Lern- und Arbeitstechniken für das Studium || Erfolgreich studieren – die neuen Lernchancen...

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1 Erfolgreich studieren – die neuen Lernchancen nutzen Worum geht es im 1. Kapitel? Die meisten von Ihnen kommen direkt von der Schule auf die Hoch- schule. Dort verlangen Dozenten von Ihnen, dass Sie wissenschaftlich denken und arbeiten können bzw. solches sehr schnell lernen. Auf der anderen Seite erwarten Sie, dass sich Lehrveranstaltungen der Hoch- schule vom Schulunterricht unterscheiden. Erwartungen hegen Sie auch in Bezug auf dieses Buch: Es soll Ihnen klar und präzise sagen, wie zielorientiert studiert und effektiv wissenschaftlich gearbeitet wird. Doch es genügt nicht, ein Buch über Studientechniken zu lesen, um ein Studium erfolgreich abzuschließen. Aus welchen individuellen Gründen auch immer: Rund 21 % der Erstimmatrikulierten in der Bundesrepu- blik Deutschland brechen ihr Studium vor dem ersten Abschluss ab, – das sind rund 55.000 Menschen. Viele von ihnen klagen über die abstrakten, „weltfremden“ Studieninhalte und daraus resultierende Motivationsprobleme. Studierfähigkeit entwickelt sich nicht von allein. Viel hängt z. B. von Ihrer Initiativkraft und Lernbereitschaft ab, denn für den Studienerfolg sind Motivation, Fleiß und Ausdauer wichtiger als eine überdurchschnittliche Begabung und Intelligenz. Darüber hinaus müssen bestimmte, wissenschaftsrelevante Kompetenzen erworben und angewendet werden. Letztlich kommt es darauf an, dass Sie sich in der Wissenschaftskultur einleben und sich an „Ihrer“ Hochschule wohlfühlen. 1 F. Rost, Lern- und Arbeitstechniken für das Studium, DOI 10.1007/978-3-531-94088-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaſten | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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1Erfolgreich studieren –die neuen Lernchancen nutzen

▸ Worum geht es im 1. Kapitel?Die meisten von Ihnen kommen direkt von der Schule auf die Hoch-schule. Dort verlangen Dozenten von Ihnen, dass Sie wissenschaftlichdenken und arbeiten können bzw. solches sehr schnell lernen. Auf deranderen Seite erwarten Sie, dass sich Lehrveranstaltungen der Hoch-schule vom Schulunterricht unterscheiden. Erwartungen hegen Sieauch in Bezug auf dieses Buch: Es soll Ihnen klar und präzise sagen,wie zielorientiert studiert und effektiv wissenschaftlich gearbeitet wird.Doch es genügt nicht, ein Buch über Studientechniken zu lesen, um einStudiumerfolgreich abzuschließen. Auswelchen individuellenGründenauch immer: Rund 21 % der Erstimmatrikulierten in der Bundesrepu-blik Deutschland brechen ihr Studium vor dem ersten Abschluss ab,– das sind rund 55.000 Menschen. Viele von ihnen klagen über dieabstrakten, „weltfremden“ Studieninhalte und daraus resultierendeMotivationsprobleme. Studierfähigkeit entwickelt sich nicht von allein.Viel hängt z. B. von Ihrer Initiativkraft und Lernbereitschaft ab, denn fürden Studienerfolg sind Motivation, Fleiß und Ausdauer wichtiger alseine überdurchschnittliche Begabung und Intelligenz. Darüber hinausmüssen bestimmte, wissenschaftsrelevante Kompetenzen erworbenund angewendet werden. Letztlich kommt es darauf an, dass Sie sichin der Wissenschaftskultur einleben und sich an „Ihrer“ Hochschulewohlfühlen.

1F. Rost, Lern- und Arbeitstechniken für das Studium,DOI 10.1007/978-3-531-94088-5_1,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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1.1 Neue Eindrücke – wechselseitige Erwartungen

War die Situation während der Schulzeit geregelt – die meisten wohnten bei ihrenEltern; man gingmehr oderweniger gern zur Schule, das Kurssystemder gymnasia-lenOberstufe bot keine riesigeAuswahl anVeranstaltungen–, so ist dies nun anders.Bis zum Jahr 2010 wollte man, gemeinsam mit den europäischen Nachbarn, imBologna-Reformprozess ein einheitliches Hochschulsystem schaffen, das insbeson-dere die europaweite Anerkennung von Studien erleichtern sollte und damit auchdenWechsel an andere (ausländische)Hochschulen. Nach derUmstellung fast allerStudiengänge auf die Bachelor-/Master-Struktur ergeben sich an den Hochschulenanders gelagerte Probleme: So erhöht die Vielzahl an gestuften Studiengängen mitihren spezifischen Profilen die Qual derWahl, wobei die stark begrenzte Zahl an zuvergebenden Studienplätzen dazu führt, dass viele nicht in dem von ihnen favori-sierten Studiengang immatrikuliertwerdenkönnen.Dieses hatwiederumzur Folge,dass sie entweder einen ihnen nicht so genehmen Studiengang wählen und/oder ineine andere Stadt (auch imAusland) umsiedelnmüssen.Ähnlichwie imKurssysteman der gymnasialen Oberstufe sind in den Bachelor- undMaster-Studiengängen dieWahl der Veranstaltungen und damit auch die der Lehrenden sehr eingeschränkt,da die Zahl der Teilnehmenden an Seminaren (offiziell zumindest) auf 30 Personenbegrenzt ist. Darüber hinaus gibt es oft Anwesenheitspflicht und -kontrollen sowie– vermehrt – Hausaufgaben.

Ein Studiengang besteht aus einer Vielzahl von Modulen, die aufeinander auf-bauen sollen. So wird in einem Modul oft eine Vorlesung angeboten, die eine Ein-führung in ein Themengebiet gibt und deren Inhalte dann durch ein oder mehrereSeminare weiter vertieft werden. Jedes Modul wird mit einer (studienbegleitenden)Prüfung abgeschlossen, deren Bestehenoft Voraussetzung ist für die Anmeldung zueinem anderen Modul.

