Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für ... · (Ist Theodor Geiger vor Luhmann...

23
Helmut Thome Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für Soziologie 06099 Halle e-mail: [email protected] Tel.: 0345/5524260 Solidarität und Gewissen Eine Projektskizze Langfassung des Manuskripts zu einem Vortrag am Institut für Sozialforschung, Frankfurt/M., 16. Nov. 1998

Transcript of Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für ... · (Ist Theodor Geiger vor Luhmann...

Helmut Thome

Martin-Luther-Universität Halle-WittenbergInstitut für Soziologie

06099 Hallee-mail: [email protected]

Tel.: 0345/5524260

Solidarität und Gewissen

Eine Projektskizze

Langfassung des Manuskripts zu einem Vortrag amInstitut für Sozialforschung, Frankfurt/M., 16. Nov. 1998

1 Die Fußnoten sind nicht Teil des Vortrags, sondern Merkposten für die Diskussion und dieweitere Arbeit am Thema.

1

1. Einleitung:1

Als ich das Thema zu diesem Vortrag vorschlug, hatte ich die Absicht, das Solidaritäts- und das

Gewissenskonzept gleichgewichtig zu behandeln. Als ich das Ms. so halbwegs ausgearbeitet hatte,

mußte ich feststellen, daß es viel zu lang war. Ich habe mich dann entschlossen, nicht beide Teile

gleichermaßen zu kürzen, sondern mich auf das Gewissensthema zu konzentrieren, denn das ist der

Fokus des empirischen Projekts, das ich mir vorgenommen habe. Allerdings ist es auf das Solidaritäts-

thema bezogen und diesen Zusammenhang möchte ich wenigstens andeuten. (Ausführlich habe ich

mich in meinem Beitrag zu dem von Bayertz herausgegebenen Sammelband mit dem Solidaritäts-

konzept auseinander gesetzt.)

Grundsätzlich bemühe ich mich in meinen Arbeiten, möglichst wenig durch Definitionen festzuschreiben

und möglichst viel als offene empirische Fragen oder Hypothesen zu formulieren. Auch dem Soli-

daritätskonzept lege ich zunächst nur eine (minimale) Kerndefinition zugrunde, so etwas wie den

kleinsten gemeinsamen Nenner, der sich in fast allen vorfindbaren Versionen dieses Konzepts auffinden

läßt: Als solidarisch wird ein Handeln bezeichnet, das bestimmte Formen des helfenden, unter-

stützenden, kooperativen Verhaltens beinhaltet und auf einer subjektiv akzeptierten Verpflichtung oder

einem Wertideal beruht. Damit ist das solidarische Handeln von anderen Formen des kooperativen

Verhaltens abgegrenzt, das nur zufällig hilfreich ist oder ausschließlich durch externe Belohnungen oder

Sanktionen, also strategisch, motiviert ist. Die Definition schließt nicht aus, daß (gemeinsame) "Inter-

essen" in solidarischer Weise verfolgt werden können; sie besagt aber, daß eine Kooperation, sofern

sie in "solidarischer" Weise geschieht, nicht allein schon deshalb unterlassen oder aufgekündigt werden

kann, wenn die individuelle Nutzenkalkulation des Akteurs dies nahelegt. Wer in diesem Sinne

solidarisch disponiert ist, wird dazu tendieren, Gelegenheiten zum Trittbrettfahren aus eigenem Antrieb

nicht auszunutzen. (Baurmann 1997 nennt dies "Solidarität aus Fairneß", eine Kategorie, die er von der

"Solidarität aus Eigeninteresse" und der "Solidarität aus Opferbereitschaft" abgrenzt.) Für bestimmte

Untersuchungskontexte kann es sinnvoll sein, einen Oberbegriff zu verwenden, unter dem solidarische

und eigennützige Kooperationsformen zusammengefaßt werden. In anderen Untersuchungskontexten,

die mich zur Zeit mehr interessieren, wird aber die Spezifikation sinnvoll, die ich gerade vorgenommen

habe. Sie ist Gegenstand des Projekts, das ich zur Zeit vorbereite. Darin soll nämlich der Erfahrungs-

2

gehalt des Verpflichtungsgefühls bzw. der Bindung an ein Wertideal erkundet werden, die solidarisches

Handeln motivieren oder Schuld- und Schamgefühle erzeugen, wenn es unterlassen wird. Dabei

bediene ich mich - aus Gründen, die noch darzulegen sind - des althergebrachten Begriffs des Gewis-

sens, so daß der Arbeitstitel des Projekts lautet: "Ausdrucksformen und Funktionsweisen des Gewis-

sens im Alltag". Bevor ich diese Projektidee näher erläutere, möchte ich noch ein paar Bemerkungen

zum Solidaritätskonzept anfügen.

Die eben zitierte Kerndefinition läßt zunächst offen, welche anderen Beziehungsmomente - neben der

faktischen Kooperation und ihrer besonderen Motivation - zwischen Akteur und Adressat gegeben

sind. Adressat können auch imaginierte oder erst zukünftig existierende Personen oder Gruppen sein,

wie z. B. zukünftige Generationen. Offen bleibt auch, wieweit diese Handlungsformen a) in einem

Sozialsystem normativ vorgeschrieben sind oder in anderer Weise als Strukturprinzip fungieren, b) als

internalisierte Verhaltensdisposition innerhalb eines Persönlichkeitssystems wirksam sind. Die ver-

schiedenen Solidaritätsbegriffe, die man in der Literatur vorfindet, differieren in den zusätzlichen

Bestimmungselementen, mit denen das helfende, unterstützende, kooperative Verhalten detaillierter

charakterisiert wird. Oft wird z. B. definitorisch (nicht empirisch-hypothetisch) festgelegt, dieses

Verhalten solle auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl von Gruppenmitgliedern beruhen. Empirisch

tritt helfendes-kooperatives Verhalten aber auch ohne diese Voraussetzung auf, und es ist unklar,

wieso man sie zum Bestandteil der (Ausgangs-)Definition machen soll. Statt entsprechend spezifizie-

rende Merkmalsdimensionen willkürlich oder lediglich mit Bezug auf die normativen Präferenzen des

Autors definitorisch einzuführen, sollte ihre Auswahl durch verallgemeinerbare funktionale Bezugs-

probleme gesteuert werden. Die Relation zwischen den analytischen Dimensionen, die den Solidaritäts-

begriff gleichsam aufspannen, und den interessierenden Funktionen muß hypothetisch, d. h. im Prinzip

empirisch überprüfbar sein. Dabei kann man an die Theorie- und Sozialgeschichte des Solidaritäts-

begriffs anknüpfen, in der zwei Bezugsprobleme durchgängig eine wichtige Rolle spielen: der Zu-

sammenhalt (die "Integration") einer Gruppe oder eines sozialen Systems und die Integrität oder

Würde der Menschen (die "personale Identität" der Individuen).

Es lassen sich dann unterschiedliche funktionale Kontexte bestimmen, in denen das "Gewissen" in

unterschiedlichem Maße involviert ist und in unterschiedlicher Weise operiert. In meinem Solidaritäts-

papier habe ich z. B. in der Dimension "symmetrische oder asymmetrische Tauschbeziehungen" zwei

Formen solidarischen Handelns unterschieden; die eine folgt dem Altruismus-Modell, die andere dem

Reziprozitätsmodell. Oder in der Dimension "normative Generalisierung" habe ich zwischen institu-

tionalisierten und informellen Solidaritätsregeln unterschieden, die unterschiedliche Implikationen für die

3

Erwartenssicherheit haben und unterschiedliche Kriterien für die Zuschreibung persönlicher Verant-

wortung und Autonomie liefern. In der Dimension "Exklusion/Inklusion" schließlich lassen sich Formen

solidarischen Handelns zwischen Gruppenmitgliedern und zwischen Fremden unterscheiden. In diesem

Zusammenhang habe ich auch vorgeschlagen, zwischen drei dysfunktionalen Formen solidarischen

Verhaltens zu unterscheiden: die repressive, die restriktive und die disruptive Solidarität. "Repressive

Solidarität" liegt vor, wenn eine Gruppe ihren Mitgliedern einen so hohen Grad an Disziplin und

Konformität aufzwingt, daß sie nicht das zu einer reifen persönlichen Identität notwendige Maß an

