daß auf beiden Konferenzen Vertreter sowohl des Mos-kauer als auch des Petersburger Komitees anwesend waren, daß alsokeine Fraktion der Partei sich als Fraktion an eine der beiden Konferen-zen band. Und die Resolutionen der bolschewistischen Konferenz derMilitär- und Kampf Organisationen, die im November 1906 veröffentlichtwurden, sind bislang auf keine emste Kritik gestoßen.

Die dritte Tatsache: „andere organisatorische Fragen". Was ist das?Welcher konkrete Inhalt steckt hier drin? Etwa die Spaltung in Peters-burg, die zur Zeit der Wahlen von den Menschewiki mit Hilfe des ZKbewerkstelligt wurde? Aus diesem Anlaß von einer Belagerung des Zen-tralkomitees zu sprechen wäre doch geradezu lächerlich.

Ich gehe zur politischen Seite der Frage über. Unsere Hauptaufgabebesteht darin, zu untersuchen, wie das ZK den Klassenkampf des Prole-tariats geleitet hat, wie es die auf dem Vereinigungsparteitag beschlosseneTaktik in der Praxis angewandt hat.

Die erste Losung, die das Zentralkomitee der Partei gab, war die,man müsse die Forderung nach einem „Duma"kabinett bzw. einem

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„verantwortlichen" Ministerium unterstützen. Gen. Martow hat hier,vor diesem Auditorium, gesagt, diese Losung sei aufgestellt worden,um den Konflikt zwischen Duma und Regierung zu verbreitem und zuvertiefen.

Stimmt das? Worin muß eine proletarische Verbreiterung und Ver-tiefung des Konflikts bestehen? Natürlich darin, die wirkliche Arena desKampfes und der Zusammenstöße zu zeigen, die den Konflikt hervor-gerufen haben - die Arena des Klassenkampfes überhaupt, und im ge-gebenen Fall: des Volkskampfes gegen die alte Staatsmacht. Um denDumakonflikt zu verbreitern und zu vertiefen, mußte man selber be-greifen und dem Volke klarmachen, daß der Dumakonflikt nur sehr un-vollständig und verzerrt den Konflikt des Volkes mit der alten Machtwiderspiegelt, daß der Kampf in der Duma nur ein schwacher Widerhalldes revolutionären Kampfes außerhalb der Duma ist. Wollte man ver-breitern und vertiefen, so mußte man das politische Bewußtsein und diepolitischen Forderungen über die Dumalosungen hinaus steigern bis zuden Losungen des allgemeinen revolutionären Kampfes. Das ZK verfuhrumgekehrt. Es schwächte die Losungen des revolutionären Kampfes abund engte sie ein bis zur Losung eines Dumakabinetts. Es rief das Volknicht auf zum Kampf um die Macht, obwohl dieser Kampf sich ausder ganzen objektiven Lage der Dinge ergab, sondern zum Kampf füreinen Kuhhandel der Liberalen mit der herrschenden Macht. Gewolltoder ungewollt forderte das ZK die Partei auf, die Losungen des par-lamentarischen „friedlichen" Weges anzunehmen zu einer Zeit, da sichin Wirklichkeit aus den objektiven Bedingungen der revolutionäreaußerparlamentarische Kampf ergab. In Wirklichkeit gab es keine halb-wegs ernste gesellschaftliche Bewegung für ein „verantwortliches Mini-sterium" und konnte es keine geben. Sogar die menschewistische sozial-demokratische Dumafraktion (der ersten Duma) nahm diese Losung desZK nicht an. ( M a r t o w : „Das stimmt nicht!") Doch, das stimmt,Genosse Martow, und ein einfacher Einblick in die Resolution des ZKund die stenografischen Protokolle der ersten Duma wird zeigen, daßes stimmt.

Die Losung des ZK war in Wirklichkeit, unabhängig von den Absich-ten und Motiven des ZK, eine Anpassung an die liberale Politik. Undwegen dieser Anpassung konnten sich keinerlei Ergebnisse einstellen,

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denn die liberale Politik war nicht Ausdruck der wirklichen gesellschaft-lichen Bewegung dieser Zeit, sondern Ausdruck des sehnlichen Wunsches,der Revolution ein Ende zu setzen, obwohl sie durchaus noch nicht zuEnde ist. Der Gang der Ereignisse hat bewiesen, daß diese ganze Ge-schichte mit dem „verantwortlichen Ministerium" ein Versuch mit un-tauglichen Mitteln war.

Die zweite Losung des ZK stammt aus der Zeit des Julistreiks. Wegendes Mißerfolgs der damaligen Aktion kann man dem ZK keinen Vor-wurf machen. Es ist für ein solches ZK wie das menschewistische keinVorwurf, sondern eher ein Lob, daß es damals immerhin der Revolutionentgegenkam. Es ist nicht die Schuld des ZK, daß es, in Petersburg sit-zend, nicht die Stimmung des Proletariats in ganz Rußland kannte. Mankann es auch nicht für einen Fehler erklären, daß wir damals an den Auf-stand glaubten und ihn erwarteten. Der Aufstand erfolgte wirklich, undunsere vorbereitenden Losungen, unsere Politik vor dem Aufstand wareneins der Elemente, die über Erfolg oder Mißerfolg dieses Aufstands ent-schieden.

Einen Fehler des ZK sehe ich darin, daß es bestrebt war, den revolu-tionären Kampf, der sich bis zum Aufstand entwickelte, in den Rahmennicht revolutionärer oder gestutzt revolutionärer Losungen zu zwängen.Das fand seinen Ausdruck in der Losung des ZK „Teilaktionen der Mas-sen". Noch stärker kam es zum Ausdruck in der Losung „Für die Dumaals Machtorgan zur Einberufung einer konstituierenden Versammlung".Solche lebensfremden Losungen ausgeben bedeutete die proletarischePolitik der Politik der liberalen Bourgeoisie anpassen. Und wiederumzeigten die Ereignisse die ganze Nutzlosigkeit Und die ganze Ohnmachtderartiger Anpassungsversuche. Bei uns werden häufig Klagen und Ge-jammer laut über die Ohnmacht der Arbeiterpartei. Ich aber sage: Ohn-mächtig seid ihr eben deshalb, weil ihr eure Losungen stumpf macht!( B e i f a l l v o n d e n B ä n k e n d e r B o l s c h e w i k i . )

Gehen wir weiter. Untersuchen wir die Frage der Blocks mit den Ka-detten bei den Wahlen zur zweiten Duma. Martow ist über diese Fragein dem von ihm verlesenen Rechenschaftsbericht des ZK mit einem er-staunlich seelenruhigen Formalismus hinweggegangen: das ZK habe be-schlossen gehabt, daß Blocks zulässig sind, und da wurden eben Blocksgenau auf der Grundlage der Direktive des ZK zugelassen! ( H e i t e r -

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k e i t.) Es würde nichts schaden, im politischen Rechenschaftsbericht desZK sich nicht auf die formale Rechtmäßigkeit von Beschlüssen zu be-rufen, sondern darauf, ob das Leben die Richtigkeit der betreffendenPolitik ihrem Wesen nach bestätigt hat. Wir Bolschewiki haben dauerndbehauptet, daß die berüchtigte Schwarzhundertergefahr in Wirklichkeitnur den Liberalen als Schutzschild gegen die Gefahr von links dient, daßwir, wenn wir uns in unserer Politik von Angst vor einer Schwarzhun-dertergefahr leiten lassen, in Wirklichkeit den Liberalen auf den Leimgehen. Die Ergebnisse der Wahlen haben bewiesen, daß wir recht hatten.In einer ganzen Reihe von Städten hat die Wahlstatistik die Redereiender Liberalen und der Menschewiki widerlegt. ( Z w i s c h e n r u f e :„Aber Kiew, Polen, Wilna!") Ich habe keine Zeit, mich mit einzelnenGegenden zu befassen, ich spreche über die allgemeinen politischen Er-gebnisse. Der Statistiker Smirnow hat für 22 Städte die Stimmenzahlenzusammengezählt: für den Linksblock 41 000, für die Kadetten 74 000,für die Oktobristen 34 500 und für die Monarchisten 17 000. In 16 an-deren Städten wurden von 72 000 Stimmen für die Opposition 58,7 Pro-zent, für die Reaktion 21 Prozent abgegeben. Die Wahlen haben dieSchwarzhundertergefahr als fiktiv entlarvt, und die Politik der angeblichals Ausnahme „zulässigen" Blocks mit den Kadetten hat sidb erwiesenals eine Politik der Abhängigkeit des Proletariats von der liberalen Bour-geoisie.

Und ich sage Ihnen: Denken Sie nicht gering von theoretischen Aus-einandersetzungen, tun Sie Meinungsverschiedenheiten nicht mit einerverächtlichen Handbewegung als fraktionelle Hirngespinste ab. Unserealten Auseinandersetzungen, unsere theoretischen und besonders unseretaktischen Meinungsverschiedenheiten werden im Verlauf der Revolutionständig zu ganz unmittelbaren praktischen Meinungsverschiedenheiten.Man kann in der praktischen Politik keinen Schritt tun, ohne auf immerdie gleichen Grundfragen zu stoßen wie die Einschätzung der bürgerlichenRevolution, wie das Wechselverhältnis zwischen Kadetten und Trudo-wiki usw. Das praktische Leben verwischt die Meinungsverschiedenheitennicht, sondern verschärft und belebt sie. Und es ist kein Zufall, daß soprominente Menschewiki wie Plechanow die Politik der Blocks mit denKadetten ad absurdum geführt haben. Als Plechanow seine berüchtigte„machtvollkommene Duma" vorschlug, propagierte er eine gemeinsame

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Losung für das Proletariat und die liberale Bourgeoisie. Plechanow bringtdas innere Wesen, die Grundtendenz der ganzen menschewistischen Po-litik lediglich plastischer und stärker als andere zum Ausdruck: Erset-zung der selbständigen Linie der Arbeiterklasse durch Anpassung an dieliberale Bourgeoisie. Der Bankrott unseres ZK war vor allem und in ersterLinie der Bankrott dieser Politik des Opportunismus. ( B e i f a l l e i n e sT e i l s d e s Z e n t r u m s u n d d e r B o l s c h e w i k i . )

29 Lenin, Werke, Bd. 12

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REDEZUM TÄTIGKEITSBERICHT DER DUMAFRAKTION

8. (21.) MAI

Ich möchte die Diskussion wieder auf die prinzipielle Einschätzung derPolitik der Dumafraktion zurücklenken. Genosse Zereteli sagte: „Wirhaben Fehler gemacht, aber es gab keine Schwankungen." Ich bin derMeinung, daß es ganz falsch wäre, eine junge, erst beginnende Duma-

-fraktion zu verurteilen, weil sie Fehler gemacht hat. Der springendePunkt ist ja aber gerade, daß es zweifellos Schwankungen in der ganzenPolitik der Fraktion gegeben hat. Und nicht um Personen zu verurteilen,sondern um die proletarische Partei als Ganzes zu erziehen, müssen wirdiese Schwankungen geradeheraus zugeben und es uns zur Aufgabemachen, sie aus der Welt zu schaffen.

Gen. Zereteli berief sich auf die Geschichte Europas. Das Jahr 48,sagte er, hat uns nicht nur gelehrt, daß die Bedingungen für den Sozialis-mus noch nicht herangereift waren, sondern auch, daß man nicht für dieFreiheit kämpfen kann ohne dieses oder jenes Bündnis mit der bürger-lichen Demokratie. Diese Schlußfolgerung des Gen. Zereteli ist reinsterRevisionismus. Im Gegenteil, sowohl die Revolution von 1848 als auchdie darauffolgenden historischen Erfahrungen haben die internationaleSozialdemokratie gerade das Umgekehrte gelehrt, nämlich daß die bür-gerliche Demokratie sich immer mehr gegen das Proletariat stellt, daßnur dort konsequent für die Freiheit gekämpft wird, wo das Proletariatdie Führung des Kampfes hat. Nicht Bündnisse mit der bürgerlichenDemokratie lehrt das Jahr 1848, sondern die Notwendigkeit, die in derEntwicklung zurückgebliebenen Schichten der Volksmassen frei zu machenvon dem Einfluß der bürgerlichen Demokratie, die nicht einmal mehr fürdie Demokratie zu kämpfen fähig ist Gen. Zereteli hat durch seine Beru-

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fung auf die Erfahrungen von 1848 im Geiste des Bernsteinianertumsgerade den Revisionismus an den Tag gelegt, von dem Plechanow ganzgrundlos behauptete, er sei schwach in unserer Partei.

Gleichfalls kennzeichnend für die ganze Brüchigkeit der prinzipiellenPosition des Gen. Zereteli war seine Erklärung zum Ernährungsausschuß.Wir haben nicht genügend die Cegälität unseres Antrags unterstrichen,die Angelegenheit an Ort und Stelle zu untersuchen - sagte Zereteli. Wirhaben uns allgemeinen Betrachtungen überlassen und die Gelegenheit ver-säumt, die anderen durch Argumente zu überzeugen, daß unser Planlegal ist. Das nachte Mal werden wir diesen Fehler korrigieren.

In dieser Fragestellung spiegelt sich wunderbar klar die ganze Brüchig-keit der Position unserer Fraktion wider. Man überlege nur: Die Leutesind betrübt darüber, daß sie die Legalität unzureichend begründet haben!Sehen sie denn nicht, daß es hier gar nicht um Begründungen, nicht umBerufungen auf die Legalität, nicht um die „Überzeugung" der Kadettenoder irgendeines anderen geht? Ist es ihnen wirklich nicht klar, daß dieRegierung dem Wesen der Sadhe nadh eine Untersuchung draußen imLande nicht zulassen konnte und nicht zugelassen hätte, weil sie darin(und mit vollem Recht) einen Appell an die Massen sah?

Wie immer man sich auch auf die Legalität berufen mochte, am Wesender Sache hätte sich dadurch nichts geändert. Und anstatt nach unten zublicken - die Volksmassen zu überzeugen, ihnen die Wahrheit zu zei-gen - , blickt Zereteli nach oben in dem Wunsch, die Liberalen zu über-zeugen und sie durch die Legalität zu gewinnen.. . Das ist echter bür-gerlicher Parlamentarismus. Und die Fruchtlosigkeit eines derart klein-lichen, armseligen und jämmerlichen Politikastertums springt ins Auge,denn es ist klar, daß Stolypin durch parlamentarische Kniffe weder derMenschewiki noch der Kadetten von seiner Politik hätte abgebracht wer-den können. Die Loslösung von den xMassen ist eine gegebene Tatsache,die Vorteile einer legalen Überzeugung der Stolypin und der Kadettensind müßige Träume eines müßigen Intellektuellen.

Ebenso müßige Anstrengungen des Opportunismus sehe ich in den Ver-handlungen mit den Narodowzen; die Rechtfertigung dieser Verhandlun-gen mit Berufung auf Bebel ist absolut schwach. Bebel habe gesagt, wennes für die Sache notwendig ist, treten wir auch mit des Teufels Groß-mutter in Verbindung. Bebel hat recht, Genossen: wenn es für dieSadbe

29.

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notwendig ist, kann man sich natürlich auch mit des Teufels Großmuttereinlassen. Nun, und für welche Sadhe erwiesen sich Ihre Verbindungenmit den Narodowzen als notwendig? Für gar keine. Ihr Nutzen ist gleichNull. Und daraus folgt, daß Bebel gut gesprochen hat, Sie ihn aberschlecht verstehen.

Sowohl die Bemühungen um die Narodowzen als auch die Stimm-abgabe für Golowin und ebenso der Versuch, die Konfiskation zu strei-chen - alles das sind einzelne Teile ein und derselben falschen Linie. Allesdas sind Erscheinungen nicht der Unerfahrenheit, sondern eben des poli-tischen Schaukeins. Und von diesem Standpunkt aus ist auch die Einladungdes Herrn Prokopowitsch keine Kleinigkeit. Man hat uns hier gesagt:Herr Prokopowitsch ist nicht da, ohne ihn kann man seinen Eintritt nichtverurteilen. Es sieht danach aus, daß man uns von Pontius zu Pilatusschickt. In Petersburg auf der Konferenz sagte man uns: Vertagen wirdie Sache bis zum Parteitag, ohne Parteitag kann man nicht verhandeln.Jetzt auf dem Parteitag sagt man: Ohne Prokopowitsch geht es nicht, ver-tagen wir den Fall und überweisen wir ihn an die Petersburger Organi-sation. Das ist Sophistik.

Prokopowitsch ist ein Literat, und seine Erzeugnisse sind jedermannbekannt. Prokopowitsch ist ein Typ des bürgerlichen Intellektuellen, derum bestimmter, opportunistischer Ziele willen in unserer Partei Fuß zufassen sucht. Sein Eintritt in den Eisenbahnerbezirk ist der reine Hohn.Er ist eine Tarnung für die Arbeit im Dumamiiieu. Und es ist die Schuldunseres ZK, daß der Mann sich einer solchen Tarnung bedienen konnte.Es ist die Schuld unserer Dumafraktion, daß sie es ausgerechnet liberalenLiteraten, die-nicht in der Partei arbeiten und ihr prinzipiell feindlichgegenüberstehen, die am „Towarischtsch" mitarbeiten, erleichtert hat,über die Dumatreppe in unsere Partei hereinzukommen.

Tscherewanin verteidigte hier die Politik der Dumafraktion, indem ersagte: zugegeben, daß die Kadetten jetzt rückständig, daß sie jetzt reak-tionär sind. Aber das sei nicht für immer. Man solle das nicht fixieren.Die Kadetten seien schlecht in einer Zeit des Niedergangs, sie könntentauglich werden in einer Zeit des Aufschwungs, in der sie sich schnell nachlinks entwickeln.

Das ist die übliche menschewistische Argumentation, lediglich ganz un-mittelbar und kraß ausgedrückt. Dadurch wird ihre Falschheit noch sieht-

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barer. Nehmen wir die zwei großen Meilensteine der Revolution: Okto-ber 1905 - den höchsten Aufschwung, und Frühjahr 1907 - den stärkstenNiedergang. Taugten die Kadetten im Jahre 1905 für die Demo-kratie? Nein. Das haben die Menschewiki im „Natschalo" selbst zuge-geben. Witte ist ein Agent der Börse, Struve ein Agent Wittes, so schrie-ben damals die Menschewiki, und sie hatten recht. Damals waren dieMenschewiki mit uns einer Meinung, daß wir die Kadetten nicht unter-stützen dürfen, sondern sie entlarven müssen, ihr Prestige bei der Demo-kratie zerschlagen müssen.

Heute, im Frühjahr 1907, schließen Sie alle sich ebenfalls allmählichunserer Meinung an, daß die Kadetten untaugliche Demokraten sind. Undes ergibt sich, daß die Kadetten weder in der Zeit des Aufschwungs nochin der Zeit des Niedergangs etwas taugen. Die Zwischenzeit zwischen sol-chen Perioden aber wird jeder Historiker gerade als eine Zeit der Schwan-kungen bezeichnen, wo auch ein Teil der Sozialdemokraten zur kleinbür-gerlichen Politik hinschwankte, wo dieser Teil vergeblich versuchte, dieKadetten zu „unterstützen", dadurch der Arbeiterpartei lediglich Scha-den zufügte und zu guter Letzt seinen Fehler einsah.

Ein paar Worte über Trotzki. Er sprach für das „Zentrum", er brachtedie Ansichten des „Bund" zum Ausdruck. Er zog gegen uns los, weil wireine „unannehmbare" Resolution eingebracht hätten. Er drohte offen mitder Spaltung, mit dem Auszug der Dumafraktion, die durch unsere Reso-lution beleidigt wäre. Ich unterstreiche diese Worte. Ich fordere Sie auf,unsere Resolution aufmerksam durchzulesen.

Eine Beleidigung darin zu sehen, daß Fehler in ruhigem Ton, ohne jedein scharfe Form gekleidete Rüge festgestellt werden, aus diesem Anlaßvon Spaltung zu sprechen, ist das nicht ungeheuerlich?? Zeigt das nichtdie Krankheit unserer Partei, Angst vor dem Eingeständnis von Fehlern?Angst vor Kritik an der Dumafraktion?

Allein schon die Möglichkeit, die Frage so zu stellen, zeigt, daß es inunserer Partei etwas gibt, was nicht parteigemäß ist. Dieses nicht Partei-gemäße besteht in den Beziehungen der Dumafraktion zur Partei. DieDumafraktion muß mehr vom Parteigeist durchdrungen, enger mit derPartei verbunden, stärker auf die ganze proletarische Arbeit abgestimmtsein. Dann wird man nicht mehr über Beleidigung schreien hören, unddie Drohungen mit der Spaltung werden aufhören.

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Als Trotzki sagte: Ihre unannehmbare Resolution ist ein Hindernis fürdie Durchführung Ihrer richtigen Gedanken, rief ich ihm dazwischen:„Legen Sie,doch eine eigene Resolution vor!" Trotzki antwortete: Nein,zuerst ziehen Sie Ihre zurück.

Nicht wahr, das ist eine schöne Position des „Zentrums" ? Für unseren(nach Trotzkis Meinung) Fehler („taktloses" Verhalten) bestraft er dieganze Partei, indem er ihr seine „taktvolle" Darlegung derselben Prin-zipien vorenthält! Warum habt ihr eure Resolution nicht durchgebracht?wird man uns in den Parteiorganisationen fragen. Weil das Zentrum sichdurch sie gekränkt fühlte und aus Gekränktheit die Darlegung seiner eige-nen Prinzipien ablehnte!! ( B e i f a l l d e r B o l s c h e w i k i u n de i n e s T e i l s d e s Z e n t r u m s . ) Das ist keine prinzipielle Position,sondern es ist die Prinzipienlosigkeit des Zentrums.

Wir sind zum Parteitag gekommen mit zwei der Partei längst bekann-ten taktischen Linien. Es ist unklug und einer Arbeiterpartei unwürdig,Meinungsverschiedenheiten zu verhüllen und sie zu verheimlichen. Stellenwir beide Standpunkte recht klar einander gegenüber. Bringen wir sie inAnwendung auf alle Fragen unserer Politik zum Ausdruck. Ziehen wirdas klare Fazit unserer Parteierfahrungen. Nur so werden wir unserePflicht erfüllen und den Schwankungen in der Politik des Proletariats einEnde machen. ( B e i f a l l d e r B o l s c h e w i k i u n d e i n e s T e i l sd e s Z e n t r u m s . )

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EINE FAKTISCHE R I C H T I G S T E L L U N G AM 10. (23.) MAI

Genosse Martow, der aus der „Humanite'" ein Interview mit mir (ge-zeichnet Etienne Avenard)* zitiert, hat einige Stellen daraus falsch be-leuchtet.

In dem Interview heißt es, das ZK (d. h. natürlich sein menschewisti-scherTeil) habe heimlidi und auf unterirdisdhemWege die Kadetten infor-miert. Diese meine Erklärung ist jetzt durch die Debatten auf dem Partei-tag bestätigt worden. Auf dem Parteitag hat sich herausgestellt, daß schonim'Novernber 1906 Dan privat „zu einer Tasse Tee" mit Miljukow, Nabo-kow sowie Führern der Sozialrevolutionäre und der Volkssozialisten zu-sammen war. Dan hielt es nicht für nötig, davon dem ZK oder demPetersburger Komitee Mitteilung zu machen.

Diese Zusammenkunft mit den Kadetten, ohne daß von ihr dem Zen-tralkomitee noch auch dem Petersburger Komitee Mitteilung gemachtwurde, eben das war die heimliche und unterirdische Informierung derKadetten.

Weiter wurde in dem Interview gesagt, die Menschewiki hätten denschmachvollen Vorschlag der Kadetten, den Menschewiki Arbeitersitze zuüberlassen, wenn diese die Kadetten unterstützten, nicht dementiert.Gen. Martow sucht zu beweisen, daß die Menschewiki das mit Wortendementiert haben. Ich erkläre zur Sache, daß die "Jäten der Menschewikiihrem Lippendementi widersprochen haben: 1. In Worten versprachen dieMenschewiki, alle Sitze der Arbeiterkurie zu überlassen. Praktisch aber,als alle zusammengetretenen Arbeiterbevollmächtigten die Menschewikiaufforderten (mit einer Mehrheit von 220-230 gegen 10-20 Stimmen),

* Siehe den vorliegenden Band, S. 137-143. Die Red.

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auf die „versteckte Unterstützung" der Kadetten zu verzichten, lehntenes die Menschewiki ab, dem 7olge zu leisten; 1. nach dem 25. Januar,nach der Bildung des Linksblocks, stellten die Menschewiki in der Pressefür ihre Unterstützung des Linksblocks die Bedingung: Handlungsfreiheitfür die menschewistischen Wahlmänner im zweiten Stadium. Objektivkonnte diese Bedingung nur eins bedeuten - die Bereitschaft, im zweitenStadium die Kadetten gegen die Sozialdemokraten zu unterstützen.

W. Centn

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EINE ERKLÄRUNG AM 11. (24.) MAI™>

Das Büro hatte recht ( Z w i s c h e n r u f : „Natürlich!"), als eserklärte, eine Aufhebung der gestrigen Entscheidung sei unzulässig. Zuihrer Aufhebung bedarf es eines speziellen Beschlusses des Parteitags,wonach es zulässig ist, einen solchen Antrag zur Abstimmung zu bringen.Im vorliegenden Fall beantragt niemand, die gestrige Entscheidung auf-zuheben. Sie bleibt in Kraft. Ist ein Aufschub zulässig? Abramowitschhat das wesentlichste Moment außer acht gelassen, nämlidi daß die Fragedes Aufschubs sich infolge eines neuen Umstands (der Motivierung derLetten) ergab, der nach der gestrigen Abstimmung über die Direktivenauftauchte. Dies ist ein neues Motiv, das Abramowitsch nicht berück-sichtigt hat. Der Antrag Werners ist also formal richtig.

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REFERAT ÜBER DIE STELLUNGZU DEN BÜRGERLICHEN PARTEIEN

- 12. (25.) MAI

Die Frage nach der Stellung zu den bürgerlichen Parteien steht imMittelpunkt der prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten, die schon seitlangem die russische Sozialdemokratie in zwei Lager teilen. Schon vorden ersten großen Erfolgen der Revolution oder sogar vor der Revolu-tion - wenn man vom ersten Halbjahr 1905 so sprechen darf - gab es indieser Frage zwei deutlich hervorgetretene Standpunkte. Die Ausein-andersetzungen hingen zusammen mit der Einschätzung der bürgerlichenRevolution in Rußland. Beide Richtungen innerhalb der Sozialdemokratiegingen einig darin, daß diese Revolution eine bürgerliche ist. Sie gingenjedoch auseinander in der Frage, wie diese Kategorie aufzufassen undwie die praktisch-politischen Schlußfolgerungen daraus einzuschätzen sind.Der eine Flügel der Sozialdemokratie, die Menschewiki, deuteten diesenBegriff so, daß in einer bürgerlichen Revolution die Haupttriebkraft dieBourgeoisie ist, das Proletariat hingegen lediglich die Stellung der „äußer-sten Opposition" einzunehmen vermag. Die Aufgabe übernehmen, dieseRevolution selbständig durchzuführen, die Revolution zu leiten, kann esnicht. Besonders plastisch traten diese Meinungsverschiedenheiten in Er-scheinung bei den Auseinandersetzungen über die provisorische Regierung(richtiger: über die Beteiligung der Sozialdemokratie an einer proviso-rischen Regierung) - Auseinandersetzungen, die im Jahre 1905 geführtwurden. Die Menschewiki bestritten die Zulässigkeit einer Beteiligung derSozialdemokratie an einer provisorischen revolutionären Regierung vorallem eben darum, weil sie die Haupttriebkraft oder den Führer der bür-gerlichen Revolution in der Bourgeoisie sahen. Mit voller Klarheit tratdiese Ansicht zutage in der Resolution der kaukasischen Menschewiki

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(1905)151, die von der neuen „Iskra" gebilligt wurde. In dieser Resolutionwurde direkt gesagt, die Beteiligung der Sozialdemokratie an einer provi-sorischen Regierung könnte die Bourgeoisie abschrecken und dadurch denSchwung der Revolution sdbwädoen. Hier wird klar ausgesprochen, daßdas Proletariat in der bürgerlichen Revolution nicht weiter gehen könneund dürfe als die Bourgeoisie.

Die umgekehrte Ansicht verfochten die Bolschewiki. Sie traten unbe-dingt dafür ein, daß unsere Revolution im Sinne ihres gesellschaftlichen,ökonomischen Inhalts eine bürgerliche ist. Das bedeutet folgendes: DieAufgaben der gegebenen, jetzt in Rußland vor sich gehenden Umwälzunggehen nicht über den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus. Selbstder vollste Sieg der gegenwärtigen Revolution, d. h. die Erringung derdemokratischsten Republik und die Konfiskation des gesamten Guts-besitzerlandes durch die Bauernschaft, berührt nicht im geringsten dieGrundlagen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Das Privateigentuman den Produktionsmitteln (oder die Privatwirtschaft auf dem Grundund Boden, wer immer auch sein juristischer Eigentümer sein möge) unddie Warenwirtschaft bleiben bestehen. Die Gegensätze der kapitalisti-schen Gesellschaft und ihr Hauptgegensatz - der Gegensatz zwischenLohnarbeit und Kapital - verschwinden nicht nur nicht, sondern spitzensich im Gegenteil noch stärker zu, vertiefen sich noch mehr, da sie sichbreiter und in reinerer Form entwickeln.

Alles das muß für jeden Marxisten absolut unbestreitbar sein. Aberdaraus ergibt sich durchaus noch nicht die Schlußfolgerung, daß dieHaupttriebkraft oder der Führer der Revolution die Bourgeoisie wäre.Eine solche Schlußfolgerung wäre eine Verflachung des Marxismus, wäreUnverständnis für den Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoi-sie. Die Sache ist die, daß unsere Revolution zu einer Zeit vor sich geht,wo das Proletariat schon begonnen hat, seiner selbst als einer besonderenKlasse bewußt zu werden und sich zu einer selbständigen Klassenorga-nisation zusammenzuschließen. Unter solchen Bedingungen macht sichdas Proletariat alle Errungenschaften der Demokratie zunutze, macht essich jeden Schritt der Freiheit zunutze, um seine Klassenorganisationgegen die Bourgeoisie zu stärken. Daraus ergibt sich unweigerlich dasBestreben der Bourgeoisie, die Schärfen der Revolution abzustumpfen,nidit zuzulassen, daß sie zu Ende geführt wird, dem Proletariat nicht die

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Möglichkeit zu geben, seinen Klassenkampf in voller Freiheit zu führen.Der Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat veranlaßt dieBourgeoisie, dahin zu streben, bestimmte Instrumente und Einrichtungender alten Staatsmacht beizubehalten, um diese Instrumente gegen das Pro-letariat einzusetzen.

Deshalb stellt im besten Fall, in Zeiten des stärksten Aufschwungs derRevolution, die Bourgeoisie ein Element dar (und zwar nicht zufällig, son-dern notwendig, kraft ihrer ökonomischen Interessen), das zwischen derRevolution und der Reaktion hin und her schwankt. Die Bourgeoisie kannalso nicht der Führer unserer Revolution sein.

