Leseprobe hfh arbeitsbiografien

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Reihe 35 Anne Parpan-Blaser Kurt Häfeli Michaela Studer Stefania Calabrese Angela Wyder Annette Lichtenauer «Etwas machen. Geld verdienen. Leute sehen.» Arbeitsbiografien von Menschen mit Beeinträchtigungen

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Reihe35

Anne Parpan-Blaser Kurt Häfeli Michaela Studer Stefania Calabrese Angela Wyder Annette Lichtenauer

«Etwas machen. Geld verdienen. Leute sehen.»Arbeitsbiografien von Menschen mit Beeinträchtigungen

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1. Einleitung

1.1 Einführung, Dank und Überblick

Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis eines interessanten Forschungs-prozesses, in dem wir viel über die Lebens- und Arbeitsrealität von Menschen mit Beeinträchtigungen gelernt haben. Wir danken allen Personen sehr herz-lich, die uns mit dem Ausfüllen eines Fragebogens und / oder in einem länge-ren Gespräch Einblick in ihr Leben und ihre Tätigkeit gewährt haben. Initiiert wurde das Projekt «Arbeitsbiografische Verläufe nach einer IV-Anlehre / PrA» ursprünglich von einer Ausbildungsinstitution, die interes-siert daran war, etwas über die langfristige Entwicklung und den Verbleib derjenigen Personen zu wissen, die vor einigen Jahren die Ausbildung dort absolviert hatten. Ebenso bedeutsam schienen von Beginn an Einschätzun-gen der Betroffenen zur Ausbildung und zu deren Bedeutung im weiteren Verlauf des Arbeits- und Berufslebens. Eine eingehende Betrachtung der Ausgangslage und weiterführende Diskussionen im Feld zeigten, dass über Arbeitsbiografien von Menschen mit einer Behinderung allgemein wenig be-kannt ist. Für die Durchführung des Vorhabens, arbeitsbiografische Verläufe von Personen mit einer beruflichen Erstausbildung (IV-Anlehre oder Praktische Ausbildung PrA) zu untersuchen, fand sich eine breite Kooperation: Für die Antragstellung beim Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Men-schen mit Behinderung (EBGB) arbeiteten Forschende der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Olten und der interkantonalen Hochschule für Heil-pädagogik (HfH) in Zürich zusammen. Gefördert wurde das Vorhaben zu-dem durch den nationalen Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung (INSOS), Mitgliedorganisationen von INSOS und den Schweizerischen Zentralverband für das Blindenwesen (SZB). Weitere finan-zielle Unterstützung erfolgte durch die Ernst Göhner Stiftung sowie die Al-fred und Gertrud Bernays-Richard Stiftung. Wir bedanken uns bei allen Stellen, die die Untersuchung möglich machten, herzlich für die Unterstüt-zung und die gute Zusammenarbeit.