Autonomie entwickeln oder beibehalten können und folglich auch nicht die Interaktionskompetenz

erwerben, die sie in einer freieren Gesellschaft außerhalb ihrer Gruppe benötigen. - Von der "re-

pressiven" Solidarität unterscheide ich die "restriktive" Solidarität, die zwar nicht die Entwicklung einer

reifen Identität verhindert, aber die Nutzung und Realisierung individueller Kompetenzen innerhalb des

Gruppenkontexts einschränkt, z. B. unter dem Diktat konformistisch überzogener Egalitätsnormen

herausragende individuelle Leistungen und Innovationen stigmatisiert. - Während die "repressive" und

die "restriktive" Solidarität auf dysfunktionale Voraussetzungen für die persönliche Identitätsbildung

verweisen, soll mit dem Begriff der "disruptiven" Solidarität eine Situation gekennzeichnet werden, in

der intern hoch-integrierte Gruppen den Zusammenhalt eines umfassenderen Gemeinwesens verhin-

dern oder stören. Gruppen, die sich in einer antagonistischen Konfliktstruktur gegenüberstehen,

tendieren dazu, eine rigide Gruppenideologie zu entwickeln und eine scharfe Trennlinie zwischen

Mitgliedern ("Freunden") und Nicht-Mitgliedern ("Feinden") zu ziehen. Derartige Konfliktstrukturen

sind z. B. von Young (1970) unter dem Titel "reactive subsystems" und von Zablocki (1980) unter

dem Titel "countercultures" analysiert worden. Eine andere Spielart disruptiver Solidarität ist mit dem

"amoralischen Familismus" gegeben, den Putnam (1993) als eines der Hindernisse nennt, die in

Süditalien die Entwicklung einer "Zivilreligion" blockieren, die die Sippschaftsloyalitäten überschreiten

und ein demokratisches Gemeinwesen tragen könnte. Weitere Beispiele liefern einige der regionalisti-

schen Bewegungen. (Man könnte, daran anschließend, untersuchen, ob generell in modernen Gesell-

schaften Gruppen oder soziale Bewegungen, die Mitgliedschaften über askriptive Merkmale definieren,

zu einer der drei pathologischen Solidaritätsformen neigen.)

Besonders spannend war es dann für mich, einen Vergleich verschiedener Solidaritätstypen vor-

zunehmen, wie sie auf der einen Seite von dem Parsons-Schüler Rainer Baum und auf der anderen

Seite von Axel Honneth (in seinem Anerkennungsbuch) ausgearbeitet worden sind. Wenn man, wie ich

vorgeschlagen habe, Honneths Typologie auf der gleichen analytischen Ebene, auf der er die Rechts-

funktionen des Staatsbürgers ansiedelt, eine vierte Form hinzufügt, nämlich "Takt" und persönlichen

Respekt, dann werden erstaunliche analytische Korrespondenzen, vielleicht sogar Kongruenzen

2 (1) "Liebe und Freundschaft" (Honneth) korrespondiert mit Baums "autotelisch-expressiverSolidarität". (2) Die Zuerkennung der vollen Staatsbürgerschaft mit ihren politischenBeteiligungsrechten und sozialen Sicherheitsgarantien bildet zumindest eine analytische Schnittmengemit der Kategorie der politischen Solidarität (allerdings auch mit der sozio-moralischen Solidarität), diegarantierte Inklusion voraussetzt und daraus Rechte und Loyalitäten ableitbar macht. (3) Ein drittesKategorienpaar bilden "Takt" und "sozio-moralische Solidarität"; beide Male geht es um die ritualisierteDarstellung wechselseitiger Anerkennung der Mitglieder und ihrer moralischen Integrität im Rahmeneiner kollektiven Identität, die nicht auf persönliche Intimität gegründet ist. (4) Schließlichkorrespondieren "soziale Wertschätzung" (die aus den individuellen Beiträgen zur materiellen undsymbolischen "Wertschöpfung" erwächst) und "instrumentelle Solidarität" (in der individuellesLeistungsvermögen mit Kooperations- und Loyalitätsbereitschaft kombiniert sind).

4

sichtbar.2 Darauf sollte ich aus Zeitgründen jetzt wohl eher nicht eingehen, sondern zu meinem Gewis-

sensthema kommen.

2. Gewissen, einleitende Bemerkungen

Zunächst noch einmal die Verbindungslinien zum Solidaritätskonzept. In der Blickrichtung vom

"Gewissen" zur "Solidarität" kann man feststellen, daß Schuldgefühle häufig (aber nicht ausschließlich)

aus der tatsächlichen oder vermeintlichen Verletzung von Solidarnormen erwachsen. Wenn man vom

Solidaritätskonzept ausgeht (und das nicht rein behavioral definiert, wie etwa Michael Hechter), stellt

sich die schon vorhin erwähnte Frage nach der Natur des motivierenden Verpflichtungsgefühls. Was

heißt das eigentlich, daß man sich verpflichtet fühlt; was erlebt man da mit sich selbst?

Ich habe mich natürlich auch hier am Beginn meiner Projektkonzeption nach Literatur zum Thema

"Gewissen" umgeschaut. Im Bereich der empirischen Sozialforschung findet man fast nichts. Bei einer

Recherche im Datenbestandskatalog des Zentralarchivs für empirische Sozialforschung, Köln, mit den

Suchworten "Gewissen", "Schuld", "Scham", bin ich nur bei zwei Studien fündig geworden, die für

mich aber nicht verwertbar sind. Eine weitere Recherche in der FORIS-Datenbank des GESIS-

Informationszentrums in Bonn, die ja nicht nur Umfragedaten erfaßt, brachte keine neuen Hinweise. Es

werden zwar einige Studien von Theologen, Psychologen und Wirtschaftswissenschaftlern genannt,

innerhalb der Soziologie treten aber nur Studien auf, die das Thema rechtssoziologisch, nicht

allgemein-soziologisch bearbeiten. Die umfangreichste Erhebung stammt wohl von Reinhold Mo-

krosch, einem Theologen: "Gewissen und Adoleszenz. Christliche Gewissensbildung im Jugendalter".

3 Ob der theonome Gewissensbegriff unter diese Definition fällt, mag strittig sein. Da es beidieser Definition aber noch nicht um analytische Schärfe, sondern nur um eine Grobspezifikation geht,ist es zulässig, auch die "vox dei" als "Standard" aufzufassen.

5

Im Bereich soziologischer Theorie sieht es ähnlich aus. Ich bin nur auf einen einzigen prominenten

deutschen Soziologen gestoßen, der das Gewissensthema in den letzten 25, 30 Jahren systematisch in

zwei Abhandlungen bearbeitet hat: Niklas Luhmann; seine zweite stammt aber auch schon aus dem

Jahre 1973 (in: Böckle/Böckenförde (Hg.), Naturrecht in der Kritik, Mainz: Grünewald). Mit ihr

werde ich mich nachher ausführlich beschäftigen. Ansonsten habe ich in der deutschen soziologischen

Literatur der letzten 25 Jahre keine Arbeit entdeckt, die sich systematisch mit Begriff und Phänomen

des persönlichen Gewissens auseinandersetzte. (Ist Theodor Geiger vor Luhmann der letzte?) Al-

lerdings liegen etliche Arbeiten zu institutionalisierten Ausdrucksformen des Gewissens - bspw. zur

Beichte - und eine Reihe von rechtssoziologischen Studien zur Schuldproblematik und dem verfas-

sungsrechtlichen Institut der Gewissensfreiheit vor. Mich interessieren aber primär die alltäglichen

Erscheinungsformen des Gewissens.