Die größte Besonderheit dieser Revolution ist die Dringlichkeit derAgrarfrage. Sie hat sich in Rußland weit mehr zugespitzt, als das unterentsprechenden Bedingungen in irgendeinem anderen Lande der Fall war.Die sogenannte Bauernreform des Jahres 1861 wurde so inkonsequentund undemokratisch durchgeführt, daß die wichtigsten Grundlagen derFronherrschaft der Gutsbesitzer unangetastet geblieben sind. Darum er-wies sich die Agrarfrage, d. h. der gegen die Gutsbesitzer gerichteteKampf der Bauern um den Boden, als einer der Prüfsteine der gegenwär-tigen Revolution. Dieser Kampf um den Boden drängt die gewaltigenMassen der Bauernschaft unvermeidlich zur demokratischen Umwälzung,denn nur die Demokratie vermag ihnen Boden zu geben, indem sie ihnendie Herrschaft im Staate gibt. Bedingung für den Sieg der Bauernschaftist die völlige Zerschlagung des gutsherrlichen Grundbesitzes.

Aus diesem Wechselverhältnis der gesellschaftlichen Kräfte ergibt sichunweigerlich die Schlußfolgerung: die Bourgeoisie kann weder die Haupt-triebkraft noch der Führer der Revolution sein. Sie zu Ende, d. h. bis zumvollen Sieg, zu führen, ist nur das Proletariat imstande. Aber dieser Siegkann nur unter der Bedingung erzielt werden, daß es dem Proletariat ge-lingt, einen großen Teil der Bauernschaft hinter sich zu bringen. Der Siegder gegenwärtigen Revolution in Rußland ist nur möglich als revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.

Diese schon zu Beginn des Jahres 1905 - ich spreche vom III. Parteitagder SDAPR im Frühjahr 1905 - vertretene Fragestellung fand ihre volleBestätigung in den Ereignissen aller großen Etappen der russischen Revo-lution. Unsere theoretischen Schlußfolgerungen wurden praktisch, im Ver-lauf des revolutionären Kampfes, bestätigt. Zur Zeit des größten Auf-

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schwungs, im Oktober 1905, marschierte das Proletariat an der Spitze,die Bourgeoisie schwankte dauernd, sie drehte und wendete sich, dieBauern aber zerstörten Herrenhöfe der Gutsbesitzer. An den embryo-nalen Organen der revolutionären Staatsmacht (Sowjets der Arbeiterdepu-tierten, Sowjets der Bauern- und Soldatendeputierten usw.) beteiligtensich hauptsächlich Vertreter des Proletariats und dann Männer aus deraufständisdien Bauernschaft. Zur Zeit der ersten Duma bildeten Bauernsofort die demokratische Gruppe der „Trudowiki", die weiter links steht,d. h. revolutionärer ist als die Liberalen, die Kadetten. Während derWahlen zur zweiten Duma haben die Bauern die Liberalen glatt ge-schlagen. Das Proletariat marschierte an der Spitze, die Bauernschaftfolgte ihm mehr oder minder entschlossen gegen die Selbstherrschaft undgegen die schwankenden Liberalen.

Ich komme zu den uns vorliegenden Resolutionsentwürfen. Der vonmir geschilderte Unterschied der Ansichten hat seinen vollständigen Aus-druck gefunden in dem Gegensatz zwischen der bolschewistischen und dermenschewistischen Resolution. Der bolschewistische Entwurf ist daraufaufgebaut, daß der XJasseninhalt der grundlegenden 7ypen bürgerlicherParteien bestimmt wird. So war auch bereits unsere Resolution zum Stock-holmer Vereinigungsparteitag aufgebaut. Wir unterschieden schon dortdrei Haupttypen bürgerlicher Parteien: Oktobristen, Liberale und bäuer-liche Demokraten (damals hatten sie sich noch nicht völlig herausgebildet,und das Wort „Trudowik" existierte noch nicht im politischen Wortschatzder russischen Sprache). Unsere jetzige Resolution hat den gleichen Auf-bau beibehalten. Sie bildet lediglich eine abgeänderte Fassung der Stock-holmer Resolution. Der Gang der Ereignisse hat ihre grundlegenden The-sen so weitgehend bestätigt, daß es nur ganz unbeträchtlicher Änderungenbedurfte, um die Erfahrungen der ersten und der zweiten Duma zu be-rücksichtigen.

Die menschewistische Resolution zum Vereinigungsparteitag gab wederirgendeine Analyse des Typus der Parteien noch ihres Klasseninhalts. Inder Resolution wird hilflos gesagt, „daß die bürgerlich-demokratischenParteien sich in Rußland eben erst herausbilden und sie darum noch nichtden Charakter stabiler Parteien erlangen konnten", und „daß im gegen-wärtigen historischen Moment in Rußland keine Parteien vorhanden sind,die schon jetzt gleichzeitig konsequenten Demokratismus und revolutio-

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nären Geist in sich vereinigten". Sind das etwa keine hilflosen Erklä-rungen? Ist das kein Abgehen von der marxistischen Aufgabe? VölligeStabilität von Parteien wird es niemals geben, ebensowenig wie es jemalsvöllig „konsequenten" Demokratismus außerhalb des Proletariats gebenwird. Unsere Pflicht aber ist es, die Klassenwurzeln aller auf die politischeBühne tretenden Parteien bloßzulegen. Und daß diese Aufgabe gelöstwerden kann, hat unsere Resolution gezeigt. Die von ihr vermerkten dreiTypen von Parteien erwiesen sich im Verlauf eines ganzen Jahres derRevolution, als hinreichend „stabil", wie ich am Beispiel der ersten und derzweiten Duma schon gezeigt habe.

Als nicht stabil erwiesen sich die Ansichten der Menschewiki. Ihre jet-zige Resolution ist ein gewaltiger Schritt zurück selbst im Vergleich zuihrem vorjährigen Entwurf. Untersuchen wir diese in Nr. 12 der „Narod-naja Duma" (vom 24. März 1907) veröffentlichte Resolution. In dembegründenden Teil wird hingewiesen erstens auf „eine Reihe gemeinsamerAufgaben" des Proletariats und der bürgerlichen Demokratie; zweitensauf die Notwendigkeit für das Proletariat, „seine Aktionen mit den Aktio-nen anderer gesellschaftlicher Klassen und Gruppen zu kombinieren",-drittens darauf, daß in einem Lande mit überwiegender Bauernschaft undschwacher städtischer Demokratie das Proletariat „durch seine eigeneBewegung" . . . „die ganze bürgerliche Demokratie des Landes" . . . „vor-antreibt" ; viertens darauf, daß „in der vorhandenen Gruppierung der bür-gerlichen Parteien die demokratische Bewegung des Landes noch nichtihren vollendeten Ausdruck gefunden hat", da sie an dem einen Pol den„Realismus" und die mangelnde Kampfbereitschaft der städtischen Bour-geoisie widerspiegele und an dem anderen Pol die bäuerlichen „Illusioneneines kleinbürgerlichen Revolutionismus und agrarischer Utopien". Soweitder begründende Teil. Betrachten wir nunmehr die Schlußfolgerungen: dieerste Schlußfolgerung besteht darin, daß das Proletariat bei der Durch-führung einer selbständigen Politik sowohl den Opportunismus und diekonstitutionellen Illusionen der einen als auch die revolutionären Illusionenund die ökonomisch reaktionären Projekte der anderen bekämpfen müsse.Zweite Schlußfolgerung: man müsse „seine Aktionen mit den Aktionendieser Parteien kombinieren".

Eine derartige Resolution beantwortet keine einzige der Fragen, diesich jeder Marxist zu stellen verpflichtet ist, wenn er die Haltung der

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Arbeiterpartei zu den bürgerlichen Parteien bestimmen will. Welches sinddiese allgemeinen Fragen? Vor allem ist es notwendig, den Klassen-charakter der Parteien zu bestimmen. Dann muß man sich klarwerdenüber das grundlegende Wechselverhältnis der verschiedenen Klassen inder gegebenen Revolution überhaupt, d. h. darüber, in welchem Verhält-nis die Interessen dieser Klassen zur Fortsetzung oder Weiterentwicklungder Revolution stehen. Weiter muß man von den Klassen überhaupt über-gehen zu der jetzigen Rolle der verschiedenen Parteien oder der verschie-denen Gruppen von Parteien. Schließlich muß man praktische Hinweisegeben für die Politik der Arbeiterpartei in dieser Frage.

Nichts von alledem steht in der menschewistischen Resolution. Da wirdmit nichtssagenden Worten über die Frage hinweggegangen, mit allge-meinen Phrasen über „Kombinierung" der Politik des Proletariats mit derPolitik der Bourgeoisie. Wie aber und mit welchen bürgerlich-demokra-tischen Parteien denn nun „kombiniert" werden soll - darüber wird keinWort gesagt. Es ist eine Resolution über Parteien ohne die Parteien. Es isteine Resolution zwecks Festlegung unserer Haltung, die unsere Haltungzu den verschiedenen Parteien in keiner Weise festlegt. Leiten lassenkann man sich nicht von einer solchen Resolution, denn sie läßtvollsten Spielraum, zu „kombinieren", was man will und wie man will.Eine solche Resolution behindert niemand; sie ist eine äußerst „libe-rale" Resolution im vollsten Sinne des Wortes. Man kann sie auslegen,wie man Lust hat. Aber von Marxismus gibt es in ihr keine Spur. DieGrundthesen des Marxismus sind hier so gründlich vergessen worden, daßjeder beliebige linke Kadett eine solche Resolution unterschreiben würde.Man nehme ihre Hauptpunkte: die „gemeinsamen Aufgaben" des Prole-tariats und der bürgerlichen Demokratie . . . Redet davon etwa nicht dieganze liberale Presse große Töne? . . . Die Notwendigkeit des „Kom-binierens" - gerade das fordern die Kadetten... Kampf gegen denOpportunismus rechts und gegen den Revolutionismus links - das ist dochdie beliebteste Redensart der linken Kadetten, die angeblich zwischen denTrudowild und den bürgerlichen Liberalen sitzen möchten! Das ist nichtdie Position einer Arbeiterpartei, die gesondert und selbständig außerhalbder bürgerlichen Demokratie steht, es ist die Position eines Libe-ralen, der das „Zentrum" inmitten der bürgerlichen Demokratie ein-nehmen möchte!

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Man gehe einmal dem Satz der Menschewiki auf den Grund: durchseine Bewegung „treibe" das Proletariat „die ganze bürgerliche Demo-kratie des Landes" „voran". Stimmt das? Absolut nicht. Man erinneresich der größten Ereignisse unserer Revolution. Nehmen wir die Bulygin-sche Duma. Den Appell des Zaren, den legalen Weg zu beschreiten, seine,des Zaren, Bedingungen für die Einberufung der ersten Volksvertretunganzunehmen, beantwortete das Proletariat mit einer entschiedenen Wei-gerung. Das Proletariat rief das Volk auf, diese Einrichtung hinwegzu-fegen, sie nicht entstehen zu lassen. Das Proletariat rief alle revolutionärenKlassen auf, bessere Bedingungen für die Einberufung einer Volksver-tretung zu erkämpfen. Das nahm nicht im geringsten die Entscheidung derFrage vorweg, wie sogar eine schlechte Einrichtung auszunutzen sei, wennsie wirklich entgegen allen unseren Anstrengungen ins Leben getretenwäre. Es war ein Kampf dagegen, daß gerade die schlechtesten Bedin-gungen für die Einberufung einer Volksvertretung verwirklicht wurden.Bei der Einschätzung des Boykotts macht man allzu häufig den logischenund historischen Fehler, den Kampf auf dem Boden einer gegebenen Ein-richtung in einen Topf zu werfen mit dem Kampf gegen die Verwirk-lichung dieser Einrichtung.

Wie aber beantwortete die liberale Bourgeoisie den Aufruf des Prole-tariats? Sie antwortete mit einem allgemeinen Geheul gegen den Boykott.Sie rief zur Bulyginschen Duma auf. Die liberalen Professoren fordertendie Studenten auf, zu studieren, anstatt Streiks zu veranstalten. Den Auf-ruf des Proletariats zum Kampf beantwortete die Bourgeoisie mit demKampf gegen das Proletariat. Der Antagonismus dieser Klassen sogar inder demokratischen Revolution zeigte sich schon damals mit voller Be-stimmtheit. Die Bourgeoisie wollte die Wucht des proletarischen Kampfesmindern, wollte ihn nicht über den Rahmen des Gesetzes über dieBulyginsche Duma hinausgehen lassen.

Professor Winogradow, eine Leuchte der liberalen Wissenschaft, schriebgerade damals, es wäre ein Glück für Rußland, wenn unsere Revolutionden Weg von 1848/49 ginge, es wäre ein Unglück, wenn sie den Wegder Revolution von 1789-1793 ginge. Ein Glück nannte dieser „Demo-krat" den Weg der nichtvollendeten Revolution, den Weg des besiegtenAufstands! Wenn unsere Revolution mit ihren Feinden so schonungslosabrechnete wie die französische im Jahre 1793, dann müßte man nach

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Meinung des „Liberalen" zur Wiederherstellung der Ordnung den preu-ßischen Wachtmeister herbeirufen. Die Menschewiki sprechen von der„mangelnden Kampfbereitschaft" unserer Bourgeoisie. In Wirklichkeitaber war die Bourgeoisie schon damals zum Kampf bereit, nämlich zumKampf gegen das Proletariat, zum Kampf gegen „übermäßige" Siege derRevolution.

Gehen wir weiter. Nehmen wir die Monate Oktober—Dezember 1905.Daß in dieser Zeit des größten Aufschwungs unserer Revolution die Bour-geoisie „Bereitschaft zum Kampf" gegen das Proletariat offenbarte, bedarfkeines Beweises. Das wurde von der damaligen menschewistischen Pressevoll und ganz zugegeben. Die Bourgeoisie einschließlich der Kadettenbemühte sich, die Revolution auf jede Weise anzuschwärzen, sie als blindeund wilde Anarchie hinzustellen. Nicht nur, daß die Bourgeoisie die vomVolke geschaffenen Organe des Aufstands - alle diese Sowjets der Arbei-terdeputierten, Sowjets der Bauern- und Soldatendeputierten usw. - nichtunterstützte, die Bourgeoisie fürchtete diese Einrichtungen und bekämpftesie. Man denke an Struve, der diese Einrichtungen ein entwürdigendesSchauspiel nannte. Die Bourgeoisie sah in ihnen die zu weit vorgepreschteRevolution. Die liberale Bourgeoisie wollte die Energie des revolutionärenVolkskampfes in das enge Flußbett der konstitutionell-polizeilichen Reak-tion lenken.

über das Verhalten der Liberalen in der ersten und der zweiten Dumabraucht man nicht lange zu sprechen. Auch die Menschewiki haben zuge-geben, daß in der ersten Duma die Kadetten die revolutionäre Politik derSozialdemokraten und teilweise der Trudowiki behinderten, ihre Tätig-keit bremsten. In der zweiten Duma aber haben sich die Kadetten direktden Schwarzhundertern angeschlossen und offen die Regierung unterstützt.

Nunmehr zu sagen, daß das Proletariat durch seine Bewegung „dieganze bürgerliche Demokratie des Landes vorantreibt", ist ein Hohn aufdie Tatsachen. Heutzutage die konterrevolutionäre Natur unserer Bour-geoisie verschweigen heißt den marxistischen Standpunkt völlig aufgeben,den Standpunkt des Klassenkampfes völlig vergessen.

Die Menschewiki sprechen in ihrer Resolution von dem „Realismus"der bürgerlichen Klassen in der Stadt. Eine sonderbare Terminologie,die die Menschewiki gegen ihren Willen verrät. Wir sind es gewohnt, beiden Sozialdemokraten des rechten Flügels das Wort Realismus in einembesonderen Sinn anzutreffen. Beispielsweise stellte die Plechanowsche

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„Sowremennaja Shisn" den „Realismus" der Sozialdemokraten desrechten Flügels der „revolutionären Romantik" der linken Sozialdemo-kraten gegenüber. Was meint also die menschewistisdie Resolution, wennsie von Realismus spricht? Es kommt darauf hinaus, daß sie die Bour-geoisie für ihre Mäßigkeit und Akkuratesse lobt!

Diese Betrachtungen der Menschewiki über den „Realismus" der Bour-geoisie, über ihre „mangelnde Bereitschaft" zum Kampf - im Zusam-menhang mit der direkten Erklärung ihrer taktischen Plattform über die„einseitige Feindschaft" der Sozialdemokraten gegenüber den Liberalen -besagen eins und nur eins. Praktisch bedeutet das alles, daß die selbstän-dige Politik der Arbeiterpartei vertauscht wird gegen eine Politik derAbhängigkeit von der liberalen Bourgeoisie. Und diesen Wesenskern desMenschewismus haben wir uns nicht ausgedacht, haben ihn nicht nur ausihren theoretischen Ausführungen abgeleitet: er offenbarte sich in allenbedeutenderen Schritten ihrer Politik im verflossenen Jahr. Man nehmedas „verantwortliche Ministerium", die Blocks mit den Kadetten, dieStimmabgabe für Golowin usw. In Wirklichkeit war das eben eine Politikder Abhängigkeit von den Liberalen.

Und was sagen die Menschewiki über die bäuerliche Demokratie? DieResolution stellt als gleichbedeutende oder jedenfalls durchaus gleich-artige Dinge den „Realismus" der Bourgeoisie und die „agrarischen Uto-pien" der Bauernschaft nebeneinander und einander gegenüber. Man muß,sagen die Menschewiki, gleicherweise den Opportunismus der Bourgeoisieund den Utopismus, den „kleinbürgerlichen Revolutionismus" der Bauern-schaft bekämpfen. Das ist die typische Argumentation des Menschewis-mus. Und es lohnt sich, auf sie einzugehen, denn sie ist grundfalsch. Ausihr ergibt sich unvermeidlich eine ganze Reihe falscher Schlußfolgerungenin der praktischen Politik. Hinter der Kritik an den bäuerlichen Utopienverbirgt sich hier das Unverständnis für die Aufgabe des Proletariats, dieBauernschaft zum vollen Sieg in der demokratischen Revolution vorwärts-zudrängen.

In der Tat, man sehe sich einmal an, welche Bedeutung die agrarischenUtopien der Bauernschaft in der jetzigen Revolution haben. Worin bestehtihre hauptsächliche Utopie? Zweifellos in der Idee des Ausgleichs, in derÜberzeugung, die Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden

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und die gleichmäßige Aufteilung des Bodens (oder der Bodennutzung)vermöchten die Quellen der Not, des Elends, der Arbeitslosigkeit, der Aus-beutung zu beseitigen.

Es gibt keinen Streit darüber, daß das vom Standpunkt des Sozialismuseine Utopie ist, eine Utopie des Kleinbürgers. Vom Standpunkt des Sozia-lismus ist das ein reaktionäres Vorurteil, denn der proletarische Sozialis-mus sieht das Ideal nicht in der Gleichheit von Kleinbesitzern, sondernin der vergesellschafteten Großproduktion. Aber man vergesse nicht, daßwir uns jetzt darüber klarwerden wollen, welche Bedeutung die bäuer-lichen Ideale nicht in der sozialistischen Bewegung, sondern in der ge-gebenen bürgerlich-demokratischen Revolution haben. Wäre es utopisch,wäre es reaktionär, wenn alle Ländereien in der gegebenen Revolutionden Gutsbesitzern genommen und zu gleichen Teilen an die Bauern ge-geben oder verteilt würden?! Nein! Das ist nicht nur nicht reaktionär,sondern im Gegenteil, es bringt auf die entschiedenste, die konsequen-teste Weise das Bestreben zum Ausdruck, die ganze alte Ordnung, alleÜberreste der Leibeigenschaft mit Stumpf und Stiel auszurotten. Uto-pisch ist der Gedanke, die „Ausgleichung" könnte unter der Waren-produktion aufrechterhalten werden und sogar als Ausgangspunkt einesHalbsozialismus dienen. Nicht utopisch, sondern revolutionär im vollsten,im strengsten wissenschaftlichen Sinn des Wortes ist das Bestreben derBauern, jetzt sofort den Gutsbesitzern die Ländereien wegzunehmen undsie gleichmäßig aufzuteilen. Eine solche Wegnahme und Aufteilung würdedie Grundlage schaffen für die schnellste, die breiteste, die freieste Ent-wicklung des Kapitalismus.

Objektiv, nicht vom Standpunkt unserer Wünsche, sondern vom Stand-punkt der gegebenen ökonomischen Entwicklung Rußlands, läuft dieGrundfrage unserer Revolution eben darauf hinaus, ob die Revolutiondie Entwicklung des Kapitalismus gewährleisten wird durch den vollenSieg der Bauern über die Gutsherren oder durch einen Sieg der Gutsherrenüber die Bauern. Die bürgerlich-demokratische Umwälzung im Wirt-schaftsleben Rußlands ist absolut unvermeidlich. Keine Macht in der Weltkann sie verhindern. Aber diese Umwälzung ist in zweierlei Form mög-lich: nach dem preußischen, wenn man sich so ausdrücken darf, oder nachdem amerikanischen Typus. Das bedeutet folgendes: Die Gutsherren kön-nen siegen, können den Bauern eine Ablösung oder andere kümmerliche

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Zugeständnisse aufzwingen, sich mit dem Häuflein reicher Bauern zu-sammentun, die Masse endgültig ruinieren und ihre eigenen Wirt-schaften in junkerliche, kapitalistische Wirtschaften verwandeln. Bürger-lich-demokratisch wird eine solche Umwälzung sein, aber sie wird für dieBauern am wenigsten vorteilhaft sein - am wenigsten vorteilhaft vomStandpunkt rascher Entwicklung des Kapitalismus. Umgekehrt bedeutender volle Sieg des Bauernaufstands, die Konfiskation des gesamten Guts-besitzerlandes und seine gleichmäßige Aufteilung die rascheste Entwick-lung des Kapitalismus, die für die Bauern vorteilhafteste Form der bür-gerlich-demokratischen Umwälzung.

Und nicht nur für die Bauern ist das vorteilhafter. Dasselbe gilt auchfür das Proletariat. Das klassenbewußte Proletariat weiß, daß es keinenanderen Weg zum Sozialismus gibt noch geben kann als den über diebürgerlich-demokratische Umwälzung.

Also je unvollständiger and je weniger durchgreifend diese Umwälzungist, desto länger und stärker werden auf dem Proletariat nicht die soziali-stischen Aufgaben, nicht die rein proletarischen Klassenaufgaben, sondernallgemein demokratische Aufgaben lasten. Je vollständiger der Sieg derBauernschaft ist, desto schneller bildet sich das Proletariat endgültig alsKlasse heraus, desto klarer rückt es seine rein sozialistischen Aufgabenund Ziele in den Vordergrund.

Hieraus ersehen Sie, daß die bäuerlichen Ausgleichsideen - reaktionärund utopisch vom Standpunkt des Sozialismus - revolutionär sind vomStandpunkt des bürgerlichen Demokratismus. Wer daher den reaktio-nären Charakter der Liberalen in der gegebenen Revolution und denreaktionären Utopismus der Bauern in ihren Ideen von der sozialistischenRevolution nebeneinanderstellt, der begeht einen himmelschreienden logi-schen und historischen Fehler. Wer das Bestreben der Liberalen, die ge-gebene Revolution so zu stutzen, daß Loskauf zahlungen, konstitutionelleMonarchie, kadettisches Agrarprogramm u. a. herauskommen, auf eineStufe stellt mit den Versuchen der Bauern, ihr Bestreben, mit den Guts-herren sofort aufzuräumen, den ganzen Grund und Boden wegzunehmen,ihn restlos zur Verteilung zu bringen, utopisch in reaktionärem Geist zuidealisieren — wer das auf eine Stufe stellt, der verläßt ganz und gar nichtnur den Standpunkt des Proletariats, sondern sogar den Standpunkt eineskonsequenten revolutionären Demokraten. Eine Resolution schreiben über

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den Kampf gegen den Opportunismus des Liberalen und den Revolutio-nismus des Bauern in der gegebenen Revolution heißt eine nicht sozial-demokratische Resolution schreiben. Das schreibt kein Sozialdemokrat,sondern ein Intellektueller, der zwischen dem Liberalen und dem Bauernim Lager der bürgerlichen Demokratie sitzt.

Ich kann hier nicht so ausführlich, wie es nötig wäre, auf die be-rühmte taktische Plattform der Menschewiki mit ihrer berüchtigtenLosung des Kampfes gegen die „einseitige Feindschaft des Proletariatsgegen den Liberalismus" eingehen. Der unmarxistische und unprole-tarische Charakter einer solchen Losung ist mehr als offensichtlich.

Zum Schluß will ich auf einen häufig gegen uns erhobenen „Einwand"eingehen. „Eure" Trudowiki, sagt man uns, gehen oft genug mit denKadetten gegen uns. Das stimmt. Aber das ist kein Einwand gegen un-seren Standpunkt und gegen unsere Resolution, denn wir haben das mitaller Bestimmtheit und Entschiedenheit konstatiert.

Die Trudowiki sind ohne Zweifel keine völlig konsequenten Demo-kraten. Die Trudowiki (Sozialrevolutionäre eingeschlossen) schwankenzweifellos zwischen den Liberalen und dem revolutionären Proletariat.Das ist von uns gesagt worden, und es muß gesagt werden. DerartigeSchwankungen sind keineswegs zufällig. Sie folgen unvermeidlich aus demganzen Wesen der ökonomischen Lage des Kleinproduzenten. Einerseitsist er unterdrückt, unterliegt er der Ausbeutung. Er wird unwillkürlichzum Kampf gedrängt gegen eine solche Lage, zum Kampf für die Demo-kratie, zu der Idee einer Abschaffung der Ausbeutung. Anderseits ist erein Kleinbesitzer. Im Bauern lebt der Instinkt des Eigentümers - wennnicht eines Eigentümers von heute, so doch des Eigentümers von morgen.Dieser Besitzer-, dieser Eigentümerinstinkt stößt den Bauern vom Prole-tariat ab, er läßt ihn davon träumen und danach streben, zu etwas zukommen, selber ein Bourgeois zu werden, sich gegen die ganze Gesell-schaft abzukapseln auf seinem eigenen Fetzen Land, auf seinem eigenen,wie Marx grimmig sagte, Misthaufen152.

Schwankungen der Bauernschaft und der demokratischen Bauernpar-teien sind unvermeidlich. Und darum darf die Sozialdemokratie sich auchnicht eine Minute in Verwirrung bringen lassen durch die Furcht, sichvon derartigen Schwankungen zu isolieren. Jedesmal wenn die Trudo-wiki Kleinmütigkeit an den Tag legen und den Liberalen nachlaufen,

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müssen wir furchtlos und mit voller Festigkeit gegen die Trudowiki auf-treten, müssen die kleinbürgerliche Inkonsequenz und Schlaffheit ent-larven und geißeln.

Unsere Revolution macht schwere Zeiten durch. Es bedarf aller Wil-lenskraft, aller Prinzipienfestigkeit und Standhaftigkeit der einigen prole-tarischen Partei, um den Stimmungen des Unglaubens, des Rückgangs derKräfte, der Gleichgültigkeit, des Verzichts auf den Kampf widerstehen zukönnen. Das Kleinbürgertum wird stets und unausbleiblich am leichtestenderartigen Stimmungen nachgeben, es wird Charakterlosigkeit an den Taglegen, dem revolutionären Weg untreu werden, flennen und Buße tun. Undin allen derartigen Fällen wird sich die Arbeiterpartei von der schwanken-den kleinbürgerlichen Demokratie isolieren. In allen derartigen Fällenmuß man verstehen, selbst von der Dumatribüne herab die unbestän-digen Demokraten offen zu entlarven. „Bauern!" müssen wir in der Dumaunter solchen Umständen sagen, „Bauern! wißt, daß eure Vertreter euchverraten, denn sie lassen sich von den liberalen Gutsherren ins Schlepp-tau nehmen. Eure Dumadeputierten verraten die Sache der Bauernschaftan die liberalen Schwätzer und Advokaten." Sollen die Bauern wissen- wir müssen es ihnen an Hand von Tatsachen beweisen - , daß nur dieArbeiterpartei eine wirklich zuverlässige, rückhaltlos treue Verteidigerinder Interessen nicht nur des Sozialismus, sondern auch der Demokratieist, nicht nur die aller Werktätigen und Ausgebeuteten, sondern auch dieder gesamten gegen die fronherrliche Ausbeutung kämpfenden Bauern-masse.

Wenn wir standhaft und unbeugsam eine solche Politik betreiben,dann gewinnen wir aus unserer Revolution ein gewaltiges Material fürdie Sache der Klassenentwicklung des Proletariats, gewinnen es unterallen Umständen, welche Wechselfälle des Schicksals wir auch zu ertra-gen haben werden, welche Niederlagen der Revolution (unter sich be-sonders ungünstig gestaltenden Umständen) auch unser Los sein mögen.Eine feste proletarische Politik wird der ganzen Arbeiterklasse einensolchen Vorrat an Ideen, ein so klares Verständnis und eine solche Stand-haftigkeit im Kampf geben, daß nichts in der Welt stark genug sein wird,sie der Sozialdemokratie wieder zu nehmen. Selbst wenn die Revolutioneine Niederlage erleiden sollte - das Proletariat wird vor allen Dingendie ökonomischen Klassengrundlagen sowohl der liberalen als auch, der

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demokratischen Parteien verstehen lernen, und dann wird es lernen, denVerrat der Bourgeoisie zu hassen und die Schlaffheit und die Schwan-kungen des Kleinbürgertums zu verachten.

Und gerade mit einem solchen Wissensschatz, gerade mit einer solchenDenkfähigkeit wird das Proletariat einmütiger und kühner der neuen,der sozialistischen Revolution entgegenschreiten. ( B e i f a l l d e r B o 1 -s c h e w i k i u n d d e s Z e n t r u m s . )

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SCHLUSSWORT ZUM REFERAT ÜBER DIE,STELLUNGZU DEN BÜRGERLICHEN PARTEIEN

14. (27.) MAI

Ich möchte mit der hier angeschnittenen Frage nach der Haltung derpolnischen Delegation beginnen. Den pohlischen Genossen wurde - be-sonders von den Bundisten — der Vorwurf gemacht, sie seien inkonse-quent, da sie sich mit unserer Resolution einverstanden erklärt haben, diesie doch selber in der Kommission als unbefriedigend bezeichneten. Der-artige Vorwürfe beruhen auf einem sehr einfachen Kniff: man umgehtdas Wesen der Fragen, vor denen beim vorliegenden Punkt der Tages-ordnung der Parteitag steht. Wer dieses Wesen der Frage nicht umgehenwill, der wird leicht sehen, daß wir Bolschewiki in den beiden wichtigstenFragen mit den Polen immer übereingestimmt haben und auch jetzt über-einstimmen. Erstens stimmen wir darin überein, daß im Interesse der so-zialistischen Aufgaben des Proletariats seine klassenmäßige Sonderstel-lung gegenüber allen übrigen, bürgerlichen Parteien unbedingt notwendigist, wie revolutionär diese auch sein mögen, für welche demokratischeRepublik sie auch eintreten mögen. Zweitens stimmen wir darin überein,daß wir es als Recht und als Pflicht der Arbeiterpartei erkennen, diekleinbürgerlichen demokratischen Parteien einschließlich der bäuerlichenhinter sich zu bringen zum Kampf nicht nur gegen die Selbstherrschaft,sondern auch gegen die verräterische liberale Bourgeoisie.