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Das Projektteam bilden sechs Forscherinnen und Forscher der beiden er-wähnten Hochschulen. Punktuell unterstützt wurden wir durch die Diskus-sionen mit und den Rückmeldungen aus der Echogruppe, in der Susanne Aeschbach und Annina Studer (ehemalige bzw. aktuelle Bereichsleiterin Be-rufliche Integration, INSOS Schweiz), Ueli Affolter (Geschäftsführer, social-bern), Martin Boltshauser (Leiter Rechtsdienst, Procap), Rainer Menzel (Co-Gesamtleiter, Humanus-Haus), Romain Rosset (Bereichsleister Berufsbil-dung, Verband Schweizerischer Schreinermeister und Möbelfabrikanten), Stefan Spring (Forschungsbeauftragter, Schweizerischer Zentralverein für das Blindenwesen) sowie Nadia Lanfranchi (insieme) Einsitz nahmen. Ihnen danken wir für die fundierten Hinweise und Anregungen. Im Zentrum der durchgeführten Studie steht die Frage, wie Arbeitsbio-grafien von Absolventinnen und Absolventen einer erstmaligen beruflichen Ausbildung nach IVG (speziell IV-Anlehre und PrA) verlaufen. Nachfolgend werden die Ergebnisse der Forschung vorgestellt und diskutiert. Zur Einbet-tung der Erkenntnisse in die aktuellen Diskurse rund um Behinderung und Arbeit sowie in ihren Entstehungskontext werden nachfolgend in Kapitel 1.2 bis 1.4 die gesellschaftspolitischen und theoretischen Bezüge und in Kapitel 2 das methodische Vorgehen dargestellt. Kapitel 3 nimmt in deskriptiver Weise Bezug auf die über 400 Fragebogen, die uns von Absolventinnen und Absol-venten mit einem Ausbildungsabschluss während den Jahren zwischen 1995 und 2010 zurückgesandt wurden. Deren Auswertung erlaubt es erstmals über-haupt, datenbasierte Aussagen zum Verbleib von Personen mit einer IV-An-lehre oder PrA zu machen. Kapitel 4 bis 9 nähern sich den Studienergebnissen aus unterschiedlichen Perspektiven: Während in Kapitel 4 die vorgefundenen arbeitsbiografischen Verlaufsmuster dargestellt werden, konzentrieren sich Kapitel 5 bis 8 auf unterschiedliche Phasen, Aspekte bzw. Bereiche aus dem Arbeitsleben der Befragten. Kapitel 9 nimmt Faktoren und Bedingungen in den Blick, die die Arbeitsbiografie von Menschen mit Beeinträchtigungen auf der individuellen, sozialen und institutionell-strukturellen Ebene beeinflus-sen, fördern oder behindern. Die jeweils zentralen Erkenntnisse und Befunde werden in den Kapiteln 5 bis 9 zu Thesen verdichtet, die zum Weiterdenken und Diskutieren anregen sollen. Die ausführliche Diskussion dieser Thesen im abschliessenden Kapitel 10 führt hin zu Schlussfolgerungen bzw. Empfehlun-gen, die sich – gestützt auf die Ergebnisse der Studie – zu Ausbildung und Be-schäftigung von Menschen mit Beeinträchtigungen formulieren lassen. Wir sind überzeugt, dass die Erkenntnisse aus unserer Arbeit Anregun-gen zur selbstbestimmten Gestaltung von Ausbildungswegen und Arbeits-welten von Menschen mit Beeinträchtigungen bieten. Das vorliegende Buch

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richtet sich deshalb an Fachpersonen der Sonder- und Sozialpädagogik, an Leitungen und Mitarbeitende von Ausbildungsinstitutionen, an Interessier-te aus Bildungs- und Sozialpolitik sowie an alle, die sich im beruflichen oder privaten Kontext mit dem Thema Ausbildung und Arbeit von und mit Men-schen mit Beeinträchtigungen auseinandersetzen. Ihnen allen wünschen wir eine anregende Lektüre.

1.2 Theoretische Bezüge

Der Diskurs rund um Behinderung bzw. Beeinträchtigung war in den letz-ten Jahrzehnten von einem gewichtigen Wandel gekennzeichnet, der sowohl den Behinderungsbegriff als auch Zielperspektiven und Handlungsmaxi-men in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen nachhaltig verän-dert und erneuert hat. Gleichstellung und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen sind erklärte Ziele dieser Veränderung. Auf politischer Ebene zeugen Gleichstellungsgesetze in einzelnen Ländern, aber auch die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit einer Be-hinderung von diesen Entwicklungen. Die vorliegende Studie mit ihrer aus-drücklichen Absicht, Menschen mit Beeinträchtigungen eine Stimme bezüg-lich ihrer beruflichen und ausbildungsspezifischen Erfahrungen zu geben, stellt sich ganz in den Kontext von Zielperspektiven und Handlungsmaxi-men wie Selbstbestimmung, Inklusion und Partizipation. Sie stützt sich in ihrer Durchführung und Auswertung auf einen Behinderungsbegriff, der Behinderung vornehmlich als Konstrukt betrachtet.