Wenn man vom Gewissensbegriff abrückt und Ersatz-Termini wie "Über-Ich" oder "moralisches

Bewußtsein" akzeptiert, schwillt die Literatur natürlich fast uferlos an. Ich möchte aber zunächst einmal

am Gewissensbegriff festhalten. Eine vorläufige Definition könnte wie folgt aussehen:

Unter "Gewissen" ist die Fähigkeit eines Menschen zu verstehen, sich selbst und seine Hand-

lungen retrospektiv und prospektiv nach bestimmten Standards zu beurteilen und dabei die

Diskrepanz zwischen dem Standard und dem eigenen Handeln als Schmerz, Angst, Unlust,

insbesondere als Schuld- oder Schamgefühl zu erfahren.3

In dieser Anfangsdefinition bleibt offen, welche Standards zum Anlaß schmerzhafter Selbstüber-

prüfungen werden können. Alltagserfahrungen und psychologische Studien (wie die von Blasi) zeigen

uns, daß auch nicht-moralische (von den Personen selbst als nicht-moralisch gekennzeichnete)

Standards hierfür in Frage kommen. Auch die weitere Charakterisierung der Gefühle, etwa eine

adäquate Unterscheidung von "Scham" und "Schuld" wird hier nicht vorgegeben. Der Gewissensbegriff

soll ein Themenfeld für kritische Selbst-Überprüfungen abdecken, das breiter angelegt ist, als es der

Begriff des moralischen Bewußtsein zulassen würde. In der Definition bleibt ebenfalls offen, wie sich

"Gewissen" bildet und wie es innerhalb der selbstbezüglichen Struktur personaler Identität zu verorten

ist.

6

Im Gewissensbegriff werden Regelbewußtsein und Selbstwahrnehmung mit einer bestimmten emo-

tionalen Erfahrung verknüpft. Beim Gewissen ist man vor Überraschungen mit sich selbst nicht sicher.

Die Sozialwissenschaften tendieren dazu, den Gesamtkomplex aufzuspalten und Einzelaspekte unter

den schon erwähnten Ersatztermini zu behandeln: Die gefühlsintensive Selbstwahrnehmung z. B. als

Spannungszone zwischen "Ich" und "Über-Ich", das subjektive Regelbewußtsein als "moralische

Urteilsfähigkeit", das Regelsystem selber schließlich als wandelbare, kulturelle Ressource der Weltaus-

legung und der Gemeinschaftsstiftung. Diese Aufspaltungen des Gesamtkomplexes sind bis zu einem

gewissen Punkt sicherlich nützlich. Sie nehmen dem Gewissensbegriff aber auch seinen Stachel und sie

bleiben in ihren Bedeutungsschnipseln hinter dem Facettenreichtum der Begriffsgeschichte weit zurück.

Mit den Ersatztermini hält sich der Forscher sein eigenes Gewissen vom Leibe; möglicherweise

verschafft er sich noch einen besonderen Lustgewinn dadurch, daß er die oberste Stufe moralischer

Kompetenz so konstruiert, daß er sie selbstgefällig für sich in Anspruch nehmen kann. - In einem

Interview mit dem SPIEGEL (52/1996) hat Rüdiger Safranski zum Begriff des "Bösen" etwas gesagt,

was auch für das "Gewissen" gelten kann:

"Mir geht es beim Nachdenken über das Böse darum, den Reichtum der Beschreibung wie-

derherzustellen gegenüber den menschlichen Tatsachen. Die Begriffe, mit denen die Wissen-

schaft arbeitet, erscheinen mir notorisch harmloser als die Wirklichkeit."

Das soll heißen: der Soziologe braucht auch diejenigen Beschreibungen, die im Alltag benutzt werden,

wo Deskriptives und Normatives miteinander gemischt sind. Andererseits benötigt er allerdings auch

die technischen, abstrahierenden und schärfer differenzierenden Begriffe seiner Fachsprache. Man

müßte hin und her gehen zwischen den beiden Begriffstypen. Man muß sensibel bleiben gegenüber

dem vageren, aber auch reicheren Bedeutungsgehalt der Alltagsbegriffe. Man muß aber auch versu-

chen, normative und deskriptive Gehalte zu trennen (was etwas anderes ist, als normative Gehalte nicht

zuzulassen).

Ein wichtiger Ansatzpunkt, um den Bedeutungsreichtum des Begriffs offenzulegen, bietet sicherlich die

Begriffsgeschichte, die bis zu Freud vor allem durch den religiösen und philosophischen Diskurs

geprägt worden ist. Mit der Begriffsgeschichte sollte man sich als Soziologe, der Gewissensforschung

betreiben will, vor allem aus folgenden Gründen beschäftigen. Erstens ist davon auszugehen, daß

Äußerungsformen und Funktionsweisen des persönlichen Gewissens abhängig sind von der Art und

Weise, wie die Akteure selbst ihr Gewissen interpretieren und es in Beziehung setzen zum Gewissen

anderer, zu sozialen Normen und materiellen Lebensbedingungen, zu ihrer eigenen Lebensgeschichte.

4 Zum Identitätsbegriff siehe Luhmanns Aufsatz in Poetik u. Hermeneutik VIII,S. 322: Gebraucht wird Identität nur dann, wenn Situationen Verhaltenswahlen eröffnen und sichdaraus, ob gewollt oder nicht, eine Kontingenz allen Anschlußverhaltens ergibt. Gleichgültig was mandann tut oder unterläßt, sichert Identität in solchen Fällen die Kontinuität trotz Wahl. Identität ist mithinkein Zweck, den man durch Wahl zu erreichen sucht. Sie läßt sich auch nicht durch Wahl zerstören,denn auch Zerstörung des Systems wäre ja Zerstörung nur in bezug auf die Identität, um die es geht,also in bezug auf eine in der Zerstörung akzeptierte Kontinuität. Identität ist daher auch nicht die Sacheselbst oder das System selbst, von dem man sagt, es sei identisch. Identität ist ein Kompensativ für

7

Und zweitens vermute ich, daß diese Alltagstheorien des Gewissens, die subjektiven Interpretationen,

selektiv von der Begriffsgeschichte geprägt sind, deren Sedimente sich in den sozialen Landschaften

abgelagert haben. Da könnte inzwischen auch die Soziologie ihre Prägungen hinterlassen haben,

vielleicht auch solche, die gegen ihre Intentionen gerichtet sind. Man kann sich z. B. vorstellen, daß ein

vulgärer soziologischer Determinismus als Entlastungsargument gegen Zumutungen des Gewissens in

Stellung gebracht werden kann.

Ich werde hier aber nicht über die Begriffsgeschichte referieren (s. hierzu ausführlich Kittsteiner). Statt

dessen möchte ich zeigen, wie man Überlegungen von Luhmann und Habermas nutzen kann, um zu

gehaltvollen empirischen Fragen über Ausdrucksformen und Funktionsweisen des Gewissens zu

gelangen.

3. Luhmanns Theorie des persönlichen Gewissens

Von Luhmann hätte man vielleicht eher eine Erklärung erwartet, warum der Gewissensbegriff in der

heutigen Soziologie kaum noch zu finden ist, schließlich stellt er sich doch gerne als Hauptkritiker

alteuropäischer Denktraditionen dar. So muß es zunächst einmal überraschen, daß gerade er die

beiden einzigen - die einzigen von mir aufgefundenen - soziologischen Abhandlungen geschrieben hat,

die sich in jüngerer Zeit systematisch und lehrreich mit dem Gewissensbegriff auseinandersetzen. Dabei

wählt er einen Einstieg in das Thema, der aus der alteuropäischen, genauer der christlichen Tradition

vertraut ist; er setzt nämlich an bei dem engen Zusammenhang zwischen Gewissen und personaler

Identität. Aber Luhmann wäre nicht Luhmann, wenn er dem nicht einen ganz anderen Dreh abgewön-

ne. Als Drehmoment fungiert, wie stets bei ihm, eine funktionale Analyse. Gewissen wird nicht

verstanden als "Substanz" oder "Instanz", nicht als vox dei oder als durch Natur und Vernunft erleuch-

tete innere Stimme, nicht einmal mehr als Repräsentant einer moralischen Ordnung. Statt dessen wird

es ausschließlich funktional definiert als eine Selbstnormierung der Persönlichkeit, die auf diese Weise

ihre Identität stabilisiert.4 Aus diesem Ansatzpunkt entwickelt er ein so hohes Beschleunigungsmoment,

Kontingenz, ist das, was immer die Funktion erfüllt, das Dissoziationsrisiko aller Selektivität zuneutralisieren.

5 1973, S. 227: Die Werte werden sehr oft erst nach der Erfahrung oder nach derEntscheidung in ein konsistentes Deutungsmuster eingepaßt. Die Identität der Persönlichkeit hängt dannweniger von der Bindung an bestimmte Werte ab als davon, daß sie in allen Lagen über passendeWerte verfügt ... für normale Verhaltensweisen können immer Rechtfertigungen gefunden werden.