Die neuen Studiengänge sind alsowesentlich stärker reglementiert. Ihr verschul-ter Charakter kommt offenbar der Mehrheit der Neuimmatrikulierten entgegen: Esist viel deutlicher, worin die Ziele einzelnerModule bestehen,welcher Zeitaufwand,die sogenannte „workload“, für die Bewältigung des Arbeitspensums durchschnitt-lich einzuplanen ist und wann und in welcher Form die jeweilige Modulprüfung(z. B.Klausur oderHausarbeit) zu absolvieren ist. Der voraussichtliche Zeitaufwandergibt sich aus der Angabe der zu erwerbenden Leistungspunkte in der Modulbe-schreibung: Pro Leistungspunkt (credit point) sind durchschnittlich 30 Arbeitsstun-den in den Kursen, der Bibliothek und zuhause vorgesehen, wobei eine Seminar-sitzung mit 90min berechnet wird und nicht etwa mit 2 h. Diese Leistungspunktebekommt man aber erst gutgeschrieben, wenn man die Modulprüfung bestandenhat; d. h., dass sich der Arbeitsaufwand erhöhen kann, wenn die Prüfung wieder-

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1.1 Neue Eindrücke – wechselseitige Erwartungen 3

holt werden muss. Oft sind die Prüfungsleistungen in der vorlesungsfreien Zeit zuerbringen, sodass von Semesterferien keinesfalls die Rede sein kann. Das erschwert– angesichts der Leistungspflichten und -kontrollen – das Jobben ebenso wie einlängeres Faulenzen. Ein Studierenmit Kind erfordert dadurch ebenfalls größte Dis-ziplin und die Unterstützung eines Netzwerkes.

Mittlerweile gibt es jedoch empirische Studien zum Zeitaufwand in den einzel-nen Studiengängen, der offenbarweniger groß ist als er subjektiv von den Studieren-den empfunden wird: Kam das renommierte HIS Hochschul-Informations-Systemnoch auf 39 h Arbeit für das Studium, so sind es nach Schulmeister und Metzger(2011, S. 52) durchschnittlich zwischen 20 und 27 Zeitstunden pro Woche, je nachStudiengang (vgl. auch Wiarda 2011). Natürlich gibt es dabei auch eine erheblicheSpannbreite und darüber hinaus sehr viele Studierende, die für ihren Lebensunter-halt hinzuverdienen müssen.

Wenngleich mit der Bologna-Reform viele um die vormaligen Freuden der aka-demischen Freiheit gebracht werden, so hat sich in den sozialwissenschaftlichenFächern die Abbrecherquote bis zum BA-Abschluss von 30% auf 19% verringert(Heublein et al. 2008, S. 8, Tab. 4) und die Zeit bis zum ersten Abschluss auf 8 Se-mester reduziert. Neben diesen aus Gründen des internationalen Wettbewerbs undder Vergleichbarkeit von Bildungsabschlüssen angestrebten Zielen gibt es auch imKleinen Vorteile, die sich positiv auf die Lerngruppen auswirken: Wenn sich in Se-minaren wirklich nicht mehr als 30 Studierende tummeln würden, dann wäre diesgegenüber den früheren Zuständen in den geistes- und sozialwissenschaftlichenStudiengängen eine deutlich angenehmere Kursgröße. Je nach der Verfügbarkeitvon Lehrkräften beginnen die ersten Semester in einem BA- oder MA-Studiengangmit ca. 33 oder 66 oder 99 Studierenden, die – so sie denn nicht abbrechen – dievorgeschriebenen Module besuchen, abschließen und sich gemeinsam dem Studi-enabschluss nähern.Durchdas Jahrgangsprinzip lerntman recht schnell dieMitstu-dierenden kennen und durch Gruppenarbeiten auch ihre Stärken und Schwächen.Wenn es die Lehrenden verstehen, eine sozial verträgliche Lernkultur z. B. durchkooperative Lernformen zu initiieren, dann wirkt sich das Jahrgangsprinzip auchpositiv auf die Lernatmosphäre aus, weil die Studierenden längere Zeit mit- undvoneinander lernen.

Dadurch, dassHochschule zu Beginn demLernen an der gymnasialenOberstufeähnelt, „fremdeln“ viele auch nicht mehr so mit ihrer neuen Ausbildungsstätte; sieleben sichmeist schneller ein.Wenngleich die Zahl der Studienabbrecher zurückge-gangen ist: Die meisten Abbrecher klagen wie in den alten Studiengängen über diepraxisfernen, abstrakten Inhalte, über didaktische Unzulänglichkeiten, aber aucheigene Motivationsprobleme. Sie fühlten sich oft den Studien- und Prüfungsanfor-derungen nicht gewachsen. Verblüffenderweise ist auch herausgefunden worden,

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dass Studierende, die nicht in ihrem Heimatort bleiben, in der Phase des Studien-beginns besser zurechtkommen als jene, die zuhause wohnen und auf ihre altenBeziehungen (Eltern, Freundeskreis) zurückgreifen können. Die „Fremden“ müs-sen wohl die neue Situation aktiver angehen, sich selbst um alles kümmern, selbstfür neue Kontakte sorgen usw. Ob Sie noch zuhause wohnen (müssen) oder in eineranderen Stadt: Bewusst sollte Ihnen sein, dass es an der Zeit ist, sich aus dermanch-mal so bequemenAbhängigkeit von anderenMenschen zu befreien und die eigenenAngelegenheiten, insbesondere die des Studiums, selbstverantwortlich zu regeln.