1.2.1 Der Behinderungsbegriff: Behinderung als Konstrukt und die ICF

Angestossen von der Behindertenbewegung, die in den 1960er-Jahren im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung in den USA entstanden ist, hat sich das Verständnis von Behinderung erheblich verändert. Der medizinischen Sicht-weise, die Behinderung am Individuum festmacht und als individuelle Schä-digung betrachtet, wurde spätestens Ende der 1990er-Jahre ein multikausa-les Verständnis entgegengesetzt, in dem Behinderung vermehrt als soziales Konstrukt betrachtet wird. Ausgrenzende gesellschaftliche Bedingungen werden dabei als Element thematisiert, das den Tatbestand der Behinderung erst hervorbringt. Im theoretischen Fachdiskurs hat sich heute die Erkennt-nis durchgesetzt, dass Behinderung keineswegs als ein festgeschriebener,

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unveränderbarer Zustand gesehen werden kann, sondern dass sie sich erst in einem bestimmten Kontext manifestiert und damit auch als relativ zu be-trachten ist (vgl. Cloerkes, 2003 und 2007; Waldschmidt, 2005). «Behinde-rung ist nichts Absolutes, sondern erst als soziale Kategorie begreifbar. Nicht der Defekt, die Schädigung, ist ausschlaggebend, sondern die Folgen für das einzelne Individuum» (Cloerkes, 2007, S. 9). In der «International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)» der WHO von 2001 findet dieses veränderte Verständnis von Behinde-rung seinen Ausdruck. Im Gegensatz zum Modell von 1980, das eine eher de-fizitorientierte Klassifizierung von Behinderung aufwies (vgl. Cloerkes, 2007, S. 5f.), besteht mit der ICF ein Instrument, das möglichst alle Faktoren in Be-zug auf Partizipation und Aktivität einer Person in allen Lebensbereichen er-sichtlich macht. Mit Blick auf Teilhabe und Ausschluss werden erschwerende Umstände, welche die Personen mitbringen, genauso sichtbar gemacht wie förderliche Faktoren oder Barrieren, die durch Umweltfaktoren entstehen. «Das Konzept [der ICF] ermöglicht eine differenzierte Betrachtung der Ent-wicklung von Beeinträchtigung und Behinderung. Und es lässt die Identifi-kation von förderlichen und beeinträchtigenden Faktoren zu» (INSOS Schweiz, 2009, S. 22). Damit kann die ICF als wichtiges Analyseinstrument für die vorliegende Studie herangezogen werden. Das Konzept der funktiona-len Gesundheit nach ICF begreift Behinderung als ein aus verschiedenen Komponenten zusammengesetztes Phänomen: «Die Funktionsfähigkeit und Behinderung eines Menschen wird als eine dynamische Interaktion zwischen dem Gesundheitsproblem (Krankheiten, Gesundheitsstörungen, Verletzun-gen, Traumen usw.) und den Kontextfaktoren aufgefasst» (WHO, 2013, S. 35). Mit der Berücksichtigung der drei Dimensionen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivität und Partizipation hebt die ICF (vgl. WHO, 2005) den Umstand hervor, dass Menschen mit ihren Körperfunktionen aktiv han-delnd an unterschiedlichen Lebensbereichen teilnehmen. Auf allen drei Di-mensionen können Beeinträchtigungen vorhanden sein bzw. erfolgen. Damit kann deutlich gemacht werden, dass eine Beeinträchtigung (die ICF spricht von Schädigung) auf der Dimension der Körperfunktionen nicht zwangsläu-fig auch zu einer Beeinträchtigung auf den anderen beiden Dimensionen führen muss.

• Dimension des Körpers: Körperfunktionen (physiologische oder psychi-sche Funktionen von Körpersystemen); Körperstrukturen (anatomische Teile des Körpers). Beeinträchtigungen auf dieser Dimension werden Schädigungen genannt.

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• Dimension der Aktivität: Zum Menschsein gehört es, tätig zu sein. Beein-trächtigungen auf dieser Dimension werden «Aktivitätsstörungen oder Leistungseinschränkungen» genannt.

• Dimension der Partizipation: Diese Dimension weist auf die Teilhabe einer Person an einer Lebenssituation bzw. einem Lebensbereich hin – vor dem Hintergrund ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Verfassung, ih-rer Körperfunktionen und Strukturen, ihrer Aktivitäten und ihrer Kon-textfaktoren (Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren). Beein-trächtigungen in dieser Dimension werden «Beeinträchtigungen der Par-tizipation» genannt. Damit sind auch Barrieren in der Partizipation ange-sprochen (vgl. WHO, 2005, S. 27).