8

daß es ihn nicht nur mühelos aus der alteuropäischen Tradition herauspropelliert, sondern am Ende

dazu bringt, den Gewissensbegriff überflüssig zu machen, jedenfalls stillschweigend ad acta zu legen.

Luhmann lokalisiert das Gewissen als "erlebbares Phänomen" (1973, S. 223) "im Bereich derjenigen

Strukturen und Prozesse, die zur Selbstidentifikation der Persönlichkeit beitragen. [Allerdings bemüht

er sich nicht um eine nähere Beschreibung dieses Phänomens, des Erlebnisgehalts. Ansatzweise tut er

das in einem früheren Aufsatz "Die Gewissensfreiheit und das Gewissen"]. Die Selbstidentifikation

wiederum versteht er als ein zentrales Moment in der Konstitution eines personalen Systems, das sich

von seiner gesellschaftlichen Umwelt und von anderen personalen Systemen ausgrenzt und sich dabei

als "reflexive Identität" begreift, die über interne Kriterien der Selektion und der Zurechnung von

Handlungen und Erleben verfügt. Wie bei jeder Sinnbildung, die Luhmann betrachtet, sieht er auch die

Selbstidentifikation als eine Leistung an, die drei Generalisierungsdimensionen miteinander verknüpfen

muß: die sachliche, die zeitliche und die soziale. In der sachlichen Dimension geht es um die inhaltliche

Ausformung der Selbstidentifikation, um Antworten auf die Frage, wer, was für ein Mensch man ist

oder sein will. Abstrakt gesprochen geht es um Selektionsleistungen, die gegenüber einem riesigen

Horizont von Möglichkeiten des Handelns und Erlebens fortlaufend erbracht werden und die Kon-

sistenzerfordernissen genügen müssen. Zur Sicherung der Konsistenz sind laut Luhmann kognitive

Strukturen und Kapazitäten wichtiger als Wertorientierungen.5 (Diese Aussage ist ziemlich inhaltsleer,

da man offensichtlich beides braucht; in die Wertgeneralisierung - die hier benötigt wird - gehen

natürlich kognitive Komponenten ein). Entscheidend sind für ihn das erreichbare Abstraktionsniveau

und die Komplexität der kognitiven Ordnungsmuster. Je höher die Abstraktionsleistungen und die

strukturelle Komplexität einer Persönlichkeit, um so größer die Variationsmöglichkeiten des Erlebens-

und Handelns, die innerhalb der Grenzen der eigenen Identität als vereinbar interpretiert werden

können.

9

Die sachliche Konsistenz ist einerseits Voraussetzung für die Interaktionsfähigkeit des Individuums, -

personale Identität, das Konsistentbleiben in den Verhaltensmustern wird sozial erwartet (1973: 228).

Andererseits erwächst die Selbstidentifikation aus einer, wie Luhmann sagt, Integration von Ego- und

Alterfunktionen in Interaktionskontexten (1973: 226). Vereinfacht ausgedrückt, geht es in der sozialen

Dimension darum, daß Ego und Alter ihre wechselseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen

so aufeinander abstimmen können, daß sie sich verstehen und ihre Handlungen so antizipieren und

koordinieren können, daß sie mit der jeweiligen Selbst-Identifikation übereinstimmen oder wenigstens

vereinbar sind. An dieser Stelle gibt es ein bedeutsames theoretisches Problem, nämlich die Ein-

beziehung des Dritten, des konkreten oder "generalisierten" Anderen, der bei Luhmann als Theorie-

Figur, soweit ich sehe, nicht auftritt. Wenn aber Ego und Alter ihr Handeln voreinander rechtfertigen,

verweisen sie implizit auf einen unparteiischen Dritten; sie identifizieren sich wechselseitig als Mitglieder

einer Gemeinschaft. An dieser Stelle befindet sich, so scheint mir, in Luhmanns Theorie ein blinder

Fleck. Auch der Achtungsbegriff, der bei ihm die Basis für eine Explikation des Moralbegriffs bildet,

wird allein mit Referenz auf die Ego-Alter-Dyade eingeführt: Die wechselseitige Gewährung von

Achtung ist ein Zeichen für die gelungene Integration von Ego- und Alterfunktionen. "Mit Achtung (...)

soll eine generalisierte Anerkennung und Wertschätzung gemeint sein, mit der honoriert wird, daß ein

anderer den Erwartungen entspricht, die man für eine Fortsetzung der sozialen Beziehung voraussetzen

zu müssen meint" (Soziale Systeme 1984, S. 318).

Auch in der zeitlichen Dimension werden einerseits Probleme generiert, andererseits Ressourcen

verfügbar. In den Mühen der Vergewisserung darüber, wer man ist, liefert die rekonstruierte Biografie

Materialien und Gesichtspunkte, die in der Konstruktion einer Einheit des Ich genutzt werden können.

Andererseits machen rapide Veränderungen der diversen Umwelten, die erforderlichen hohen Niveaus

sozialer und sachlicher Flexibilität die Kontinuierbarkeit der Identitätsstrukturen, die Reproduzierbar-

keit von einmal gefundenen Problemlösungen schwierig; Konsistenz wird zu einem biografischen

Problem (1973: 229). Dabei geht es nicht nur um faktische Verhaltensunsicherheiten, die man bei sich

und anderen beobachtet, sondern um das Bewußtwerden der Vielfalt der Möglichkeiten als Möglich-

keiten, die dazu einladen, sie wahrzunehmen. Zitat Luhmann: "Man könnte belügen, kränken, töten -

selbst den, den man liebt. Die Möglichkeit fasziniert und lädt ein zum Ausprobieren, weil es doch eine

eigene Möglichkeit ist" (1973: 229).

In Luhmanns Theorie - aber nicht nur dort - ist für dieses Problem, die zeitliche Stabilisierung von

Erwartungsstrukturen, ein allgemeiner Lösungsmechanismus vorgesehen, die Normierung. Zitat:

"Prämissen der Erlebnisverarbeitung [müssen] in Sollform gesetzt und entsprechende Erwartungen

6 Im Luhmann/Pfürtner-Band gibt es einen Satz, wonach die Evolution selbst dafür sorgtVerhältnisse zu schaffen, die nicht widerspruchsfrei dargestellt werden können.

10

normativ erlebt werden ... Normative Komponenten in der Selbstidentifikation bedeuten demnach, daß

diese Strukturbestandteile als Erwartungen kontrafaktisch gesichert sind und auch bei Enttäuschungen

des Erwartenden mit sich selbst festgehalten ... und damit dem Lernen mit sich selbst entzogen werden"

(1973: 229; Hervorhebung nicht im Original). Gewissenskonflikte sind somit interpretierbar, als

Reaktionen auf Verstöße gegen Selbstnormierungen (ebd., 230). Die formale Definition bei Luhmann

lautet dann: "Das Gewissen ist,..., jene normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, die diese

gegenüber einem Überschuß an organischen und psychisch-möglichen Verhaltenspotentialen als

Steuerungssystem konstituiert" (1973: 232).

Das Gewissen als eine Art "Kern" oder "Steuerungszentrum" der personalen Identität, die Freiheiten

beansprucht sowohl gegenüber dem eigenen organischen Substrat als auch gegenüber den normativen

Zumutungen seiner sozialen Umwelt - das ist eine Denkfigur, die der weit zurückreichenden theologi-

schen und moralphilosophischen Tradition durchaus geläufig ist: Das Individuum kann, in Treue zu sich

selbst, seinen eigenen Tod erwägen und hinnehmen (1973, 231). Es kann sich aber auch dafür

entscheiden, ein "neues Leben" zu beginnen oder normative Dissonanzen auszuhalten. Heute, nachdem

die manchmal frivolen Reden über "patchwork identity", "multiple Identitäten" und "proteisches Selbst"

modisch geworden sind, klingt Luhmanns Gewissenskonzeption wie eine Zurückweisung der postmo-

dernen Desavouierung des klassischen Identitätsbegriffs. Bei Luhmann kann man sich darüber infor-

mieren, daß Autonomie und Einheitlichkeit des Selbst keine unerträglichen Zumutungen, sondern

funktionales Erfordernis sind. Aber Anfang der Siebziger waren wir noch nicht so weit. Und die

Position, gegen die Luhmann in Stellung geht, ist gerade die alteuropäische Tradition, der er mit der

eben zitierten Gewissensdefinition - auf den ersten Blick - so nahe zu sein scheint. Die Divergenz bricht

bei der Frage auf, wie weit die Selbstnormierung im Einklang mit einer sozialen Ordnung geschehen

kann oder muß (1973: 232).