Sie wollen Lern- und Arbeitstechniken für das Studium und die wissenschaft-liche Arbeit kennenlernen, sonst hätten Sie sich dieses Buch nicht gekauft oder esnicht ausgeliehen. Es möchte Sie jedoch nicht nur über Studien- undArbeitstechni-ken informieren, sondern Sie dazu animieren, diese auch anzuwenden. So hege ichz. B. die stille Hoffnung, dass Sie manches noch genauer wissen wollen, als es hieraus Platzgründen dargestellt werden kann, und Sie in solchen Fällen die weiterfüh-rende Literatur zurate ziehen, wenn Sie bestimmte Aspekte vertiefen oder auch nurnachprüfen wollen. Solche Initiative erhoffen sich Dozentinnen und Dozenten Ih-rer Hochschule für die Themen und Inhalte ihrer Lehrveranstaltungen. Darüberhinaus erwarten sie, dass Sie selbstständig denken und lernen, wissenschaftlich zuarbeiten.

Lernen kann prägnant umrissen werden als Vorgang der Aneignung bzw.der Änderung von Verhaltensweisen und kognitiven Strukturen. Das Ergebnisdieses dynamischen Geschehens ausWahrnehmen, Erkennen, Bewerten, Entschei-den, Verhaltens- und Handlungssteuerung sowie Wirkungsspeicherung (vgl. Klix1993) wird als immer erneuerte Erfahrung im Gedächtnis gespeichert. Insofernist Lernen das Ergebnis des Auseinandersetzungsprozesses eines erkennenden undhandelnden Menschen mit der äußeren Welt, wobei dieser Mensch seine innerenVorstellungen von der „Welt“ entwickelt, an der „Wirklichkeit“ erprobt und ggf.seine Schemata, sein Verhalten und/oder seine Umwelt verändert. Auf Wissen-schaft bezogen bedeutet das u. a., auf Erfahrungen und Erkenntnissen einerseitsaufbauend, andererseits immer wieder prüfend,

• Aufmerksamkeit und Neugier zu steigern,• die eigene Wahrnehmung zu schärfen,• Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen,• Probleme zu erkennen, also Problembewusstsein zu entwickeln, sich den Kopf

zu zerbrechen über eventuelle Problemlösungen, deren Implikationen undmögliche unerwünschte Nebenwirkungen,

• Sachverhalte genauer und systematischer zu beobachten sowie differenziert zubeschreiben,

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1.2 Studieren ist vor allem Denk- und Lernarbeit 5

• Bezüge zu eigenen Erfahrungen herzustellen, jedoch auch zum Wissen ande-rer Menschen, indem man mit ihnen über ihre Erfahrungen spricht oder ihreSchriften zur Kenntnis nimmt,

• Veröffentlichungen kritisch zu lesen; über die darin gemachten Aussagen, Ar-gumente und Implikationen nachzudenken; Fakten zur Kenntnis zu nehmen,aber auch zu prüfen; Zusammenhänge zu erkennen; Begriffe und Eigenschaftenaufzugreifen oder zu bilden, Relationen zwischen ihnen herzustellen,

• Hypothesen in Aussagesätzen zu formulieren und zu testen,• Wichtiges schriftlich zu fixieren und damit vor dem Vergessen zu sichern sowie• Wesentliches durch Übung, Wiederholung und Anwendung zu eigenen Kom-

petenzen zu entwickeln.

1.2 Studieren ist vor allem Denk- und Lernarbeit

Viele Fragen scheinen – nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft – beantwor-tet, manche Probleme gelöst. Studierendemüssen die wichtigsten dieser Antwortenund Problemlösungen für ihren Studiengang erst einmal im Rahmen vonModulenoder durch Lektüre zur Kenntnis nehmen und sich einen Überblick verschaffen.Diese Übersicht zu gewinnen, ist wichtig für das weitere Lernen. Darüber hinausbedeutet Studierenmit-, nach- und selbstständig denken, sich auseinandersetzenmitVorgetragenem, Gelesenem, selbst Geschriebenem, d. h. erst einmal vomAnteil hermehr zu rezipieren und zu reproduzieren als selbst wissenschaftlich zu arbeiten. Siewerden im Studium mit bestimmten theoretischen Denkweisen vertraut gemacht,die in „Ihrem“ Studiengang üblich sind. Diese sollten Sie jedoch durchaus hinter-fragen. Sie lernen die Anwendung von Methoden und die kritische Reflexion IhresDenkens und Handelns. Darüber hinaus begleiten sie das Handeln und die Äuße-rungen anderer rational und kritisch. Glauben Sie auf keinen Fall alles, was Sie sohören oder lesen! Denken Sie nicht nur mit, sondern denken Sie eigenständig. Se-sink (2010, S. 12) beschreibt dies wie folgt:

„Sich seine eigenen Gedanken zu machen“, heißt zunächst einmal, nicht einfach dieGedanken anderer zu übernehmen und wiederzukäuen. Es heißt zum zweiten, dieseGedanken als „Eigenes“ zu betrachten und zu behandeln, also sich nicht zu ihnen wiezu einer Sache zu verhalten, derer man sich nach Belieben bemächtigen oder entledi-gen kann. Es heißt zum dritten, Gedanken aus eigener Kraft und eigenem Vermögenhervorzubringen und ihrer Bildung Aufmerksamkeit und Anstrengung zu widmen.

Knüpfen Sie an Ihre eigenen Erfahrungen an, machen Sie diese aber nicht zu ei-nem generell verbindlichen Maßstab. Seien Sie dazu bereit, Ihr Wissen infrage zustellen, es gegebenenfalls zu modifizieren und zu vertiefen. Andererseits sollten Sie

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eine so skeptische Distanz und Eigenständigkeit bewahren, dass Sie sich nicht oh-neWeiteres den Behauptungen anderer (Autoritäten) anschließen, schon gar nicht,bevor Sie diese geprüft haben. (Wie Sie dabei vorgehen können, lesen Sie in denKap. 7–9.)