Gesundheitsprobleme(Gesundheitsstörung oder Krankheit)

Körperfunktionenund -strukturen

AktivitätenPartizipation(Teilhabe)

Umwelt-faktoren

personenbezogeneFaktoren

Abbildung 1: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF

(in Anlehnung an WHO, 2005, S. 23)

Die Dimension der Partizipation macht das Verständnis der ICF von Behin-derung als soziales Phänomen besonders deutlich. Indem Person und Kon-textfaktoren zueinander in Bezug gesetzt werden, werden explizit die sozia-len und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Menschen leben, mitthematisiert. So definiert sich Teilhabe in der ICF aus der Wechselwir-kung zwischen einer Person und ihren Umweltfaktoren, d. h. nicht mehr aus-schliesslich aus der Beeinträchtigung einer Person. Gesellschaftliche und so-ziale Bedingungen haben damit einen erheblichen Einfluss darauf, ob eine Person in ihrer Teilhabe eingeschränkt wird und damit «behindert» ist. «Die

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Partizipation der Menschen mit Beeinträchtigungen an der Gesellschaft wird hiermit vonseiten der WHO regelrecht gefordert, und muss als Maxi-me und Qualitätskriterium ins Zentrum des professionellen behindertenpä-dagogischen Handelns mit der Zielperspektive der System- und Sozialen In-tegration gestellt werden» (Gautschin et al., 2010, S. 13). Der in der Studie verwendete Begriff «Menschen mit Beeinträchtigun-gen» ist dialogisch zu verstehen: Die Beeinträchtigung haftet nicht dem Menschen an, sondern der Situation, die als veränderbar anzusehen ist.

1.2.2 Zielperspektiven und Handlungsmaximen

Das Verständnis von Behinderung als soziales Phänomen äussert sich auch darin, dass sich der fachliche Diskurs an der Zielperspektive Empowerment und den damit verbundenen Handlungsmaximen Normalisierung, Selbstbe-stimmung, Integration / Inklusion und Partizipation orientiert. Das Empow-erment-Konzept gelangte im Rahmen der Bürgerrechtsbewegungen des letz-ten Jahrhunderts in den Fachdiskurs und hat diesen erheblich verändert und in der Folge die Ausarbeitung der ICF beeinflusst. Es verweist auf die Forde-rung von Betroffenen nach «Selbstermächtigung», und dem Recht, das Le-ben selbstbestimmt in die eigenen Hände nehmen zu können (vgl. Herriger, 2006; Theunissen, 2007). Die Befreiung aus fremdbestimmten Strukturen war – und ist auch heute noch – ein zentrales Anliegen von Selbsthilfebewe-gungen wie der Independent-Living-Bewegung und der Self-Advocacy-Bewe-gung, in denen Menschen mit einer Behinderung für ihre Anliegen und Rechte kämpfen (vgl. Miles-Paul, 1992; Hähner et al., 2013). Diese Bewegun-gen hatten und haben einen wesentlichen Einfluss darauf, dass Empower-ment zur zentralen Zielperspektive professionellen Handelns werden konn-te und Ausgliederungstendenzen der Behindertenhilfe endgültig infrage ge-stellt wurden. Das Empowerment-Konzept wendet sich gegen ein Modell fachlicher Hilfe, das ausschliesslich die Defizite von Personen ins Zentrum stellt und Menschen damit stets nur mit Blick auf ihre Hilflosigkeit wahr-nimmt (vgl. Rappaport, 1985; Theunissen, 2007). «Empowerment geht davon aus, dass Fähigkeiten beim Menschen bereits vorhanden sind oder zumin-dest möglich sind, vorausgesetzt man schafft Handlungsmöglichkeiten» (Rappaport, 1985, S. 270). Menschen sollen dabei unterstützt werden, ihre ei-genen Stärken zu entdecken und so einen «Zugewinn an Autonomie, sozia-ler Teilhabe und eigenbestimmter Lebensregie» zu erreichen (Herriger, 2006, S. 7). Theunissen (2007) sieht Empowerment als einen Prozess, der beein-