In der dem Parteitag von den pohlischen Genossen unterbreiteten Re-solution zum Rechenschaftsbericht der sozialdemokratischen Dumafrak-tion kommen diese Gedanken oder Grundsätze mit vollster Klarheit zumAusdruck. Dort wird direkt gesprochen von der klassenmäßigen Sonder-stellung gegenüber allen Parteien bis zu den Sozialrevolutionären. Dortwird direkt gesprochen von der Möglichkeit und Notwendigkeit gemein-

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samer Aktionen der Sozialdemokraten mit den Trudowikigruppen gegendie Liberalen. Und das ist gerade das, was man bei uns in RußlandLinksblock oder Linksblockpolitik nennt.

Hieraus ist ersichtlich, daß die Polen und wir in den grundlegendenPunkten der Frage nach der Stellung zu den bürgerlichen Parteien wirk-lich solidarisch sind. Das bestreiten und von einer Widersprüchlichkeit imVerhalten der Polen sprechen heißt einer direkten Erörterung der prin-zipiellen Meinungsverschiedenheit ausweichen.

Die sozialistische Sonderstellung des Proletariats gegenüber allen,selbst den revolutionärsten und republikanischsten Parteien, ferner dieFührerrolle des Proletariats im Kampf der gesamten revolutionären De-mokratie in der gegenwärtigen Revolution - wer könnte etwa bestreiten,daß eben das die grundlegenden und leitenden Ideen sowohl der polni-schen als auch der bolschewistischen Resolution sind?

Ein paar Worte über Trotzki. Auf unsere Meinungsverschiedenheitenmit ihm hier näher einzugehen habe ich keine Zeit. Bemerken will ichnur, daß Trotzki sich in dem Büchlein „Zur Verteidigung der Partei" ingedruckter Form solidarisch erklärt hat mit Kautsky, der über die öko-nomische Interessengemeinschaft des Proletariats und der Bauernschaftin der gegenwärtigen Revolution in Rußland schrieb. Trotzki hat die Zu-lässigkeit und Zweckmäßigkeit eines Linksblocks gegen die liberale Bour-geoisie anerkannt. Für mich genügen diese Tatsachen, um anzuerkennen,daß Trotzki sich unseren Ansichten genähert hat. Unabhängig von derFrage der „permanenten Revolution" herrscht hier Solidarität in dengrundlegenden Punkten der Frage nach der Stellung zu den bürgerlichenParteien.

Genosse Liber machte mir sehr energisch den Vorwurf, ich strichesogar die Trudowiki aus der Zahl der bürgerlich-demokratischen Ver-bündeten des Proletariats. Liber hat sich hier wiederum von einer Phrasehinreißen lassen, dem Wesen des Streits aber keine Aufmerksamkeit ge-schenkt. Nicht vom Verzicht auf gemeinsame Aktionen mit den Trudo-wiki habe ich gesprochen, sondern von der Notwendigkeit, sich von denSdbwarik.un.gen der Trudowiki zu differenzieren. Man darf keine Angsthaben, sich von ihnen zu „isolieren", wenn sie geneigt sind, den Kadettennachzulaufen. Man muß die Trudowiki schonungslos entlarven, wenn sienicht auf dem konsequenten Standpunkt eines revolutionären Demokra-

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ten stehen. Von zwei Dingen eins, Gen. Liber: Entweder macht die Ar-beiterpartei wirklich eine selbständige proletarische Politik - dann lassenwir gemeinsame Aktionen mit einem Teil der Bourgeoisie nur dann zu,wenn er, dieser Teil, unsere Politik annimmt, und nicht umgekehrt. Oderunsere Reden von der Selbständigkeit des proletarischen Klassenkampfesbleiben leere Worte.

Ebenso wie Liber umging auch Plechanow das Wesen des Streits, nurauf eine andere Manier. Plechanow sprach von Rosa Luxemburg undstellte sie dar wie eine Madonna, die auf Wolken thront. Was soll manda sagen! Eine elegante, galante, effektvolle Polemik . . . Dennoch möchteich Plechanow fragen: Madonna hin, Madonna her, aber wie denkenSie denn nun über das Wesen der Frage? ( B e i f a l l d e s Z e n -t r u m s u n d d e r B o l s c h e w i k i . ) Es ist doch schlecht, wenn maneiner Madonna bedarf, um einer sachlichen Untersuchung der Frage aus-zuweichen. Madonna hin, Madonna her, aber was machen wir mit der„machtvollkommenen Duma"? Was ist das? Hat das irgend etwas mitdem Marxismus oder der selbständigen Politik des Proletariats zu tun?

„Abkommen von Fall zu Fall", sagen uns in verschiedenen Tonartensowohl Liber als auch Plechanow. Das ist eine sehr bequeme Formel.Aber sie ist absolut prinzipienlos. Sie ist absolut ohne jeden Inhalt. Dennauch wir, Genossen, halten doch in bestimmten Fällen Abkommen mitden Trudowiki ebenfalls nur von Fall zu Fall, ausschließlich von Fall zu

' Fall, für zulässig. Wir werden diese Worte gern auch in unsere Resolu-tion setzen.

Nicht darin besteht doch die Frage. Die Frage ist die, weldhe gemein-samen Aktionen von Fall zu Fall zulässig sind, mit wem, zu welchemZweck! Diese wesentlichen Fragen hat sowohl Plechanow mit seinengalanten Geistreicheleien als anch Liber mit seinem hohlen Pathos ver-tuscht und verdunkelt. Es ist jedoch keine theoretische, sondern eineäußerst aktuelle praktische Frage. Wir haben in der Praxis gesehen, wasdie vielberühmten Abkommen von Fall zu Fall, die vielgepriesenen„technischen" Abkommen bei den Menschewiki bedeuten! Sie bedeuteneine Politik der Abhängigkeit der Arbeiterklasse von den Liberalen -nichts weiter. „Von Fall zu Fall" - das ist ein schlechter Deckmantel die-ser opportunistischen Politik

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Plechanow führte Zitate aus Werken von Marx an über die Notwen-digkeit einer Unterstützung der Bourgeoisie. Er hätte lieber Zitate ausder „Neuen Rheinischen Zeitung" anführen sollen, hätte lieber nicht ver-gessen sollen, auf welche Weise Marx die Liberalen in der Epoche„unterstützte", in der die bürgerliche Revolution in Deutschland in voll-stem Gang war. Und man braucht auch überhaupt nicht so weit zurück-zugehen, um zu beweisen, was unbestreitbar ist. Auch die alte „Iskra"hat wiederholt über die Notwendigkeit einer Unterstützung der Libe-ralen - sogar der Adelsmarschälle - durch die Sozialdemokratische Ar-beiterpartei geschrieben. In der Periode vor der bürgerlichen Revolution,als die Sozialdemokratie das Volk erst zum politischen Leben erweckenmußte, war das durchaus berechtigt. Jetzt, wo schon die verschiedenenKlassen die Bühne betreten haben, wo einerseits die revolutionäre Bauern-bewegung und anderseits der Verrat der Liberalen in Erscheinung ge-treten sind - jetzt kann keine Rede mehr davon sein, daß wir die Libe-ralen unterstützen sollten. Wir alle sind uns darüber einig, daß dieSozialdemokraten heute die Konfiskation des gutsherrlichen Bodens for-dern müssen, wie aber stellen sich dazu die Liberalen?

Plechanow sagte: Alle einigermaßen progressiven Klassen müssen zumWerkzeug in den Händen des Proletariats werden. Ich zweifle nicht, daßdas der Wunsch Plechanows ist. Aber ich behaupte, daß sich praktischaus der menschewistischen Politik durchaus nicht dies, sondern etwasUmgekehrtes ergibt. Praktisch waren im Laufe des vergangenen Jahres,zur Zeit der sogenannten Unterstützung der Kadetten durch die Men-schewiki, in allen Fällen gerade die Menschewiki ein Werkzeug der Kadet-ten. So war es sowohl bei der Unterstützung der Forderung nach einemDumakabinett als auch zur Zeit der WahTblocks mit den Kadetten. DieErfahrung hat gezeigt, daß in diesen Fällen das Werkzeug gerade dasProletariat war, entgegen den „Wünschen" Plechanows und der anderenMenschewiki. Ich rede schon gar nicht von der „machtvollkommenenDuma" und von der Stimmabgabe für Golowin.

Man muß mit aller Bestimmtheit konstatieren, daß die liberale Bour-geoisie einen konterrevolutionären Weg eingeschlagen hat, und sie be-kämpfen. Nur dann wird die Politik der Arbeiterpartei eine selbständigeund nicht nur in Worten revolutionäre Politik sein. Nur dann werdenwir systematisch sowohl auf das Kleinbürgertum als auch auf die Bauern-

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schaft einwirken, die zwischen dem Liberalismus und dem revolutionärenKampf hin und her schwanken.

Ganz grundlos wurde hier darüber geklagt, unsere Prämisse, daß dasKleinbürgertum von den Liberalen betrogen wird, sei falsch. Nicht nurunsere Revolution, sondern auch die Erfahrungen anderer Länder habengezeigt, daß der Liberalismus seinen Einfluß unter vielen Schichten derBevölkerung eben durch Betrug aufrechterhält. Der Kampf für die Befrei-ung dieser Schichten vom Einfluß der Liberalen ist unsere unmittelbareAufgabe. Die deutschen Sozialdemokraten suchten z. B. in Berlin jahr-zehntelang den Einfluß der Liberalen auf die breiten Massen der Bevöl-kerung zunichte zu machen und haben ihn auch zunichte gemacht. Wirkönnen und müssen dasselbe erreichen und den Kadetten ihre demokra-tischen Anhänger abspenstig machen.

Ich will an einem Beispiel zeigen, wohin die menschewistische Politikeiner Unterstützung der Kadetten geführt hat. In der menschewistischenZeitung „Russkaja Shisn" vom 22. Februar 1907 (Nr. 45) wurde ineinem nicht gezeichneten, d. h. redaktionellen Artikel anläßlich der WahlGolowins und seiner Rede gesagt: „Der Präsident der Reichsduma hatdie große, verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, das Wort zusagen, worin sich die wichtigsten Forderungen und Nöte eines 140-Mil-lionen-Volkes kristallisieren . . . Herr Golowin vermochte sich auch nichtfür einen Augenblick über das Niveau eines Mitglieds der Kadettenparteizu erheben, zum Verkünder des Willens der ganzen Duma zu werden."Sehen Sie, wie aufschlußreich das ist? Aus einer einfachen Unterstützungdurch Stimmabgabe leiten die Menschewiki die verantwortungsvolle Auf-gabe des Liberalen ab - im Namen des „Volkes" zu sprechen. Das heißtgeradezu die ideologisch-politische Führung dem Liberalismus überlassen.Es heißt den Klassenstandpunkt völlig aufgeben. Und ich sage Ihnen:Wenn es nach Abschluß des Linksblocks irgendeinem Sozialdemokratenin den Sinn gekommen wäre, darüber zu schreiben, es sei die verantwor-tungsvolle Aufgabe des Trudowiks, die Bedürfnisse der „Arbeit" zumAusdruck zu bringen, dann hätte ich die entschiedene Verurteilung einessolchen Sozialdemokraten vorbehaltlos unterschrieben. Es handelt sichbei den Menschewiki um einen ideologischen Block mit den Kadetten,und auf derartige Blocks dürfen wir uns mit niemand, nicht einmal mitden Sozialrevolutionären, einlassen.

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Nebenbei, Martynow hat behauptet, wir sänken zu einem solchen Blockhinab, wenn wir von allem Land und voller Freiheit sprechen. Das stimmtnicht. Ich erinnere Sie an den menschewistischen „Sozialdemokrat". Dort,in dem vom Zentralkomitee verfaßten Entwurf einer Wahlplattform, fin-den wir dieselben Losungen von Land und Freiheit! Martynows Wortesind nichts weiter als Nörgelei.

Zum Schluß möchte ich einige Worte an die polnischen Genossen rich-ten. Vielleicht hatten einige von ihnen den Eindruck, eine genaue Cha-rakteristik der kleinbürgerlichen Parteien sei unnötig. Der zugespitztereKlassenkampf in Polen macht das vielleicht überflüssig. Für die russischenSozialdemokraten aber ist das notwendig. Eine genaue Untersuchungdes Klassencharakters der Trudowikiparteien ist außerordentlich wichtigfür die Anleitung der gesamten Propaganda und Agitation. Nur wennwir von einer Klassenanalyse der Parteien ausgehen, können wir mitvoller Bestimmtheit vor der ganzen Arbeiterklasse unsere taktische Auf-gabe stellen: sozialistische Sonderstellung des Proletariats als Klasse undKampf unter seiner Führung sowohl gegen die Selbstherrschaft als auchgegen die verräterische Bourgeoisie. ( B e i f a l l d e r B o l s c h e w i k ia n d d e s Z e n t r u m s . )

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REDE ÜBER DIE STELLUNGZUM POLNISCHEN ENTWURF DER RESOLUTION

OBER DIE BÜRGERLICHEN PARTEIEN15. (28.) MAI

Die voraufgegangene Rede wird Ihnen gezeigt haben, wie berechtigtdie Worte des Genossen Popow über die Fruchtlosigkeit der gegenwär-tigen Debatte waren. Von der vollständigen Prinzipienlosigkeit der RedeLibers haben Sie sich selbst überzeugt. Ich erinnere nur daran, daß inunserer erfolglosen Kommission 4 Mensdbewiki, i Bundist und 2 Polengegen uns und die Letten dafür stimmten, den polnischen Entwurf alsGrundlage anzunehmen.

Also wurde in der Kommission der polnische Entwurf von denjenigenals Grundlage angenommen, die im Prinzip den Polen am fernsten stan-den. Sie taten das, um Abänderungen im menschewistischen Geist in denEntwurf hineinzubringen, um die Resolution für ihre Verfasser unan-nehmbar zu machen! Liber selbst stimmte sowohl in diesem Fall mit denMenschewiki ( L i b e r : „Das ist nicht wahr!") als auch bei der Abstim-mung über die Zulässigkeit von Blocks mit den Kadetten. Hiernach sindseine pathetischen Reden über Prinzipien geradezu lächerlich.

Ich verstehe die Polen durchaus, wenn sie sich dafür einsetzten, daß ihrEntwurf als Grundlage angenommen werden sollte. Ihnen erschienen dieEinzelheiten unserer Resolution unnötig. Sie wollten sich auf zwei grund-legende und uns wirklich mit ihnen verbindende Prinzipien beschränken:1. klassenmäßige Sonderstellung des Proletariats in allem, was den Sozia-lismus betrifft, gegenüber allen bürgerlichen Parteien; 2. Zusammenfas-sung der gemeinsamen Aktionen der Sozialdemokraten und der klein-bürgerlichen Demokratie gegen den verräterischen Liberalismus. Diesebeiden Ideen ziehen sich wie ein roter Faden auch durch den bolsche-wistischen Entwurf. Die Kürze des polnischen Entwurfs aber ließ zuviel

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Raum für menschewistische Schlupflöcher. Durch ihre Zusätze zwangendie Menschewiki die Verfasser selbst, gegen ihren eigenen Entwurf alsGanzes zu stimmen. Und zur gleichen Zeit wagten es weder die Men-schewiki noch die Bundisten, den von ihnen auf solche Weise „korrigier-ten" polnischen Entwurf selbst zu verteidigen. Es kam zum völligenFiasko der Arbeit der gesamten Kommission.

Jetzt bleibt uns allen überhaupt und den polnischen Genossen im beson-deren nur eins übrig: zu versuchen, den bolschewistischen Entwurf alsGrundlage zu nehmen. Falls auch zu diesem Entwurf unannehmbareAbänderungen beantragt werden, wird man den Parteitag für arbeits-unfähig erklären müssen. Möglicherweise aber wird es gelingen, auf derGrundlage dieses Entwurfs, der alle Grundtypen der Parteien genau ana-lysiert, einen Beschluß zu erzielen, der genügend bestimmt im Geist derrevolutionären Sozialdemokratie gehalten ist.

Gegen unseren Entwurf wendet man ein, er zeichne ein zu sehr inseinzelne gehendes Bild der Parteien. Die Parteien könnten sich doch spal-ten, sich umgruppieren, und dann wäre die ganze Resolution unbrauchbar.

Dieser Einwand ist absolut nicht stichhaltig. In unserem Entwurf wer-den eben keineswegs kleine Gruppen, ja nicht einmal einzelne Parteien,sondern große Parteiengruppen skizziert. Diese Gruppen sind so groß,daß eine schnelle Änderung der Wechselbeziehungen zwischen ihnenweitaus weniger möglich ist als die völlige Ablösung einer revolutionärenFlaute durch einen Aufschwung oder umgekehrt. Man nehme diese Grup-pen und betrachte sie näher. Eine reaktionäre und eine mehr oder minderprogressive Bourgeoisie — das sind die unveränderlichen Typen aller kapi-talistischen Länder. Zu diesen- beiden unveränderlichen Typen kommenbei uns lediglich zwei Typen hinzu: die Oktobristen (ein Mittelding zwi-schen Schwarzhundertern und Liberalen) und die Trudowikigruppen.Können sich diese Typen schnell ändern? Sie können es nicht, wenn nichtunsere Revolution eine so radikale Wendung nimmt, daß sie uns ohnehinund auf jeden Fall zwingt, nicht nur unsere Parteitagsresolutionen, son-dern sogar unser Programm radikal zu revidieren.

Man denke an unsere programmatische Forderung nach Konfiskationdes gesamten gutsherrlichen Bodens. Niemals könnten die Sozialdemo-kraten in irgendeinem anderen Land die Konfiskationsgelüste des Klein-bürgertums unterstützen. Das wäre in einem gewöhnlichen kapitali-

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stischen Land Scharlatanerie. Bei uns, in der Epoche der bürgerlich-demo-kratischen Revolution, ist es eine Notwendigkeit. Und man kann sichdafür verbürgen, daß die Grundfragen in der Einschätzung der Trudo-wikiparteien nicht früher revidiert werden müssen als unsere Programm-forderung nach Konfiskation.

Ich weise noch darauf hin, daß wir, zwecks Vermeidung aller möglichenMißverständnisse und falschen Deutungen des Linksblocks, den Inhaltdes Kampfes der Trudowikiparteien genau angeben. In Wirklichkeitkämpfen sie nicht* gegen die Ausbeutung überhaupt (wie es ihnen selberscheint) und erst recht nicht gegen die kapitalistische Ausbeutung (wieihre Ideologen die Sache darstellen), sondern nur gegen den Leibeigen-schaftsstaat und den gutsherrlichen Grundbesitz. Und der genaue Nach-weis dieses wirklichen Inhalts des Kampfes räumt sofort auf mit allenden falschen Gedanken an die Möglichkeit gemeinsamer Aktionen derArbeiterpartei und der Bauernschaft im Kampf für den Sozialismus, imKampf gegen den Kapitalismus.

Außerdem sprechen wir in unserer Resolution klar von dem „pseudo-sozialistischen Charakter" der Trudowikiparteien, wir rufen zum ent-schiedenen Kampf auf gegen die Vertuschung des Klassengegensatzeszwischen Kleinbesitzer und Proletarier. Wir rufen dazu auf, die nebel-hafte sozialistische Ideologie der Kleinbürger zu entlarven. Das muß vonden kleinbürgerlichen Parteien unbedingt gesagt werden. Aber das istauch alle s, was gesagt werden muß. Die Menschewiki haben vonGrund aus unrecht, wenn sie dem den Kampf gegen den Revolutionismusund Utopismus der Bauernschaft in der gegenwärtigen Revolution hinzu-fügen. Eben das ergibt sich aus ihrer Resolution. Ein derartiger Gedankeaber läuft objektiv darauf hinaus, zum Kampf gegen die K o n / i s -kation des gutsherrlichen Bodens aufzurufen. Darauf läuft die Sachedeshalb hinaus, weil die einflußreichsten und am weitesten verbreitetenideologisch-politischen Strömungen des Liberalismus gerade die Konfis-kation für Revolutionismus, Utopismus usw. erklären. Nicht zufällig,sondern zwangsläufig gerieten die Menschewiki im vergangenen Jahr vonderartigen Prinzipien her auf den Abweg, in der Praxis die Verfechtungder Konfiskation abzulehnen.

Dazu dürfen Sie es nicht kommen lassen, Genossen! Dan spöttelte ineiner seiner Reden: Schlecht sind unsere Kritiker, wenn sie uns vor allem

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für das kritisieren, was wir nicht getan haben. Wir hatten lediglich dieAbsicht, die Konfiskation abzulehnen, haben sie jedoch nicht abgelehnt!

Ich aber antworte darauf: Wenn Sie sie abgelehnt hätten, dann hättenwir schon keine einheitliche Partei mehr. Zu solchen Ablehnungen dür-fen wir es nicht kommen lassen. Wenn wir auch nur die leiseste Spureines Gedankens an eine solche Politik zulassen, dann bringen wir allerevolutionären Grundlagen des selbständigen Klassenkampfes des Pro-letariats in der bürgerlich-demokratischen Revolution ins Wanken. ( B e i -f a l l b e i d e n B o l s c h e w i k i , d e n P o l e n u n d d e n L e t -ten.)

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EINWÄNDE GEGEN DIE ABÄNDERUNGSANTRÄGETROTZKIS ZU DER VOM PARTEITAG

ANGENOMMENEN RESOLUTION DER BOLSCHEWIKIOBER DIE STELLUNG ZU DEN BÜRGERLICHEN •>

PARTEIEN15.-16. (28.-29.) MAI1«

I

Zwei Punkte sind hier wichtig. Sie dürfen nicht gestrichen werden.Der erste Punkt ist der Hinweis auf die ökonomisch progressiverenSchichten der Bourgeoisie. Das ist wesentlich. Noch wesentlicher ist derHinweis auf die bürgerliche Intelligenz. In den bürgerlichen Parteiensteigt die Zahl der bürgerlichen Intellektuellen, die die Gutsbesitzer,die Fronherren, mit der werktätigen Bauernschaft zu versöhnen suchenund für die Erhaltung aller möglichen Überreste und Überbleibsel derSelbstherrschaft eintreten.

II

Daß Trotzkis Abänderungsantrag kein menschewistischer ist, daß er„denselben", d. h. den bolschewistischen Gedanken zum Ausdruck bringt,muß man zugeben. Aber dieser Gedanke ist bei Trotzki wohl kaum bes-ser ausgedrückt. Wenn wir „gleichzeitig" sagen, dann bringen wir dendllgemeinen Charakter der gegenwärtigen Politik zum Ausdruck. Dieserallgemeine Charakter ist zweifellos so, daß wir durch die Umstände ver-anlaßt werden, uns zugleich sowohl gegen Stolypin als auch gegen dieKadetten zu wenden. Das gleiche gilt in bezug auf die verräterische Politikder Kadetten. Trotzkis Einfügung ist überflüssig, denn wir greifen in derResolution keine vereinzelten kniffligen Fälle heraus, sondern legen dieGrundlinie der Sozialdemokratie in der bürgerlichen russischen Revolu-tion fest.

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V. Parteitag der SVAPR 483

10

EINWÄNDE GEGEN DIE ABÄNDERUNGSANTRÄGEMARTOWS ZUR RESOLUTION DER BOLSCHEWIKI

ÜBER DIE STELLUNG ZU DEN BüiRGERLICHENPARTEIEN

16. (29.) MAI154

Alle verstehen, daß der Abänderungsantrag Martows sehr wichtig ist.„Technische Abkommen" sind ein sehr dehnbarer Begriff. Es hat sich ge-zeigt, daß man zur „Technik" auch die „machtvollkommene Duma"rechnet. Wenn Martow der Meinung ist, wir verständen unter Abkom-men mit den Trudowiki keine technischen, dann irrt er sich. In unsererResolution wird nicht gesagt, daß technische Abkommen mit der Hbe-ralen Bourgeoisie, unzulässig wären. In der Resolution soll kein Platzsein für Genehmigungen oder Verbote, sondern es soll die ideologische,politische Linie gewiesen werden. Wenn Sie aber mit diesem Fehlen einesVerbots nicht zufrieden sind und Ihre Bemerkung über „Genehmigung"hineinbringen wollen, dann machen Sie damit den ganzen Geist, denganzen Sinn unserer Resolution zunichte. Und wenn eine solche Korrek-tur angenommen werden sollte, dann bliebe uns nur eins übrig - unsereResolution zurückzuziehen.

II

Wenn Martow sich zu der Behauptung versteigt, wir lehnten es ab, inunserer Resolution den Antagonismus zwischen uns und den revolutio-nären Volkstümlern irgendwie zu erwähnen, dann schlägt er durch dieseaugenscheinliche, himmelschreiende Unwahrheit sich selbst ins Gesichtund zeigt, daß er seine Abänderung einfach aus der Luft gegriffen hat.Nein, nicht wir haben den Kampf gegen den PseudoSozialismus der Volks-

31*

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484 TV.1 Lenin

tümler abgelehnt, sondern Sie, Genossen Menschewiki, haben es abge-lehnt, die revolutionäre Demokratie zu unterstützen, und haben dieliberalen (die Kadetten) vorgezogen. Die Mehrheit der volkstümleri-schen Fraktionen (die Volkssozialisten und die Tnidowiki) hat sich nichtnur speziell dem Terrorismus der Sozialrevolutionäre nicht angeschlos-sen, sondern sich im Gegenteil der Nachgiebigkeit gegenüber den Libe-ralen schuldig gemacht. Der wirkliche revolutionäre Geist aller Volks-tümler besteht in ihrem Bestreben, den gutsherrlichen Grundbesitz zuliquidieren. "Darin sehen nur Liberale „Abenteurertum und Utopismus".Praktisdh hilft Martow den Liberalen.

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V. Parteitag der SDJlPJl 485

EINWÄNDE GEGEN DIE ABÄNDERUNGSANTRÄGEMARTYNOWS ZUR RESOLUTION ÜBER DIE

STELLUNG ZU DEN BÜRGERLICHEN PARTEIEN16. (29.) MAI

I

Mit dem Abänderungsantrag Martynows wird von neuem versucht, diemenschewistische Ansicht durchzusetzen, daß in der jetzigen Revolutiondie Bauern reaktionärer seien (oder reaktionärer sein könnten) als dieKadetten, denn von dem reaktionären Charakter der Kadetten sagen dieMenschewiki kein Wort. Die Argumentation Martynows stiftet Verwir-rung: die Zwiespältigkeit besteht nicht darin, daß die Bauern zwischenRevolution und Reaktion schwanken, sondern darin, daß sie zwischenKadetten und Sozialdemokraten schwanken. Die „anarchistischen Ten-denzen", von denen Martynow spricht, werden die Menschewiki unwei-gerlich und unausbleiblich im Sinne ihrer Lieblingsidee auslegen, die Kon-fiskation des gutsherrlichen Bodens sei reaktionär, der Loskauf aber fort-schrittlich. „Anarchistische Tendenzen" der Bauern - das ist eine Rede-wendung der liberalen Gutsbesitzer. Und davon zu sprechen, daß dieproletarische Bewegung der bäuerlichen untergeordnet werde, ist lächer-lich, nachdem wir Dutzende Male das Gegenteil erklärt und es in Reso-lutionen zum Ausdruck gebracht haben.

II

Zweifellos würden wir uns als Sozialdemokraten zum Gespött machen,wenn wir den Abänderungsantrag Martynows annähmen. Von entschie-denem Kampf gegen den Leibeigenschaftsstaat wird bei uns schon zu

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486 W J.Lenin

Anfang der Resolution gesprochen. Jetzt muß die politische Schluß-folgerung aus dieser sozial-ökonomischen These gezogen werden. UnsereAufgabe besteht darin, dem Einfluß derjenigen Bourgeois, die zu diesementschlossenen Kampf unfähig sind (dem Einfluß der liberalen Guts-besitzer, der Kadetten), den Teil der Bourgeoisie zu entreißen, der durchseine ökonomische Lage zum Kampf gedrängt wird (d. h. die Bauern-schaft). Martynow schlägt vor, zum Schluß das am Anfang Gesagte zuwiederholen, um die klare politische Schlußfolgerung zu vertuschen.

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V. Parteitag der SDÄPR 487

12

BERICHT DER KOMMISSION ZUR AUSARBEITUNGDER RESOLUTION ÜBER DIE REICHSDUMA

18. (31.) MAI

Unsere Kommission ist zu keiner Übereinstimmung gelangt. Für denEntwurf der Bolschewiki sprachen sich 6 aus, und 6 dagegen. Für denEntwurf der Menschewiki 5, und 5 dagegen. Einer enthielt sich derStimme. Ich werde vor Ihnen also unseren bolschewistischen Entwurfkurz zu vertreten haben, dem sich auch die polnischen Sozialdemokratenund die Letten anschließen.

Wir sind davon ausgegangen, daß alles schon in der Resolution überdie bürgerlichen Parteien Gesagte aus der Resolution über die Reichs-duma fortbleiben muß, denn der Dumakampf ist lediglich ein Teil - undnicht einmal der Hauptteil - unseres gesamten Kampfes gegen die bür-gerlichen Parteien und die Selbstherrschaft.

In der vorliegenden Resolution sprechen wir lediglich davon, wieunsere Politik in der Duma beschaffen sein soll. Was die Einschätzungder Umstände anbetrifft, unter denen wir in die Duma gelangt sind, sohaben wir diesen Teil der Resolution - den Punkt über den Boykott -aus folgenden Gründen gestrichen. Mir persönlich und ebenso allen an-dern Bolschewiki scheint es, daß wir in Anbetracht der von der gesamtenliberalen Presse eingenommenen Haltung eine Einschätzung der Um-stände hätten geben müssen, unter denen wir in die Duma gekommensind. Die Arbeiterpartei ist verpflichtet, gegen die ganze liberale Bour-geoisie zu erklären, daß gerade der bürgerliche Verrat die Schuld daranträgt, daß wir zeitweilig mit einer solchen Mißgeburt von Körperschaftrechnen müssen. Aber die lettischen Genossen waren gegen diesen Punkt,und um die schnelle Beendigung der Arbeit nicht zu behindern (denn wirmüssen eilen, um den Parteitag, wie beschlossen, morgen zu beenden),zogen wir diesen Punkt zurück. Der Wille des Parteitags ist ohnehin klar,und prinzipielle Debatten zu führen gestattet uns der Zeitmangel nicht.

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488 W.l Centn

Ich will auf die Grundgedanken unserer Resolution eingehen. Imwesentlichen ist das alles eine Wiederholung dessen, was schon in unse-rem Resolutionsentwurf auf dem Stockholmer Parteitag gesagt war. Imersten Punkt wird die völlige Untauglichkeit der Duma als solcher her-vorgehoben. Das ist ein notwendiger Gedanke, denn sehr breite Schichtender Bauernschaft und überhaupt des Kleinbürgertums setzen bis auf denheutigen Tag die naivsten Hoffnungen auf die Duma. Die Entlarvungdieser naiven, von den Liberalen im Interesse ihrer eigennützigen Klas-senziele genährten Illusionen ist unsere direkte Pflicht.