Luhmanns Thesen hierzu sind, meiner Auffassung nach, nicht frei von Widersprüchen6 und können

kaum verständlich dargestellt werden ohne den Kontext seiner systemtheoretischen Grundbegriffe

mitzuliefern. Dies würde hier zu weit führen. Ich beschränke mich auch hier wieder darauf, einige

Thesen so darzustellen, daß ich sie als empirische Hypothesen verwenden kann, auch wenn Luhmann

sie selbst als Deduktionen oder Implikationen versteht, die sich aus systemtheoretischen Basis-

Konzepten ergeben. Eine dieser Thesen ist, daß in funktional hoch differenzierten Gesellschaften der

7 In einem früheren (1968 erschienenen) Aufsatz über "Die Gewissensfreiheit und dasGewissen" las sich das noch anders. Dort heißt es z. B.: Zumindest für die Grundunterscheidungzwischen konstanten und variablen Persönlichkeitszügen braucht der Mensch eine sozialeRückversicherung. Natürlich entnimmt er der Umwelt auch die möglichen Themen seinesSelbstverständnisses. Und schließlich braucht er zahlreiche Vorstellungshilfen, mit denen er sich in derAußenwelt Reflexionsäquivalente schafft. Dies geschieht dadurch, daß er sich mit Personen, Zielen,Werten oder Symbolkomplexen: mit seiner Geliebten, seiner Religion, seinem Vaterland, seinenKindern 'identifiziert' und so eine Selbstaussage in die Welt hineinlegt, um griffigere Entscheidungs- undRechtfertigungsgesichtspunkte zu haben (1981/1968, S. 339). Und weiter: Der Einzelne ist nicht frei,die Thematik seines Gewissens zu wählen, wie ihm beliebt. Da er sich selbst immer schon festgelegtvorfindet, soziale Verpflichtungen immer schon übernommen, Normen immer schon anerkannt und sichzu eigen gemacht hat, sein Selbst immer schon objektiviert hat, kann er seine Selbstdarstellung nichtfrei manövrieren (ebd., S. 340).Anders im späteren Aufsatz: Moralische Modalisierung ist gebunden an die Geschichte desInteraktionssystems, in dem sie stattfindet. Nur in begrenztem Umfange gelingen kulturelleGeneralisierungen in Symbolen wie Ethos, Arete, Treue usw., die dann als Tradier- und

11

Begriff des Gewissens als soziale Etikettierung nur den Bereich des als "persönlich" erwartbaren

Handelns abdecke, daß es nicht zuständig sei für das Verhalten, das stereotypisierten Regeln und

Rollenvorschriften folge. (Das ist zumindest dann eine unklare Aussage, wenn man - mit Goffman -

davon ausgeht, daß "Rollendistanz" (also ein Anteil eigenverantwortlichen Handelns) normaler Be-

standteil des Rollenhandelns ist.)

Grundsätzlich kann jedes Thema, jeder Verhaltensaspekt gewissensrelevant werden; aber viele

Verhaltensaspekte "drängen sich nicht zum Gewissen vor", wie Luhmann (1981/1968, S. 346)

formuliert; Institutionen und Rollenvorschriften entlasten die persönliche Verantwortlichkeit und

entziehen weite Verhaltensbereiche dem Gewissen. Damit entlastet sich andererseits auch das soziale

System von Störungen, die individuelle Gewissenshandlungen hervorrufen könnten.

Ob oder wie weit die Zuschreibung persönlicher Verantwortlichkeit von außen und vom Akteur selbst

dieser These folgt, welche Themen und Verhaltensaspekte überhaupt gewissensrelevant werden, wäre

erst noch zu ermitteln. Ebenso die weitergehende These, es sei eine Illusion, vom Gewissen im Namen

natürlicher Sittlichkeit Widerstand gegen eine "falsch laufende soziale Maschinerie" zu erwarten.

Möglicherweise wird Luhmann, wenn man ihm Beispiele von eben solchen Widerstandshandlungen

entgegenhält, antworten, sie seien so selten, daß sie irrelevant seien für eine Theorie, die nur den

Normalfall zu erklären habe.

Immerhin wird eingeräumt, der Bezug auf eine alle Menschen bindende moralische Ordnung, brauche

nicht explizit geleugnet zu werden, es könne ihn auch heute noch geben (1973: 234). Aber theoretisch

wird - zumindest in dem 1973er Aufsatz - die Funktion des Gewissens auf die konsistente Ausformung

von Ego/Alter-Integrationen beschränkt7, mit den Problemen, die ich vorhin schon angedeutet habe.

Zumutungserleichterungen dienen und nicht jeweils neu entwickelt werden müssen (Luhmann 1973, S.239).

8 In einem später (1979) veröffentlichten Beitrag zu "Poetik und Hermeneutik VIII" (S. 342)stellt Luhmann selbst fest: Wenn man Identitäten auswählen und gegebenenfalls wechseln kann, wennsie also im Bewußtsein anderer Möglichkeiten fungieren, stellt sich die Frage nach der Superidentität,die Selektion und Wechsel der Identitäten steuert, ... (die Frage) nach den Regeln und Techniken desidentity-switching. Solche Reflexion der Reflexion scheint zunächst den Identitätsbegriff selbst zu

12

[Wenn man an Theorie interessiert wäre, müßte man jetzt fragen: Welche Konzepte übernehmen in der

Luhmannschen Theorie diejenigen Funktionen, die bei Mead der "generalisierte Andere" oder bei

Parsons die "moral community" oder bei Habermas die "(ideale) Kommunikationsgemeinschaft"

übernehmen? - oder: Auf Grund welcher Annahmen werden diese Konzepte bei Luhmann über-

flüssig?]

Bezüglich des sozialen Systems schließlich betont Luhmann lediglich die möglichen dysfunktionalen,

keine positiven Folgen individueller Gewissenshandlungen. Aber auch bei der Betrachtung der

Gewissensfunktionen für die persönliche Identität im Rahmen von Ego/Alter-Interaktionen stellt er

mögliche dysfunktionale Folgen heraus (1973: 235). So heißt es z. B.: "Das normative Perpetuieren

bestimmter Selbstbilder beschränkt das Interaktionspotential; es kann neue Interaktionslagen belasten,

ja zerstören oder doch den Zugang zu anderen Interaktionsfeldern erschweren" (1973: 235). Dies ist

faktisch sicherlich der Fall, gelegentlich. Andererseits wurde zuvor überzeugend argumentiert, daß

Grenzziehung notwendig sei, daß das Gewissen "zur Erhaltung des Sinnes der eigenen Persönlichkeit

die Potentialitäten des Ich" reduzieren müsse (1981/1968, S. 341, 334). Jetzt wird der Sinn der

Grenzziehung relativiert, wenn nicht gar aufgehoben, indem er bemerkt: Die Fragen des Gewissens:

Kann ich so handeln? oder: Wie konnte ich so handeln? seien auf zweierlei Weise beantwortbar: Man

könne mit Hilfe der Gewissen-Standards die biographischen Fakten oder mit Hilfe dieser Fakten die

Standards prüfen und ändern (1973: 236 f., weiteres hierzu auf S. 237 f.). Diese Aussage ist schwer

verträglich mit der früheren, wonach das Gewissen als Selbstnormierung zu verstehen sei, durch die

bestimmte Komponenten des Selbst dem Lernen entzogen würden, an ihnen also auch bei Enttäu-

schungen festgehalten werde. Hier taucht das Problem einer Selbstnormierung auf, die keinen Anker-

punkt mehr außerhalb ihrer selbst hat: die Reflexionsschleifen drohen an kein Ende zu gelangen. Die

Reflexivität der Selbstnormierung, die sich immer nur selbst überprüft, läuft sich gleichsam tot, wenn sie

weder durch kulturell übermittelte, der Reflexion entzogene Selbstverständlichkeiten, noch durch

Wertbindungen, die (zwar prinzipiell, aber) akut nicht zur Disposition stehen, noch in einem konkreten

oder vorgestellten Rechtfertigungsdiskurs limitiert wird.8

deklassieren - ihn ins bloß Formale oder auch Beliebige, Spielerische, Kabarettistische zu treiben,Abstraktion durch Regression kompensierend. Ob die damit angedeuteten Fragen für Identität alssolche beantwortbar sind, soll hier offen bleiben." (Luhmann glaubt, eine Antwort im Rahmen seinerTheorie autopoietischer Systeme gegeben zu haben.)