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trächtigten und ausgegrenzten Menschen ermöglicht, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Gemäss der Empowerment-Philosophie liegt der professi-onellen Arbeit dementsprechend eine Haltung zugrunde, die das Ziel hat, Menschen mit Beeinträchtigungen «zur Entdeckung und (Wieder-)Aneig-nung eigener Fähigkeiten, Selbstverfügungskräfte und Stärken anzuregen, sie zu ermutigen, zu stärken sowie konstruktiv und kooperativ zu unterstüt-zen, Kontrolle, Kontrollbewusstsein und Selbstbestimmung über die eige-nen Lebensumstände (zurück) zu gewinnen» (Theunissen, 1997, S. 378). Em-powerment kann für die professionelle Arbeit als Paradigmenwechsel ange-sehen werden, denn die Fachpersonen müssen «Abschied […] nehmen vom Bild der passiven und hilflosen KlientInnen» (Osbahr, 2000, S. 137). Als referenzielle Werte und Maximen des Empowerment-Konzeptes gel-ten – wie oben bereits erwähnt – Konzepte wie Selbstbestimmung, Norma-lisierung, Integration / Inklusion und Partizipation. Es sind dies Konzepte, welche die Grundanliegen von Empowerment in der Praxis durchzusetzen helfen (vgl. Theunissen & Schwab, 2012). Zentraler Grundwert von Empow-erment ist die Selbstbestimmung. Die Forderung nach Selbstbestimmung ist als das wichtigste Anliegen der Behindertenbewegung zu sehen, mit dem Abhängigkeitsverhältnisse, Aussonderung und Stigmatisierung bekämpft werden sollen. Eine Orientierung am Wert der Selbstbestimmung fordert die professionellen Fachpersonen auf, Menschen mit Beeinträchtigungen als selbstbestimmte Subjekte zu behandeln, von Fremdbestimmung und gut ge-meinter Bevormundung Abstand zu nehmen und ein dialogisches und part-nerschaftliches Verständnis von Unterstützung zu zeigen (vgl. u. a. Theunis-sen, 2007). Das Konzept der Normalisierung beruht auf dem Gedanken, dass «Mitbürgerinnen und Mitbürger mit geistigen, körperlichen oder psychi-schen Behinderungen» ein Leben führen können sollen, «das dem ihrer nichtbeeinträchtigten Mitbürgerinnen, Mitbürger entspricht; in aller Kürze: ein Leben so normal wie möglich» (Thimm, 1992, S. 283). Das Normalisie-rungsprinzip wurde seit den späten 1950er-Jahren vom Dänen Bank Mikkel-sen und vom Schweden Bengt Nirje in den behinderungspädagogischen Fachdiskurs eingeführt (vgl. Nirje, 1994) und später erweitert. Grundsätzlich fordert das Normalisierungsprinzip, dass Menschen mit Beeinträchtigungen nicht in Sondereinrichtungen untergebracht werden, sondern ein Anrecht auf normale Lebensbedingungen in den Bereichen Wohnen, Arbeiten, Part-nerschaft, Freizeit sowie insgesamt auf gesellschaftliche Teilhabe haben. Das Normalisierungsprinzip darf nicht missverstanden werden als eine Art An-passung und Angleichung der Menschen mit Beeinträchtigungen an die gel-tenden Normen mithilfe von Fördermassnahmen (vgl. Hähner et al., 2013;