Der zweite Teil des ersten Punktes spricht von der Untauglichkeit desparlamentarischen Weges überhaupt und von der Klarstellung der Un-vermeidlichkeit des offenen Kampfes der Massen. Hier werden unserepositiven Ansichten darüber entwickelt, mit welchen Mitteln man einenAusweg aus der gegenwärtigen Lage finden kann. Das hervorheben undunsere revolutionären Losungen klipp und klar wiederholen müssen wirunbedingt, denn Schaukeleien und Schwankungen in dieser Frage sindsogar unter den Sozialdemokraten keine Seltenheit. Mögen alle wissen,daß die Sozialdemokratie auf ihrem alten, revolutionären Wege bleibt.- Der zweite Punkt befaßt sich mit der Klärung des Verhältnisses zwi-schen der unmittelbar „gesetzgeberischen" Arbeit in der Duma und derAgitation, Kritik, Propaganda und Organisation. Über die Verbindungder Dumaarbeit mit der Arbeit außerhalb der Duma denkt die Arbeiter-partei durchaus nicht so wie die liberale Bourgeoisie. Dieser grundlegendeUnterschied der Anschauungen muß unterstrichen werden. Auf der einenSeite die bürgerlichen Politikaster, berauscht vom parlamentarischen Spielhinter dem Rücken des Volkes. Auf der anderen Seite ein Kampftruppdes organisierten Proletariats, der ins feindliche Lager entsandt wordenist und einmütige Arbeit leistet in Verbindung mit dem ganzen Kampfdes Proletariats. Für uns gibt es nur eine einzige, einheitliche und unteil-bare Arbeiterbewegung, den Klassenkampf des Proletariats. DiesemKampf müssen wir alle seine einzelnen Teilformen einschließlich der par-lamentarischen restlos unterordnen. Der Kampf des Proletariats außer-halb der Duma ist für uns das Bestimmende. Es würde nicht genügen,zu sagen, wir rechneten mit den ökonomischen Interessen und Bedürf-nissen der Massen usw. Derartige Phrasen (im Geist der alten menschewi-stischen Resolution) sind nebelhaft und können von jedem beliebigen

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V. Parteitag der SDJPR 489

Liberalen unterschrieben werden. Jeder Liberale ist bereit, von ökono-mischen Bedürfnissen des Volkes schlechthin zu sprechen. Aber kein Libe-raler wird die Dumatätigkeit dem 'Klassenkampf unterordnen, und geradediese Ansicht müssen wir Sozialdemokraten mit größter Prägnanz zumAusdruck bringen. Nur durch dieses Prinzip unterscheiden wir uns ebenpraktisch von all und jeder bürgerlichen Demokratie.

Man erklärt zuweilen (besonders die Bundisten - die angeblichenVersöhnler), es müsse auch das Umgekehrte hervorgehoben werden: dieVerbindung des sozialdemokratischen Kampfes außerhalb der Duma mitder Arbeit der sozialdemokratischen Dumafraktion. Ich behaupte, daßdas nicht richtig ist und lediglich die schädlichsten parlamentarischen Illu-sionen kultivieren könnte. Der Teil muß sich nach .dem Ganzen richtenund nicht umgekehrt. Die Duma kann zeitweise einer der Schauplätzedes Klassenkampfes in seiner Gesamtheit sein, aber nur dann, wenn die-ses Ganze nicht aus dem Auge gelassen wird, wenn die revolutionärenAufgaben des Klassenkampfes nicht vertuscht werden.

Der nächste Punkt unserer Resolution ist der liberalen Politik in derDuma gewidmet. Die Losung dieser Politik - „die Duma erhalten" -tarnt lediglich die Vereinigung der Liberalen mit den Schwarzhundertem.Das muß man offen sagen und dem Volk klarmachen. Die liberale Losungzersetzt systematisch das politische und das Klassenbewußtsein der Mas-sen. Schonungsloser Kampf gegen diesen liberalen Nebel ist unserePflicht. Dem Liberalismus die Maske herunterreißen, zeigen, daß sichhinter der Phrase von Demokratie die Tatsache verbirgt, daß man zu-sammen mit den Schwarzhundertern stimmt, heißt den bürgerlichen Ver-rätern der Freiheit die letzten Demokraten entreißen, die ihnen nochfolgen.

Wovon müssen wir uns bei der Ausarbeitung unserer Dumapolitikleiten lassen? Unsere Resolution, die jeden Gedanken, Konflikte um derKonflikte willen hervorzurufen, ausschließt, gibt eine positive Definitiondessen, was im sozialdemokratischen Sinne des Wortes „zeitgemäß" ist:man muß mit der sich außerhalb der Duma kraft objektiver Bedingungenentwickelnden revolutionären Krise rechnen.

Der letzte Punkt ist dem berüchtigten „verantwortlichen Ministerium"gewidmet. Diese Losung hat die liberale Bourgeoisie nicht zufällig, son-dern zwangsläufig aufgestellt, um Augenblicke der Flaute in ihrem Inter-

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490 TV.I.Zenin

esse dazu auszunutzen, dem revolutionären Bewußtsein der Massen Ab-bruch zu tun. Diese Losung haben die Menschewiki sowohl in der erstenals auch in der zweiten Duma unterstützt, und Plechanow hat in einermenschewistischen Zeitung während der zweiten Duma direkt geschrie-ben, die Sozialdemokraten müßten diese Forderung „zu der ihrenmachen". Somit hat diese Losung eine ganz bestimmte Rolle in der Ge-schichte unserer Revolution gespielt. Die Arbeiterpartei muß ihre Stellungzu dieser Losung festlegen. Man darf sich nicht davon leiten lassen, daßdie Liberalen sie jetzt nicht aufstellen: sie haben sie aus opportunistischenBeweggründen zeitweilig zurückgezogen, aber der Sache nach erstrebensie noch stärker einen Pakt mit dem Zarismus. Und die Losung eines„Dumakabinetts" bringt diese immanenten Tendenzen des Liberalismuszu einem Pakt am allerdeutlichsten zum Ausdruck.

Wir bestreiten nicht und können nicht bestreiten, daß sich ein Duma-kabinert als eine Etappe der Revolution erweisen kann, und ebenso, daßdie Umstände uns zwingen könnten, es auszunutzen. Nicht darum han-delt es sich. Die Sozialdemokratie macht sich Reformen als Nebenproduktdes revolutionären Klassenkampfes des Proletariats zunutze, aber es istnicht unsere Aufgabe, das Volk zu halbschlächtigen Reformen aufzurufen,die ohne revolutionären Kampf nicht zu verwirklichen sind. Die Sozial-demokratie muß die ganze Inkonsequenz solcher Losungen sogar vomrein demokratischen Standpunkt entlarven. Die Sozialdemokratie mußdem Proletariat die Bedingungen seines Sieges klarmachen und darf ihrePolitik nicht von vornherein mit der Möglichkeit eines unvollständigenSieges, mit der Möglichkeit einer Teilniederlage verbinden - gerade vondieser Art aber sind die Bedingungen der problematischen Verwirklichungeines „Dumakabinetts".

Mögen die Liberalen die Demokratie in Scheidemünze umwechselnund um banaler und ohnmächtiger, jämmerlicher Träume von einemjämmerlichen Almosen willen das Ganze fortwerfen. Die Sozialdemo-kratie muß im Volke das Bewußtsein der ungeteilten demokratischen Auf-gaben beleben und das Proletariat zu klar erkannten revolutionären Zie-len führen. Wir müssen das Bewußtsein der Arbeitermassen erleuchtenund ihre Kampfbereitschaft entwickeln, nicht aber das Bewußtsein trübendurch eine Abstumpfung der Gegensätze, eine Abschwächung der Kampf-aufgaben. ( B e i f a l l . )

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V. Parteitag der SBJPR 491

13

B E M E R K U N G E N IN DER D I S K U S S I O N ZUR FRAGE

DER STICHWAHL BEI D E N Z K - W A H L E N

19. MAI (1. JUND 1 5 5

I

Es muß eine Stichwahl vorgenommen werden. Liber hat unrecht. Seineganze Argumentation ist lächerliche Sophistik. Und wer entscheidet dennüber das Auslosen? Ebenfalls wir! Wir sind der Parteitag, der seine letzteSitzung abhält. Kompromisse kann es nicht geben. Denn dies ist ein Par-teitag und keine Versammlung von Fraktionen. Ihr sagt, man habe unsnur bevollmächtigt, technische und formale Fragen zu entscheiden, wirhaben aber soeben die politische Resolution über die Anleihe ange-nommen.

n

Man wollte Sie mit schrecklichen Worten über Machtergreifung ein-schüchtern. Aber wir sind doch bevollmächtigt, die für das ZK nominier-ten Kandidaten in dieser Sitzung zu wählen. ( U n r u h e . ) Beruhigen Siesich, Genossen, Sie werden mich doch nicht überschreien! Man macht unsden Vorwurf, wir wollten die eine Stimme ausnutzen. Ich finde, daß mandas machen kann und muß. Wir entscheiden hier über eine politische,eine prinzipielle Frage. Die Entscheidung dieser Frage dem Los - demblinden Zufall - überlassen heißt Hasard spielen. Man darf doch nichtdie Partei zu einem Jahr Hasardspiel verurteilen. Ich warne Sie: wennbei Stimmengleichheit unsere Partei diese Frage durch das Los ent-scheidet, fällt Ihnen die Verantwortung zu. Deshalb muß diese Versamm-lung eine Stichwahl durchführen.

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492

DIE STELLUNG ZU DEN BÜRGERLICHEN PARTEIEN

Die Stellung der Sozialdemokratie zu den bürgerlichen Parteiengehört zu den sogenannten „allgemeinen" oder „theoretischen"Fragen, d. h. zu denen, die nicht unmittelbar mit irgendeiner bestimmtenpraktischen Aufgabe verbunden sind, vor der die Partei gegenwärtigsteht. Gegen die Aufnahme solcher Fragen in die Tagesordnung desLondoner Parteitags der SDAPR führten die Menschewiki und die Bun-disten, die hier leider von dem fralctionslosen Trotzki unterstützt wur-den, einen erbitterten Kampf. Der opportunistische Flügel unserer Parteitrat, wie das auch in anderen sozialdemokratischen Parteien der Fall war,für eine „sachliche", „praktische" Tagesordnung des Parteitags ein. Erscheute die „allgemeinen, breiteren" Fragen. Er vergaß, daß in letzterInstanz eine umfassend prinzipielle Politik die einzige wirklich praktischePolitik ist. Er vergaß, daß jeder, der an spezielle Fragen herangeht^ ohnevorher die allgemeinen gelöst zu haben, unweigerlich auf Schritt undTritt, ohne sich dessen bewußt zu sein, über diese allgemeinen Fragen„stolpern" wird. Und wenn man in jedem einzelnen Falle blindlings übersie stolpert, so heißt das seine Politik zu den schlimmsten Schwankungenund zur Prinzipienlosigkeit verurteilen.

Die Bolschewiki, die darauf bestanden, eine ganze Reihe „allgemeinerFragen" in die Tagesordnung des Parteitags aufzunehmen, vermochtenmit Hilfe der Polen und der Letten nur eine Frage durchzukämpfen:über die Stellung zu den bürgerlichen Parteien. Und diese Frage trat andie Spitze nicht nur aller prinzipiellen Fragen des Parteitags, sondernseiner gesamten Arbeit überhaupt. So kam es und so mußte es kommen,gerade weil die wirkliche Quelle fast aller - und unbedingt aller wesent-lichen - Meinungsverschiedenheiten, aller Divergenzen in Fragen der

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Die Stellung zu den bürgerlichen Parteien 493

praktischen Politik des Proletariats in der russischen Revolution die ver-schiedene Beurteilung unserer Stellung zu den nichtproletarischen Par-teien war. Unter den Sozialdemokraten zeichneten sich in der russischenRevolution von allem Anfang an zwei grundlegende Ansichten ab überihren Charakter und über die Rolle, die das Proletariat in ihr zu spielenhat. Wer die taktischen Meinungsverschiedenheiten in der SDAPR zuanalysieren sucht, ohne auf den Unterschied dieser grundlegenden An-sichten einzugehen, der wird sich hoffnungslos in Kleinigkeiten und Ein-zelheiten verlieren.

I

Die beiden Strömungen in der russischen Sozialdemokratie hinsicht-lich der Frage der Einschätzung unserer Revolution und der Aufgaben,die dem Proletariat in ihr zufallen, traten bereits ganz zu Anfang desJahres 1905 deutlich in Erscheinung und fanden ihren vollständigen, ge-nauen und durch bestimmte Organisationen in aller Form anerkanntenAusdruck im Frühjahr 1905 auf dem bolschewistischen III. Parteitag derSDAPR in London und auf der gleichzeitig abgehaltenen Konferenz derMenschewiki in Genf. Sowohl die Bolschewiki als auch die Menschewikiberieten und beschlossen damals Resolutionen, die zu ignorieren heutediejenigen allzu leicht geneigt sind, die die Geschichte ihrer Partei oderselbst ihrer Fraktion vergessen bzw. einer Klarstellung der wirklichenQuellen der prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten aus dem Wegegehen möchten. Nach Ansicht der Bolschewiki fällt dem Proletariat dieaktive Aufgabe zu, die bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende zuführen, ihr Führer zu sein. Möglich ist das nur unter der Bedingung, daßes dem Proletariat gelingt, die Massen der demokratischen Kleinbour-geoisie, vor allem der Bauernschaft, im Kampf gegen die Selbstherrschaftund die verräterische liberale Bourgeoisie hinter sich zu bringen. Daßdiese Bourgeoisie unvermeidlich Verrat üben wird, haben die Bolschewikischon damals, vor dem offenen Auftreten der führenden liberalen Partei,der Kadetten, geschlußfolgert, und zwar aus den Klasseninteressen derBourgeoisie, die die proletarische Bewegung fürchtet.*

* Ein voller Sieg der Revolution, sagten die Bolschewiki, ist nur möglich inGestalt der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und derBauernschaft

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494 TVJXenin

Die Menschewiki neigten zu der Ansicht, daß in der bürgerlichen Revo-lution die Bourgeoisie die treibende Kraft sein und ihr Ausmaß bestim-men müsse. Das Proletariat könne in der bürgerlichen Revolution nichtFührer sein, es solle lediglich die Rolle der äußersten Opposition über-nehmen, ohne die Eroberung der Macht anzustreben. Die Idee der revo-lutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaftlehnten die Menschewiki auf das entschiedenste ab.

Damals, im Mai 1905 (d. h. vor genau zwei Jahren), äußerten sich dieMeinungsverschiedenheiten rein theoretisch, abstrakt, da unsere Parteivor keiner unmittelbar praktischen Aufgabe stand. Deshalb ist es beson-ders interessant zu verfolgen - Leuten zur Lehre, die abstrakte Fragengern von der Tagesordnung der Parteitage streichen und sie durch „sach-liche", praktische Fragen ersetzen - , wie denn nun später in der Praxisdiese Meinungsverschiedenheiten zutage traten.

Die Bolschewiki behaupteten, daß die menschewistischen Ansichtenpraktisch dazu führen, die Losungen des revolutionären Proletariats aufdas Niveau der Losungen und der Taktik der liberal-monarchistischenBourgeoisie herabzuwürdigen. Die Menschewiki suchten im Jahre 1905mit Leidenschaft den Nachweis zu führen, daß nur sie eine wirklich pro-letarische Politik vertreten, während die Bolschewiki die Arbeiterbewe-gung in der bürgerlichen Demokratie aufgehen ließen. Daß die Men-schewiki die aufrichtigsten Wünsche hinsichtlich einer selbständigen Poli-tik des Proletariats hegten, ist aus folgender äußerst aufschlußreicherTirade in einer ihrer damaligen, auf der menschewistischen Konferenzvom Mai 1905 beschlossenen Resolutionen ersichtlich. Dort heißt es:„Die Sozialdemokratie wird nach wie vor gegen die heuchlerischenFreunde des Volkes auftreten, gegen alle jene politischen Parteien, diezwar eine liberale und demokratische Fahne aufpflanzen, eine wirklicheUnterstützung des revolutionären Kampfes des Proletariats jedoch ab-lehnen." Trotz aller dieser guten Vorsätze aber führten die falschen tak-tischen Theorien der Menschewiki praktisch dazu, daß die proletarischeSelbständigkeit dem Liberalismus der monarchistischen Bourgeoisie zumOpfer gebracht wurde.

Erinnern wir uns, in welchen praktischen Fragen der Politik die Bol-schewiki und die Menschewiki in diesen zwei Jahren der Revolution ge-teilter Meinung waren. Bulyginsche Duma im Herbst A.905. Bolschewiki

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"Die Stellung zu den bürgerlichen Parteien 495

für Boykott, Menschewiki für Beteiligung. Wittesche Duma - dasselbe.Politik in der I. Duma (Sommer 1906) - Menschewiki für die Losung:ein verantwortliches Ministerium, Bolschewiki dagegen: sie sind für einExekutivkomitee der Linken, d. h. der Sozialdemokraten und der Trudo-wiki. Auseinanderjagung der Duma (Juli 1906) - die Menschewiki stel-len die Losung auf: „Für die Duma als Maditorgan, das eine konstituie-rende Versammluns einberuft", die Bolschewiki lehnen diese liberale Ver-stümmelung einer revolutionären Losung ab. Wahlen zur II. Duma(Ende 1906 und Anfang 1907): Menschewiki für „technische Blocks"mit den Kadetten (und Plechanow für einen politischen Block mitder Plattform der „machtvollkommenen Duma"). Bolschewiki gegenBlocks mit den Kadetten und für eine selbständige Kampagne bei Zuläs-sigkeit eines Linksblocks. Man vergleiche diese wesentlichsten Tatsachenaus der Geschichte der sozialdemokratischen Taktik in diesen zwei Jah-ren mit den oben dargelegten wichtigsten prinzipiellen Meinungsver-schiedenheiten. Man wird dann sofort sehen, daß die allgemeine theore-tische Analyse der Bolschewiki durch die zwei Jahre Revolution bestätigtwurde. Die Sozialdemokratie mußte gegen den verräterischen Liberalis-mus vorgehen, sie mußte mit den Trudowiki und Volkstümlern „vereintschlagen": die Mehrzahl der Abstimmungen in der zweiten Duma er-härtet diese Tatsache endgültig. Die guten Vorsätze der Menschewiki,alle als heuchlerische Freunde des Volkes zu entlarven, die es ablehnen,das Proletariat in seinem revolutionären Kampfe zu unterstützen, er-wiesen sich als Pflastersteine auf dem Weg zur Hölle poUtisdher Blocksmit den Liberalen, einschließlich der Übernahme ihrer Losungen.

Die Bolschewiki sagten auf Grund ihrer theoretischen Analyse imJahre 1905 voraus, daß der Angelpunkt für die Taktik der Sozialdemo-kraten in der bürgerlichen Revolution die Frage des Verrats des Liberalis-mus und die Frage der demokratischen Fähigkeiten der Bauernschaft ist.Gerade um diesen Punkt drehten sich auch alle folgenden praktischenMeinungsverschiedenheiten bezüglich der Politik der Arbeiterpartei. Ausden falschen Grundlagen der menschewistischen Taktik hat sich tatsäch-lich die Politik der Abhängigkeit von den Liberalen historisch entwickelt.

Vor dem Stockholmer Vereinigungsparteitag des Jahres 1906 veröffent-lichten die Bolschewiki und die Menschewiki zwei wesentlich verschie-dene Resolutionen über die bürgerlichen Parteien. Die Bolschewiki legten

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496 WJ.£enin

ihrer Resolution konsequent den Hauptgedanken vom Verrat des Libe-ralismus sowie von der revolutionär-demokratischen Diktatur des Pro-letariats und der Bauernschaft zugrunde, wobei sie diesen Gedankenlediglich durch neue Tatsachen und Ereignisse aus der Zeit nach demOktober illustrierten (Spaltung der Oktobristen und Kadetten; Bildungdes Bauernbundes, der radikalen Intellektuellenvereinigungen usw.). Beider Analyse des Klasseninhalts der Grundtypen der verschiedenen bür-gerlichen Parteien trugen die Bolschewiki sozusagen konkrete Angabenin ihr altes, abstraktes Umrißschema ein. Die Menschewiki lehnten esab, in der Resolution für den Stockholmer Parteitag den Klasseninhaltder verschiedenen Parteien zu analysieren, und zwar mit Berufung aufderen ungenügend „stabilen" Charakter. Damit wichen sie im Grundegenommen einer auf die Sache eingehenden Antwort aus. Und diesesAusweichen kam mit aller Deutlichkeit darin zum Ausdruck, daß dieMenschewiki, die auf1 dem Stockholmer Parteitag siegten, ihre Resolutionüber die Stellung zu den bürgerlichen Parteien in Rußland selbst zurück-zogen. Im Frühjahr 1905 schlagen die Menschewiki in ihrer Resolutionvor, alle Liberalen und Demokraten, die es ablehnen, den revolutionärenKampf des Proletariats zu unterstützen, als heuchlerische Freunde desVolkes zu entlarven. Im Frühjahr 1906 sprechen nicht die Menschewiki,sondern die Bolschewiki in ihrer Resolution von der Heuchelei einer be-stimmten liberalen Partei, nämlich der Kadetten, die Menschewiki da-gegen ziehen es vor, die Frage offenzulassen. Im Frühjahr 1907, auf demLondoner Parteitag, entlarvt sich der Menschewismus noch mehr: die alteForderung, daß die Liberalen und Demokraten den revolutionärenKampf des Proletariats unterstützen sollen, ist völlig über Bord gewor-fen. Die menschewistische Resolution (siehe den Resolutionsentwurf inder „Narodnaja Duma", 1907, Nr. 12 - ein äußerst wichtiges Doku-ment) predigt unumwunden und offen eine „Kombinierung", d. h., ein-facher gesagt, eine Abstimmung der Aktionen des Proletariats mit denender bürgerlichen Demokratie überhaupt!!

Von Stufe zu Stufe. Gute Absichten eines Sozialisten und eine schlechteTheorie im Jahre 1905. Keinerlei Theorie und keinerlei Absichten imJahre 1906. Keinerlei Theorie und eine offen opportunistische Politik imJahre 1907. „Abstimmung" der sozialdemokratischen und der bürger-lich-liberalen Politik - das ist das letzte Wort des Menschewismus.

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"Die Stellung zu den bürgerlichen 'Parteien 497

Anders konnte es audi gar nicht sein nach den Blocks mit den Kadetten,der Stimmabgabe für Golowin, den privaten Besprechungen mit denKadetten, den Versuchen, die Konfiskation des gutsherrlichen Bodens ausunseren obligatorischen Forderungen zu streichen, und nach den son-stigen Perlen der menschewistischen Politik.

Auf dem Londoner Parteitag machte die menschewistische Politikgegenüber dem Liberalismus vollständig Fiasko. Ihre erste, in der „Narod-naja Duma" (Nr. 12) veröffentlichte Resolution wagten die Menschewikiüberhaupt nicht einzubringen. Sie zogen sie zurück, ohne mit ihr auch nurin die Kommission gegangen zu sein, in der 15 Vertreter aller fünf Frak-tionen des Parteitags saßen (4 Bolschewiki, 4 Menschewiki, 2 Polen,2 Letten, 3 Bundisten). Wahrscheinlich stieß die Losung einer „Kombinie-rung", einer Abstimmung der sozialistischen und der liberalen Politik nichtnur die Bundisten, sondern sogar viele Menschewiki ab. In der Kommissionerschienen die Menschewiki schon etwas „gesäubert": sie hatten eine neueResolution geschrieben und die „Kombinierung" völlig aus ihr entfernt.An die Stelle der „Kombinierung" hatten sie die Ausnutzung der anderenParteien durch das Proletariat für seine Zwecke, die Anerkennung derErrichtung der Republik als politische Aufgabe des Proletariats usw. ge-setzt. Aber nichts half. Zu klar war es für alle, daß diese schmucke Mon-tur absichtlich bunt herausgeputzt worden war, um wieder die gleichePolitik der „Kombinierung" zu bemänteln. Die praktische Schlußfolge-rung aus der Resolution war immer noch dieselbe: „in einzelnen, be-stimmten Fällen mit diesen Parteien (sowohl mit den Liberalen als auchmit den Volkstümlern) Abkommen zu scnließen". Von 15 Kommissions-mitgliedern erklärten sich nur vier, d. h. allein die Menschewiki, damiteinverstanden, eine solche Rebolution als Grundlage anzunehmen! Voll-ständiger hätte die Niederlage der menschewistischen Politik als solche garnicht sein können. Der Parteitag entschied sich für die Resolution der Bol-schewiki als Grundlage und nahm sie dann, nach unwesentlichen Korrek-turen, mit 158-163 Stimmen gegen hundert und einige (106 in einemFalle) bei 10-20 Stimmenthaltungen im ganzen an. Bevor wir jedochdazu übergehen, die Grundgedanken dieser Resolution und die Bedeutungder von den Menschewiki eingebrachten Abänderungsanträge zu unter-suchen, wollen wir noch bei einer nicht uninteressanten Episode verweilen,die sich bei Beratung der Resolution in der Kommission zugetragen hat.

32 Lenin, Werke, Ed. I I

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49§ W.1. Lenin

Der Kommission lagen nicht zwei, sondern drei Resolutionsentwürfevor: ein bolschewistischer, ein menschewistischer und ein polnischer. DiePolen stimmten in den Hauptgedanken mit den Bolschewiki überein, lehn-ten jedoch unseren Resolutionstypus mit einer Analyse jeder einzelnen Par-teiengruppe ab. Den Polen kam das zu literarisch vor; sie hielten unsereResolution für zu schwerfällig. Ihr Entwurf war aufgebaut auf einer kur-zen Formulierung der beiden allgemeinen Prinzipien proletarischer Po-litik gegenüber den bürgerlichen Parteien: 1. klassenmäßige Sonder-stellung des Proletariats im Interesse seiner sozialistischen Aufgabengegenüber allen übrigen Parteien, wie revolutionär, ja sogar republika-nisch entschlossen diese auch sein mögen; 2. Vereinigung mit den Trudo-wikiparteien gegen die Selbstherrschaft und gegen den verräterischenLiberalismus.

Unzweifelhaft erfassen diese beiden wesentlichen Gedanken der pol-nischen Resolution ausgezeichnet den innersten Kern der Frage. Ebensounzweifelhaft ist es, daß der Plan, dem Proletariat aller NationalitätenRußlands eine kurze, bestimmte Direktive ohne eine „soziologische" Er-örterung über die Typen der verschiedenen Parteien zu geben, etwasVerlockendes hat. Nichtsdestoweniger hat jedoch die Erfahrung gezeigt,daß dieser Parteitag auf dem Boden der polnischen Resolution nicht zueiner vollständigen, klaren und bestimmten Lösung der Frage hätte ge-langen können. Um den Menschewismus eindeutig abzulehnen, mußteman die positiven Ansichten der Sozialdemokratie von den verschiedenenParteien in aller Ausführlichkeit darlegen, da sonst Raum für Unklar-heiten geblieben wäre.

Die Menschewiki und die Bundisten klammerten sich in der Kommis-sion sofort an die polnische Resolution, und zwar eben um sich denBoden für diese Unklarheiten zunutze zu machen. Die Kommission nahmden polnischen Entwurf mit sieben Stimmen (4 Menschewiki, 2 Polen,1 Bundist) gegen sieben (4 Bolschewiki, 2 Letten, 1 Bundist, das fünf-zehnte Kommissionsmitglied enthielt sich der Stimme bzw. fehlte) zurGrundlage. Alsdann begann die Kommission, in den polnischen Entwurf„Korrekturen" einzuarbeiten, die ihn bis zur Unkenntlichkeit entstellten.Es wurde sogar ein Abänderungsantrag angenommen, der „technische"Abkommen mit den Liberalen für zulässig erklärte. Selbstverständlichzogen die Polen daraufhin ihren von den Menschewiki verunstalteten

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Die Stellung zu den bürgerlichen Parteien 499

Entwurf zurück. Es stellte sich heraus, daß außer den Polen auch dieBundisten und die Menschewiki nicht bereit waren, dem Parteitag einensoldhen Entwurf vorzulegen. Die ganze Arbeit der Kommission war um-sonst gewesen, und dem Parteitag blieb nichts anderes übrig, als durchAbstimmung unmittelbar zu beschließen, daß der bolschewistische Ent-wurf zur Grundlage genommen werden soll.

Fragt sich nun, welche prinzipielle Bedeutung es hatte, daß der Partei-tag diesen Entwurf zur Grundlage nahm? Um welcher grundlegendenPunkte der proletarischen Taktik willen schloß sich der Parteitag um die-sen Entwurf zusammen und lehnte den menschewistischen ab?

Liest man sich aufmerksam in beide Entwürfe hinein, so kann manzwei dieser grundlegenden Punkte leicht feststellen. Erstens übt die bol-schewistische Resolution in der Tat sozialistische Kritik an den nichtpro-letarischen Parteien. Zweitens legt diese Resolution präzis die Taktikdes Proletariats in der gegenwärtigen Revolution fest, gibt dem Begriffdes „Führers" der Revolution einen völlig klaren, konkreten Inhalt underklärt, mit wem man „vereint schlagen" kann und muß, wen es zu schla-gen gilt, und zwar unter welchen Bedingungen.

Der Hauptfehler der menschewistischen Resolution besteht eben darin,daß sie weder das eine noch das andere tut und durch dieses Vakuumdem Opportunismus, d. h. im Endergebnis der Ersetzung der sozial-demokratischen Politik durch eine liberale Politik Tür und Tor öffnet. Inder Tat: Man betrachte die sozialistische Kritik der nichtproletarischenParteien bei den Menschewiki. Diese Kritik läuft auf folgende These hin-aus: „Die sozial-ökonomischen Bedingungen und die historische Situa-tion, unter denen sich diese (d. h. unsere) Revolution vollzieht, hemmendie Entwicklung der bürgerlich-demokratischen Bewegung, indem sie andem einen Pol Unentschlossenheit im Kampf und Illusionen von einerfriedlichen konstitutionellen Beseitigung der alten Ordnung erzeugen, amanderen Pol dagegen Illusionen eines kleinbürgerlichen Revolutionismusund agrarischer Utopien."

Erstens haben wir es hier mit einer Resolution über Parteien zu tun,in der keine Parteien genannt werden. Zweitens haben wir eine Resolu-tion vor uns, in der der Klasseninhalt der verschiedenen „Pole" derbürgerlichen Demokratie nicht analysiert wird. Drittens ist in dieser Re-solution nicht einmal angedeutet, wie die Stellung der verschiedenen

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' Klassen zu „unserer Revolution" sein muß. Summiert man alle dieseMängel, so muß man feststellen, daß in der Resolution die marxistischeLehre vom Klassenkampf abhanden gekommen ist.

Nicht die grundlegenden Interessen der verschiedenen Klassen der kapi-talistischen Gesellschaft bringen die verschiedenartigen Typen bürgerlicherParteien hervor, nicht die Klasseninteressen rufen friedliche Illusionenbzw. „versöhnende Tendenzen" bei den einen und „Revolutionismus"bei den anderen hervor. Nein. Irgendwelche unbekannten sozial-ökono-mischen Bedingungen und die historische Situation hemmen die Entwick-lung der bürgerlich-demokratischen Bewegung überhaupt. Also ergebensich die Versöhnungsbereitschaft des Kapitals und der Revolutionismusdes Bauern nicht aus der Lage der Bourgeoisie und der Bauernschaft inder kapitalistischen, sich von der Leibeigenschaft befreienden Gesell-schaft, sondern überhaupt aus irgendwelchen Bedingungen und aus derSituation „unserer Revolution" insgesamt. Der nächste Punkt sagt sogar,daß „diese negativen Tendenzen, die die Entwicklung der Revolutionhemmen", mit besonderer Stärke „im gegenwärtigen Zeitpunkt vorüber-gehender Flaute zutage treten".

