Lernumgebungen für Rechenschwache bis Hochbegabte ... · Im Projekt „Lernumgebungen für...

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Ueli HIRT, Bern Lernumgebungen für Rechenschwache bis Hochbegabte – Natürliche Differenzierung im Mathematikunterricht Die Unterschiede zwischen den Kindern sind gross, im Leistungsbereich, aber auch im Bereich ihrer Denkwege und ihrer Darstellungsweisen. Das Fähigkeitsspektrum streut vielfach über drei bis vier Schuljahre. Das zeigen u.a. die Erhebungen von Hengartner (1999). Obschon die grossen Unter- schiede zwischen den Kindern in der mathematikdidaktischen Forschung längst erkannt sind und bereits viele Aufgaben und Lehrmittel für den bes- seren Umgang mit der Heterogenität im Mathematikunterricht vorliegen, ist die Herausforderung für die Unterrichtspraxis gross, mit den Unterschieden der Kinder umzugehen. Der Mathematikunterricht wurde scheinbar zu lan- ge kleinschrittig geplant, mit gleichförmigen Aufgaben gestaltet und an ei- nem fiktiven Durchschnitt ausgerichtet. Im günstigen Falle wird der Unter- richt mit Methoden der inneren Differenzierung gestaltet: Die langsam Lernenden erhalten einfachere Aufgaben und besondere Unterstützung, während die schnelleren individuell Zusatzaufgaben bearbeiten, die kaum anspruchsvoller sind, jedoch häufig mehr des gleichen anbieten. Zudem werden die Rechenschwachen nicht selten in sonderpädagogisch betreuten Gruppen oder im Einzelunterricht begleitet, und die besonders Begabten werden mit spezifischen Fördermassnahmen (z.B. Enrichment-Programme) gefordert, die bis zur teilweisen oder völligen Separation gehen. Lösungsansatz: Mathematikunterricht mit Lernumgebungen Im Projekt „Lernumgebungen für Rechenschwache bis Hochbegabte. Na- türliche Differenzierung im Mathematikunterricht“ (Hengartner, Hirt, Wälti 2006) 1 wurden Antworten auf die festgestellte Heterogenität in Form von Lernumgebungen gesucht. Lernumgebungen sind Planungsvorlagen für Lehrpersonen zur Gestaltung des Mathematikunterrichts. Sie ermöglichen ihnen, den Unterricht besser auf das gesamte Begabungsspektrum auszu- richten. Alle Schülerinnen und Schüler, die Rechenschwachen wie auch die Hochbegabten, können integrativ und ohne Zusatzaufgaben gefördert wer- den. Die Lernumgebungen wurden im Rahmen des Projekts entwickelt und an vielen Schulen in mehreren Regionen der Schweiz sowie in Zusammen- arbeit mit ca. 50 Lehrpersonen und ca. 100 Studierenden für das Lehramt an Grundschulen erprobt. Die inhaltliche Orientierung erfolgte am Projekt „mathe2000“ der Dortmunder E.Ch. Wittmann und G.N. Müller (1990/1992; 1993-1996 bzw. 2004/05). 1 Das Projekt führt eine Homepage mit Lernumgebungen zum Download: www.mathe-projekt.ch

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Ueli HIRT, Bern

Lernumgebungen für Rechenschwache bis Hochbegabte –Natürliche Differenzierung im Mathematikunterricht

Die Unterschiede zwischen den Kindern sind gross, im Leistungsbereich,aber auch im Bereich ihrer Denkwege und ihrer Darstellungsweisen. DasFähigkeitsspektrum streut vielfach über drei bis vier Schuljahre. Das zeigenu.a. die Erhebungen von Hengartner (1999). Obschon die grossen Unter-schiede zwischen den Kindern in der mathematikdidaktischen Forschunglängst erkannt sind und bereits viele Aufgaben und Lehrmittel für den bes-seren Umgang mit der Heterogenität im Mathematikunterricht vorliegen, istdie Herausforderung für die Unterrichtspraxis gross, mit den Unterschiedender Kinder umzugehen. Der Mathematikunterricht wurde scheinbar zu lan-ge kleinschrittig geplant, mit gleichförmigen Aufgaben gestaltet und an ei-nem fiktiven Durchschnitt ausgerichtet. Im günstigen Falle wird der Unter-richt mit Methoden der inneren Differenzierung gestaltet: Die langsamLernenden erhalten einfachere Aufgaben und besondere Unterstützung,während die schnelleren individuell Zusatzaufgaben bearbeiten, die kaumanspruchsvoller sind, jedoch häufig mehr des gleichen anbieten. Zudemwerden die Rechenschwachen nicht selten in sonderpädagogisch betreutenGruppen oder im Einzelunterricht begleitet, und die besonders Begabtenwerden mit spezifischen Fördermassnahmen (z.B. Enrichment-Programme)gefordert, die bis zur teilweisen oder völligen Separation gehen.