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Beck, 1996). Vielmehr geht es darum, jeden Menschen mit seinen spezifi-schen Bedürfnissen wahrzunehmen und anzuerkennen sowie Wahlmöglich-keiten zu schaffen. Das Normalisierungsprinzip führt unweigerlich zur Maxime der Integ-ration und Inklusion, also zur Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigun-gen an allen gesellschaftlichen Teilbereichen des Lebens. Im Fachdiskurs hat der Begriff der Inklusion denjenigen der Integration in den letzten Jahren ab-gelöst bzw. ergänzt. Während der Begriff Integration einen vorangegangenen Ausschluss von Menschen mit Beeinträchtigungen impliziert, die von der ge-sellschaftlichen Mehrheit integriert werden müssen, fokussiert Inklusion die Verschiedenheit aller Menschen in einer Gesellschaft und zielt damit auf die Veränderung der strukturellen Bedingungen dahingehend, dass Ausschluss-prozesse erst gar nicht zustande kommen (vgl. Hinz, 2002 und 2008). Menschen mit Beeinträchtigungen sollen die Möglichkeit haben, an al-len gesellschaftlichen Teilbereichen teilzuhaben und in unterschiedlichen Lebenssituationen einbezogen zu sein. Über diese gesellschaftliche Perspek-tive hinaus meint Partizipation aber auch die Beteiligung an Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen. In der ICF stellt Partizipation daher neben der Aktivität einen zentralen Bezugspunkt dar (vgl. WHO, 2005). «Die Da-seinsentfaltung einer Person manifestiert sich in ihrer aktiven Partizipation, Teilhabe, Teilnahme, Beteiligung oder Integration hinsichtlich der Lebensbe-reiche, an denen die Person teilhaben möchte» (Schuntermann, 1999, o. S.).

1.3 Arbeit und Behinderung – zwischen Lohnarbeit und Sinnstiftung

Arbeit ist ein vielschichtiges, gesellschafts- und epochenübergreifendes Kon-zept. Historisch erlebt Arbeit eine Entwicklung von der Aufgabe der Armen zur Notwendigkeit für Reichtum (vgl. Bamberg, Mohr & Busch, 2012). Galt Arbeit zunächst nur als notwendige Mühsal, erhielt sie in der protestanti-schen Bewegung eine positive Wertschätzung: Arbeit im Sinne des Dienstes am Nächsten und als von Gott auferlegte Lebensaufgabe verleiht dem Leben einen Sinn (vgl. Hoffmann, 2007). In der Industrialisierung löst sich der Be-griff Arbeit «von der Verknüpfung mit Armut, und Arbeit wird zu einer spe-zifisch menschlichen Potenz, die gewinnbringend genutzt werden kann» (Bamberg, Mohr & Busch, 2012, S. 19). In der heutigen westlichen Gesellschaft ist Arbeit mit einer ökonomi-schen Denkweise verbunden und wird oftmals auf Lohnarbeit reduziert, sprich auf eine Tätigkeit, die gegen Geld geleistet wird und der Existenz-

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sicherung dient (vgl. Graf, 2008a; Hoffmann, 2007). Lohnarbeit erhält da-durch zum einen ein Moment der Angst – die Angst vor dem Verlust der Ar-beitsstelle (vgl. Graf, 2007). Zum anderen ist sie entscheidend für die Reali-sierung von Lebenschancen (vgl. Grampp, 2004). Sie beruht also auf einer fi-nanziellen Notwendigkeit für die Arbeitnehmenden und unterliegt auch aus der Perspektive der Arbeitgebenden ökonomischen Zwecken. Die Erwerbsar-beit grenzt sich deutlich von der unbezahlten Arbeit, beispielsweise der Re-produktionsarbeit oder der auf Kommunikation basierenden Netzwerkar-beit, ab (vgl. Barloschky, 2000). Es werden hauptsächlich diejenigen Tätig-keiten des menschlichen Tuns als Arbeit aufgefasst, die den Gesetzmässig-keiten des Produzierens unterliegen (vgl. Graf, 2008b). Produktionsarbeit orientiert sich vorwiegend an planmässigen, mit anderen koordinierten und zielorientierten Verhaltensweisen, woraus ein bestimmtes Produkt resul-tiert. Arbeitsteilung soll in diesem Zusammenhang eine effektivere Gestal-tung und eine Produktivitätssteigerung bewirken. Vorausgesetzt werden so-genannte Arbeitstugenden wie beispielsweise Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Konzentration, Kooperation, die bereits während der Schulbildung sowie der beruflichen Bildung erlernt werden (vgl. Klauss, 2004a). Löst man sich von der Reduktion der Arbeit auf Lohnarbeit und betrach-tet sie als tätige Auseinandersetzung mit der Welt, erhält Arbeit über die Existenzsicherung hinaus weitere Bedeutung: Sie ist persönlichkeitsbildend, hat eine sinnstiftende Funktion und vermittelt Selbstbestätigung und Kom-petenzerleben. Durch den gesellschaftlichen Stellenwert, welche die Er-werbsarbeit einnimmt, wird sie zu einem relevanten Lebensbereich. Die Er-werbstätigkeit vermittelt soziale Kontakte, Einbindung und Anerkennung sowie gesellschaftlichen Status und strukturiert den Alltag. Sie symbolisiert Normalität und Dazugehörigkeit (vgl. Kradorff & Ohlbrecht, 2010).