Das ist keine marxistische, sondern eine liberale Theorie, die die Wur-zeln der verschiedenen sozialen Tendenzen außerhalb der Interessen derverschiedenen Klassen sucht. Es ist keine sozialistische, sondern eine links-kadettische Resolution; man tadelt die Extreme der beiden Pole, manrügt den Opportunismus der Kadetten und den Revolutionismus derVolkstümler und preist damit faktisch etwas Mittleres, was zwischen bei-den liegt. Unwillkürlich kommt uns da der Gedanke, ob wir nicht "Volks-sozialisten vor uns haben, die eine goldene Mitte zwischen den Kadettenund den Sozialrevolutionären suchen.

Wenn unsere Menschewiki nicht die Marxsche Theorie vom Klassen-kampf aufgegeben hätten, so würden sie verstehen, daß die verschieden-artige Klässenlage der Bourgeoisie und der Bauernschaft im Kampf gegendie „ahe Ordnung" die Erklärung bildet für die verschiedenen Typen vonParteien: die liberalen auf der einen und die volkstümlerischen auf deranderen Seite. Daß alle diese verschiedenen und äußerst verschieden-artigen Parteien, Gruppen und politischen Organisationen, die im Laufeder russischen Revolution in so ungewöhnlicher Fülle entstanden, stetsund ständig (mit Ausnahme der reaktionären Parteien und der Partei des

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Proletariats) gerade zu diesen beiden Typen hin tendieren, das unterliegtkeinem Zweifel und bedarf keines Beweises. Wenn wir uns mit einemHinweis auf die „zwei Pole" der einheitlichen bürgerlich-demokratischenBewegung begnügen, so geben wir nichts als einen Gemeinplatz zumbesten. Zwei „Extreme", zwei Pole kann man immer und in allen Dingenfeststellen. In jeder einigermaßen breiten gesellschaftlichen Bewegunggibt es stets solche „Pole" und auch eine mehr oder weniger „goldene"Mitte. Die bürgerliche Demokratie so charakterisieren heißt einen mar-xistischen Leitsatz zu einer nichtssagenden Phrase degradieren, anstattdiesen Leitsatz zu einer Analyse der XIassenwurzeln der verschieden-artigen Jypen von Parteien in Rußland zu verwenden. Eine sozialistischeKritik der bürgerlichen Parteien gibt es bei den Menschewiki nicht, dennwer alle oppositionellen nichtproletarischen Parteien bürgerlich-demokra-tische nennt, übt noch lange nicht sozialistische Kritik. Wenn ihr nichtzeigt, die Interessen welcher Klassen und namentlich welche im gegebe-nen Augenblick überwiegenden Interessen das Wesen der verschiedenenParteien und ihrer Politik bestimmen, dann habt ihr in Wirklichkeit denMarxismus nicht angewandt, dann habt ihr praktisch die Theorie desKlassenkampfes über Bord geworfen. Das Wort „bürgerlich-demokra-tisch" ist dann bei euch nicht mehr als ein platonischer Ausdruck von Re-spekt vor dem Marxismus, denn ihr gebraucht zwar dies Wort, führt abernicht gleichzeitig den und den Typus des Liberalismus oder Demokratis-mus auf die und die eigennützigen Interessen bestimmter Schichten derBourgeoisie zurück. Es ist kein Wunder, daß unsere Liberalen, angefan-gen von der Partei demokratischer Reformen und den Kadetten bis zuden parteilosen Bessaglawzen aus dem „Towarischtsch", wenn sie einesoldhe Anwendung des Marxismus durch die Menschewiki sehen, mit Be-geisterung „Ideen" aufgreifen, die die Extreme des Opportunismus unddes Revolutionismus in der Demokratie als schädlich bezeichnen . . . denndas ist keine Idee, sondern ein banaler Gemeinplatz. In der Tat, es istdoch nicht das Wort „bürgerliche Demokratie", das die Liberalen inSchrecken versetzt! Was sie erschreckt, ist, daß vor dem Volk enthülltwird, auf welche materiellen Interessen welcher besitzenden Klassen ihreliberalen Programme und Phrasen zurückzuführen sind. Hierauf kommt esan und nicht auf das Wort „bürgerliche Demokratie". Nicht derjenigewendet die Lehre vom Klassenkampf an, der sich ständig wie mit dem

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Kreuzeszeichen mit dem Wort „bürgerliche Demokratie" feit, sondernderjenige, der praktisch zeigt, worin das bürgerliche Wesen der betreffen-den Partei zum Ausdruck kommt.

Wenn der Begriff „bürgerliche Demokratie" lediglich eine Aufforde-rung ist, die Extreme sowohl des Opportunismus als auch des Revolutio-nismus zu verurteilen, dann setzt dieser Begriff die marxistische Lehrezu einer gewöhnlichen liberalen Phrase herab. Der Liberale hat keineAngst vor einer solchen Anwendung dieses Begriffs, denn, wie gesagt, erfürchtet nicht das Wort, sondern die Sache. Er kann sich damit abfinden,einen für ihn unangenehmen und „nach Marxismus riechenden" Termi-nus zu akzeptieren. Die Ansicht dagegen, daß er, der Kadett, die Inter-essen eines Bourgeois vertritt, der die Revolution durch diese oder jeneHandlungen verkauft, wird weder ein Liberaler noch ein bernsteinianern-der „Intellektueller" aus dem „Towarischtsch" akzeptieren. Gerade weildie Menschewiki den Marxismus so anwenden, daß sie ihn zu einer nack-ten, nichtssagenden und zu nichts verpflichtenden Phrase erniedrigen,gerade deshalb sind die Bessaglawzen, die Prokopowitsch, die Kuskowa,die Kadetten usw. mit Freuden bereit, den Menschewismus zu unterstüt-zen. Der menschewistische Marxismus ist ein Marxismus, der nach demMetermaß des bürgerlichen Liberalismus zurechtgeschnitten wird.

Der erste Hauptfehler der menschewistischen Position in der uns vor-liegenden Frage ist also der, daß der Menschewismus praktisch keinesozialistische Kritik an den nichtproletarischen Parteien übt. Praktischverläßt er den Boden der Marxschen Lehre vom Klassenkampf. Der Lon-doner Parteitag hat Schluß gemacht mit dieser Entstellung der sozial-demokratischen Politik und Theorie. Der zweite Hauptfehler - der Men-schewismus erkennt praktisch eine selbständige Politik des Proletariatsin der gegenwärtigen Revolution nicht an, er weist ihm keine bestimmteTaktik. Vermeide die Extreme des Opportunismus und des Revolutionis-mus - das ist das eine Gebot des Menschewismus, das sich aus der Reso-lution der Menschewiki ergibt. Schließe von Fall zu Fall Abkommen mitden Liberalen und den Demokraten - das ist das andere Gebot. Kom-biniere (koordiniere) deine Politik mit der liberalen und der demokrati-schen Politik - das ist das dritte, in der „Narodnaja Duma" und in derdamaligen Resolution der Menschewiki ausgesprochene Gebot. Manstreiche hierin, sooft man will, die Erwähnung des dritten Gebotes; man

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füge Wünsche und Forderungen hinzu: „Die proletarische Politik mußselbständig sein", man füge die Forderung nach der Republik hinzu (wiedas die Menschewiki auf dem Londoner Parteitag getan haben) - undman wird damit in keiner Weise den zweiten Hauptfehler des Mensche-wismus aus der Welt schaffen. Selbständig wird die proletarische Politiknicht dadurch, daß das Wort „selbständig" an der entsprechenden Stelleeingesetzt wird, auch nicht dadurch, daß die Erwähnung der Republikeingefügt wird - Selbständigkeit resultiert allein daraus, daß der wirklichselbständige Weg genau gezeigt wird. Und das tut der Menschewismusnicht.

Praktisch spielt sich vor uns, entsprechend dem objektiven Verhältnisder Klassen und der gesellschaftlichen Kräfte, der Kampf zweier Ten-denzen ab: der Liberalismus will mit der Revolution Schluß machen, dasProletariat will sie zu Ende führen. Wenn dabei das Proletariat dieseTendenz des Liberalismus nicht erkennt, wenn es sich seiner Aufgabe,ihn direkt zu bekämpfen, nicht bewußt wird, wenn es nicht darumkämpft, die demokratische Bauernschaft vom Einfluß des Liberalismuszu befreien, dann ist die Politik des Proletariats praktisch nicht selbstän-dig. Und gerade diese praktisch unselbständige Politik erheben die Men-schewiki ja zum Gesetz: eben diesen Sinn hat es, wenn Abkommen vonFall zu Fall zugelassen werden ohne Festlegung der Linie dieser Abkom-men, ohne Festlegung der Hauptdemarkationslinie, die die beiden Tak-tiken in unserer Revolution voneinander trennt. „Abkommen von Fall zuFall" - diese Formulierung bemäntelt in Wirklichkeit sowohl den Blockmit den Kadetten als auch die „machtvollkommene Duma", wie auch dasverantwortliche Ministerium, d. h. die ganze Politik der faktischen Ab-hängigkeit der Arbeiterpartei vom Liberalismus. In der gegebenen histo-rischen Situation kann von einer selbständigen Politik der Arbeiterparteigar nicht die Rede sein, wenn diese Partei es sich nicht ausdrücklich zurAufgabe macht, für die Zuendeführung der Revolution nicht nur gegendie Selbstherrschaft, sondern auch gegen den Liberalismus zu kämpfen,mit dem Liberalismus um den Einfluß auf die demokratische Bauernschaftzu ringen. Die historischen Bedingungen der bürgerlichen Revolution inEuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind dergestalt, daß jede anderePolitik der Sozialdemokratie faktisch zur Unterordnung unter die libe-rale Politik führt.

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Die Annahme der bolschewistischen Resolution über die nichtproleta-rischen Parteien durch den Londoner Parteitag bedeutet, daß die Arbeiter-partei alle Abweichungen vom Klassenkampf entschieden ablehnt, siebedeutet die praktische Anerkennung der sozialistischen Kritik an dennichtproletarisdien Parteien und der selbständigen revolutionären Auf-gabe des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution.

Die Ablehnung der menschewistischen Abänderungsanträge zu derResolution hat das noch mehr unterstrichen.

Als der bolschewistische Resolutionsentwurf über die Stellung zu denbürgerlichen Parteien vom Parteitag zur Grundlage genommen wordenwar, setzte von menschewistischer und bundistischer Seite ein ganzerHagel von Abänderungsanträgen ein. Die Gesamtzahl solcher Anträgewurde in einigen Protesterklärungen, die beim Büro des Parteitags ein-liefen, auf 70 und mehr beziffert. Ich werde hier nicht die Peripetien desKampfes um die Einstellung dieser Obstruktion schildern, die die be-rühmten 22 Akimowschen Abänderungsanträge auf dem zweiten Partei-tag weit in den Schatten stellte; ich werde auch nicht die Masse der völlignichtssagenden und kleinlichen Anträge aufzählen. Ich führe nur fünf derAbänderungsanträge an, die tatsächlich von hochwichtiger prinzipiellerBedeutung waren. Diese Anträge sind in der Reihenfolge, in der sie aufdem Parteitag beraten wurden, folgende.

Der dritte Punkt in der Begründung unserer Resolution spricht direktvon der Aufgabe des Proletariats, „die Rolle des Führers in der bürgerlich-demokratischen Revolution auszuüben". Die Menschewiki brachten Ab-änderungsanträge ein: das Wort „Führer" sollte durch das Wort „Avant-garde", „Vortrupp" oder „Haupttriebkraft" ersetzt werden. DieseAnträge wurden sämtlich abgelehnt. Immer wieder, sooft man wollte, dieAufrechterhaltung der vollen Klassenselbständigkeit des Proletariats zubetonen - dagegen hatten die Bolschewiki nichts einzuwenden. Aberden Hinweis auf die TtibrerroHe in der Revolution abschwächen hießdem Opportunismus Tür und Tor öffnen. Das Proletariat kann „Haupt-triebkraft" auch einer gutsherrlich gestutzten bürgerlichen Revolution

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sein. Es kann Haupttriebkraft des Sieges einer anderen Klasse sein, ohnedaß es versteht, die Interessen seiner eigenen Klasse zu verfechten. Dierevolutionäre Sozialdemokratie hat nicht das Recht, sich hierauf zu be-schränken, wenn sie sich nicht selbst untreu werden will. Sie muß demProletariat helfen, sich aus der passiven Rolle der Haupttriebkraft zu er-heben zu der aktiven Rolle des Führers - aus der abhängigen Stellungeines Kämpfers für eine gestutzte Freiheit zu der weitestgehend selbstän-digen Stellung eines Kämpfers für die volle Freiheit, die für die Arbeiter-klasse von Vorteil ist. Der Angelpunkt der Unterscheidung zwischen deropportunistischen und der revolutionären Taktik der Sozialdemokratenin der bürgerlichen Revolution liegt, kann man sagen, darin, daß die eineTaktik sich mit der Rolle des Proletariats als Haupttriebkraft begnügt,während die andere Taktik darauf gerichtet ist, es zum Führer der Revo-lution, also keineswegs nur zu einer „Triebkraft" zu machen.

Der Ausdruck „Vortrupp" würde ebenfalls die Anerkennung der Auf-gabe des Proletariats, Führer der anderen demokratischen Klassen zusein, abschwächen oder könnte zum mindesten als eine solche Abschwä-chung ausgelegt werden.

Der zweite Abänderungsantrag: im dritten Punkt des eigentlichen be-schließenden Teils (Charakteristik der liberalen Parteien) den Hinweis zustreichen, daß das demokratische Kleinbürgertum von den Liberalen be-trogen wird. Dies zu entfernen bzw. abzuändern sei vom Standpunkt desMarxismus notwendig, sagten die Menschewiki, denn es zieme Materia-listen nicht, die soziale Zusammensetzung von Parteien mit „Betrüge-reien" zu erklären. Die Sophistik dieses Arguments sprang zu deutlich indie Augen, als daß der Parteitag darauf hätte hereinfallen können. ImNamen des Marxismus die Rolle des Betrugs in der Politik der Bour-geoisie leugnen wäre dasselbe, als wenn man jegliche Gewalt im Namendes „ökonomischen Faktors" leugnen wollte. So verstehen den Marxis-mus nur die David, Vollmar und die übrigen Säulen des Opportunismus.Wollte man insbesondere aber die Rolle des Betrugs in der gegenwär-tigen Politik der Kadetten gegenüber den Bauern und dem Kleinbürger-tum in Rußland leugnen oder abzuschwächen suchen, so hieße das, denLiberalismus zu beschönigen, indem man die Tatsachen zu seinen Gun-sten entstellt. Denn es ist eine ganz unbestreitbare Tatsache, daß die Ka-detten ihre Wähler aus den Reihen der Bauern und Kleinbürger direkt

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betrügen. Verfehlt ist es, davon zu sprechen, daß eine Partei ihre Wählerbetrüge, wenn die Interessen der Klasse gewisse theoretische Illusionen,d. h. trügerische Vorstellungen wecken (zum Beispiel wenn die Interessender Bauernschaft die trügerische Erwartung hervorrufen, alles Heil liegein der Expropriation des gutsherrlichen Bodens). Offen und weithin ver-nehmlich sprechen muß man jedoch unbedingt vom Betrug bestimmterSchichten des Volkes durch ihre Parlamentsvertreter, wenn diese dieunmittelbaren Interessen dieser Schichten deren Ausbeutern zum Opferbringen (die Bauern an die Gutsherren verraten usw.). Die deutsche Bour-geoisie hat die Bauern verraten, schrieb Marx im Jahre 1848. Wenn wiruns im Rußland des Jahres 1907 nicht entschließen können, dasselbeüber unsere Bourgeoisie und über unsere Kadetten zu sagen, und es nichtverstehen, das der Masse des Volkes zu beweisen, dann bedecken wir dengroßen Namen von Sozialdemokraten mit Schande.

Der dritte Abänderungsantrag: in Ergänzung eben jenes dritten Punk-tes die Zulässigkeit „technischer Abkommen" mit den Kadetten anzu-erkennen. Dieser Antrag wurde vom Parteitag in namentlicher Abstim-mung abgelehnt. Wir hatten erklärt, seine Annahme würde uns zwingen,die ganze Resolution zurückzuziehen: das ist unser gutes Recht, wenndurch Abänderungen der Hauptgedanke der Resolution entstellt wird.Wir sprechen gar nicht speziell davon, daß jederlei Abkommen mit denKadetten verboten ist, erklärten wir. Es geht hier nicht um das Verbotoder die Zulassung von Ausnahmefällen, sondern um die allgemeinepolitische Linie. Wer die vorliegende Resolution des Parteitags gewissen-haft anwenden will, der wird auf Wahlabkommen mit den Kadetten oderauf gemeinsame Losungen mit ihnen nicht eingehen, wenn auch die Mög-lichkeit irgendeines „Ausnahmefalls" mit gemeinsamer Abstimmung inder Duma deshalb nicht ausgeschlossen ist. Diejenigen aber, die nichtgewillt sind, der Resolution des Parteitags gewissenhaft nachzukommen,durch eine oder die andere Formulierung „festnageln" zu wollen wäreüberhaupt zwecklos. Unsere gesamte Partei hat in der Praxis nur allzugut erfahren, was „technische Abkommen" mit den Liberalen für un-sere Menschewiki bedeuten.

Der vierte Abänderungsantrag: zu Punkt 4 einen Hinweis auf die Not-wendigkeit des Kampfes gegen den Agrarutopismus und den Revolutio-nismus der Volkstümler hinzuzufügen, wurde von den Menschewiki

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mehrfach eingebracht, wobei sie jedesmal einzelne Worte im Text desAntrags bzw. die Stelle änderten, an der die Abänderung in die Resolu-tion eingefügt werden sollte. Der Parteitag lehnte alle diese Anträge ab.Die Debatten zu diesen Anträgen hatten zweifellos prinzipielle Bedeu-tung. Die Menschewiki versuchten hier wiederum, unter der Flagge desMarxismus etwas dem Marxismus zutiefst Feindliches einzuschmuggeln.Zweifellos lehnt der Marxismus sowohl die Agrarutopien der Volkstüm-ler als auch die Methoden des kleinbürgerlichen Revolutionismus ab.Wenn dem so ist, argumentierten die Menschewiki, dann sagt das dochhier in eurer Resolution. - Entschuldigt, teure Genossen, antworteten wirihnen, hier ist das alles bereits gesagt, und zwar so, wie es gesagt werdenmuß. Euer Zusatz hingegen läuft, unabhängig von eurem Willen undBewußtsein, auf einen Ausfall gegen die "Konfiskation des gutsherrlichenBodens hinaus. Wir haben doch nicht vergessen, daß nicht nur alle Libe-ralen eben diese Konfiskation für „Utopismus" und „Revolutionismus"erklären, sondern auch viele parteilose Sozialdemokraten vom Schlageder Herrschaften Prokopowitsch und Kuskowa sowie einige (zum Glückwenige) parteiorganisierte Sozialdemokraten, die sowohl der sozialdemo-kratischen Dumafraktion als auch dem Zentralkomitee der Partei vor-schlugen, nicht ultimativ auf der Konfiskation zu bestehen. -

Eine Resolution muß so geschrieben sein, daß sie nicht mißverstandenwerden kann. Sie muß mit allen in der realen Politik vorhandenen poli-tischen Tendenzen rechnen und nicht mit den guten Absichten dieses oderjenes Teils der Sozialdemokratie (immer die besten Absichten voraus-gesetzt). Den „PseudoSozialismus" der Volkstümler haben wir in unsererResolution unumwunden und eindeutig festgestellt. Ihre „sozialistische"Ideologie wird bei uns rundheraus einfach als „nebelhaft" bezeichnet.Der Kampf gegen ihren Versuch, den Klassengegensatz zwischen Prole-tarier und Kleinbesitzer zu vertuschen, wird den Sozialdemokraten zurunbedingten Pflicht gemacht. Damit ist alles gesagt, damit ist bereits daswirklich utopische Element in der Volkstümlerbewegung, damit ist auchder kleinbürgerliche, „über den Klassen stehende" Revolutionismus ver-urteilt. Nicht genug damit. Unsere Resolution enthält nicht nur Verurtei-lung, nicht nur Negation, sondern weist auch auf den positiven Inhaltder betreffenden Parteien hin. „Kampf gegen den gutsherrlichen Grund-besitz und den Leibeigenschaftsstaat", so ist dieser Inhalt bei uns defi-

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niert. Und der ist kein Marxist, der das um des Kampfes gegen den„nebelhaften" kleinbürgerlichen Sozialismus willen vergißt. Dieser realeInhalt ist in der gegenwärtigen Revolution von unermeßlich größerer Be-deutung als die nebelhaften Zukunftsträume der Volkstümler. Dieserreale Kampf ist jetzt die kardinale Wasserscheide zwischen der liberalenund der proletarischen Politik. Die liberale Politik hält die völlige Be-seitigung des gutsherrlichen Grundbesitzes und des Leibeigenschafts-staats für IMopie und leeren Revolutionismus: für die Bourgeoisie isteine solche Zerschlagung unvorteilhaft und gefährlich. In der realen Poli-tik unserer Tage kommt in den Angriffen auf den Utopismus und Revo-lutionismus der Volkstümler eben dieses eigennützige Klasseninteresseder Bourgeoisie zum Ausdruck und nichts anderes. Im Gegensatz dazuscheidet die proletarische Politik den Utopismus, den Revolutionismusund überhaupt den Nebel der „ausgleichenden" Träumereien eines nichtklassenbezogenen Sozialismus von der Realität des entschlossenen Kamp-fes gegen die Gutsbesitzer und Anhänger der Fronherrschaft. Was fürdie Liberalen eine schädliche Utopie ist, das ist für uns das gegenwärtigdringendste Interesse des Proletariats: die vollständige Zerschlagung desgutsherrlichen Grundbesitzes und des Leibeigenschaftsstaats. Auf diesemBoden müssen wir heute den erbittertsten, den unmittelbar praktischenKampf gegen den Liberalismus, den Kampf um die Befreiung der demo-kratischen Bauernschaft von seinem Einfluß führen.

Die Abänderungsanträge der Menschewiki, die wir hier untersuchen,widerspiegelten einen der verbreitetsten Fehler des Menschewismus: dieGleichsetzung des reaktionären Charakters der Bourgeoisie in der gegen-wärtigen Revolution (d. h. ihrer reaktionären Haltung im Kampf gegendie Gutsbesitzer und die Selbstherrschaft) mit dem reaktionären Cha-rakter der Bauernschaft (wobei dieser nicht den Kampf gegen die Guts-besitzer und die Selbstherrschaft betrifft, sondern den Kampf gegen dasKapital, d. h. die Aufgaben nicht der gegenwärtigen, der bürgerlichen,sondern der zukünftigen, der sozialistischen Revolution). Diesen grund-legenden Fehler der Menschewiki hat der Parteitag verworfen. DieserFehler ist jedoch von großer praktischer Bedeutung, denn mit ihm suchteman eine Politik zu bemänteln, die in gleicher Weise gemeinsame Ak-tionen des Proletariats mit den Liberalen wie mit der bäuerlichen Demo-kratie zuließ.

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Der letzte Abänderungsantrag der Menschewiki, der von allgemeinemInteresse ist, bezog sich ebenfalls auf Punkt 4, und zwar auf dessenSchluß. Die Menschewiki schlugen vor, hier den Hinweis auf den Kampfgegen die Kadetten ( „ . . . gegen die Schwarzhunderter und die Kadettenauf die Seite der Sozialdemokraten zu treten") zu streichen. Um diesenfür den gegenwärtigen Parteitag absolut unannehmbaren Abänderungs-antrag, wenn auch nur dem Schein nado, irgendwie annehmbar zu machen,schlugen sie vor, die ihnen unangenehmen Worte durch einen Hinweisauf den Kampf um die Zuendeführung der demokratischen Revolutionzu ersetzen. Das war ein eigenartiger Versuch, „die Pille zu verzuckern",eine für die Bolschewiki unannehmbare Politik (nicht direkt gegen dieKadetten zu kämpfen) unter dem Deckmantel einer für die Bolschewikibesonders annehmbaren Losung durchzusetzen. Die Flagge magst du set-zen, die Ladung ist unser - das war es, im Grunde genommen, was dieMenschewiki als echt opportunistische Politikaster mit ihrem Vorschlagsagten.

Die einfältige Kriegslist der Menschewiki wurde natürlich sofort unterGelächter auf den bolschewistischen Bänken entlarvt (in der LondonerKirche saßen wir tatsächlich auf Bänken, so daß es sich hier nicht umeinen Ausdruck in übertragener Bedeutung handelt). Von denselben Bän-ken ertönte ein geradezu homerisches, lange nicht enden wollendes Ge-lächter und donnernder ironischer Beifall, als nach dem Durchfall desmenschewistischen Antrags ein Pole einen anderen Abänderungsantrageinbrachte: den Hinweis auf den Kampf gegen die Kadetten beizubehal-ten und gleichzeitig ein Bekenntnis zum Kampf um die Zuendeführungder Revolution hinzuzufügen. Diesen Antrag nahm der Parteitag natür-lich an. Den ironischen Applaus hatten sich vor allem die Menschewikiverdient, die für ihn stimmten („Position verpflichtet"!), nachdem L. Mar-tow in den „Otgoloski" (Nr. 5) wegen dieser angeblich bürgerlich-repu-blikanischen Idee der Zuendeführung der Revolution Blitz und Donnergegen uns geschlendert hatte.

Die mißglückte List der Menschewiki leistete uns einen vortrefflichenDienst, denn dank diesem Abänderungsantrag bekannte sich der Partei-tag zu einem äußerst wichtigen Gedanken, der in einer anderen, demParteitag nicht unterbreiteten Resolution von uns niedergelegt wordenwar: einer Resolution über die Klassenaufgaben des Proletariats.

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III

Es sei nicht nötig, die augenblickliche Stellung zu den Kadetten zu fixie-ren, äußerte auf dem Parteitag ein führender Menschewik (ich glaube,Martynow), weil er wollte, daß der Menschewismus, sozusagen, statt dieFlucht zu ergreifen, einen geordneten Rückzug anträte. Augenblicklichsind die Kadetten zu nichts nutze, einverstanden. Aber fixiert das nurnicht, denn sie können noch einmal von Nutzen sein.

Diese Worte waren die nicht sehr glückliche Formulierung eines sehrwesentlichen Gedankens des Menschewismus, auf den einzugehen sichzum Abschluß der Untersuchung über die Stellung zu den bürgerlichenParteien lohnt. Mißglückt ist diese Formulierung deswegen, weil dieMöglichkeit, alles auszunutzen, was „von Nutzen sein" kann, durch dieResolution, die die Klassenwurzeln der gegebenen, gegenwärtigen, kon-terrevolutionären Politik klarlegt, keineswegs ausgeschlossen wird. We-sentlich ist hier der Gedanke, daß es, wenn auch die Kadetten gegen-wärtig das Vertrauen der Menschewiki nicht gerechtfertigt haben, docheine Zeit gab, in der sie es taten.

Dieser Gedanke ist irrig. Die Kadetten haben niemals das Vertrauen,das die Menschewiki ihnen entgegenbrachten, gerechtfertigt. Um sich da-von zu überzeugen, braucht man nur den höchsten Aufschwung unsererRevolution, Oktober-Dezember 1905, zu nehmen und ihm die gegen-wärtige Periode, die wohl die Periode des stärksten Niedergangs ist,gegenüberzustellen. Weder während des höchsten Aufschwungs nochwährend des tiefsten Niedergangs hat das Verhalten der Kadetten dasVertrauen der Menschewiki zu ihnen gerechtfertigt, es bestätigte derenTaktik nicht, sondern machte sie zunichte. In der Periode des Auf-schwungs führten die Menschewiki selbst einen aktiven Kampf gegen dieLiberalen (man denke an das „Natschalo"), gegenwärtig aber spricht dieGesamtheit aller Abstimmungen in der II. Duma mit vollster Eindeutig-keit für eine „Linksblock"politik und gegen eine Politik der Unterstüt-zung der Kadetten.

- Die Zeit zwischen dem höchsten Aufschwung und dem tiefsten Nie-dergang unserer Revolution wird der künftige Historiker der Sozial-demokratie in Rußland eine Periode der Schwankungen nennen müssen.Die Sozialdemokratie, soweit die Menschewiki sie vertraten, schwankte

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zu dieser Zeit nach der Seite des Liberalismus hin. Das Jahr der Aus-einandersetzungen (Ende 1904 bis Ende 1905) erbrachte die historischeVorbereitung der strittigen Fragen und ihre allgemeine Einschätzung. Dieanderthalb Jahre Revolution (Ende 1905 bis Mitte 1907) waren die prak-tische Prüfung dieser strittigen Fragen auf dem Gebiete der praktischenPolitik. Diese Prüfung zeigte an Hand der Erfahrung das vollständigeFiasko der Politik, die in der Unterstützung des Liberalismus bestand,diese Prüfung führte zur Anerkennung der einzigen revolutionären Po-litik des Proletariats in der bürgerlichen Revolution: für die Zuende-führung der Revolution zu kämpfen und die demokratische Bauernschaftgegen den verräterischen Liberalismus an sich heranzuziehen.

Es wäre gewagt zu behaupten, daß der Londoner Parteitag diese Pe-riode der Schwankungen der Sozialdemokraten in Richtung auf denLiberalismus zum Abschluß gebracht hätte. Auf jeden Fall aber wurdeein ernster Anlauf zur Überwindung der Schwankungen genommen.

PS. Die bürgerliche Presse macht sich das erzwungene Schweigen derSozialdemokraten und die „Halblegalität" des Londoner Parteitags aus-giebig zunutze, um die Bolschewild zu verleumden wie Tote, die sich nichtwehren können. Natürlich können wir ohne eine Tageszeitung gar nichtdaran denken, mit dem parteilosen „Towarischtsch" Schritt zu halten, indem der frühere Sozialdemokrat A. Bram sowie Herr Juri Perejaslawskiund tutti quanti* einen wahren Cancan tanzen, da es ja zum Glück keineProtokolle gibt und man ungestraft lügen kann. In den Artikeln dieserA. Bram, Perejaslawski und Konsorten findet sich nichts außer der üb-lichen Gehässigkeit parteiloser bürgerlicher Intellektueller, so daß manauf diese Artikel nur hinzuweisen braucht, um sie der verdienten Ver-achtung preiszugeben. Etwas anderes ist das Gespräch mit Herrn Struve,das von der „Birshowka" wiedergegeben und bisher, wie es scheint, nichtwiderlegt worden ist. Es verdient außer Verachtung auch wissenschaft-liche Aufmerksamkeit für dieses . . . Exemplar. Sein Hang zu den Oleto-bristen, sein Haß gegen die Linken sind ein geradezu klassischer Aus-druck der dem Liberalismus innewohnenden Tendenzen. Herr Struvebestätigt die alten Gerüchte, daß er einen Oktobristen ins Büro (der

* alle ihresgleichen. Die Red.