Doch nur ein kleiner Teil eigener Gedanken ist potenzieller Wissenschaftsstoff,und zwar derjenige mit sogenanntem Objektivitätsanspruch; d. h. dieser kann

eine Geltung beanspruchen, welche die Innenwelt des Individuums übersteigt. Dazumüssen sie [die Gedanken; F. R.] auf ihren Realitätsgehalt geprüft und der Diskussionausgesetzt werden, Vorgänge, die ebenfalls aus der Alltagspraxis aufgeklärter Bürgervertraut sind. Ein Wissenschaftler unterscheidet sich von einem normalen selbststän-dig denkenden Menschen nur darin, dass er seine eigenen Gedanken systematisch aufihre objektive Geltung überprüft, also zu Erfahrungsgehalten und den Gedanken an-derer in Beziehung setzt undmit ihnen konfrontiert. Ermacht sich also nicht nur seineeigenen Gedanken, sondern macht sich auch die Erfahrungen und Gedanken andererzu eigen. Er vollzieht sie nach und prüft, welche Bedeutung sie für seine eigenen Ge-danken haben. Dies würde ich individuelle Theoriebildung nennen. Und er versucht,anderen seineGedanken zu übereignen und so seinenAnteil zu leisten zur kulturellenBildung einer Gesellschaft (Sesink 2010, S. 13 f.; Einfügung: F. R.).

Ein Studium sollte zur differenziertenTheoriebildung und -kritik befähigen, wasallerdings den Mut erfordert, eigene Gedanken zu bilden sowie das Selbstbewusst-sein zu haben, diese zu äußern und argumentativ zu vertreten – und das nicht mitdogmatischer Überheblichkeit, sondern durchaus mit der Einstellung, die eigenePosition in Zweifel zu ziehen und die von anderen vorgetragene Kritik erst einmalanzuhören und zu bedenken. Dies gelingt in einer kleinen Modulveranstaltung si-cherlich besser als in einer Vorlesung.

Das Studieren erfordert sowohl die Arbeit „im stillen Kämmerlein“ (am Schreib-tisch oder Computer bzw. in der Bibliothek) als auch das Zuhören, Mitdenken undMitdiskutieren in Lehrveranstaltungen (s. Kap. 7) sowie in Lerntandems oder Ar-beitsgruppen. Ein anregendes soziales Umfeldmit anspornenden, positiv gestimm-ten Menschen ist enorm wichtig für das eigene Wohlbefinden. Insofern kann eineLerngruppe sehr motivierend wirken (s. Kap. 4). Wir alle sind auf soziale Anerken-nung erpicht; wem diese gänzlich versagt bleibt, verkümmert. Suchen Sie von sichaus den Umgang mit anderen Hochschulangehörigen und leben Sie sich gut ein an„Ihrer“ Hochschule!

1.3 Wovon ist Studienerfolg abhängig?

Es gibt keine einheitliche Definition von Studienerfolg. Hochschulforscher opera-tionalisieren ihn der Einfachheit halber entweder über „Erreichen eines Studien-

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1.3 Wovon ist Studienerfolg abhängig? 7

abschlusses“ oder härter: „Erreichen eines Abschlusses in einer bestimmten Stu-dienzeit“ oder gar: „Examensnote“. Studienerfolg wird in solchen Untersuchungeneher aus der Sicht der Hochschulen untersucht und nicht der der Klientel. Wichtigist erst einmal die Berücksichtigung der persönlichen Interessen und der Eignungfür den gewählten Studiengang. Wer durch seine Wissbegierde zunehmend Spaßam Studium und seinen Inhalten entwickelt, hat weniger Schwierigkeiten, sich zumotivieren und zu konzentrieren. Die Vorlieben für bestimmte Wissensbereicheund Aufgabentypen entwickeln sich individuell seit frühester Kindheit und schla-gen sich biografisch nieder in Motivationen sowie charakteristischen „Techniken“des Umgangs mit sich selbst und seiner Umwelt. Solche länger anhaltenden per-sönlichen „Eigenschaften“ oder „Charakterzüge“ wie Neugier, Zielstrebigkeit, Fleiß,Ausdauer und Sorgfalt scheinen für den Studienerfolg wichtiger zu sein als eine be-sonders hohe Intelligenz (vgl. Kazemzadeh et al. 1987; Jirjahn 2007. Auf weitereFaktoren weist Krempkow 2008 hin.).

Abgesehen davon, dass solche „Eigenschaften“ menschliche Konstruktionensind (vgl. Sader und Weber 2000), mit denen man von anderen „charakterisiert“wird bzw. sich selbst einschätzt: „Studierfähigkeit“ (auch so ein Modell) entwickeltsich im Laufe der Zeit, allerdings nicht von selbst. Zum einen kann die Hochschuledurch kompetenzförderliche Lehrangebote dazu beitragen, doch in erster Linie istes IhreAufgabe, u. a. folgendes Verhalten bzw. die dazu notwendigen Kompetenzenzu entwickeln:

• Verbesserung von Arbeitstechniken und Arbeitsverhalten. Dazu gehören Fähig-keiten zur selbstständigenProblemanalyse und eigenständigen Zielsetzung; zumPlanen, Ausführen, Kontrollieren vonArbeiten und der Entwicklung von Strate-gien, z. B. die Befähigung zur Informationsbeschaffung und -verarbeitung, d. h.Materialanalyse, -kritik und -verarbeitung; die Fähigkeit, in den jeweils dazunotwendigen Arbeitsprozessen zielgerichtet, ausdauernd und konzentriert ar-beiten zu können. Handlungsorientierung, Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeitund Flexibilität sind die Faktoren der Dimension Arbeitsverhalten.

• Weiterentwicklung von Persönlichkeitseigenschaften.Hierzu sind im Berufslebeninsbesondere Eigenschaften wie emotionale Stabilität, Belastbarkeit und Selbst-bewusstsein gefragt, die auch mithilfe des Studiums entwickelt werden sollen:Verbesserung der Frustrationstoleranz, mithin die Fähigkeit, Fehlschläge zu ver-kraften und Schwierigkeiten zu überwinden; Entwicklung von Ambiguitätsto-leranz und somit die Befähigung, komplexe, widersprüchliche, schlecht über-schaubare Situationen aushalten zu lernen und daraus nicht vorschnell einseitigeSchlüsse zu ziehen; die Fähigkeit zur Feldunabhängigkeit, d. h. situativ erregteAffekte kontrollieren zu können und sich nicht von ihnen leiten zu lassen;Offen-

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heit für neue Gedanken und Wege; Mut zu eigenen Fragestellungen und derenbeharrlicher Bearbeitung; kritische Reflexivität, beispielsweise den Vorsatz, Vor-urteile abzubauen und neue abzuwehren; den Willen zur Selbstbestimmung,mithin das Bestreben, durch eigenständiges Denken zu rationalen Aussagenundbegründeten Urteilen zu gelangen.