Lösungsansatz: Mathematikunterricht mit LernumgebungenIm Projekt „Lernumgebungen für Rechenschwache bis Hochbegabte. Na-türliche Differenzierung im Mathematikunterricht“ (Hengartner, Hirt, Wälti2006)1 wurden Antworten auf die festgestellte Heterogenität in Form vonLernumgebungen gesucht. Lernumgebungen sind Planungsvorlagen fürLehrpersonen zur Gestaltung des Mathematikunterrichts. Sie ermöglichenihnen, den Unterricht besser auf das gesamte Begabungsspektrum auszu-richten. Alle Schülerinnen und Schüler, die Rechenschwachen wie auch dieHochbegabten, können integrativ und ohne Zusatzaufgaben gefördert wer-den. Die Lernumgebungen wurden im Rahmen des Projekts entwickelt undan vielen Schulen in mehreren Regionen der Schweiz sowie in Zusammen-arbeit mit ca. 50 Lehrpersonen und ca. 100 Studierenden für das Lehramtan Grundschulen erprobt. Die inhaltliche Orientierung erfolgte am Projekt„mathe2000“ der Dortmunder E.Ch. Wittmann und G.N. Müller(1990/1992; 1993-1996 bzw. 2004/05).

1 Das Projekt führt eine Homepage mit Lernumgebungen zum Download: www.mathe-projekt.ch

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Die LernumgebungenDie Lernumgebungen sind immer gleich gegliedert. Sie enthalten einemehrteilige Aufgabe, so dass die langsam Lernenden einen Zugang habenund gleichzeitig auch die besonders Begabten gefordert sind. Die den Auf-gaben zu Grunde liegende fachliche Struktur wird im Abschnitt Worumgeht es beschrieben. Damit erhalten die Lehrpersonen Hinweise zum ma-thematischen Verständnis der Aufgabe und zu erweiterten fachlichen Zu-sammenhängen. Wie kann man vorgehen schlägt den Lehrpersonen einmögliches Unterrichtsdesign vor, das sich in den Erprobungen bewährt hat.Und die Dokumente aus der Erprobung zeigen die Bandbreite der zu er-wartenden Leistungen und Darstellungsformen der Schülerinnen undSchüler. Sie verdeutlichen die Heterogenität, mit der zu rechnen ist, aberauch die Fördermöglichkeiten der jeweiligen Lernumgebung.

Ein Beispiel: Brüche bilden und ordnenDie Lernumgebung besteht aus einer dreiteiligen Aufgabe:a) Wähle aus den Zahlenkarten 1 bis 10 drei aus, bilde Brüche und ordne

sie nach der Grösse.Wie viele Brüche kannst du bilden?

b) Wie viele Brüche kannst du bilden, wenn du drei, vier, fünf, sechs, ...Zahlenkarten auswählst? Entdeckst du eine Gesetzmässigkeit?

c) Wie viele Brüche kannst du bilden, wenn du jede Zahlenkarte zwei Malzur Verfügung hast?

Die Schülerinnen und Schüler „erzeugen“ Brüche, indem sie aus einem Setvon Zahlenkarten eine Zahl in den Zähler, eine andere in den Nenner desBruchs legen. Worum geht es? Einerseits um das Bilden und Ordnen vonBrüchen, andererseits um die Bearbeitung kombinatorischer Fragestellun-gen. Die langsam Lernenden haben in dem Sinne einen Zugang, dass sieBrüche aus Zahlenkarten bilden und zu-mindest einige nach der Grösse ordnenkönnen. Allen stehen Entdeckungen of-fen: Mit fünf Zahlenkarten können 10echte Brüche (Bruch <1, unterhalb derDiagonalen in Abb. 1) oder 20 unechteBrüche (Bruch >1, Brüche ober- und un-terhalb der Diagonalen) gebildet werden.Wenn jede Zahlenkarte zweimal verfüg-bar ist (Aufgabe c), können insgesamt 25Brüche gebildet werden (auch Brüche mitWert 1, alle Brüche).Die schnellen Schülerinnen und Schülergelangen bei den Aufgaben b) und c) weiter voran. Die vollständige

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Abb. 1: Die möglichen Brüche,die gebildet werden können

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Struktur (vgl. Abb. 2) zu entdecken, ist eine Rampe für die ganz Schnellenoder für die Hochbegabten. Letztere sind auch mit der Entdeckung desTerms zur Beantwortung der allgemeinen Frage nach der Anzahl Brüchemit n Zahlenkarten gefordert.

Abb. 2: Übersicht über dieStruktur der Anzahl Brü-che, die mit unterschiedli-chen Zahlenkarten gebil-det werden können.