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Duma) gebracht, und ebenso, daß er überhaupt Unterredungen und Be-ratungen mit den Oktobristen geführt hat. Er ist für eine Vereinigungmit den Oktobristen! Wir danken Ihnen, Herr Struve, Sie haben glän-zend bestätigt, was der „Proletari" (Nr. 5: „Versuch einer Klassifizierungder russischen politischen Parteien") bereits im vergangenen Herbst überdie Oktobristen und die Kadetten schrieb!* Herr Struve fühlt die Ohn-macht der bürgerlichen Intelligenz und möchte den Schwerpunkt des Li-beralismus mehr in die Nähe der besitzenden "Klassen verlegen. EineVerständigung mit der Krone gelingt den Liberalen vom Typus der Ka-detten nicht - nieder mit den Kadetten, wenn es dann zu einer Verstän-digung wenigstens mit „Liberalen" vom Typus der Oktobristen kommt.Das ist konsequent. Und für uns ist es vorteilhaft, denn es bringt Klar-heit und Bestimmtheit in die Situation. Eine neue, eine gutsherrlicheDuma. Ein neues Wahlgesetz, das mit aller wünschenswerten Deutlichkeitdie zuverlässigen Gutsbesitzer und Magnaten der Bourgeoisie von denunzuverlässigen Bauern, städtischen Kleinbürgern und Arbeitern ausge-zeichnet trennt. Eine neue Strömung im Liberalismus: Krieg des HerrnStruve gegen die „Abenteurerpolitik der Linken", gegen ihre „Exploita-tion dunkler sozialer Instinkte 11 (.soziale Instinkte' - ein bornierter Aus-druck, um so plastischer jedoch in semer Borniertheit. Das Geschreibseldes Herrn Struve wird offenbar um so bornierter und um so deutlicher,je mehr dieser Herr sich dem schon nicht mehr weit von ihm entferntenBund des russischen Volkes nähert) der rückständigen bäuerlichenMasse".

Nein, das ist kein Zufall. Der bürgerliche Liberalismus ist als Intellektuellenpartei ohnmächtig. Er ist ohnmächtig außer im Kampf gegen dierevolutionäre („dunkle soziale Instinkte") Bauernschaft. Er ist ohnmäch-tig außer im engen Bündnis mit dem Geldsack, mit der Masse der Guts-besitzer, mit den Fabrikanten... mit den Oktobristen. Was wahr ist,ist wahr. Wir sagen den Kadetten schon lange: „Was du tan willst, dastue bald." Wer für eine Verständigung mit der Krone ist — soll zu denOktobristen gehen, zu Stolypin, zum Bund des russischen Volkes.

Wer für das Volk ist, der gehe mit der Sozialdemokratie, die als ein-zige einen schonungslosen Kampf gegen den Einfluß des Liberalismusauf die Trudowiki geführt hat und weiterhin führt.

* Siehe Werke, Bd. 11, S. 215-221. Die Red.

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Die Stellung zu den bürgerlichen Parteien 513

Manche glaubten, daß gerade die menschewistische Politik fähig wäre,die Kadetten zu spalten. Eine naive Illusion! Was die Kadetten gespaltenhat und spalten wird, ist nur die Linksblockpolitik der revolutionärenSozialdemokratie. Wur eine solche Politik wird die unvermeidliche Schei-dung beschleunigen: die bürgerlichen Liberalen gehen zu den Oktobri-sten, die bürgerlichen Demokraten zu den Trudowiki. Die Sozialdemo-kratie wird auch künftig, ebenso wie bisher, diese letzteren zwingen, dieWahl zu treffen zwischen dem konsequenten proletarischen Demokra-tismus und dem Liberalismus.

Kühn voran, Politiker ä la Struve!

Veröftentlidit i907 in dem Sammelband Nadb dem 7 ext des„ T>ie Ergebnisse des Londoner Parteitags Sammelbandes,der ST>ÄPR", St. Petersburg.Vntersdbrift: N. Lenin.

33 Lenin, Werke, Bd. 12

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ANMERKUNGEN

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517

1Der Artikel „Die Wahlkampagne der Sozialdemokratie in Petersburg"wurde in Nr. 2 der Zeitung „Prostyje Retschi" veröffentlicht.

„Prostyje Retsdji" (Das einfache Wort) - legale bolschewistische Wo-chenzeitung, die im Januar 1907 in Petersburg herausgegeben wurde. Es er-schienen drei Nummern, jede Nummer enthielt Artikel Lenins. Alle Num-mern wurden vom Kammergericht beschlagnahmt, die Herausgabe der Zei-tung wurde vom Petersburger Stadthauptmann verboten, i

2 „7owarisdbtsdb" (Der Gefährte) - bürgerliche Tageszeitung, erschien vonMärz 1906 bis Januar 1908 in Petersburg; formell kein Parteiorgan, warsie jedoch faktisch Sprachrohr der linken Kadetten. Auch Menschewikiarbeiteten an der Zeitung mit. 2

3 „Vrolerari" (Der Proletarier) - illegale Zeitung, die nach dem IV. (Ver-einigungs-) Parteitag von den Bolschewiki gegründet wurde,- sie erschienvom 21. August (3. September) 1906 bis zum 28. November (11. Dezem-ber) 1909 unter der Redaktion Lenins als Organ des Moskauer und desPetersburger Komitees der SDAPR, eine Zeitlang auch des Moskauer Be-zirkskomitees und der Komitees von Perm, Kursk und Kasan. Faktisch wardie Zeitung das Zentralorgan der Bolschewiki. Es kamen 50 Nummern her-aus: die ersten 20 in Finnland, die übrigen im Ausland - in Genf undParis.

In der Zeitung wurden mehr als 100 Artikel und Notizen Lenins ver-öffentlicht. In den Jahren der Stolypinschen Reaktion spielte der „Proletari"eine hervorragende Rolle für die Erhaltung und Festigung der bolschewi-stischen Organisationen. Während der Wahlkampagne zur II. Duma ver-breitete das Petersburger Komitee der SDAPR unter den Arbeitern voneinzelnen Nummern der Zeitung bis zu 4000 Exemplare.

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518 Anmerkungen

Auf dem Plenum de? Zentralkomitees der SDAPR im Januar 1910 ge-lang es den Versöhnlern, einen Beschluß durchzusetzen, dem zufolge der„Proletari" nicht weiter erschien. 2

4 Trudowikigruppe, Jruäowiki (abgeleitet von russ. „trud" = Arbeit) - eineGruppe kleinbürgerlicher Demokraten, die im April 1906 entstand und sichaus Bauernabgeordneten der I. Reichsduma zusammensetzte. Die Gruppevereinigte zu Beginn der Dumatätigkeit 107 Abgeordnete.

Die Trudowiki forderten die Abschaffung aller ständischen und nationa-len Beschränkungen, die Demokratisierung der ländlichen und städtischenSelbstverwaltung und die Verwirklichung des allgemeinen Wahlrechts beiden Wahlen zur Reichsduma.

Das Agrarprogramm der Trudowikigruppe war der „Entwurf der Grund-thesen" des Bodengesetzes, der am 23. Mai (5. Juni) 1906 von 104 Depu-tierten in der Duma eingebracht wurde. Der Entwurf basierte auf den volks-tümlerischen Prinzipien der ausgleichenden Bodennutzung: Bildung einesallgemeinen Volksfonds aus Staats-, Apanage-, Kabinetts- und Klosterlän-dereien und auch aus Privatländereien, wenn die Größe des Besitzes diefestgelegte Arbeitsnorm übersteigt; das Recht der Bodennutzung wird nurdenjenigen gewährt, die den Boden selbst bearbeiten. Für enteignete Pri-vatländereien sollte eine Entschädigung gezahlt werden. Die Durchführungder Bodenreform sollte örtlichen Bauernkomitees übertragen werden. Überdas Agrarprogramm der Trudowiki siehe den vorliegenden Band, S. 192bis 194.

In der II. Duma hatten die Trudowiki 104, in der III. Duma 14 und inder IV. Duma 10 Deputierte. 2

5rNik. J-ski - N. I. Jordanski. 26 Gemeint ist die zweite "Konferenz der SDÄPR {„Erste Qesamtrussisdhe

Konferenz"}, die vom 3. bis 7. (16.-20.) November 1906 in Tammerforsstattfand. An der Konferenz nahmen Vertreter der sozialdemokratischenParteien mehrerer Nationalitäten teil: Polens und Litauens, des LettischenGebiets und des „Bund". Das menschewistische ZK, das dafür gesorgthatte, daß eine Reihe fiktiver Organisationen auf der Konferenz vertretenwar, sicherte den Menschewiki die Mehrheit - zusammen mit den Bundi-sten hatten sie 18 von 32 Delegierten.

Tagesordnung der Konferenz: 1. Wahlkampagne; 2. Parteitag; 3. Ar-beiterkongreß; 4. Kampf gegen die Schwarzhunderter und die Pogrome;5. Partisanenaktionen. Zur Frage der Wahlkampagne sprachen vier Refe-renten. Für die Bolschewiki ergriff Lenin das Wort. Die Menschewiki nutz-ten ihre Mehrheit aus, eine Resolution durchzusetzen, die Blocks mit den

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Anmerkungen 519

Kadetten während der Dumawahlen für zulässig erklärte. Als Gegenge-wicht hierzu schrieb Lenin die besondere Meinung von 14 Delegierten nie-der (6 Bolschewiki - Delegierte von Petersburg, Moskau, vom ZentralenIndustriegebiet und vom Wolgagebiet, 5 polnische und 3 lettische Sozial-demokraten) und unterbreitete sie der Konferenz. (Siehe Werke, Bd. 11,S. 292-294). 2

'Die Stadt- und Qouvernementskonferenz der Petersburger Organisationder SDAPJZ trat am 6. (19.) Januar 1907 zusammen, um die Frage vonWahlabkommen bei den Wahlen zur II. Reichsduma zu entscheiden. Ander Konferenz nahmen 70 Delegierte (39 Bolschewiki und 31 Menschewiki)teil. Nachdem die Menschewiki sich überzeugt hatten, daß die Konferenzdie Taktik von Blocks mit den Kadetten ablehnen würde, verließen sie dieKonferenz. Lenin hielt vor den bolschewistischen Delegierten ein Referatüber Wahlabkommen, worauf diese es für prinzipiell unzulässig und poli-tisch schädlich erklärten, Abkommen mit den Kadetten zu schließen. 3

8 „Retsdh" (Die Rede) - Tageszeitung, Zentralorgan der Kadettenpartei,- er-schien in Petersburg ab Februar 1906. Am 26. Oktober (8. November) 1917wurde sie vom Revolutionären Militärkomitee beim Petrograder Sowjet ver-boten. 5

9 „Rodnaja Setnlja" (Heimaterde) - eine den Trudowiki nahestehende Wo-chenzeitung, die von Januar bis April 1907 in Petersburg erschien.

Jan (Pseudonym von W. G. Bogoras) - Publizist, einer der Organisa-toren der halbkadettischen „Volkssozialistischen Partei". 6

10 Lenins Broschüre „Die Wahlen in Petersburg und die TJeudhelei der31 Mensdoewiki" wurde vom Petersburger Komitee der SDAPR in 3000Exemplaren verbreitet. 19

11 üdwaliade - die Skandalaffäre um Lidwal, der 1906 Lebensmittellieferantfür die von der Hungersnot betroffenen Gouvernements war, und den stell-vertretenden Innenminister W. I. Gurko. Die Aufdeckung der von ihnenbegangenen Unterschlagungen und der Schiebungen hatte die Zarenregie-rung gezwungen, den Fall vor Gericht zu bringen. Die Schuldigen gingenjedoch straffrei aus.

Die Ermordung J-lerzensteins - eines Kadetten, Mitglieds der I. Reichs-duma, erfolgte am 18. (31.) Juli 1906 durch Schwarzhunderter in Finn-land. 25

12 „Sewodnja" (Heute) - bürgerlich-liberale Abendzeitung, die von 1906 bis1908 in Petersburg erschien.

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520 Anmerkungen

„Rus" (Rußland) - bürgerlich-liberale Tageszeitung; erschien in Peters-burg von 1903 bis 1908 mit Unterbrechungen und unter verschiedenen Na-men, u. a. „Molwa" (Die Kunde), „XX Wek" (20. Jahrhundert).

„Strand" (Das Land) - bürgerlich-liberale Tageszeitung, die 1906 und19Q7 in Petersburg erschien. 36

13 Gemeint sind die Instruktionen und Kommentare zu dem Gesetz vom11. (24.) Dezember 1905 über die Wahlen zur Reichsduma, die vom Diri-gierenden Senat erlassen wurden. Mit der Veröffentlichung der „Erläute-rungen" zu den Artikeln des Wahlgesetzes entzog der Senat verschiedenenKategorien von Arbeitern, Bauern und nichtrussischen Nationalitäten dasWahlrecht. 37

14 Oktobristen („Verband vom 17. Oktober") - im November 1905 gegrün-.dete konterrevolutionäre Partei der großen Handels- und Industriebour-geoisie und der kapitalistisch wirtschaftenden Großgrundbesitzer. Die Ok-tobristen, die in Worten das Manifest vom 17. Oktober anerkannten,strebten in Wirklichkeit nicht nach Beschränkung der Selbstherrschaft undunterstützten voll und ganz die Innen- und Außenpolitik der zaristischenRegierung. Führer der Oktobristen waren der Großindustrielle A. I. Gutsch-kow und der Latifundienbesitzer M. W. Rodsjanko. 38

15 „Qolos Prikastsdhika" (Die Stimme des Handelsangestellten) - Wochen-zeitung, die von April bis Oktober 1906 in Petersburg erschien. 40

16 „TJowoje Wretnja" (Neue Zeit) - Tageszeitung, die von 1868 bis Oktober1917 in Petersburg erschien. Zu Beginn gemäßigt liberal, wurde sie Endeder siebziger Jahre zum Organ reaktionärer Kreise des Adels und der be-amteten Bürokratie. Die Zeitung bekämpfte nicht nur die revolutionäre,sondern auch die bürgerlich-liberale Bewegung. Ab 1905 war sie ein Organder Schwarzhunderter. Lenin bezeichnete das „Nowoje Wremja" als Mu-sterbeispiel einer korrupten Zeitung. 47

17 „TJarodowzen" (Nationaldemokraten) - konterrevolutionäre nationalisti-sche Partei der polnischen Bourgeoisie, gegründet im Jahre 1897. Währendder Revolution von 1905-1907 wurden die „Narodowzen" zur Hauptparteider polnischen Konterrevolution, zur Partei der „polnischen Schwarzhun-derter" (Lenin). 50

18 X. - W. G. Tschirkin; gehörte 1907 zu den Menschewiki. 5519 „Russkije Wedomosti" (Russische Nachrichten) - Tageszeitung, die in

Moskau ab 1863 von liberalen Professoren der Moskauer Universität undSemstwoleuten herausgegeben wurde. Sie vertrat die Interessen der libe-ralen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie. 1905 wurde sie zum Organ des

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Anmerkungen 521

rechten Flügels der Kadetten,- nach der Oktoberrevolution 1917 wurde sieebenso wie die anderen konterrevolutionären Zeitungen verboten. 65

20 „Birshewyje Wedomosti" (Börsennachrichten) - bürgerliche Tageszeitung,die ab 1880 in Petersburg erschien. Der Kurzname „Birshowka" wurdezum Gattungsnamen und kennzeichnete die Prinzipienlosigkeit und Feil-heit der bürgerlichen Presse. Die Zeitung wurde Ende Oktober 1917 ver-boten. 66

21 „7<!asdha Shisn" (Unser Leben) - Tageszeitung, die dem linken Flügel derKadettenpartei nahestand; sie erschien mit Unterbrechungen von 1904 bis1906 in Petersburg. 71

22 Ein Plus in der Tabelle bezeichnet die Wahlmänner, die bei einer Zer-splitterung der Wählerstimmen zwischen den Kadetten und dem Links-block den Schwarzhundertern hätten zufallen können. 73

23 „Jelegraf"-Tageszeitung bürgerlich-liberaler Richtung, die im Januar undFebruar 1907 in Petersburg erschien. 74

24 „Jrud" (Die Arbeit) - in Petersburg herausgegebene bolschewistische Wo-chenzeitung. Die Nummern der Zeitung sind bis jetzt nicht wieder aufge-funden worden. 75

25 „Nasdj Mr" (Unsere Welt) - menschewistische Wochenschrift, die im Ja-nuar und Februar 1907 in Petersburg erschien. 77

26 Gemeint ist der in Nr . 13 des „Proletari" veröffentlichte Bericht des Mos-kauer Bezirks der Stadt Petersburg über die Wahlen zur II. Duma. In demBericht werden die Wahlen im Betrieb Retschkin geschildert, wo die Arbei-ter nur deshalb einen Sozialrevolutionär wählten, weil sie nicht einen Men-schewik - einen Anhänger von Abkommen mit den Kadetten - wählenwollten. 78

27 Die Überschrift des Dokuments stammt vom Institut für Marxismus-Leni-nismus beim ZK der KPdSU in Moskau. 84

28 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 194.91

29 Siehe Kar l M a r x , „Briefe a n Kugelmann" , Berlin 1952, S. 6 6 - 6 9 . 9630 Siehe Kar l M a r x , „Briefe a n Kuge lmann" , Berlin 1952, S. 31/32. 9631 Siehe Kar l M a r x , „Briefe an Kuge lmann" , Berlin 1952, S. 57. 9732 Siehe Kar l M a r x , „Briefe an Kuge lmann" , Berlin 1952, S. 74.. 9733 Siehe Kar l M a r x , „Briefe an Kuge lmann" , Berlin 1952, S. 28 . 98

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522 Anmerkungen

34 Siehe Karl Marx , „Briefe an Kugelmann", Berlin 1952, S. 82, 83. 9835 Lenin meint die „Zweite Adresse des Generalrats der Internationalen Ar-

beiterassoziation über den Deutsch-Französischen Krieg", die M a r x am9. September 1870 in London verfaßte. (Siehe Karl M a r x und FriedrichEngels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Berlin 1959, S. 463.bis 470.) 100

36 Siehe Kar l M a r x , „Briefe an Kuge lmann" , Berlin 1952, S. 124/125. 10237 Siehe Karl M a r x , „Briefe an Kuge lmann" , Berlin 1952, S. 126. 103

^'Nationalistische Autonomisten nenn t Lenin die Deput ie r ten Polens in derII. Reichsduma. 105

39 Krusdbewan, P . A . - einer der Anführer der Schwarzhundertervereinigung„Bund des russischen Volkes" . 108

40 Siehe den 1891 geschriebenen Artikel von Engels „ D e r Sozialismus inDeutsch land" (Marx/Engels/Lenin/Stalin, „ Z u r deutschen Geschichte",Bd. II, 2. Ha lbband , Berlin 1954, S. 1141). D e n gleichen Gedanken wie-derhol te Engels 1895 in der „Einlei tung" zu r Broschüre von Kar l M a r x„Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850". (Siehe Kar l M a r x u n dFriedrich Engels, Ausgewähl te Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Berlin 1959,S. 120/121.) 109

41 „Jernii 7ruda" (Dornen der Arbei t) - legale bolschewistische Wochen-schrift, die von Dezember 1906 bis J a n u a r 1907 in Petersburg herausge-geben wurde . Es erschienen 3 N u m m e r n . Alle N u m m e r n wurden von derPolizei beschlagnahmt, die Herausgabe der Wochenschrift wurde vom Pe-tersburger Kammergericht verboten. 113

42 „Srenije" (Die Sicht) - legale bolschewistische Wochenzei tung, die 1907während der Wahlkampagne zur zweiten D u m a unter engster Mitarbei tLenins in Petersburg herausgegeben wurde. Es erschienen zwei Nummern( N r . 1 vom 25. Januar [7. Februar] und N r . 2 vom 4. [17.] Februar) . BeideNummern wurden beschlagnahmt, die Herausgabe der Zei tung wurde vomPetersburger Kammergericht verboten. 113

43 In Saratow und Nishni-Nowgorod siegten bei den Wahlen zur Reichsdumadie Kandidaten des Linksblocks. Von 80 gewählten Wahlmännern waren inSaratow 65 Linke und 15 Kadetten, in Nishni-Nowgorod 39 Linke, 38 Ka-detten und 3 Oktobristen. 118

44 D ie Konferenz der Petersburger sozialdemokratischen (Stadt- und Zand-bezirks-} Organisation fand im Februar 1907 stat t . An der Konferenz nah-men 27 Personen mit beschließender, 14 (darunter einige W a h l m ä n n e r der

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Anmerkungen 523

Arbeiterkurie) mit beratender Stimme teil. Tagesordnung: 1. Die bevor-stehenden Deputiertenwahlen zur Reichsduma in Petersburg und die Ar-beiterkurie; 2. Dumawahlkampagne und Dumataktik der Sozialdemokra-tie; 3. Kongreßkampagne, d. h. Vorbereitung zum sozialdemokratischenParteitag; 4.Reorganisation der Petersburger Organisation; 5.Parteigerichtin Sachen N. Lenin (das menschewistische ZK wollte Lenin wegen Ver-öffentlichung der Broschüre „Die Wahlen in Petersburg und die Heucheleider 31 Menschewiki" zur Verantwortung ziehen); 6. Stellung zu den ab-gespaltenen Menschewiki; 7. Verbreitung von Agitationsliteratur in Pe-tersburg.

Die Konferenz stellte nach Erörterung der ersten Frage zwei Dumakan-didaten auf und wählte eine Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfseines Wählerauftrags an die Arbeiterbevollmächtigten, die Wahlmännerund die Deputierten.

Die Konferenz billigte das Referat Lenins über die Dumawahlkampagneund die Dumataktik der Sozialdemokratie und bestätigte die vom Peters-burger Komitee ausgearbeiteten organisatorischen Grundprinzipien fürden Aufbau der Petersburger Organisation. Was die Absicht des mensche-wistischen ZK betraf, Lenin durch ein Parteigericht zur Verantwortung zuziehen, so erklärte die Konferenz die Menschewiki für schuldig, die Pe-tersburger sozialdemokratische Organisation gespalten zu haben; sie ver-urteilte die spalterische Tätigkeit des menschewistischen ZK-MitgliedsDan und unterstützte voll und ganz Lenin. Die Konferenz wählte eineKommission zur Kontrolle der Parteipresse und delegierte Vertreter derPetersburger Organisation in die Redaktionen des „Proletari" und des„Wperjod". Auf der Konferenz wurden Delegierte zu einer Beratung derbolschewistischen Organisationen gewählt, die die Plattform zum V. Partei-tag der SDAPR ausarbeiten sollte. HO

45 In der Diskussion zu Lenins Referat wurde die Frage berühr t , ob m a nnicht Abkommen der Sozialdemokratischen Par te i mit der revolutionärenDemokra t i e ausschließlich auf Kampfmomente (Aufstand, Streik) beschrän-ken solle und ob in diesen Fällen nicht eine allgemeine und einheitlicherevolutionäre Organisa t ion erforderlich sei. i24

46 Die Resolutionsentwürfe der Bolsdbewiki zum V. Parteitag der SDÄPRwurden von Vertretern des Petersburger und des Moskauer Komitees, desMoskauer Landbezirkskomitees, des Gebietsbüros des Zentralen Industrie-gebiets und der Redaktion des „Proletari" angenommen. Diese Vertreterhielten ihre Beratung vom 15. bis 18. Februar (28. Februar bis 3. März)1907 ab. Die Entwürfe wurden als Materialien für die Parteidiskussion und

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524 Anmerkungen

zur Vorbereitung des Parteitags versandt. Die Resolutionsentwürfe wurdenin N r . 6 und 7 der legalen bolschewistischen Zeitung „Nowy Lutsch" vom25. und 27. Februar 1907 und in N r . 14 des „Proletari" vom 4. M ä r z 1907veröffentlicht. 125

47 Die vom Petersburger Komitee der SDAPR am 4. (17.) September 1906einberufene Versammlung von Petersburger Arbeitern verurteilte mit 74gegen 11 Stimmen die menschewistische Losung eines „Arbeiterkon-gresses".

Im September 1906 fand die zweite Konferenz der sozialdemokratischenOrganisationen des Zentralen Rayons statt, an der Vertreter von Moskau,Iwanowo-Wosnessensk, Brjansk, Nishni-Nowgorod, Sormowo, Orjol, Smo-lensk und anderen Städten, vom Zentralkomitee und von der Redaktiondes „Proletari" teilnahmen. Zur Frage des „Arbeiterkongresses" wurdeeine Resolution angenommen, die die Agitation für den „Arbeiterkongreß"für schädliche Demagogie erklärte. i35

48 „VJlumanite" - von Jean Jaures 1904 als Organ der Französischen Sozia-listischen Partei gegründete Tageszeitung. Bald nach der Spaltung derSozialistischen Partei auf dem Kongreß im Dezember 1920 und der Grün-dung der Kommunistischen Partei Frankreichs wurde „l'Humanite"" derenOrgan. Seitdem erscheint sie in Paris als Zentralorgan der Kommunisti-schen Partei. i37

49 Der Artikel „Die Eröffnung der zweiten Reidhsduma" erschien als Leit-artikel in N r . 1 des „Nowy Lutsch".

„Tiowy Zutsdb" (Neuer Strahl) - bolschewistische politische und lite-rarische Tageszeitung, die legal vom 20. bis 27. Februar (5.-12. März)1907 unter engster Mitarbeit W . I. Lenins in Petersburg erschien; in allenNummern der Zeitung, außer N r . 3, sind Artikel von Lenin veröffentlicht.Mitarbeiter des „Nowy Lutsch" waren: W . W . Worowski, A. M . Gorki,M . S. Olminski, I. I. Skworzow-Stepanow und andere. Mit N r . 7 wurdedie Zeitung vom Petersburger Stadthauptmann verboten. 144

50 Der Artikel „Die zweite "Duma und die Aufgaben des Proletariats" er-schien in Nr. 2 des „Rabotschi".

„Rabotsdbi" (Der Arbeiter) - illegale bolschewistische Zeitung derOchtaer und der Sampsonijewer Unterbezirksorganisation der SDAPR desWiborger Bezirks; ab Nr. 3 Zeitung der Ochtaer, Sampsonijewer, Apte-karsker und Kamennoostrower Unterbezirksorganisation der SDAPR desWiborger und des Petersburger Bezirks,- erschien ab 13. (26.) Februar1907 als populäres Massenorgan. An der Zeitung arbeiteten W. I. Lenin,J. M. Jaroslawski und andere mit. Anfang Juni 1907 wurde die Druckerei

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Anmerkungen 525

der Ze i tung von der Polizei demoliert, was dem Erscheinen der Zei tungein Ende machte." 148

51 „Russkaja Sbisn" (Russisches Leben) - legale Tageszei tung linkskadetti-scher Richtung, die von J a n u a r bis M ä r z 1907 in Petersburg herausge-geben wurde . M i t N r . 38 ging sie in die H ä n d e der Menschewiki über . Eserschienen 52 N u m m e r n . 153

52 „Sowremennaja Retsdb" (Zeitgenössische Rede) - Tageszei tung bürger-lich-liberaler Richtung, die von J a n u a r bis M a i 1907 in Petersburg erschien;unters tü tz te die Kadet ten . 157

53 „Erster Sammelband" - eine 1907 im Verlag „Nowaja D u m a " erschieneneSammlung bolschewistischer Artikel, die den Ergebnissen der ersten undder Analyse der Perspekt iven der zweiten D u m a gewidmet waren. In demSammelband wurden Lenins Artikel „Die Arbei tergruppe in der Reichs-duma" , „ Z u dem Aufruf der Arbei terdeput ier ten", „Auf, zu r Einheit!",„ Z u r Deklara t ion unserer Dumafrakt ion" , „Die Dumapar te ien und dasVolk" aus den bolschewistischen Zei tungen „ W o l n a " (Die W o g e ) ,„Wper jod" und „Echo" nachgedruckt. 168

54 „TJowyje Sily" ( N e u e Kräfte) - Petersburger Tagesze i tung der Trudo-wiki im Februar 1907. 171

55 D e r Artikel „Die Kadetten und die Jrudowiki" wurde zuers t in der „Ra-botschaja M o l w a " veröffentlicht.

„Rabotsdiaja Molwa" (Arbeiterst imme) - legale bolschewistische Zei-tung . Die erste, in Petersburg a m 1. (14.) M ä r z 1907 erschienene N u m m e rwurde jedoch sofort beschlagnahmt und die Herausgabe der „RabotschajaM o l w a " verboten. 181

66 Lenin meint die auf dem Amsterdamer Kongreß der II. Internationale imAugus t 1904 angenommene Resolution „Internationale Regeln der soziali-stischen Tak t i k " . D ie Resolution verbot den Sozialisten die Beteiligung a nbürgerlichen Regierungen und lehnte die Zusammenarbe i t sozialistischerParteien mit bürgerlichen Par te ien ab . 182

57 Es handel t sich um das Buch eines Mitgl ieds der I. Reichsduma, N . A.Borodins, „Die Reichsduma in Zah len" , Pe tersburg 1906. Nach den Be-rechnungen N . A. Borodins waren von 153 Kadet ten in der I. D u m a92 Adlige. Von ihnen besaßen 3 Personen zwischen 5000 u n d 10 000 Desja-t inen Land,- 8 Personen zwischen 2000 und 5000 Desjat inen; 8 Personenzwischen 1000 u n d 2000 Desja t inen; 30 Personen zwischen 500 u n d .1000Desjat inen. Somit waren ungefähr ein Dri t te l der kadettischeri Deput ier tenGroßgrundbesi tzer . 183

34 Lenin, Werke, Bd. 12

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526 Anmerkungen

58 D a s Dokument „Zu der Deklaration Stolypins" ist der Entwurf eines Auf-rufs der sozialdemokratischen Fraktion der II. Reichsduma als Antwort aufdie in der Duma am 6. (19.) M ä r z 1907 von Stolypin verlesene Regierungs-erklärung. Der Entwarf wurde von Lenin verfaßt und am 28. Februar(13. M ä r z ) 1907 von der sozialdemokratischen Fraktion erörtert. D a in dersozialdemokratischen Fraktion die Menschewiki das Übergewicht hatten,nahm die Fraktion den menschewistischen Entwurf des Aufrufs an, derdann auch in der Duma von dem Deputierten Zereteli verlesen wurde. 185

59 Der in N r . 26 der Zeitschrift „Die Neue Zei t" vom 27. M ä r z 1907 in deut-scher Sprache veröffentlichte Artikel „Die T)umawah1en und die Jaktik derrussischen Sozialdemokratie" wurde ins Georgische übersetzt und in N r . 24und N r . 25 der bolschewistischen Zei tung „Dro" (Die Zeit) vom 7. und8. April 1907 gedruckt. 188

60 Lenin meint die im November 1906 von Stolypin erlassenen Agrargesetze.Am 9. (22.) November 1-906 erschien ein Erlaß, der das Ausscheiden derBauern aus der Dorfgemeinde regelte und ihnen Anteilländereien als Eigen-tum zuwies, und am 15. (28.) November ein Erlaß über die Gewährungvon Darlehen durch die Bäuerliche Bodenbank unter Verpfändung der An-teilländereien.