• Weiterentwicklung der eigenen berufsbezogenen Motivationen, insbesondere derLeistungs-, Gestaltungs- und Führungsmotivation im Kontext mit Bildungsin-halten und sinnvollen Aufgaben. Längerfristige Motive erfordern vor allem An-strengungsbereitschaft, Ausdauer und Zielorientierung.

• Verbesserung der sozialen Kompetenzen; vor allem der kommunikativen und ko-operativen Fähigkeiten; Einbindung des eigenen Handelns in ein ethisch fun-diertes Bewusstsein sozialer Verantwortung; die Fähigkeit, andere zu respektie-ren und sie unabhängig von ihrer Herkunft, sozialen Position undWeltanschau-ung als Mitmenschen zu akzeptieren; den Willen, für andere einzutreten undeventuell altruistisch zu handeln. Soziabilität, Teamorientierung und Sensitivi-tät, aber auch Konfliktfähigkeit und Durchsetzungsvermögen sind die Dimen-sionen, auf die es auch im Berufsleben zunehmend ankommt.

• Erweiterung der kulturellen Kompetenzen. Ausbau des Sach-, Fach-, Welt- undWissenschaftswissens.

Welche Voraussetzungen müssen jedoch gegeben sein, um diese Kompetenzenim Studium entwickeln zu können? Rückert (2002, S. 100 f.; Auslassung: F. R.) nenntfolgende Eignungsmerkmale:

• „Intelligenz• die Fähigkeit, sich differenziert auszudrücken,• Leistungsbereitschaft,• Fähigkeit zu sachlicher, begründeter Kritik,• Fähigkeit zu angemessener Selbsteinschätzung,• Interesse an allgemeiner und fachlicher Bildung,• Interesse an politischen und gesellschaftlichen Fragen,• Interesse an wissenschaftlichen Vorgehensweisen undThemen [. . . ]• Fähigkeit zur eigenständigen Organisation des Studiums,• Originalität und Kreativität im Denken,• Bereitschaft, sich hohe Ziele zu setzen und anspruchsvolle Aufgaben anzu-

streben,• Fleiß und Ausdauer beim Erbringen von Leistungen,• positive Erfahrungen mit Prüfungen,• hohe Belastbarkeit.“

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1.4 Ist der gewählte Studiengang der richtige für mich? 9

Wer aber neu Gelerntes nicht wiederholt, es nicht in Bezug bringt zu früher An-geeignetem und das Hinzugelernte nicht anwendet, vergeudet praktisch im Nach-hinein die vorherige Lernanstrengung. Das neu Gehörte, Gelesene und Gedachtewird vergessen. Wichtig ist, dass Sie daraus, dass alles Wahrnehmen und Lernenbiophysische und motivationale Grundlagen hat, die notwendigen Schlüsse ziehen.Insofern sollten Sie sich sehr intensiv mit den Themen Lernen, Vergessen und Be-halten beschäftigen (s. Kap. 3). Als vernunftbegabter, intelligenter Mensch werdenSie Ihre Lern- und Arbeitsgewohnheiten reflektieren und nicht zu selbstzufriedensein. Doch auch das Gegenteil, eine zu selbstkritische Einstellung, hemmt IhreWei-terentwicklung.

Nehmen Sie sich für den Anfang nicht zu viel vor. Aber gehen Sie daran,

• Ihre Arbeitsweisen zu beobachten und zu reflektieren,• neue Techniken kennenzulernen und ggf. eine längere Zeit auszuprobieren• und – bei Erfolg – beizubehalten.

Dazu ist auch Geduld mit sich selbst notwendig, denn manches braucht seineZeit und will geübt sein. Studienerfolg ist demnach zu einem großen Teil abhängigvon den sogenannten „Studiertugenden“ und der erfolgreichen Anwendung der imLaufe des Studiums entwickelten Kompetenzen. Neugier und starkes Interesse anden Inhalten des Studiengangs gehören freilich auch dazu.

1.4 Ist der gewählte Studiengang der richtige fürmich?– Wo kann ich mich informieren?

Zwanzig Prozent der Studienanfängerinnen und -anfänger zweifeln noch in denersten Semestern daran, ob sie den richtigen Studiengang gewählt haben, insbe-sondere dann, wenn sie den Studiengang nicht aus eigener intrinsischer Motivationgewählt haben, sondern weil ihnen z. B. jemand wegen der angeblich viel besserenBerufsaussichten dazu geraten hat. Viele von diesen Studierenden brechen ihr Stu-dium enttäuscht ab, weil sie keinen inneren Zugang zu den Lehrinhalten finden.Insofern sollte sich jede(r) ausreichend informieren und sich Gedanken darübermachen, ob starke Interessen für die Inhalte des Studiengangs sowie die Motivationfür ein Studium vorhanden sind. Manche sind sich auch unsicher hinsichtlich ih-rer Eignung für ein Studium und hinsichtlich der Berufsperspektiven. Ich gehe, wieim Abschn. 1.3 entwickelt, davon aus, dass Studienerfolg in hohem Maße von derBereitschaft des Studierenden abhängt, an Themen und Problemstellungen ebenso

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zu arbeiten wie an sich selbst. Arbeit wird oft assoziiert mit Schweiß und Säuernis;doch sie kann auch befriedigen und Sinn stiften, besonders dann, wenn sie selbst-bestimmt ist. Und dies ist die Arbeit von Akademikerinnen und Akademikern eherals diejenige von vielen anderen Berufstätigen. Viele fürchten auch die starkeTheo-rielastigkeit der Studiengänge. Theorie spielt zwar immer noch eine große Rolle,aber die neuen Bachelor- undMaster-Studiengänge sind erheblich anwendungsori-entierter und teilweise inhaltlich interdisziplinärer.