Zwei Dokumente aus der Erprobung zeigen die Bandbreite der zu erwar-tenden Leistungen.Abb. 3 ist ein einfachesBeispiel. Die Schülerinbeschränkt sich aufBrüche <1. Nachdemsie mit fünf Zahlenkar-ten alle zehn Brüchegebildet hat, bearbeitetsie die Aufgaben mitsechs Zahlenkarten.Auf der Abbildung sind

die 15 gebildeten Brü-

che, die Ord-nung nach derGrösse und diePlatzierung aufdem Zahlen-strahl sichtbar.Abb. 4 zeigt ein

anspruchsvol-les Beispiel,auf dem eine Schülerin die Erkenntnis zur Bildung der Anzahl Brüche ≠1formuliert. Da sie noch keine Erfahrung im Umgang mit Termen hat, hältsie ihre Feststellung sowohl sprachlich als auch mit einem Beispiel fest.

Bruch <1 Bruch ≠1 Alle Brüche2 Zahlenk. 1 2 43 Zahlenk. 3 6 94 Zahlenk. 6 12 165 Zahlenk. 10 20 256 Zahlenk. 15 30 36n Zahlenk. n(n–1):2 n(n–1)=n2–n n2

Dreieck-zahlen

Rechteck-zahlen

Quadrat-zahlen

Abb. 3: Einfaches Beispiel aus der Erprobung

Abb. 4: Anspruchsvolles Beispiel aus der Erprobung

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Drei grundlegende Prinzipien:Natürliche Differenzierung, Nutzung der mathematischen Strukturen,Öffnung des Unterrichts vom Fach herDie mehrteiligen Aufgaben sind so konzipiert, dass die langsam Lernendeneinen Zugang haben und gleichzeitig Anforderungen bereit stehen für diebesonders Begabten. Die Kinder können also grundsätzlich auf ihrem jeeigenen Niveau arbeiten. Dadurch kann der Unterricht nach dem Prinzipder natürlichen Differenzierung, d.h. einer Differenzierung vom Kinde aus,gestaltet werden. Allen Lernumgebungen liegt eine mathematische Strukturzu Grunde. Die Nutzung der fachlichen Strukturen erst öffnen den Kindernunterschiedliche Suchrichtungen und ermöglichen eine Bearbeitung derAufgabe auf verschiedenen Niveaus. Wittmann bringt die Nutzung derStrukturen für entdeckendes und individuelles Lernen in der Mathematikauf den Punkt: «Mathematische Muster dürfen nicht als etwas fest Gege-benes angesehen werden, das man nur betrachten und reproduzieren kann.Ganz im Gegenteil: Es gehört zu ihrem Wesen, dass man sie erforschen,fortsetzen, ausgestalten und selbst erzeugen kann. Der Umgang mit ihnenschliesst also Offenheit und spielerische Variationen konstitutiv ein. Den‚streng‘ erscheinenden Regelsystemen der Mathematik wird dadurch dieSchärfe genommen, sie lassen Raum für persönliche Sicht- und Aus-drucksweisen und werden zugänglich für die individuelle Bearbeitung.Gleichwohl werden Offenheit und Individualität durch Regeln gezügelt. Eshandelt sich um eine Offenheit vom Fach aus» (Wittmann 1996; zitiertnach Wittmann 2003, S. 26). Diese Öffnung des Unterrichts vom Fach herentspricht nicht der Öffnung des Unterrichts als organisatorische Mass-nahme, sondern meint ein Ausschöpfen der pädagogischen Möglichkeiten,die der Mathematik innewohnen.

LiteraturHengartner, E. (Hrsg., 1999): Mit Kindern lernen. Standorte und Denkwege im Mathe-matikunterricht. Zug: Klett und Balmer.

Hengartner, E.; Hirt, U.; Wälti, B.; Primarschulteam Lupsingen (2006) Lernumgebun-gen für Rechenschwache bis Hochbegabte. Natürliche Differenzierung im Mathematik-unterricht. Zug: Klett und Balmer.

Wittmann, E. Ch. und Müller, G. N. (1990/ 1992) Handbuch produktiver Rechenübun-gen. Band 1: Vom Einspluseins zum Einmaleins. Band 2: Vom halbschriftlichen zumschriftlichen Rechnen. Stuttgart: Klett.

Wittmann, E. (2003) Was ist Mathematik und welche pädagogische Bedeutung hat daswohlverstandene Fach auch für den Mathematikunterricht der Grundschule? In: Baum,M. & Wielpütz, H. (Hrsg.) (2003) Mathematik in der Grundschule. Ein Arbeitsbuch.S. 18-46. Seelze: Kallmeyer.

Wittmann, E. Ch. und Müller, G. N. (1993-1996 und 2004/05) Das Zahlenbuch, 1. bis 4.Schuljahr. Leipzig: Klett.