ü b e r die Stolypinsche Bodenreform siehe das W e r k Lenins „Das Agrar-programm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution1905-1907". 202

61 Der erste Abschnitt des Artikels „Die Plattform der revolutionären Sozial-demokratie" wurde in N r . 14 des „Proletari" vom 4. (17.) M ä r z 1907 ver-öffentlicht, der zweite am 12. (25.) M ä r z geschrieben und in N r . 15 des„Proletari" vom 25. M ä r z (7. April) 1907 veröffentlicht. 204

62 In der Sitzung der II. Reichsduma vom 7. (20.) M ä r z 1907 brachte die so-zialdemokratische Fraktion den Antrag ein, die Duma möge einen Er-nährungsausschuß einsetzen, der die von der Regierung in den Jahren1905-1907 getroffenen Maßnahmen zur Unters tützung der Hungerndenuntersuchen sollte. Es wurde beantragt, den ministeriellen Bericht über dieVerwendung der Geldmittel zu prüfen und die Lage in den von der Hun-gersnot betroffenen Gouvernements zu untersuchen. Gegen den Antrag dersozialdemokratischen Fraktion sprach der Kadett Roditschew, der im Namender Regierung von Stolypin unterstützt wurde. 204

63 „Rossija" (Rußland) - polizeilich-erzreaktionäre Tageszeitung, die von1905 bis 1914 in Petersburg erschien; Organ des Innenministeriums. 205

64 Siehe Karl Märx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 570.209

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Anmerkungen 527

65 D e r Ar t ike l „Wie man Resolutionen nidht sdbreiben soll" w u r d e in demSammelband „Fragen der Taktik" II veröffentlicht.

„fragen der 7aktik" - der Vorbereitung des V. Parteitags der SDAPRgewidmete bolschewistische Sammelbände, die im April 1907 im Petersbur-ger Buchverlag „Nowaja Duma" erschienen. Es kamen zwei Sammelbändeheraus. Der zweite Band wurde vom Presseamt beschlagnahmt. 211

66 Pederaken — ironische Bezeichnung der „Pa r t e i demokrat ischer Reformen" ,eine de r polit ischen G r u p p i e r u n g e n der l iberal-monarchist ischen Bourgeoisie,die Anfang 1906 während der Wahlen zur I. Reichsduma gebildet wurde;sie stand rechts von der Kadettenpartei. 229

, 67 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 570.230

68 Die Konferenz des „Estländisdben Qebietsverbandes" der SDÄPR fand inder zweiten Februarhälf te 1907 stat t . A n der Konferenz nahmen 18 Dele-gierte der sozialdemokratischen Organisat ionen Revals und N a r w a s sowieder ländlichen sozialdemokratischen Organisat ionen Estlands mit beschlie-ßender St imme teil. Außerdem nahmen 3 Delegierte aus Petersburg undRiga teil, die in den Fragen der P ropaganda und Agitation in estnischerSprache beschließende Stimme ha t ten .

Auf der Konferenz wurden folgende Resolutionen angenommen: über dieMil i tärorganisat ionen und die Kampfgruppen, zu r Agrarfrage, über dieGewerkschaften, über die Stellung z n anderen lokalen Parteien, über dasVerhältnis zu r Reichsduma und das Sta tu t des „Estländischen Gebietsver-bandes" der SDAPR. 234

69 Die Oberschrift des Dokuments s tammt vom Institut für Marx ismus-Leninismus beim Z K der K P d S U in Moskau . 236

70 Polnisches %olo - Vereinigung der polnischen Deput ier ten in der Reichs-duma. In der I. und II. D u m a bildeten den führenden Kern in dieser Ver-einigung die Narodowzen - die polnischen Schwarzhunderter . In allenwesentlichen Fragen der Dumatak t ik unters tü tz te das polnische Kolo dieOktobr is ten und die Rechten. 240

71 „Sozialdemokrat" - illegales O r g a n des Zentralkomitees der SDAPR, dasvon September bis November 1906 in Petersburg erschien,- faktisch war dieZe i tung ein menschewistisches Organ , da sich das Z K zu dieser Zei t in denH ä n d e n der Menschewiki befand. Es erschienen sieben N u m m e r n . 243

72 „Jswestija %restjanskidh Veputatow" (Nachrichten der Bauerndeputier-ten) - Tageszei tung, O r g a n der Trudowikigruppe in der I. Reichsduma;erschien im M a i 1906 in Petersburg . 249

34*

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528 Anmerkungen

73 Lenins Entwurf war für den sozialdemokratischen Deput ier ten G . A. Ale-xinski bestimmt, der in der Deba t t e zu r Agrarfrage in der D u m a eine Redehalten sollte. Alexinski benu tz te den Entwurf in seiner Rede am 5. (18.) April1907 nu r teilweise. 261

74 Lenin meint die gouvernementalen Adelskomitees zu r Ausarbei tung vor-läufiger Projekte der Bauernreform. Die meisten Komitees machten den er-folglosen Versuch, die Reform aufzuhal ten, und wollten in ihren Projektendem Adel möglichst viele fronherrliche Privilegien sichern. Gleichzeitig mitde r Befreiung der Bauern w u r d e „zur Regelung ihrer Bodenverhältnisse u n dz u r Beaufsichtigung ihrer Ständeverwal tung" die Institution der Friedens-richter eingeführt. D ie Friedensrichter waren vom Gouverneur bestimmteortsansässige Erbadlige, die vom Senat bestät igt wurden . 265

75 „Russkaja Trawda" (Russisches Recht) - die erste der uns überliefertenschriftlichen Sammlungen gerichtlicher Bräuche u n d fürstlicher Verordnun-gen des Kiewer Reiches aus dem 11 . und 12. Jahrhunder t , die im Jahre 1738in einer Abschrift der ersten Nowgoroder Chronik entdeckt wurde . In denGesetzesbest immungen der „Russkaja P r a w d a " erhielten die sich heraus-bildenden Feudalverhältnisse im Kiewer S taa t ihre juristische Form. Esliegen Angaben vor über 112 Abschriften der „Russkaja P r a w d a " in ver-schiedenen Fassungen. D i e letzte Ausgabe siehe „Prawda Russkaja", Bd. I,Akademie der Wissenschaften der UdSSR, M o s k a u 1940, russ. 265

76 Gemeint ist die Arbei t N . Karyschews „Bäuerliche Pachtungen auf Nicht-antei l land", die in Bd. II des Buches „Ergebnisse der ökonomischen Un te r -suchung Rußlands nach D a t e n der Semstwostatist ik" (Dorpa t 1892) ver-öffentlicht ist. 268

77 Die von Lenin erwähnte Berechnung wurde im Manusk r ip t nicht gefunden.273

78 „Wperjod" (Vorwärts) - legale bolschewistische Tageszei tung, die inPetersburg ab 26. M a i (8 . Juni) 1906 a n Stelle der von der Regierung ver-botenen Ze i tung „ W o l n a " erschien. Lenin arbeitete führend an dieser Zei-tung mit. Weitere Mitarbeiter waren M. S. Olminski, W. W. Worowskiund A. W. Lunatscharski. Die in der Zeitung veröffentlichten ArtikelLenins behandelten hauptsächlich taktische Fragen der ersten russischen Re-volution. Die Zeitung wurde wiederholt beschlagnahmt und verfolgt. NachErscheinen der Nr. 17 vom 14. (27.) Juni 1906 wurde sie verboten. An Stelledes „Wperjod" erschien nunmehr die bolschewistische Zeitung „Echo". 285

79 Lenin meint die Stelle in N. G. Tschernyschewskis Roman „Prolog", wo derHeld des Romans, Wolgin, auf das Argument, zwischen Fortschrittlern und

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Anmerkungen 529

Agrarierpartei bestehe ein gewaltiger Unterschied, antwortet: „Nein, nichtgewaltig, sondern verschwindend k l e i n . . . Er wäre gewaltig, wenn dieBauern das Land ohne Ablösung erhielten. Einem Menschen eine Sachenehmen oder sie ihm belassen, das ist ein Unterschied; wenn man aber vonihm Geld dafür verlangt, so kommt es auf dasselbe hinaus. Der Plan derGutsbesitzerpartei unterscheidet sich vom Plan der Fortschrittler nur da-durch, daß er einfacher und kürzer ist. Deshalb ist er sogar besser. Erwürde weniger Verzögerungen, wahrscheinlich auch eine geringere Be-lastung der Bauern mit sich bringen. Wer von den Bauern Geld hat, derwird sich Land kaufen. Wer es nicht hat, der soll auch nicht verpflichtetsein, es zu kaufen. Dies würde ihn ja nur ruinieren. Loskauf ist das-selbe wie Kauf." ( N . G. Tschernyschewski, Ausgewählte Werke, Bd. V,Moskau 1932, S. 480, russ.) Dieses Zitat führt Lenin auch in seinem Werk„Was sind die ,Volksfreunde' und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemo-kraten?" an. (Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 1, S. 263, russ.; deutscheAusgabe, Berlin 1952, S. 187/188.) 287

80 „Narodnaja Duma" (Volks-Duma) - menschewistische Tageszeitung, dieim März und April 1907 in Petersburg erschien. 31 i

81 Hasarow — eine der Hauptgestalten in I. S. Turgenjews Roman „Väter undSöhne". 311

82 „Tiessaglawzen" - die Organisatoren und Mitarbeiter der 1906 in Peters-burg herausgegebenen Zeitschrift „Bes Saglawija" (Ohne Titel): S. N . Pro-kopowitsch, J. D . Kuskowa, W . J. Bogutscharski u. a. Die „Bessaglawzen"bekannten sich offen zum Revisionismus, sie unterstützten die Menschewikiund die Liberalen und waren gegen eine selbständige Politik des Proleta-riats. Lenin nannte die „Bessaglawzen" menschewisierende Kadetten oderkadettisierende Menschewiki. 313

83 Posse, W. A . - bürgerlicher Journalis t u n d Politiker, in den Jahren 1906u n d 1907 Fürsprecher der G r ü n d u n g von Arbeitergenossenschaften in R u ß -land, die von der Sozialdemokratischen Par te i unabhäng ig sein sollten. 313

84 „Tfasdhe Edio" ( U n s e r Echo) — legale bolschewistische Tageszei tung, d ieunter unmittelbarer Mitwirkung W. I. Lenins, vom 25. März (7. April) bis10. (23.) April 1907 in Petersburg erschien. Artikel Lenins wurden fast injeder Nummer veröffentlicht. An der Zeitung arbeiteten M. S. Olminski,W. W. Worowski und andere mit. Es erschienen 14 Nummern. Die Heraus-gabe der Zeitung wurde vom Petersburger Stadthauptmann verboten. 315

85 „Otgoloski" (Nachklang) - menschewistische Sammelbände, die 1907 inPetersburg herausgegeben wurden . 320

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530 Anmerkungen

86 Siehe Marx/Engels/Lenin/Stalin, „ Z u r deutschen Geschichte", Bd. II,1. Ha lbband , Berlin 1954, S. 302-307 . 331

87 Lenin meint die St immabgabe der Trudowiki , der Volkssozialisten und derSozialrevolutionäre für F . A . Golowin, den kadettischen Kandida ten fürden Posten des Präs identen der II. Reichsduma. M i t der „Takt ik desSchweigens" ist die H a l t u n g der Trudowiki zu der von Stolypin am6. (19.) M ä r z 1907 in der D u m a abgegebenen Regierungserklärung ge-meint . Auf den Vorschlag der sozialdemokratischen Fraktion, an der Re-gierung Krit ik zu üben, antworte ten die Trudowiki , d a ß sie beschlossenhät ten , die Erklärung mit „Grabesschweigen" aufzunehmen, u n d sie seienbereits in dieser Sache z u einem Übere inkommen mi t der Mehrhe i t der op-positionellen Frakt ionen, da run te r den Kadet ten, gelangt. In der Hausha l t s -debat te der D u m a stimmten die Trudowiki gemeinsam mit den Kadet tenfür die Überweisung des Staatshaushaltsplanes an den Haushal tsausschußder D u m a . 332

88 5V. R. — N . A. Roshkow, sozialdemokratischer Historiker , der sich 1907den Bolschewiki anschloß. 335

m D a s offizielle O r g a n der Par te i der Sozialrevolutionäre waren die „Par t i -nyje Iswestija" (Parteinachrichten), die von Oktober 1906 bis M a i 1907erschienen. 340

90 „Priwet" (Der G r u ß ) - menschewistische Wochenschrift, die im M ä r z 1907in Petersburg herausgegeben wurde . Es erschienen zwei N u m m e r n . 346

91 „TJatsdhalo" (De r Anfang) - legale menschewistische Tagesze i tung ; er-schien im November und Dezember 1905 in Pe tersburg . 349

92 „Sowremennaja Sirisn" (Das Leben der Gegenwar t ) - menschewistischeZeitschrift, die von April 1906 bis M ä r z 1907 in M o s k a u erschien.

„OtkHki" ( D e r Widerha l l ) - Ti te l von drei menschewistischen Sam-melbänden, die in den Jahren 1906 und 1907 in Pe te rsburg herausgegebenwurden . 360

93 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 469.361

94 S iehe Kar l Marx /Fr i ed r i ch Engels , Ausgewähl te Briefe, Berlin 1953, S. 478bis 479. 361

9 5 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 474,476.361

96 Siehe K a r l Marx /Fr iedr ich Engels, Ausgewähl te Briefe, Berlin 1953, S. 412 .362

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Anmerkungen 531

97 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 471.362

98 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 470.„Kiffer der Arbeit" (Knights of Labor) - der „Edle Orden der Ritter

der Arbeit" wurde 1869 in Amerika von dem Schneider Uriah Stevens ge-gründet und vereinigte hauptsächlich ungelernte Arbeiter. Der Orden lehnteden politischen Kampf ab und predigte die Zusammenarbeit der Klassen.Anfang der neunziger Jahre zerfiel der Orden „Ritter der Arbeit". 362

99 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 364bis 365. 364

100 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 391.365

m Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1-921, S. 167. 365

103 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 169. 365

103 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 183/184.

Das „Jabrbudb für Sozialwissensdhaft und Sozialpolitik" wurde 1879 vondem deutschen Sozialdemokraten K. Höchberg, einem Reformisten, in Zü-rich herausgegeben. 366

104 Es handelt sich um die Meinungsverschiedenheiten in der sozialdemokra-tischen Fraktion des Deutschen Reichstags in der Frage der Dampfersub-vention. Ende 1884 forderte Bismarck als Reichskanzler im Interesse derdeutschen kolonialen Eroberungspolitik vom Reichstag die Bewilligung vonSubventionen an Privatunternehmer für die Organisierung des Schiffsver-kehrs mit Ostasien, Australien und Afrika. Diese Frage rief scharfe Aus-einandersetzungen in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion hervor.Bereits vor den öffentlichen Reichstagsreden setzten sich die Rechten, diedie Fraktionsmehrheit bildeten, für die Bewilligung der Subvention an dieSchiffahrtsgesellschaften ein. Im Verlaufe der Reichstagsdebatten im März1885 stimmte der rechte Flügel der sozialdemokratischen Fraktion für dieEinrichtung einer ostasiatischen und einer australischen Schiffahrtslinie, undfür seine Zustimmung zur Einrichtung einer afrikanischen und anderer Li-nien stellte er die Bedingung, daß die neuen Schiffe in deutschen Werften

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532 Anmerkungen

gebaut würden. D e r Reichstag lehnte diese Forderung ab , und erst dannstimmte die ganze Frakt ion geschlossen gegen die Subvention.

Engels verurteilte in dem Brief an Sorge vom 3 1 . Dezember 1884 die. opportunistische Stellung des rechten Flügels der sozialdemokratischen

Frakt ion. (Siehe „Briefe u n d Auszüge aus Briefen von Joh . Phi l . Becker,Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Kar l M a r x u . A . an F . A . Sorge und An-dere" , S tu t tgar t 1921, S. 199.) 366

105 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phi l . Becker, Jos. Die tz -gen, Friedrich Engels, Kar l M a r x u . A. an F . A. Sorge u n d Andere" , Stut t-gar t 1921, S. 203, 204. 366

106 Siehe „Briefe u n d Auszüge aus Briefen von Joh . Phil . Becker, Jos . Die tz-gen, Friedrich Engels, Kar l M a r x u . A . an F . A. Sorge u n d Andere" , Stut t -gar t 1921, S. 256. 367

107 „Possibilisten" - kleinbürgerl icher, reformistischer Tei l de r französischenArbeiterpartei, der sich 1882 von der Partei abspaltete. Die Possibilistenwollten die Tätigkeit der Arbeiterklasse auf den Rahmen des im Kapitalis-mus „Möglichen" („possible") beschränken. 1902 bildeten die Possibilistenzusammen mit anderen reformistischen Gruppen als Gegengewicht zur So-zialistischen Partei Frankreichs die opportunistische Französische Soziali-stische Partei. 1905 schlössen sich beide Parteien zu einer. Partei zusam-men. 367

108 Siehe „Briefe u n d Auszüge aus Briefen von Joh. Phi l . Becker, Jos . Die tz -gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 307. 367

109 Siehe „Briefe u n d Auszüge aus Briefen von Joh . Phi l . Becker, Jos . D ie t z -gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 311, 312. 367

110 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 491,492. 367

111 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 316-318. 368

m Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge nnd Andere", Stutt-gart 1921, S. 319. 368

113 Siehe „Die Neue Zeit", 1906/07, Bd. 1, Nr. 1, S. 13. 368114 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 546.

Page 541: Lenin - Werke 12

Anmerkungen 533

115 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 575.369

116 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 418. 370

117 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 392.370 .

118 Siehe Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zweiBänden, Bd. II, Berlin 1958, S. 25. 371

119 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 471.372

120 Becazeviller Streik - der Streik der französischen Bergarbeiter im Januar1886 in der Stadt Decazeville wurde von Regierungstruppen niedergeschla-gen. Die bürgerlichen Abgeordneten, darunter auch die Radikalen, tratenfür eine Unterstützung der Regierung und für Repressalien gegen die Strei-kenden ein. Die Folge war, daß sich die Arbeiterabgeordneten von denRadikalen trennten und in der Deputiertenkammer eine selbständige Ar-beiterfraktion bildeten. 372

121 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 220. 372

122 Der mit den Worten: „Im Jahre 1889 begann in England . . . " beginnendeTeil von Lenins Vorwort wurde in Nr. 13 der bolschewistischen Zeitung„Nasche Echo" vom 8. April 1907 mit nachstehender Einführung abge-druckt: „In Kürze erscheint, herausgegeben von P. Dauge, der Briefwechselvon Marx und Engels mit ihrem in Amerika lebenden Freund und Kampf-gefährten Sorge.

In Anbetracht des Interesses, das diese Ausgabe findet, gestatten wir uns,hier einen Teil des Vorworts zur russischen Obersetzung dieses Buches zuveröffentlichen, der der Stellung von Marx und Engels zu der in Rußlandzu erwartenden Revolution gewidmet ist. Wir beginnen mit zwei charak-teristischen Urteilen von Engels über die Bedeutung der französischen Re-volution und die Möglichkeit einer Revolution in Deutschland." 373

m Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 495.373

124 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A, an F, A. Sorge und Aridere", Stutt-gart 1921, S. 371. 374

Page 542: Lenin - Werke 12

534 Anmerkungen

125 Mit der orientalischen Krise ist der Russisch-Türkische Krieg von 1877/78gemeint. 374

126 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 363.374

127 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 399.375

m ü b e r „Unsere Meinungsverschiedenheiten" und über den Charakter derin Rußland bevorstehenden Revolution äußerte sich Engels in dem Brief anW . I. Sassulitsch vom 23. April 1885. Der Brief wurde zuerst 1925 in N r . 3des Sammelbandes „Die Gruppe Befreiung der Arbeit '" veröffentlicht.Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953,S. 457-460. 375

129 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 259, 260. 375

130 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietz-gen, Friedrich Engels, Karl M a r x u. A. an F. A. Sorge und Andere", Stutt-gart 1921, S. 262. 376

131 Siehe Marx/Engels/Lenin/Stalin, „Zur deutschen Geschichte", Bd. II,1. Halbband, Berlin 1954, S. 525. 376

132 T/lalower - Pseudonym des Kadetten W . Portugalow. 377133 Siehe Karl M a r x und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bän-

den, Bd. I, Berlin 1959, S. 58. 383134 „Neue Ttiieinisdie Zeitung" - wurde vom 1. Juni 1848 bis zum 19. Mai

1849 in Köln unter der Leitung von Karl M a r x und Friedrich Engels her-ausgegeben. Ihr Chefredakteur war Marx . Ab N r . 301, nach der Auswei-sung von Marx , mußte die Zeitung ihr Erscheinen einstellen, ü b e r die„Neue Rheinische Zei tung" siehe Karl M a r x und Friedrich Engels, Aus-gewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. II, Berlin 1958, S. 305-313.

„Vereinbarerversammlung" nannte M a r x das Frankfurter Parlament,das im Mai 1848 zusammentrat. (Siehe Marx/Engels/Lenin/Stalin, „Zurdeutschen Geschichte", Bd. II, 1. Halbband, Berlin 1954, S. 304.) 386

133 Siehe Marx/Engels/Lenin/Stalin, „Zur deutschen Geschichte", Bd. II,1. Halbband, Berlin 1954, S. 254, 314. 3S7

136 Der Artikel „Larin und Cbrustäljow" wurde zuerst in der Zeitung „Trud"veröffentlicht.

„7rud" (Die Arbeit) — bolschewistische literarisch-politische Wochen-zeitung. Es erschien nur eine Nummer vom 15. (28.) April 1907. Bereits

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Anmerkungen 535

am nächsten Tag wurde die Zeitung vom Petersburger Stadthauptmannverboten. 390

137 A n de r Konferenz der Petersburger Stadtorganisation der ST>AJ>JZ. n a h -men 133 Delegier te (92 Bolschewiki u n d 41 Menschewiki) teil, von ihnenwaren mehr als 100 Arbeiter. Die Konferenz erörterte folgende Fragen:Reorganisation der Petersburger Organisation der SDAPR; Vertretungder Petersburger Organisation in der sozialdemokratischen Fraktion derII. Duma; Unzulässigkeit einer Mitarbeit von Sozialdemokraten in der bür-gerlichen Presse; der l.Mai und die Taktik der Sozialdemokratie.Die Kon-ferenz bestätigte die von den Bolschewiki geplante Reorganisation derPetersburger Stadtorganisation und erklärte sich zu einem ständig arbei-tenden, periodisch zusammentretenden Organ. Als Vertreter der Stadtorga-nisation bei der sozialdemokratischen Fraktion der Duma wurde Lenin ge-wählt. Die Konferenz sprach sich gegen die Mitarbeit von Sozialdemokratenin der bürgerlichen Presse aus.

Lenin leitete die Konferenz und sprach in der Diskussion zu folgendenFragen: Die geplante Reorganisation der Petersburger sozialdemokrati-schen Organisation; die organisatorische Arbeit des Petersburger Komiteesund die Zusammensetzung der Konferenz.

Die zweite Tagung der Konferenz fand am 8. (21.) April statt. Tages-ordnung: 1.-Mai-Feier, Versammlungskampagne, Bevollmächtigtenrat,Wahlen zum V. Parteitag, Referat des Dumadeputierten Alexinski, orga-nisatorische Fragen, Genossenschaftsbewegung, Kampf gegen die Schwarz-hunderter, Arbeitslosigkeit. Die Konferenz faßte den Beschluß, den 1. Maidurch einen eintägigen Streik und Kundgebungen zu begehen.

Lenin nahm in der Diskussion zu dem Referat Alexinskis Stellung undempfahl der Petersburger Delegation, dem V. Parteitag vorzuschlagen, imZusammenhang mit der Frage der Reorganisation der Kampfgruppen einenerfahrenen Kampfgruppenorganisator zum Parteitag einzuladen. 396

138 Zu der Petersburger Stadtkonferenz der SDAPR, die anläßlich der Frageder Wahltaktik bei den Wahlen zur I. Duma am 11. (24.) Februar1906 stattfand, wurden 36 Bolschewiki und 29 Menschewiki gewählt. Umdie Mehrheit zu erlangen, fochten die Menschewiki die Wahl der Dele-gierten der Landbezirksorganisation an, die sich für die bolschewistischeTaktik des aktiven Boykotts ausgesprochen hatte. Als die Konferenz dieWahl für richtig erklärte, forderten sie die Abtrennung der Landbezirks-organisation von der Petersburger Stadtorganisatiön. Der Antrag der Men-schewiki wurde abgelehnt. 398

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536 Anmerkungen

139 An der Junikonferenz aller Bezirke der Petersburger Organisation derSDAPR nahmen über 40 Bolsdiewiki und ungefähr 30 Menschewiki teil;es wurden die von den Bolschewiki eingebrachten Resolutionen angenom-men. 398

140 Mit der Schaffung der Militär- und Kampforganisationen der Sozialdemo-kratie wurde 1905 begonnen, insbesondere nach dem III. Parteitag. DieKonferenz der Militär- und Kampf Organisationen, die im März 1906 inMoskau zusammentrat, wurde von der Polizei aufgespürt, und ihre Teil-nehmer wurden verhaftet. Im November 1906 fand eine auf Initiative derBolschewiki einberufene Konferenz der Militär- und Kampforganisationenin Tammerfors statt. An der Konferenz nahmen 19 Delegierte mit beschlie-ßender und 9 mit beratender Stimme teil, die 11 Militär- und 8 Kampf-organisationen vertraten. Die Konferenz erörterte: die Rechenschaftsbe-richte der Delegierten,- das Referat über die gegenwärtige Lage,- das Refe-rat über den bewaffneten Moskauer Dezemberaufstand, über den Sewa-stopoler und den Sveaborger Novemberaufstand; die Rolle der Partei imbewaffneten Aufstand; die Arbeit unter den Offizieren und andere Fragen.

Die Protokolle der Konferenz wurden 1932 vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU neu herausgegeben. 410

141 Lenin meint die Zeitschrift „Dneumik Sozialdemokrat" (Tagebuch einesSozialdemokraten), die in Genf von März 1905 bis April 1912 unregel-mäßig von G. W. Plechanow herausgegeben wurde. Es erschienen 16 Num-mern. 1916 setzte Plechanow die Herausgabe der Zeitschrift in Petrogradfort, es erschien aber nur eine Nummer. 417

142 Isarow - I. Ch . Lala janz . 417143 IVarin - W . J . Fridolin, schloß sich 1907 den Bolschewiki an . 4i9mJljan - J. M. Jaroslawski. 419145 D e r „Beridbt an den V. Parteitag der SDJPR über die Petersburger Spal-

tung und die damit zusammenhängende Einsetzung eines Parteigeridhts"erschien als Broschüre mit der Aufschrift „Nur für Delegierte des Partei-tags der SDAPR". Den ersten und den letzten Teil der Broschüre schriebLenin im April 1907. Die „Verteidigungsrede (bzw. Anklagerede gegen denmenschewistischen Teil des ZK) vor dem Parteigericht" wurde von Leninim Februar verfaßt und in der ersten Sitzung des Parteigerichts Ende März1907 vorgetragen. 421

146 Die Resolution der Versammlung von 234 Petersburger Bolschewiki stelltefest, daß die Schuld an der Spaltung der Petersburger sozialdemokrati-schen Organisation voll und ganz die Menschewiki trifft; die Versammlung

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Anmerkungen 537

unterstützte die von Lenin gegen die 31 Menschewiki und Dan erhobeneGegenklage.

Die Konferenz der Petersburger sozialdemokratischen (Stadt- und Land-bezirks-) Organisation bestätigte die Resolution der Versammlung von234 Petersburger Bolschewiki, unterstützte die von Lenin in der Broschüre„Die Wahlen in Petersburg und die Heuchelei der 31 Menschewiki" gegendie Menschewiki erhobene Anklage und beschloß, vor dem Parteigerichteine Gegenklage gegen Dan und die Menschewiki zu erheben.

Entsprechende Resolutionen wurden auch vom Komitee des MoskauerBezirks, von einer Versammlung der sozialdemokratischen Organisationendes Obwodny- und des Saposhny-Unterbezirks des Moskauer Bezirks undin einer erweiterten Sitzung des Ochtaer Porochowy-Unterbezirkskomiteesder Landbezirksorganisation angenommen. 421

147 „"Dostishenzen" (Durchsetzer) - Mitglieder des „Verbandes zur Durch-setzung voller Rechte für das jüdische Volk in Rußland". Der Verband be-stand von 1905 bis 1907. Die „Dostishenzen" traten für die bürgerlichenFreiheiten und für die Aufhebung aller die Juden beschränkenden Gesetzeein. Die praktische Tätigkeit des Verbandes bestand allein in Fürsprachenund Petitionen an Regierungsvertreter. 431

148 !Maximow - Malinowski, bekannter unter dem Pseudonym A. A. Bogda-now; Simin - L. B. Krassin; Strojew - Pseudonym W. A. Desnizkis. 436

149 Der V. Parteitag der SVAPR fand vom 30. April bis 19. Mai (13. Mai bis1. Juni) 1907 in London statt. An dem Parteitag nahmen 336 Delegiertemit beschließender bzw. beratender Stimme teil, darunter 105 Bolsche-wiki, 97 Menschewiki, 57 Bundisten, 44 polnische Sozialdemokraten, 29 let-tische Sozialdemokraten und 4 „Fraktionslose". Die Bolschewiki hatten die

' Polen und die Letten hinter sich und besaßen auf dem Parteitag eine festeMehrheit. Zu den Delegierten zählten Lenin, Woroschilow, Dubrowinski,Stalin, Schaumian, Jaroslawski.

Der Parteitag erörterte folgende Fragen: 1. Rechenschaftsbericht desZentralkomitees. 2. Rechenschaftsbericht der Dumafraktion und deren Or-ganisation. 3. Stellung zu den bürgerlichen Parteien. 4. Reichsduma.5. „Arbeiterkongreß" und parteilose Arbeiterorganisationen. 6. Gewerk-schaften und Partei. 7. Partisanenaktionen. 8. Arbeitslosigkeit, Wirtschafts-krise und Aussperrungen. 9. Organisatorische Fragen. 10. Der Internatio-nale Kongreß in Stuttgart (1. Mai, Militarismus). 11. Die Arbeit in derArmee. 12. Verschiedenes. Die wichtigste vom Parteitag behandelte Fragewar das Referat Lenins über die Stellung zu den bürgerlichen Parteien. Inallen grundsätzlichen Fragen nahm der Parteitag bolschewistische Resolu-

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538 Anmerkungen

tionen an. Auf dem Parteitag wurde das Zentralkomitee, bestehend aus5 Bolschewiki, 4 Menschewiki, 2 polnischen und 1 lettischen Sozialdemo-kraten, gewählt. Als Kandidaten des ZK wurden 10 Bolschewiki, 7 Men-schewiki, 3 polnische und 2 lettische Sozialdemokraten gewählt.