Aufgrund der Vielzahl der neuen Studiengänge in den Bachelor- bzw. denMaster-Studiengängen ist das Angebot inhaltlich noch reichhaltiger, aber auch ver-wirrender geworden. Deshalb ist es umso wichtiger, sich eingehend zu informieren,was mithilfe des Internets auch gut möglich ist, wobei man auf die Aktualität derDaten achten und/oder sich über persönliche Kontaktaufnahme via E-Mail ver-gewissern sollte, ob die gefundenen Informationen noch zutreffend sind. WelcheStudiengänge in der Bundesrepublik Deutschland aktuell angeboten werden, er-fährt man im Internet unter „http://www.hochschulkompass.de“. Da die neuenStudiengänge die Berufsorientierung betonen und dies durch Akkreditierungs-agenturen in Abständen kontrolliert wird, sind die Inhalte, die jeweiligen Lehr- undLernziele, wesentlich transparenter. Wenngleich durch die aufeinander abgestimm-teModulstruktur und obligatorisch zu besuchendeModule dieWahlmöglichkeitenim Vergleich zu den alten Studiengängen mit Diplom- und Magisterabschlussdeutlich eingeschränkt sind, kommt dieses Anfängerinnen und Anfängern ent-gegen, die sich mit denjenigen, die im gleichen Studienjahr begonnen haben, ineinem Jahrgang mit wenig variablem Stundenplan befinden. Während die formaleEinhaltung der Studien- und Prüfungsordnung in den alten Studiengängen erstkontrolliert wurde, wenn sich jemand zur Zwischen- bzw. Abschluss-Prüfung an-meldete, werden in den BA- undMA-Studiengängen dieModule studienbegleitendgeprüft, d. h. jede Studentin und jeder Student erhält in jedem Modul eine diffe-renzierte Bewertung, die in die Abschlussnote eingeht. Dies erhöht einerseits dieErnsthaftigkeit des Studiums von Anfang an und erleichtert vielen auch den schnel-leren Studienabschluss. Andererseits ist Erwerbsarbeit neben den Arbeitsbelastungvon ca. 900 Zeitstunden pro Semester und Prüfungsleistungen, die z. T. in der vor-lesungsfreien Zeit erbracht werden müssen, deutlich erschwert. Dennoch jobbenmehr als die Hälfte aller Studierenden durchschnittlich 7 h die Woche.

Studierende in den neuen Studiengängen konzentrieren sich stark auf das, wasgeprüft und bewertet wird – und müssen dies vielleicht auch, angesichts der Be-lastung durch Studium und Job. Dies führt jedoch auch zu einer Fortsetzung desschulischen „Punktehamsterns“, was nicht das Ziel einer gediegenen akademischenBildung sein kann. Wer jedoch die Schwierigkeiten bemerkt hat, die früher vielenStudierenden die Umstellung von der Schule zum selbstverantwortlichen Lernen

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1.4 Ist der gewählte Studiengang der richtige für mich? 11

bereitete, wünscht sich in den neuen Studiengängen eine individuellere Betreuung,z. B. in einemMentorensystem, undnochhäufigere Rückmeldungen zumLern- undLeistungsstand der Studierenden, denn auch dort sind zahlreiche Lernleistungenz. B. über das Lesen von Fachliteratur und das Verfassen von schriftlichen Arbeitenzu erbringen.

▸ Tipp Lesen Sie deshalb unbedingt und gründlichst die Studien- undPrüfungsordnung, die für Ihren Studiengang an „Ihrer“ Hochschule gilt.Bei Verständnisschwierigkeiten suchen Sie sich bitte kompetente Bera-tung, am besten bei der entsprechenden Studienberatungsstelle oderdem für Sie zuständigen Prüfungsamt. Doch selbst deren mündlicheAuskünfte bieten nicht die Gewähr des amtlichen Textes; nur auf denkönnen Sie sich im Streitfall juristisch stützen.

Da der Abschluss mit einem Bachelor noch keiner vollständigen wissenschaftli-chen Ausbildung entspricht, machen Sie sich bitte auch Gedanken darüber, wie esdanachweitergehen könnte. Ich kann hier nur davon ausgehen, dass Sie sichmithil-fe allgemein hilfreicher Internetquellen zu den Studiengängen, wie „BERUFENET“,„www.studienwahl.de“, „www.studieren-im-netz.org“ oder „InformationssystemStudienwahl und Arbeitsmarkt (ISA)“, informieren. Je mehr Sie vorher schon wis-sen, über

• „Ihre“ Fachrichtung bzw. „Ihre“ Fächerkombination,• die besten Studienorte zu diesem Fach (aktueller ZEIT-Studienführer oder on-

line: das CHE-Hochschul-Ranking) resp. zu einer Fächerverbindung,• die dort jeweils geltende Studien- und Prüfungsordnung,

desto weniger enttäuscht und irritiert werden Sie beim Studienbeginn sein.Neben den schriftlichen Informationen ist vor der Immatrikulation ein Ortster-

min zweckmäßig, um festzustellen, ob Sie sich an dieser Hochschule wohlfühlenkönnten. Sollte dies ein Jahr nach Studienbeginn immer noch nicht der Fall sein,wäre ein Studienplatzwechsel zu prüfen, was allerdings in BA-Studiengängenwegender teilweise sehr spezifischen Profilbildung erschwert ist. Aufgrund von Studienab-bruch oder Studiengangwechsel werden aber manchmal im zweiten oder höherenSemestern wieder Plätze frei. Die Frage ist dann, ob und welche Ihrer vorher er-brachten Leistungen aus einem anderen Studiengang anerkannt werden.