9 Erschütternde Beispiele geben uns KZ- und andere Folteropfer, die ihre Demütigungen undSchuldgefühle nicht integrieren und nicht ent-schuldigen können.

13

Luhmann geht von der sicherlich richtigen Annahme aus, daß bei zunehmender äußerer Komplexität

und Kontingenz auch die innere Kontingenz der personalen Systeme gesteigert werden muß. Einerseits

hält er daran fest, daß dennoch abstrakte Regeln der nichtkontingenten Verknüpfung kontingenter

äußerer und innerer Sachverhalte entwickelt werden müssen (S. 238 oben). Andererseits sagt er, das

Gewissen besorge nicht die Erkenntnis und Verkündung unverbrüchlicher Prinzipien, nach denen man

handeln soll [aber vielleicht vermag das Gewissen als Funktionskomplex innerhalb des sozial kon-

stituierten Selbst auf solche Prinzipien, wenn sie verletzt werden, aufmerksam zu machen - s. unten den

Abschnitt zu Habermas.] Es leiste vielmehr die "Einheit der Zurechnung von Prinzip und abweichen-

dem Verhalten" und nur diese Einheit sei "unverzichtbar und notwendig". Ich muß gestehen, daß mir

nicht klar ist, was genau behauptet wird. Wie kann diese Einheit ohne Rückgriff auf ein akut nicht zur

Disposition stehendes (gewissensmächtiges) Prinzip aufgebaut werden? Wird hier lediglich auf

mögliche Strategien der Entschuldigung angespielt, die dann aber nicht erläutert werden? Oder wird

hier das Begründungsverhältnis umgekehrt, d. h., wird hier nicht Identität (eine nur auto-biografisch

kontrollierte Identität) vorausgesetzt, um störende Gewissensprobleme zu lösen (bzw. abzuwehren),

nicht das Gewissen beansprucht, um die Identität zu stabilisieren? Begonnen hatte Luhmanns Ab-

handlung mit der Idee, daß die Identität durch die Selbstnormierung im Gewissen stabilisiert wird; jetzt

wird die Funktion, die zunächst dem Gewissen zugesprochen wurde, so in das Identitätskonzept

zurückverlegt, daß das Gewissen gleichsam in der Selbstreferenz versickert. Mir scheint, daß der

Begriff eines autonomen Gewissens sinnvoll nur artikuliert werden kann, wenn er mit der Annahme

verbunden wird, daß sich Personen an Prinzipien oder ein oberstes Prinzip binden, das sie zwar in

ihrem Handeln verletzen können (unter Inkaufnahme von Schuldgefühlen), das sie aber nicht opportu-

nistisch aufgeben können, ohne daß ihre Identität gleichsam zerbricht, also handfeste Schädigungen im

psychischen System auftreten, die dann auch die Interaktionskompetenz herabsetzen.9

Wenn man eine solche Annahme nicht machen will, wird, so scheint mir, der Gewissensbegriff

theoretisch entbehrlich (und in Luhmanns späteren Arbeiten taucht er, soweit ich sehe, auch nicht mehr

als analytische Kategorie auf). Bei Luhmann gibt es weder die Schranke des kategorischen Imperativs

10 Apel (1976: 374, Fn. 25) hatte noch bedauernd festgestellt, es sei "nicht leicht, heutzutageeinem kritischen, nichtphilosophischen Publikum klarzumachen, worin der Sinn einer philosophischenBegründung intersubjektiv gültiger Ethik überhaupt liegen könnte".

14

(Kant), noch diejenige der Sitte (Hegel) noch diejenige des Diskursprinzips (Habermas); die einzige

Schranke liegt in den akuten, durch Zeitmangel und Limits der kognitiven Kapazitäten bedingten

Grenzen der Re-Interpretierbarkeit der eigenen Biografie. Aber was heißt "Treue zu sich selbst" in

diesem Rahmen? Wenn man sie als "Bewahrung der Selbstachtung" operationalisiert, wird Tugendhats

These (in Edelstein/Nunner-Winkler, stw 1986, S. 33) interessant: Man werde geschätzt, wenn man

seine Freiheit mit Bezug auf bestimmte Regeln einschränke. Dies kann man als empirische These

verstehen und fragen, a) in welchem Maße Selbstachtung tatsächlich an die Achtung gebunden ist, die

man von anderen (oder bestimmten anderen) erfährt, b) in welchem Maße die Schätzung, die man von

anderen erfährt, an die Erfüllung moralischer Normen gebunden ist. (Gibt es auch andere, subjektiv

vielleicht sogar höherrangige Schätzensmotive (Schönheit, Intelligenz, Erfolg, Durchsetzungsvermögen)

aus denen man ausreichend viel Achtung herausziehen kann? Und haben Individuen in modernen

Gesellschaften nicht jederzeit die Möglichkeit, sich auf solche anderen Personen zu beziehen, die

Achtung nach Regeln vergeben, die die eigenen Bedürfnisse und Freiheiten nicht gravierend ein-

schränken?).

Damit komme ich zu

4. Habermas' diskurstheoretischer Ansatz

Was kann man bei ihm über Bedingungen und Funktionen des Gewissens erfahren?

An Habermas fasziniert mich zunächst einmal, wie er einerseits - ohne Letztbegründungsanspruch - an

der Formulierbarkeit eines obersten Begründungsprinzips für Normen festhält, andererseits aber die

praktische und aufklärerische Relevanz einer philosophischen Moraltheorie stark zurücknimmt und

viele Fragen der empirischen Forschung zuweist, für die andere Moralphilosophen originäre Zuständig-

keit beanspruchen. So sagt er z. B.: "Die moralischen Alltagsintuitionen bedürfen der Aufklärung des

Philosophen nicht10 ... Die philosophische Ethik hat eine aufklärende Funktion allenfalls gegenüber den

Verwirringungen, die sie selbst im Bewußtsein der Gebildeten angerichtet hat - also nur insoweit, wie

der Wertskeptizismus und der Rechtspositivismus sich als Professionsideologien festgesetzt haben und

über das Bildungssystem ins Alltagsbewußtsein eingedrungen sind" (1983: 108).

11 Sie enthält, erstens, den Universalisierungsgrundsatz "U":"Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich ausihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlichergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können." (1983, S. 131, vergl. S. 103)Der zweite Teil des Begründungsprinzips nennt die Prozedur "D" (den "praktischen Diskurs"), mit derfestgestellt werden soll, ob eine vorgeschlagene Norm der Bedingung "U" genügt; gleichzeitig liefert sieeine Definition dessen, was eine "gültige" (moralische) Norm heißen soll:"Nur die Normen dürfen Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmereines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)" (S. 103, vergl. S. 132).

15

Die von ihm vorgeschlagene, zweiteilige Begründungsregel, den Universalisierungsgrundsatz und das

Diskursprinzip, muß ich hier nicht zitieren.11 Die Diskursethik ist "formal" in dem Sinne, daß sie

lediglich eine Prozedur für die Überprüfung vorgebrachter Geltungsansprüche vorschlägt. Der Diskurs

ist ausdrücklich kein Verfahren zur Erzeugung von gerechtfertigten Normen, "sondern zur Prüfung der

Gültigkeit vorgeschlagener und hypothetisch erwogener Normen. Praktische Diskurse müssen sich ihre

Inhalte geben lassen. Ohne den Horizont der Lebenswelt einer bestimmten sozialen Gruppe, und ohne

Handlungskonflikte in einer bestimmten Situation, in der die Beteiligten die konsensuelle Regelung einer

strittigen gesellschaftlichen Materie als ihre Aufgabe betrachten, wäre es witzlos, einen praktischen

Diskurs führen zu wollen" (ebd., S. 113). Der Partikularismus des Erzeugungskontextes wird erst im

Begründungsverfahren überschritten. Die Moralphilosophie überschritte ihre Grenzen, wenn sie selbst

nicht nur ein Rechtfertigungsverfahren begründen, sondern auch selbst Inhalte rechtfertigen wollte.