Der Ausgang des Parteitags war ein Sieg des Bolschewismus über denopportunistischen Flügel der Partei - die Menschewiki, über den V. Partei-tag der SDAPR siehe W. I. Lenins Artikel „Die Stellung zu den bürger-lichen Parteien" (im vorliegenden Band, S. 492-513). 439

150 Diese Erklärung gab Lenin in der Debatte über die Resolution zum Rechen-schaftsbericht der sozialdemokratischen Fraktion der Reichsduma ab. Mitder Abfassung der Resolution war eine Kommission beauftragt worden, dervier Entwürfe zugingen: von den Bolschewiki, den Menschewiki, den Polenund den Bundisten. Die Kommission nahm keine dieser Resolutionen an,sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf folgende Fragen: 1. ob die Re-solution taktische Direktiven für die Fraktion enthalten soll, 2. ob alleFehler der Fraktion aufgezählt werden sollen und 3. die Frage des Ver-trauens zur Fraktion. Es wurde eine Resolution abgefaßt, für die sich inder Kommission keine Mehrheit fand. Deshalb erörterte der Parteitag am10. (23.) Mai die gleichen Fragen. Der Antrag der Bolschewiki, in die Re-solution die Direktiven mit aufzunehmen, wurde abgelehnt, da die Lettendagegen stimmten. Am nächsten Tage beantragte der Vertreter der letti-schen Fraktion, nach der Erörterung der die bürgerlichen Parteien und dieReichsduma betreffenden Fragen die Abstimmung der Resolution über dieDumafraktion zu wiederholen. Lenin unterstützte die Letten. Bei Wieder-holung der Abstimmung wurde der Antrag der Bolschewiki angenommen.457

151 Die Resolution der kaukasischen Menschewiki untersucht Lenin eingehend,in Punkt 12 seiner Arbeit „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in derdemokratischen Revolution". (Siehe Werke, Bd. 9, S. 82-91.) 459

™ Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, S. 10. 469153 In der 27. Sitzung des Parteitags, während der Erörterung der bolsche-

wistischen Resolution über die Stellung zu den bürgerlichen Parteien, stellteTrotzki den Antrag, die Kennzeichnung der sozialen Grundlage der liberal-monarchistischen Parteien und der wichtigsten unter ihnen - der Kadetten-partei - aus der Resolution zu streichen. Nachdem Lenin zu dieser Fragegesprochen hatte, wurde der Antrag abgelehnt. 482

154 Die Abänderungsanträge der Menschewiki Martow und Martynow zu derResolution über die Stellung zu den bürgerlichen Parteien wurden vomParteitag abgelehnt. 483

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Anmerkungen 539

i6Srjer Parteitag beschloß, ins Zentralkomitee 15 Personen zu wählen, davon12 direkt auf dem Parteitag, während 3 nach dem Parteitag von den natio-nalen Organisationen delegiert werden sollten. Die Auszählung der beider Wahl des ZK abgegebenen Stimmen fand in einer engeren Parteitags-Sitzung statt: je vier Delegierte wurden durch einen vertreten. An der Sit-zung nahmen 75 Delegierte teil (22 Bolschewiki, 21 Menschewiki, 14 Bun-disten, 11 Polen und 7 Letten). Bei der Abstimmung über die für dieMitgliedschaft im ZK nominierten Kandidaten erhielten 9 Kandidaten dieMehrheit der Stimmen, während 5 weniger - und zwar die gleiche Stim-menzahl - erhielten. Von diesen 5 mußten 3 ausgewählt werden. Die Bol-schewiki schlugen eine Stichwahl vor, die Menschewiki jedoch beantragtenEntscheidung durch das Los. Der Antrag der Bolsdiewiki wurde angenom-men. 49i

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DATEN AUS DEM LEBEN UND WIRKENW. I.LENINS

(Januar bis Juni 1907)

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Page 551: Lenin - Werke 12

543

1907

Januar-April Lenin hält sich in Kuokkala (Finnland) auf.

18. [31.) Januar Lenin schreibt den Artikel „Die Wahlkampagne der Sozial-demokratie in Petersburg", der in Nr. 2 der Zeitung „Pro-styje Retschi" vom 21. Januar (3. Februar) veröffentlichtwird.

19. Januar(i. bebruar)

19.-20. Januar(1.-2. Jebruar)

20. Januar(2. Jebruar)

25. Januar(7. Tebruar)

Ende Januar

Lenin schreibt den Artikel „Von Stufe zu Stufe", der inNr. 12 des „Proletari" vom 25. Januar (7. Februar) ver-öffentlicht wird.

Lenin schreibt den Artikel „Der Protest der 31 Mensche-wiki", der in Nr. 12 des „Proletari" vom 25. Januar (7. Fe-bruar) erscheint.

Lenin schreibt die Broschüre „Die Wahlen in Petersburg unddie Heuchelei der 31 Menschewiki", die im Verlag „NowajaDuma" in Petersburg erscheint.

Der Artikel Lenins „Wie soll man bei den Wahlen in Pe-tersburg stimmen? (Besteht die Gefahr eines Sieges derSchwarzhunderter bei den Wahlen in Petersburg?)" wird inNr. 1 der Zeitung „Srenije" veröffentlicht.

Der Artikel Lenins „Die Wahlen in Petersburg und dieKrise des Opportunismus" (Leitartikel) wird in Nr. 12 des„Proletari" veröffentlicht.

Gegen Lenin wird wegen der Broschüre „Die Wahlen in Pe-tersburg und die Heuchelei der 31 Menschewiki" ein vom

35*

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544 Daten aus dem Leben und Wirken IV. J. Lenins

Zentralkomitee (in seiner Mehrheit menschewistisch) ver-anlaßtes Parteigerichtsverfahren eingeleitet

30. Januar Lenins Artikel „Die Wahlen in der Petersburger Arbeiter-(i2.7ebmar) kurie" und „Der Kampf der Sozialdemokraten und der So-

zialrevolutionäre bei den Wahlen in der St.-PetersburgerArbeiterkurie" erscheinen in Nr. 3 der „Prostyje Retschi".

4. 0 7 J Jebruar Die Artikel Lenins „Wie soll man bei den Wahlen in Peters-burg stimmen? (Wem nützen die Märchen von einerSchwarzhundertergefahr?)", „Die vorläufigen Ergebnisse derWahlen in Moskau" und „Eine politische Lidwaliade" wer-den in Nr. 2 des „Srenije" veröffentlicht.

Lenin schreibt den Artikel „Die Bedeutung der Wahlen inPetersburg", der in Nr. 13 des „Proletari" vom 11. (24.) Fe-bruar veröffentlicht wird.

5. (i8j Tebruar Lenin schreibt das Vorwort zur russischen Übersetzung von:Karl Marx, „Briefe an L. Kugelmann", die 1907 unter derRedaktion Lenins in Petersburg erscheint.

7. (20.) februar Lenin schreibt den Leitartikel „Die zweite Duma und diezweite Welle der Revolution" für Nr. 13 des „Proletari".

9. C22J Jebruar Lenin schreibt den Artikel „Die Ergebnisse der Wahlen inPetersburg", der in Nr. 13 des „Proletari" veröffentlichtwird.

Anfang Tebruar Lenin schreibt die Verteidigungsrede (bzw. Anklageredegegen das menschewistische ZK) für das Parteigericht.

it. (24.) Lenins Artikel „Die Ergebnisse der Wahlen in der Peters-Tebruar burger Arbeiterkurie", „Einige Angaben über die Wahlen in

der Arbeiterkurie Südrußlands" und „Zu dem Bericht desMoskauer Bezirks der Stadt Petersburg über die Wahlenzur II. Duma" werden in Nr. 13 des „Proletari" veröffent-licht.

Zwischen dem Lenin hält auf der dritten Tagung der Konferenz der Pe-8. und 15.(21. tersburger sozialdemokratischen (Stadt- und Landbezirks-)und 28 J Organisation ein Referat zur Frage der Dumawahlkampagnefebruar und der Dumataktik der Sozialdemokraten.

Page 553: Lenin - Werke 12

"Daten aus dem Leben und Wirken TV. 1. Lenins 545

15.-18.7ebruar Lenin schreibt die Resolutionsentwürfe zum V. Parteitag(28.7ebruarbis der SDAPR.3. März)

Lenin leitet eine Beratung von Vertretern des Petersburgerund des Moskauer Komitees, des Moskauer Landbezirks-komitees, des Gebietsbüros des Zentralen Industriegebietsund der Redaktion des „Proletari", in der die Resolutions-entwürfe Lenins erörtert und angenommen werden.

17.7ebruar Lenin gibt einem Mitarbeiter der „Humanite"" ein Interview(2. März) über die Taktik der SDAPR während der Wahlkampagne.

20.7ebru.ar Lenin schreibt den Artikel „Die Eröffnung der zweitenCs. März) Reichsdnma", der als Leitartikel in Nr. 1 des „Nowy Lutsch"

veröffentlicht wird.

Lenin schreibt den Leitartikel „Die zweite Duma und dieAufgaben des Proletariats" (Aufruf an die Arbeiter), der inNr. 2 des „Rabotschi" vom 23. Februar (8. März) veröffent-licht wird.

2i.7ebruar Lenin schreibt den Artikel „Der erste wichtige Schritt", der(6. März) in Nr. 2 des „Nowy Lutsch" erscheint.

22. Jebruar Lenin schreibt für Nr. 4 des „Nowy Lutsch" den Artikel(7. März) „Kleinbürgerliche Taktik", der am 23. Februar (8. März)

veröffentlicht wird.

23. Jebruar Lenin schreibt die Artikel „Die Organisatoren der Spaltung(8. März) über die künftige Spaltung" und „über die Taktik des Op-

portunismus", die in Nr. 5 des „Nowy Lutsch" vom 24. Fe-bruar (9. März) veröffentlicht werden.

25. Tebruar Lenins Artikel „Die Bolschewiki und das Kleinbürgertum"(lO. März) wird als Leitartikel in Nr. 6 des „Nowy Lutsch" veröffent-

licht.

27. Jebruar Lenin schreibt für Nr. 14 des „Proletari" den Leitartikel(12. März) „Die nahe bevorstehende Auseinanderjagung der Duma und

Fragen der Taktik"; der Artikel wird am 4. (17.) März ver-öffentlicht.

Page 554: Lenin - Werke 12

546 Daten aus dem Lehen und Wirken IV. 3. Cenins

Zwischen dem Lenin schreibt für Nr. 1 der „Rabotschaja Molwa" den Ar-27.7'ebruar und tikel „Die Kadetten und die Trudowiki".i.!März(i2.undi 4. März)

28.7ebruar Der von Lenin verfaßte Entwurf eines Aufrufs „Zu der De-(.13. März) klaration Storypins" wird in einer Sitzung der sozialdemo-

kratischen Dumafraktion erörtert.

Ende februar Lenin schreibt den Artikel „Die Dumawahlen und die Tak-tik der russischen Sozialdemokratie", der in Nr. 26 der Zeit-schrift der deutschen Sozialdemokratie „Die Neue Zeit"vom 27. März veröffentlicht wird.

Lenin schreibt den ersten Teil des Artikels „Die Plattformder revolutionären Sozialdemokratie", der in Nr. 14 des„Proletari" vom 4. (17.) März veröffentlicht wird.

12. (25.) März Lenin schreibt den zweiten Teil des Artikels „Die Plattformder revolutionären Sozialdemokratie", der in Nr. 15 des„Proletari" vom 25. März (7. April) veröffentlicht wird.

19. März Lenin schreibt den Artikel „Wie man Resolutionen nicht(l. April) schreiben soll", der in dem bolschewistischen Sammelband

„Fragen der Taktik" veröffentlicht wird.

21. März Lenin schreibt den Artikel „Die Grundlagen des Paktes",(3. April) der als Leitartikel in Nr. 15 des „Proletari" vom 25. März

(7. April) veröffentlicht wird.

Zwisdhen dem Lenin schreibt den Entwurf einer Rede zur Agrarfrage, die21. und 25. März ein Deputierter der sozialdemokratischen Fraktion in der(3. und 7. April) Duma halten soll.

25. März Lenin leitet die erste Tagung der Petersburger Stadtkonfe-(7. April) renz der SDAPR in Terijoki (Finnland) und nimmt in der

Diskussion zu der geplanten Reorganisation des Petersbur-ger Komitees sowie zu Fragen der organisatorischen Arbeitdes Petersburger Komitees Stellung. Lenin wird als Dele-gierter der Konferenz für die Verbindung mit der sozial-demokratischen Fraktion der II. Duma gewählt.

Lenins Artikel „Honig im Munde, Galle im Herzen" wirdin Nr. 1 der Zeitung „Nasche Echo" veröffentlicht.

Page 555: Lenin - Werke 12

"Daten aus dem Leben und Wirken W. 7. Eenins 547

27. JAärz In Nr. 2 von „Nasche Echo" wird Lenins Artikel „DieDuma(9. April) und die Bestätigung des Haushalts" als Leitartikel ver-

öffentlicht.

28. !März Lenin schreibt den Artikel „Der Kuckuck lobt denf 10. April) Hahn .. .", der als Leitartikel in Nr. 4 von „Nasche Echo"

vom 29. März (11. April) veröffentlicht wird.

30. TAärz Lenins Artikel „Intelligenzlerische Kämpen gegen die Herr-(12. April) Schaft der Intelligenz" wird in Nr. 5 von „Nasche Echo"

veröffentlicht.

Ende März Lenin hält in der ersten Sitzung des Parteigerichts die Ver-teidigungsrede (bzw. Anklagerede gegen das menschewisti-sche ZK), in der er die Spaltertätigkeit der Menschewiki inder Petersburger Organisation der SDAPR entlarvt.

März Lenin hält in einer Instruktionsberatung von Bolschewiki, diezwecks Durchführung der Delegiertenwahlen zum V. Partei-tag der SDAPR ins Land hinausfahren, das Referat überdie gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Partei.

1. (14.) April Lenins Artikel „Die Agrarfrage und die Kräfte der Revolu-tion" wird in Nr. 7 von „Nasche Echo" veröffentlicht.

2. (15.) April Lenin schreibt den Artikel „Eine anämische Duma oder einanämisches Kleinbürgertum", der als Leitartikel in Nr. 8von „Nasche Echo" vom 3. (16.) April veröffentlicht wird.

3. (16.) April Lenin schreibt für Nr. 9 von „Nasche Echo"-den Leitartikel„Triumphierendes Banausentum oder kadettisierende So-zialrevolutionäre", veröffentlicht am 4. (17.) April.

4. (17.) April Lenin schreibt den Artikel „Die sozialdemokratische Frak-tion und der 3. April in der Duma", der in Nr. 10 von„Nasche Echo" vom 5. (18.) April veröffentlicht wird.

5.-6. (18.-19.) Lenin schreibt den Artikel „Stärke und Schwäche der russi-April sehen Revolution", der in Nr. 10 und 12 von „Nasche Echo"

veröffentlicht wird.

6. (19.) April Lenin schreibt das Vorwort zur russischen Übersetzung desBuches „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil.Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. anF. A. Sorge und Andere".

Page 556: Lenin - Werke 12

548 Baten aus dem Leben und Wirken W. 1 Lenins

8.(21.) April

10. f23j April

15. (28.) April

April

Ende April

30. April bis19. Mai (13.Mai-i. Juni)

30. April(13. Mai)

Lenin spricht auf der zweiten Tagung der Konferenz derPetersburger sozialdemokratischen Organisation in der Dis-kussion zum Bericht über die Tätigkeit der sozialdemokra-tischen Fraktion in der II. Reichsduma.

Lenin schreibt den Leitartikel „Die Duma und die russi-schen Liberalen", der in Nr. 14 von „Nasche Echo" ver-öffentlicht wird.

Lenins Artikel „Larin und Chrustaljow" wird in Nr. 1 derZeitung „Trud" veröffentlicht.

Lenins Artikel „Die taktische Plattform der Menschewiki",„Konfusion aus Verärgerung (Zur Frage eines Arbeiterkon-gresses)" und „Franz Mehring über die zweite Duma" wer-den in den Sammelbänden „Fragen der Taktik" veröffent-licht.

Es erscheint Lenins Broschüre „Bericht an den V. Parteitagder SDAPR über die Petersburger Spaltung und die damitzusammenhängende Einsetzung eines Parteigerichts".Lenin wird als Delegierter zum V. Parteitag der SDAPRgewählt und erhält sein Mandat von der Organisation derSDAPR in Werchne-Kamskaja (Ural).Lenin nimmt an einer Beratung der Bolschewiki und derMenschewiki in Terijoki teil, in der Fragen des bevorstehen-den V. Parteitags der SDAPR erörtert werden; er sprichtgegen den Antrag Axelrods auf Einberufung eines „Arbei-terkongresses".

Lenin reist nach Kopenhagen, wo die Eröffnung des V. Par-teitags der SDAPR stattfinden sollte. Er spricht in der Sit-zung der bolschewistischen Delegierten zur Frage derKampfgruppen.

Lenin reist nach London weiter, wohin die Tagungen desV. Parteitags der SDAPR verlegt werden.

V. (Londoner) Parteitag der SDAPR. Lenin nimmt an denArbeiten des Parteitags führend teil.

Eröffnung des V. Parteitags der SDAPR in London. Leninwird in das Präsidium des Parteitags gewählt.

Page 557: Lenin - Werke 12

Daten aus dem Leben und Wirken W. 3. Lenins 549

l.(l4.)Mai Lenin spricht in der zweiten Sitzung des Parteitags in derDebatte über den Entwurf der Geschäftsordnung des Partei-tags.

Lenin wendet sich in der dritten Sitzung des Parteitags ge-gen die Beendigung der Tagesordnungsdebatte.

2. (15.) Mai Lenin hält in der vierten Sitzung eine Rede, in der er sichdafür ausspricht, die allgemeinen prinzipiellen Fragen, diedie Grundlagen der Taktik der Partei in der bürgerlichenRevolution betreffen, in die Tagesordnung des Parteitagsaufzunehmen.

Lenin spricht in der fünften Sitzung des Parteitags über dieForm der namentlichen Abstimmung.

In Nr. 16 des „Proletari" werden folgende Artikel Leninsveröffentlicht: „Reorganisation und Liquidierung der Spal-tung in Petersburg", „Zur Frage der gesamtnationalen Re-volution" und „Zu den Protokollen der Novemberkonferenzder Militär- und Kampf Organisationen der SDAPR".

3. (.16.) Mai Lenin leitet die sechste und siebente Sitzung des Parteitags.

4. (.17.) Mai Lenin spricht in der achten Sitzung des Parteitags in derDebatte zum Tätigkeitsbericht des Zentralkomitees und kri-tisiert die opportunistische Taktik der Menschewiki.

5. (18.) Mai Lenin spricht in der elften Sitzung des Parteitags zur Tages-

ordnung.

8. (21.) Mai Lenin leitet die vierzehnte Sitzung des Parteitags.

Lenin leitet die fünfzehnte Sitzung des Parteitags.Lenin spricht in der Debatte zum Rechenschaftsbericht derDumafraktion und kritisiert ihre politischen Fehler.

9. (22.) Mai Lenin wird in der sechzehnten Sitzung des Parteitags in dieKommission gewählt, die einen Resolutionsentwurf zumRechenschaftsbericht der Dumafraktion ausarbeiten soll.

10. (23.) Mai In der achtzehnten Sitzung des Parteitags wird Lenins Er-klärung verlesen, in der er gegen die Entstellung seines In-

Page 558: Lenin - Werke 12

550 Daten aus dem Ceben und Wirken W. 1. Cenins

terviews mit dem Korrespondenten der „Humanite" durchMartow protestiert.

1 1. (24.) Mai Lenin spricht in der zwanzigsten Sitzung des Parteitags überdie Verfahrensweise bei der Annahme der Resolution zumRechenschaftsbericht der Dumafraktion.

12.(25.) Mai Lenin hält in der zweiundzwanzigsten Sitzung des Partei-tags das Referat über die Stellung zu den bürgerlichen Par-teien.

14. (27j Mai In der vierundzwanzigsten Sitzung des Parteitags hält Lenindas Schlußwort zum Referat über die Stellung zu den bür-gerlichen Parteien.

Lenin berichtet über die Arbeit der Kommission zur Aus-arbeitung der Resolution über die Stellung zu den bürger-lichen Parteien.

15.(28.) Mai Lenin spricht in der sechsundzwanzigsten Sitzung des Par-teitags in der Debatte zu dem von den polnischen Delegier-ten des Parteitags eingebrachten Entwurf einer Resolutionüber die Stellung zu den bürgerlichen Parteien.

Lenin wendet sich gegen die Abänderungsanträge Libers undTrotzkis zur Resolution der Bolschewiki über die Stellungzu den bürgerlichen Parteien.

Lenin leitet die siebenundzwanzigste Sitzung des Parteitags.

Lenin wendet sich gegen die Abänderungsanträge von Bro-chis und Trotzki zur Resolution über die Stellung zu denbürgerlichen Parteien.

16. (.29.) Mai In der achtundzwanzigsten Sitzung des Parteitags tritt Leningegen die Abänderungsanträge Martows zur Resolutionüber die Stellung zu den bürgerlichen Parteien auf.

Lenin wendet sich in der neunundzwanzigsten Sitzung desParteitags gegen die Abänderungsanträge Trotzkis, Mar-tows und Martynows zur Resolution über die Stellung zuden bürgerlichen Parteien.

Der Parteitag nimmt die von Lenin verfaßte Resolution überdie Stellung zu den bürgerlichen Parteien an.

Page 559: Lenin - Werke 12

Daten aus dem Leben und Wirken W. 1. Lenins 551

i8.(31.) Mai In der dreiunddreißigsten Sitzung des Parteitags gibt Leninden Bericht der Kommission zur Ausarbeitung der Resolu-tion über die Reichsduma.

i9.!Mai Lenin leitet die vierunddreißigste Sitzung des Parteitags.

(4. Junt) Lenin leitet die fünfunddreißigste Sitzung des Parteitags.

Lenin beantragt, die Frage eines Vertreters der Partei imInternationalen Sozialistischen Büro dem Zentralkomitee zurEntscheidung zu unterbreiten. Der Antrag wird vom Partei-tag angenommen.

Lenin spricht gegen den Antrag der Menschewiki, den Par-teitag „Londoner ersten Parteitag der vereinigten Partei" zunennen, und setzt sich für den Antrag ein, ihn als fünftenParteitag zu bezeichnen.

Lenin stellt einen Antrag betreffend die Verfahrensweisebei der Aufstellung von Kandidaten für das ZK durch dieFraktionen.

Lenin beantragt eine Wiederholung der Wahl derjenigenKandidaten für das ZK, die bei der ersten Wahl die gleicheStimmenzahl erhalten haben.

Lenin setzt sich in der Debatte dafür ein, die engere Partei-tagssitzung für zuständig zu erklären, hinsichtlich der Kan-didaten für das ZK, die die gleiche Stimmenzahl erhaltenhaben, eine Stichwahl vorzunehmen. Der Antrag Lenins wirdangenommen.

Lenin wird in das Zentralkomitee der SDAPR gewählt.

Zweite Hälfte Gegen Ende des V. Parteitags der SDAPR wird in einerMai Sitzung der Bolschewiki das bolschewistische Zentrum mit

Lenin an der Spitze gewählt.

21.-25. Mai Lenin nimmt am II. Parteitag der Sozialdemokratie des Let-(3.-7. Juni) tischen Gebiets in London teil.

Lenin hält ein kurzes Referat über die Aufgaben des Pro-letariats im gegenwärtigen Zeitpunkt der bürgerlichen Revo-lution,- er bringt einen Resolutionsentwurf zu dieser Frage

Page 560: Lenin - Werke 12

552 Baten aus dem Leben und Wirken IV. J. Lenins

Anfang 'Juni Lenin kehrt vom Parteitag nach Kuokkala zurück.

Lenin hält in Terijoki vor Arbeitern, die aus Petersburggekommen sind, eine Rede über den V.Parteitag der SD APR.

In Anbetracht der verschärften polizeilichen Verfolgungensiedelt Lenin von Kuokkala nach Styrs Udde (Finnland)über.

Lenin schreibt den Artikel „Die Stellung zu den bürgerlichenParteien".

Page 561: Lenin - Werke 12

553

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort VII-VIII

1907

Die Wahlkampagne der Sozialdemokratie in Petersburg 1-9Von Stufe zu Stufe . . . . 10-14Der Protest der 31 Menschewiki 15-18Die Wahlen in Petersburg und die Heuchelei der 31 Menschewild 19-30Wie soll man bei den Wahlen in Petersburg stimmen? (Besteht

die Gefahr eines Sieges der Schwarzhunderter bei den Wahlenin Petersburg?) 33-43

Die Wahlen in Petersburg und die Krise des Opportunismus . . . . 44-48Die Wahlen in der Petersburger Arbeiterkurie . . : 49-57Der Kampf der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre bei

den Wahlen in der St.-Petersburger Arbeiterkurie 58-63Wie soll man bei den Wahlen in Petersburg stimmen? (Wem nüt-

zen die Märchen von einer Schwarzhundertergefahr?) . . . . 64-70Die vorläufigen Ergebnisse der Wahlen in Moskau 71-73Eine politische Lidwaliade . . . ; 74-76Die Ergebnisse der Wahlen in der Petersburger Arbeiterkurie . . 77-83Zu dem Bericht des Moskauer Bezirks der Stadt Petersburg über

die Wählen zur II. Duma 84-85Einige Angaben über die Wahlen in der Arbeiterkurie Südrußlands 86-88Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg 89-94Vorwort zur russischen Obersetzung der Briefe von K. Marx an

L. Kugelmann 95-104Die zweite Duma und die zweite Welle der Revolution 105-110Die Ergebnisse der Wahlen in Petersburg 111-119

Page 562: Lenin - Werke 12

554 Jnhaltsverzeidanis

Referat auf der Konferenz der Petersburger Organisation zurFrage der Dumawahlkampagne und der Dumataktik. KurzerZeitungsbericht 120-124Schlußwort . . . . .' 124

Resolutionsentwürfe zum fünften Parteitag der SDAPR 125-1361. über den gegenwärtigen Abschnitt der demokratischen Revo-

lution 1272. über die Stellung zu den bürgerlichen Parteien 1283. Über die Klassenaufgaben des Proletariats im gegenwärtigen

Abschnitt der demokratischen Revolution 1314. über die Taktik der Sozialdemokratie in der Reichsduma . . 1325. über die Verschärfung der wirtschaftlichen Not und des wirt-

schaftlichen Kampfes der Massen 1346. Ober die parteilosen Arbeiterorganisationen im Zusammen-

hang mit der anarcho-syndikalistischen Strömung im Proletariat 135Die Taktik der SDAPR während der Wahlkampagne. Interview

mit einem Mitarbeiter der „Humanite1" am 17. Februar(2. März) 1907 137-143

Die Eröffnung der zweiten Reichsduma 144-147Die zweite Duma und die Aufgaben des Proletariats 148-152Der erste wichtige Schritt . . 153-156Kleinbürgerliche Taktik.. . . ". 157-161Die Organisatoren der Spaltung über die künftige Spaltung . . 162-164über die Taktik des Opportunismus • 165-170Die Bolschewiki und das Kleinbürgertum 171-175Die nahe bevorstehende Auseinanderjagung der Duma und Fragen

der Taktik 176-180Die Kadetten und die Trudowiki 181-184Zu der Deklaration Stolypins. Entwurf eines Aufrufs 185-187Die Dumawahlen und die Taktik der russischen Sozialdemokratie 188-19SDie Plattform der revolutionären Sozialdemokratie 199-210

I 199II 204

Wie man Resolutionen nicht schreiben soll 211-235Statt eines Nachworts 234

Bemerkung zur Resolution der estnischen Sozialdemokraten . . . . 236Die Grundlagen des Paktes 237-241

Page 563: Lenin - Werke 12

Inhaltsverzeichnis 555

Die taktische Plattform der Menschewiki 242-258Entwurf einer Rede zur Agrarfrage in der zweiten Reichsduma . . 261-294Honig im Munde, Galle im Herzen 295-300Die Duma und die Bestätigung des Haushalts 303-306Der Kuckuck lobt den Hahn 307-310Intelligenzlerische Kämpen gegen die Herrschaft der Intelligenz . . 311-314Konfusion aus Verärgerung (Zur Frage eines Arbeiterkongresses) 315-328Die Agrarfrage und die Kräfte der Revolution 329-333Eine anämische Duma oder ein anämisches Kleinbürgertum .. . . 334-337Triumphierendes Banausentum oder kadettisierende Sozialrevo-

lutionäre 338-341Die sozialdemokratische Fraktion und der 3. April in der Duma .. 342-345Stärke und Schwäche der russischen Revolution . . . . 346-355

I 346II 351

Vorwort zur russischen Übersetzung des Buches „Briefe und Aus-züge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, FriedrichEngels, Karl Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere" 357-376

Eine klassische Beurteilung des Intelligenzler-Opportunismusin der Sozialdemokratie 369

Die Duma und die russischen Liberalen 377-381Franz Mehring über die zweite Duma 382-389

Deutscher Liberalismus und russische Duma 383Larin und Chrustaljow 390-395Reorganisation und Liquidierung der Spaltung in Petersburg . . 396-404Zur Frage der gesamtnationalen Revolution 405-409Zu den Protokollen der Novemberkonferenz der Militär- und

Kampforganisationen der Sozialdemokratischen ArbeiterparteiRußlands 410-420

Bericht an den V. Parteitag der SDAPR über die PetersburgerSpaltung und die damit zusammenhängende Einsetzung einesParteigerichts 421-438I. Lenins Verteidigungsrede (bzw. Anklagerede gegen den men-

schewistischen Teil des ZK) vor dem Parteigericht 423II. Kurzer Abriß der tatsächlichen Geschichte der Petersburger

Spaltung . 435V. Parteitag der SDAPR. 30, April-19. Mai (13. Mai-1. Juni) 1907 439-491

Page 564: Lenin - Werke 12

556 Jnhaltsverzeidmis

1. Rede in der Diskussion über die Tagesordnung des Parteitags,2. (15.) Mai 441

2. Rede zum Tätigkeitsbericht des ZK, 4. (17.) Mai 4443. Rede zum Tätigkeitsbericht der Dumafraktion, 8. (21.) Ma i . . 4504. Eine faktische Richtigstellung am 10. (23.) Mai 4555. Eine Erklärung am 11. (24.) Mai 4576. Referat über die Stellung zu den bürgerlichen Parteien, 12.

(25.) Mai 4587. Schlußwort zum Referat über die Stellung zu den bürgerlichen

Parteien, 14. (27.) Mai . . 4728. Rede über die Stellung zum polnischen Entwurf der Resolution

über die bürgerlichen Parteien, 15. (28.) Mai 4789. Einwände gegen die Abänderungsanträge Trotzkis zu der vom

Parteitag angenommenen Resolution der Bolschewiki über dieStellung zu den bürgerlichen Parteien, 15.-16. (28.-29.) Mai 482

10. Einwände gegen die Abänderungsanträge Martows zur Reso-lution der Bolschewiki über die Stellung zu den bürgerlichenParteien, 16. (29.) Mai 483

11. Einwände gegen die Abänderungsanträge Martynows zurResolution über die Stellung zu den bürgerlichen Parteien,16. (29.) Mai . . . . . . 485

12. Bericht der Kommission zur Ausarbeitung der Resolution überdie Reichsduma, 18. (31.) Mai 487

13. Bemerkungen in der Diskussion zur Frage der Stichwahl beiden ZK-Wahlen, 19. Mai (1. Juni) 491

Die Stellung zu den bürgerlichen Parteien 492-513I .. . . . . . . . . . 493

II 504III 510

Anmerkungen . . : . . '.. . . 515-539Baten aus dem Leben und Wirken IV. 1 Lenins 541-552

ILLUSTRATIONENErste Seite des „Srenije" Nr. 1 - 1907 31Erste Seite des „Rabotschi" Nr. 2 - 1907 149Erste Seite von W. I. Lenins Manuskript „Entwurf einer Rede zur

Agrarfrage in der zweiten Reichsduma" - 1907 . . . . . . . . 259Erste Seite der Zeitung „Nasche Echo" Nr. 2 - 1907 301