1.3.1 Arbeit und Behinderung – der zweite Arbeitsmarkt

Aus der eben umrissenen Umschreibung der produktiven Erwerbsarbeit kommt der Arbeit «das Vermögen, Gebrauchswert zu schaffen und – durch das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit bedingt – zugleich die Eigen-schaft zu, von Wert zu sein» (Struve, 2012, S. 243). Dieser Wertbezug findet sich immer noch im Begriff der Invalidität. Da Menschen mit Beeinträchti-gungen oftmals mit der durchschnittlichen Arbeits- und Leistungsfähigkeit nicht mithalten können, geraten sie in «Widerspruch zur Verwertungslogik des Kapitals» (Hoffmann, 2007, S. 108). Sie leisten daher ihre tägliche Arbeit

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häufig in geschützten Werkstätten, Tagesstätten oder Eingliederungsstätten, sprich im zweiten Arbeitsmarkt. Dieser stellt ergänzende Beschäftigungs-möglichkeiten zum ersten Arbeitsmarkt dar und steht grundsätzlich allen Menschen mit jeglicher Art von Beeinträchtigung offen (vgl. Baumgartner, 2012). Der zweite Arbeitsmarkt kennzeichnet sich im Gegensatz zum ersten Arbeitsmarkt, der freien Wirtschaft, durch ein breit gefächertes Angebot von unterschiedlichen Tätigkeiten, differenziert nach Schweregraden. Die Tätigkeiten variieren je nach physischen und kognitiven Voraussetzungen und nehmen diverse Komplexitätsstufen ein. Zu den herkömmlichen Ar-beitsbereichen in geschützten Werkstätten gehören Abteilungen wie Holz-, Metall- und Textilverarbeitung, Druckerei und Papierverarbeitung sowie Montage. Grundsätzlich gilt, dass sich der zweite Arbeitsmarkt durch folgen-de Merkmale vom ersten Arbeitsmarkt unterscheidet (vgl. Walczak, 1979):• Komplexe Arbeiten sind in verschiedene Handlungs- und Tätigkeitsabläu-

fe gegliedert und damit für Menschen mit Beeinträchtigungen überschau-barer gestaltet.

• Termin- und Arbeitsdruck der zu tätigenden Arbeiten sind auf ein Min-destmass reduziert.

• Es wird kein Leistungs- und Produktionsdruck auf die Menschen mit Be-einträchtigungen ausgeübt.

• Flankierende Massnahmen werden von Fachpersonen aus der Sozialpäd-agogik angeboten und begleiten die Arbeit.

Der erste und der zweite Arbeitsmarkt stellen zwei divergierende Systeme dar. Menschen mit Beeinträchtigungen haben einen tendenziell erschwerten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt und sind daher auf die Angebote des zwei-ten Arbeitsmarktes angewiesen. Ob der erste und der zweite Arbeitsmarkt zwei parallele, aber strikt getrennte Systeme sind, oder ob im Hinblick auf die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen ihre je unterschied-lichen Funktionslogiken gewinnbringend verbunden werden können, soll an dieser Stelle (noch) offenbleiben.

1.3.2 Das Recht auf Arbeit

Bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren und der damaligen «Geistigbehin-dertenpädagogik» nahm das Recht auf Arbeit neben dem Recht auf Bildung einen zentralen Stellenwert ein (vgl. Klauss, 2004a). In der Schweiz hat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) die Aufgabe, Benachteiligungen