Da die Auffassungen kontrovers sind, inwieweit und in welcher Form ein Stu-dium auf die spätere Berufstätigkeit vorbereitet bzw. vorbereiten sollte, wird die-se Frage hier nur angeschnitten, damit Sie sich mit diesem Problem individuell

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auseinandersetzen und sich einen adäquaten Studiengang und -ort aussuchen, jenachdem, ob Sie durchaus theorieinteressiert oder stark praxisorientiert sind. Ganzallgemein ist die Praxisnähe bzw. -distanz einerseits von Fach zu Fach unterschied-lich, andererseits vom angestrebten Abschluss abhängig, d. h. von Studiengang zuStudiengang, und letztlich vom konkreten Lehrangebot der jeweiligen Hochschule.Grundsätzlich qualifizieren die neuenBachelor-Studiengänge der Fachhochschuleneher als die der Universitäten für eine spätere Berufstätigkeit. Manche Studienfä-cher, wie z. B. die Psychologie, sind stärker kanonisiert, d. h., deren Professorenvertreten z. B. über ihre Berufs- und Wissenschaftsorganisationen einheitlichereStandards zu ihrem Fach und seinen Anforderungen.

Weit differenzierter im Hinblick auf Theorie und Praxis geben die Studienord-nungen sowie aktuelle kommentierte Vorlesungsverzeichnisse der jeweiligenHoch-schule Auskunft, die häufig über das Internet auchGästen Einblick gewähren:WennSie sich die Titel der Lehrveranstaltungen anschauen, besser noch die Erläuterun-gen im Kommentar bzw. in der Modulbeschreibung, dann können Sie meist schonerahnen, ob es sich eher um theorie- oder praxisorientierte Angebote handelt. Au-ßerdem kann man die Studienberatung per E-Mail um Auskunft bitten.

▸ Tipp Mit dem eigenen Theorie-Praxis-Problem setzen Sie sich mög-lichst vor bzw. bald nach Studienbeginn auseinander. Sollten Sie eineher praktisch denkender und arbeitender Mensch sein, werden Sieeventuell Motivationsproblememit theorielastigen Kursen bekommen.

Das Theorie-Praxis-Problem sollte eigentlich schon entschieden sein mit derAntwort auf die Frage, ob ein Ausbildungsberuf gewählt wird oder ein den Inter-essen entsprechendes Studium an einer Universität oder Fachhochschule. Letzteresind wesentlich kleinere, überschaubare Institutionen und bilden deutlich praxis-orientierter aus.Wenn Sie jedochmerken, dass Ihnen das Studieren überhaupt nichtgefällt, dann sollten Sie Ihr Studium abbrechen. Wenn Sie sich zu diesem Schrittnicht erst nach fünf Semestern entschließen, wird Ihnen dies bei Bewerbungen aufeine Lehrstelle oder eine andere Ausbildung keine speziellen Probleme bereiten.Elf von zwölf Studienabbrechern haben nach einem halben Jahr eine Arbeit, einenPraktikums- oder Ausbildungsplatz, überwiegend im Handel oder im Dienstleis-tungssektor.

Auf der anderen Seite lohnt sich ein abgeschlossenes Studium bis heute imzeugnis- und zertifikatgläubigen Deutschland. Dass Akademiker auf dem Arbeits-markt weniger Probleme haben als Absolventen anderer Ausbildungsgänge, lässtsichnoch immer empirisch belegen.Allerdings sind die Zeiten vorbei, in denen aka-demische Abschlüsse einen der Ausbildung entsprechenden sicheren Arbeitsplatz

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1.4 Ist der gewählte Studiengang der richtige für mich? 13

und ein überdurchschnittliches Gehalt garantierten. Wenn Sie studieren wollen,sich für „Ihr“ Fach mehr als für andere(s) interessieren und mit den gestelltenAnforderungen nach einer gewissen Anlaufzeit klarkommen, dann sollten Sie sichnicht allzu große Sorgen machen, sondern Ihr Studium als ein Privileg begreifen,das es Ihnen ermöglicht, Ihren Horizont zu erweitern und Ihren Lerninteressennachzugehen. Wer durch sein Interesse Freude am Studium und seinen Inhaltenentwickelt, verspürt auch wenig Mühe, sich zu motivieren. Wer sich für die Ar-beit an einem Thema begeistert, hat kaum Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.Zeitweise Zweifel an der Studienentscheidung und eventuelle Zukunftsängste sinddurchaus „normal“, lassen sich jedoch aktiv überwinden, z. B. durch möglichstfrühzeitige Praktika oder Jobs – nach Möglichkeit im anvisierten Arbeitsfeld. Dieneuen Studiengänge sehen zwar eine stärkere Praxis- und Berufsfeldorientierungvor, aber die Studierenden selbst müssen die Gestaltungsräume nutzen, die der„Möglichkeitsraum Praktikum“ (Egloff 2004) bietet.

Disziplin und Selbsterziehung sind im Studium (wie im Berufsleben) ebensovonnöten wie derWille, Probleme meistern zu wollen. Wer eine professionelle Ein-stellung zur Studienarbeit entwickelt (dazu gehört eben auch, einige Stunden amTag zu lernen) und selbstgesteckte realistische Ziele verfolgt, die in Teilschritten er-reicht werden sollen, wird sich das Studium nicht von den teilweise ungünstigenStudienbedingungen verleiden lassen.

ZusammenfassungEin persönlich an die Leserinnen und Leser gerichteter Schreibstil ist im Wis-senschaftsbetrieb relativ „unüblich“, um es vorsichtig auszudrücken. In der wis-senschaftlichen Literatur fehlt vor allem die Ansprache und das Einbeziehen vonLesern in die Gedankengänge. Um Ihnen den Unterschied deutlich zu machen,will ich dieses eine Mal das Wichtigste der vorigen Seiten „wissenschaftlicher“zusammenfassen:

Vier Gruppen von „Variablen“ (= veränderliche, nicht statisch festliegendeGrößen) beeinflussen vor allem das studentische Lern- und Arbeitsverhalten,und zwar:

• affektive (vor allem Gefühle, z. B. zur neuen Situation, aber auch Interessenund Motivationen betreffende),

• arbeitstechnische (vornehmlich die Lern- und Arbeitstechniken betreffende),• kognitive (die Wahrnehmung, die Intelligenz und das Gedächtnis betreffen-

de) sowie• soziale (d. h. kommunikative Aspekte des Individuums und Aspekte seines

gesellschaftlichen Umfeldes betreffende) Bedingungen.

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Die genannten Faktorenbündel sind interdependent (beeinflussen sich wech-selseitig). Jeder Mensch hat seine eigene Lernbiografie, die sein weiteres Verhal-ten beeinflusst, doch kann beispielsweise eine anregende menschliche Begegnungoder eine neue Erkenntnis eine tiefgreifende Veränderung seines Lernens und seinerWeltsicht auslösen. Deshalb steht Studienerfolg, selbst bei unterschiedlichen Stu-dieneingangsvoraussetzungen, immer im Zusammenhang mit der Frage, inwieweitdie Enkulturation des einzelnen Studierenden gelingt. Enkulturation wird definiertals Prozess des Hineinwachsens und des Sichaneignens von Verhaltens- und In-terpretationsmustern sowie von normativen Orientierungen einer (Sub-)Kultur, indiesem Fall: des Teils des Wissenschaftsbetriebs, den Geistes- oder Sozialwissen-schaftler(innen) in Gang halten.

Vielleicht helfen Ihnen die folgenden Fragen noch einmal, sich über bestimmteDinge klar zu werden:

• Was wollen und können Sie leisten, wofür sind Sie Ihres Erachtens besonders ge-eignet und motiviert?

• Welche Erwartungen hegen Sie bezüglich Ihres Studiums?• Haben Sie ein Studium gewählt, das Ihren Neigungen und Eignungen entspricht?• Interessieren Sie sich wirklich für Ihr Studienfach bzw. den ins Auge gefassten Stu-

diengang?• Haben Sie sich eingehendmit Ihrem Studiengang, seinenAnforderungen und mög-

lichen Berufsperspektiven auseinandergesetzt?• Sind Sie eher praxisorientiert oder theorieinteressiert? Inwieweit „passt“ Ihre Ori-

entierung bzw. Erwartung zusammen mit den angebotenen Studiengängen undkonkreten Lehrangeboten an der von Ihnen gewählten Hochschule?

• Kennen Sie die für Sie geltende Studien- und Prüfungsordnung und haben Sie derenInhalte völlig verstanden? – Anderenfalls suchen Sie sich bitte kompetente Bera-tung!

• Wie selbstständig sind Sie schon?• Sind Sie willens, werktäglich mehrere Stunden amTag zu lernen und das nicht nur

vor Prüfungen?• Nehmen Sie Herausforderungen aktiv und optimistisch an oder neigen Sie eher

dazu, diese zu meiden?

▸ Tipp Zur Studiengangwahl informieren Sie sich bitte aktuell im In-ternet, z. B. unter „www.hochschulkompass.de“, „www.studienwahl.de“, „www.studieren-im-netz.org“ und „berufenet.arbeitsamt.de“ oder„Informationssystem Studienwahl und Arbeitsmarkt“. Für Fragen der

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generellen Fach- und Studiengangwahl sehr zu empfehlen ist das Buchvon Hans-Werner Rückert (2002) „Studieneinstieg, aber richtig!“

Literaturverzeichnis

Egloff, B. (2004).MöglichkeitsraumPraktikum.Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 7, 263–276.Heublein, U., Schmelzer, R., & Sommer, D. (2008). Die Entwicklung der Studienabbruch-quote an den deutschen Hochschulen. Ergebnisse einer Berechnung des Studienabbruchs aufder Basis des Absolventenjahrgangs 2006. HIS-Projektbericht Februar 2008. HIS Hochschul-Informations-System GmbH. http://www.his.de/pdf/21/his-projektbericht-studienabbruch.pdf. Zugegriffen: 13.03.2011.Jirjahn, U. (2007).Welche Faktoren beeinflussen den Erfolg im wirtschaftswissenschaftlichenStudium? Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, 59(3), 286–313.Kazemzadeh, F.,Minks, K.H., &Nigmann, R.R. (1987). „Studierfähigkeit“. EineUntersuchungdes Übergangs vom Gymnasium zur Universität. Hannover: HIS Hochschul-Informations-SystemGmbH. Hochschulplanung, 63Klix, F. (1993). Erwachendes Denken. Geistige Leistungen aus evolutionspsychologischer Sicht.Heidelberg: Spektrum Akad. Verl.Krempkow, R. (2008). Studienerfolg, Studienqualität und Studierfähigkeit. Eine Analyse zuDeterminanten des Studienerfolgs in 150 sächsischenStudiengängen. die hochschule, 2008(1),91–107. http://www.hof.uni-halle.de/journal/texte/08_1/Krempkow_Studienerfolg.pdf. Zu-gegriffen: 18.03.2011.Rückert, H.W. (2002). Studieneinstieg, aber richtig! Das müssen Sie wissen: Fachwahl, Studien-ort, Finanzierung, Studienplanung. Frankfurt am Main: Campus-Verl.Sader, M., & Weber, H. (2000). Psychologie der Persönlichkeit, 2., neubearb. Aufl. Weinheim:Juventa-Verl. Grundlagentexte Psychologie.Schulmeister, R., & Metzger, C. (2011). Die Workload im Bachelor. Ein empirisches For-schungsprojekt. In R. Schulmeister, C. Metzger (Hrsg.)Die Workload im Bachelor. Zeitbudgetund Studierverhalten. Eine empirische Studie (S. 13–128). Münster: Waxmann.Sesink, W. (2010). Unter Mitarbeit von S. Iske, C. Koenig, & A. Lampe et al. Einführung indas wissenschaftliche Arbeiten. Mit Internet Textverarbeitung Präsentation E-LearningWeb2.0.8., vollst. überarb. und aktual. Aufl. München: Oldenbourg.Wiarda, J.-M. (2011). Ach, dieser Stress. Gerade einmal 23 Stunden wenden Studenten proWoche für die Uni auf, zeigen neue Studien. Die Zeit, Ausgabe Nr. 20, 12.5.2011. http://pdf.zeit.de/2011/20/C-Studienzeit.pdf. Zugegriffen: 10.6.2011.