Zwar kann sie "advokatorisch" Diskurse durchspielen, die real nicht stattfinden, aber diese können nur

Stellvertreterfunktionen erfüllen und sind "keine Äquivalente für nicht durchgeführte reale Diskurse"

(Habermas in Edelstein/Nunner-Winkler, S. 302). Habermas räumt ein (1986 in Nunner-Winkler, S.

314 f.), daß in konkreten Handlungssituationen moralische Dilemmata entstehen können, die auch

grundsätzlich nicht durch einen Diskurs, sondern nur durch supererogatorische Handlungen (ein Opfer)

"gelöst" werden können - für die man sich entscheiden kann oder auch nicht. Auch muß die Diskurset-

hik strikt Fragen der Begründung von Regeln von den Problemen ihrer angemessenen Anwendung in

konkreten Situationen trennen (ebd., S. 306, 315f.) "Die Anwendung von Regeln verlangt eine

praktische Klugheit, die ... nicht ihrerseits Diskursregeln untersteht. Dann kann aber der diskursethi-

sche Grundsatz nur unter Inanspruchnahme eines Vermögens wirksam werden, welches ihn an die

lokalen Übereinkünfte der hermeneutischen Ausgangssituation bindet und in die Provinzialität eines

bestimmten geschichtlichen Horizonts zurückholt" (1983, S. 114)

Ferner gibt er zu bedenken, daß nur einzelne Komponenten des Wert- und Normensystems einer

Gruppe der diskursiven Erörterung zugänglich sind, weil vergesellschaftete Individuen nicht zum

12 "Praktische Diskurse (gleichen), wie alle Argumentationen, den von Überschwemmungbedrohten Inseln im Meer einer Praxis, in dem das Muster der konsensuellen Beilegung vonHandlungskonflikten keineswegs dominiert" (1983: 116). Allerdings ist nicht recht einzusehen, warumein Kompromiß im Sinne eines Interessenausgleichs nicht ebenfalls moralisch bindend sein soll, wenner nach universalistischen, diskursiv begründeten Verfahrensregeln zustandegekommen ist und diediskursiv hergestellte Übereinkunft einschließt, daß mehr als ein Kompromiß nicht erreichbar sei.

13 "Deshalb steht auch den Einzelnen, die ihre Identität nicht anders als übr die Aneignung vonTraditionen, über die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und über die Teilnahme an sozialisatorischenInteraktionen erwerben und behaupten können, die Wahl zwischen kommunikativem und strategischenHandeln nur in einem abstrakten Sinne, d. h. von Fall zu Fall, offen. Die Option für einen langfristigenAusstieg aus Kontexten verständigungsorientierten Handelns haben sie nicht. Dieser würde denRückzug in die monadische Vereinsamung strategischen Handelns - oder in Schizophrenie undSelbstmord bedeuten" (Habermas 1983: 112). Zwei Fragen bzw. Einwände bleiben bei diesemHinweis offen: Erstens gilt das Argument in dieser Form nur für Individuen, nicht gegenüber mächtigenGruppen, die der Selbst-Destruktion durchaus entgehen können. Zweitens kann die Selbstdestruktiongegenüber dem konsequenten Hedonisten kein starkes Argument sein: Er lebt lieber kürzer undgenußvoll, als länger und mit Pflichten. Wenn er sich sich den Genuß durch Genußsüchtigkeitunmöglich gemacht hat, bleibt ihm (rational) der Selbstmord oder (vielleicht) die moralischeBekehrung.

16

Ganzen ihrer Lebensform und Lebensgeschichte, in der sie ihre Identität ausgebildet haben, eine

distanzierte, hypothetische Einstellung einnehmen können (1983: 114). (Damit ist wohl auch gesagt,

daß dem Selbst nicht alle seine sozial konstituierten Komponenten reflexiv zugänglich sind). Darüber

hinaus glaubt er, daß in modernen Gesellschaften "der Umfang regelungsbedürftiger Materien (wächst),

die nur noch partikulare Interessen berühren und daher auf die Aushandlung von Kompromissen, nicht

auf diskursiv erzielte Konsense angewiesen sind.12 Das sind erhebliche Einschränkungen, die auch für

Fragen über Zuständigkeit oder Reichweite des Gewissens wichtig sind.

Den prinzipiellen Einwand des Skeptikers, es sei nicht rational begründbar, weshalb man sich über-

haupt an Diskursen beteiligen solle (die Notwendigkeit, die Argumentationsregeln anzuerkennen,

entfielen für denjenigen, der sich der Diskussion entziehe) glaubt Habermas noch pauschal mit dem

Hinweis parieren zu können, die ständige Verweigerung der Argumentationsbereitschaft führe schließ-

lich zur Selbstdestruktion (1983: 112).13 Aber das Problem, von Fall zu Fall ausreichende Motivation

für moralisches Handeln bereitzustellen bleibt. Es hat seinen Ursprung in der oben angedeuteten

Differenz von Moral und Sittlichkeit, von universalistischen Prinzipien und den partikularen Werten und

Interessen, die in einer konkreten Lebensgemeinschaft und im individuellen Lebenslauf wurzeln.

Habermas räumt ein, "Verpflichtungsgefühle, die die Distanz zwischen Fremden überbrücken, sind

nicht in gleicher Weise 'rational für mich' wie die Loyalität gegenüber Angehörigen, auf deren Ent-

14 In einer Fußnote fügt Habermas hinzu: "Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einerErgänzung der nur schwach motivierenden Moral durch zwingendes und positives Recht" (ebd., S.51). Aus der empirisch-motivationalen Gleichgewichtigkeit unterschiedlicher "Wertsphären" folgt nichtderen theoretische Gleichrangigkeit. Das moralische Begründungsprinzip ist (bei Kant wie beiHabermas) ein "oberstes" und kann nicht noch einmal übertrumpft werden. In dieser Konzeption kannzwar vorgesehen werden, daß es außermoralische "Wertsphären" gibt, über deren Ausgrenzungmüßte aber wiederum moralisch-diskursiv entschieden werden. Empirisch kann die Trennung aber imSinne Max Webers vollzogen sein, der feststellt: "...die Ethik (ist) nicht das Einzige, was auf der Welt'gilt', ... neben ihr (bestehen) andere Wertsphären, deren Werte unter Umständen nur der realisierenkann, welcher ethische 'Schuld' auf sich nimmt" (Der Sinn der Wertfreiheit in den Sozialwiss., in:Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1973, S. 504, auch zitiert von Nunner-Winkler 1986,S. 127). Auch G. Nunner-Winkler (1985: 467) gibt zu bedenken, es sei eine empirische Frage, ob nurdie Orientierung an moralischen Prinzipien die Funktion der Einheitsstifung für die Selbsterfahrungerfüllen könne; denkbar sei, daß auch eine Orientierung an anderen zentralen Werten dem Individuumdas Gefühl innerer Einheitlichkeit und Kontinuität vermittelten (vergl. Blasi)

17

gegenkommen ich mich wiederum verlassen kann ... Für die Solidarität zwischen Angehörigen einer

unübersichtlich gewordenen Gemeinschaft moralischer Wesen, die gleiche Achtung verdienen, bieten

aber Gefühle offensichtlich eine zu schmale Basis" (Habermas 1996/97). Ähnlich wie Kant steht

Habermas vor dem Problem erklären zu müssen, wieso eine rationale Einsicht in die universelle

Richtigkeit einer Norm in Konkurrenz mit anderen Interessen dazu motivieren soll, dieser Norm dann

auch zu folgen. Und ähnlich wie Kant spricht er davon, daß "gute Gründe" unseren Willen "affizieren":

"Weil es keinen profanen Ersatz für die persönliche Heilserwartung gibt, entfällt das stärkste Motiv für

die Befolgung moralischer Gebote ... Von der diskursiv gewonnen Einsicht gibt es keinen gesicherten

Transfer zum Handeln ... Moralische Urteile sagen uns, was wir tun sollen; und gute Gründe affizieren

unseren Willen. Das zeigt sich am schlechten Gewissen, das uns 'schlägt', wenn wir wider bessere

Einsicht handeln ... Wenn wir wissen, was zu tun moralisch richtig ist, wissen wir zwar, daß es keinen

guten - epistemischen - Grund gibt, anders zu handeln. Das verhindert aber nicht, daß andere Motive

nicht doch die stärkeren sind" (1996/97: 51)14

In diesem Zitat kommt das "Gewissen" ins Spiel - mit einer ähnlichen Indikatorfunktion wie bei Kant:

Es meldet sich, wenn man gegen eine Norm verstoßen hat, für die es "gute Gründe" gibt. An anderer

Stelle spricht Habermas davon, daß die "Integration von Erkenntnisleistungen und Gefühlseinstellungen

bei der Begründung und der Anwendung von Normen jedes ausgereifte moralische Urteilsvermögen

kennzeichne" (1983: 194). Diese Integration von Einsicht und Gefühl wird im theoretischen Modell

gedacht, ist wohl auch empirisch möglich. Aber auch wenn diese Stufe moralischer Entwicklung

tatsächlich erreicht ist (im Sinne einer vorhandenen Kompetenz), können sich in der Handlungs-

15 Im "Gewissen" meldet sich der sozial-konstitutive Teil des Selbst als Schranke gegenüberden eigennützigen Strebungen des Ichs. Bei Habermas mischen sich - in für mich nicht klarnachvollziehbarer Weise - Elemente aus Kant (mit seinem starken Vertrauen in die Kraft der Vernunft,aber auch dem radikalen Gegensatz zwischen Pflicht- und Neigungsmotiv), Freud (mit der starkenStellung des autoritätsgeprägten Über-Ichs), Kohlberg (mit der Vorstellung, daß sich moralischeUrteilskompetenz und diese unterstützende Gefühle harmonisch im Rahmen der gleichenEntwicklungslogik herausbilden) und Mead (mit der Vorstellung, daß die verschiedenen Me's innerhalbder Struktur des Selbst so organisiert werden, daß ihre verschiedenen Anforderungen prinzipiellreflexiv verfügbar bleiben). - Die Warner-Funktion des Gewissens wird bei Fromm zu einemanthropologisch festsitzenden Erkenntnisvermögen hochstilisiert, das im Dienste des "produktivenLebens" seine Stimme erhebt.

18

situation, auch schon in der vorausgehenden Urteilsphase, andere Motive dazwischenschieben, bspw.

solche, die als Abwehrmechanismen klassifiziert werden. Damit sich auf rationale Argumente "sensibel

reagierende Gewissenformen" bilden [wie Habermas das formuliert] und handlungsbestimmende Kraft

entfalten, müssen bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen gegeben sein. "Jede universalistische

Moral ist auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen. Sie bedarf einer gewissen Überein-

stimmung mit Sozialisations- und Erziehungspraktiken, welche in den Heranwachsenden stark internali-

sierte Gewissenskontrollen anlegen und verhältnismäßig abstrakte Ich-Identitäten fördern." Er spricht

an anderer Stelle sogar von der notwendigen "Verinnerlichung von Autorität" (1983: 191), die interne

Verhaltenskontrollen, "Selbststeuerung" ermöglichen und "unabhängig vom ... externen Druck faktisch

anerkannter, legitimer Ordnungen funktionieren" (1983: 195).15

Das Gewissen meldet sich nicht nur zu Wort, wenn man gegen eine universal-moralische Einsicht

verstoßen hat, sondern auch dann, wenn man gegen die konkreten Normen der partikularen Gemein-

schaft verstoßen hat, die in die eigene Identität eingebaut sind. Derjenige, der bewußt und autonom

einer universalistischen Norm folgt, mag dennoch Schuldgefühle erfahren, wenn er damit gleichzeitig

gegen die konventionelle Moral verstößt. Die Selbstzeugnisse vieler Widerstandskämpfer gegen den

Nazi-Terror geben hierzu erschütternde Beispiele. Die Trennung von autonomen und autoritären

Gewissenskomponenten ist empirisch prekär. Vielleicht ist es sogar funktional notwendig, daß sich das

Gewissen gegen eine moralische Einsicht wehrt, die zu einem Handeln gegen die sittlichen Normen

einer partikularen Gemeinschaft anstiftet - zumindest dann, wenn diese Einsicht aus Zeit- oder sons-

tigen Gründen nicht tatsächlich diskursiv erprobt werden kann. Es ist letztlich eine empirische Frage,

ob oder wieweit das Gewissen an seinen "Erzeugungskontext" selbst dann gebunden bleibt, wenn die

moralische Urteilsfähigkeit über ihn hinausgewachsen ist. Zwar ist die strikte Trennung von

16 Sie sind aus ähnlichen Gründen und ebenso strikt getrennt wie Entdeckungs- undBegründungszusammenhang theoretischer Aussagen bei Popper.

17 Den mancherlei optimistischen Verlautbarungen Habermas' lassen sich aber auch eine Reihepessimistischer Äußerungen entgegenstellen, zum Beispiel:"Die kommunikative Ethik beruft sich nur noch auf Grundnormen der vernünftigen Rede, auf einallerletztes 'Faktum der Vernunft', von dem freilich, wenn es denn ein bloßes, der Erläuterung nichtmehr fähiges Faktum sein sollte, auch nicht recht einzusehen ist, warum von ihm noch eine normative,das Selbstverständnis des Menschen organisierende und sein Handeln orientierende Kraft ausgehensollte" (1973 (Legitimationsprobleme...), S. 165 f.)."Ob die von Weber beschriebenen Bürokratisierungstendenzen jemals den Orwellschen Zustanderreichen werden, wo alle Integrationsleistungen von dem, wie ich meine, nach wie vor fundamentalenVergesellschaftungsmechanismus sprachlicher Verständigung auf systemische Mechanismen umgepoltworden sind ... - das ist eine offene Frage" (Habermas 1981 II: 462).

19

Erzeugungs- und Begründungskontext bei Habermas zunächst einmal eine theoretische Operation16,

die aber mit der empirischen Einsicht verbunden ist, daß das Gewissen sich (notwendigerweise) in

einem partikularen Kontext herausbildet, dessen universalistische Strukturelemente, die über ihn selbst

hinausweisen, offen sind.

Die Forderung nach "abstrakten Identitäten", in denen nur noch die Bindung an die Regeln uni-

versalistischer Normbegründung internalisiert sind (Habermas 1983, S. 194 f.; 1974: 71), konfligiert

mit der Einsicht, daß identitätsgründende Lebensformen immer partikular sind und nicht in toto zur

Disposition gestellt werden können (s. oben). Wie kann in der moralischen Praxis beides zur Geltung

kommen: (1) die Einsicht, daß eine universalistische Identität zwar "keine fixen ... (aber jeweils) Inhalte

braucht, um stabil zu sein" (Habermas 1974: 69); andererseits (2) die Einsicht: "wenn ... im Lichte einer

Zukunft alles zur Disposition stünde, könnte sich so etwas wie eine Identität nicht bilden" (ebd., S.

71)?17

In der theoretischen Konstruktion mag man Integrationsniveaus ausarbeiten, in der das Gegensätzliche

versöhnt erscheint. In der moralischen Praxis werden wir im Normalfall die Konflikte zwischen

partikularen Bindungen und universalistischen Prinzipien häufig nicht auflösen können; und im Normal-

fall wird unser Gewissen mal als "autoritäres", mal als "autonomes" fungieren und nicht ganz und gar

eines sein. Darüber möchte ich in meinen empirischen Erhebungen Genaueres erfahren.

18 Merkposten für später: Unklar ist mir geblieben, ob nach Luhmann umgekehrt alleEreignisse, die die personale Identität infrage stellen, notwendigerweise auch Gewissensfragen seinsollen. Das Selbst-Bewußtsein wird z. B. gefährdet wegen nicht erfüllter beruflicherLeistungsansprüche (nicht erfüllt wegen einem grundsätzlichen Kapazitätsmangel, nicht ausNachlässigkeit). Das involviert keine moralischen Normen, wohl aber die Identität. Wenn man aber"Selbstliebe", Selbstachtung eo ipso als moralisches Konzept versteht, ja als ein Fundament von Moral(so schon in bestimmten Theologien des 17. Jh.), dann müßten Identitätsfragen dieser Art auch zuGewissensfragen werden. - Siehe auch Blasi: a) Personale Identität umfaßt mehr als moralischeÜberzeugungen, b) Alle Enttäuschungen, die man mit sich selbst erlebt, führen zu Gewissensreaktionen.-

20

5. Zu meiner Projektidee:

Damit komme ich zu meinem vorläufigen Katalog von Fragen, die ich angehen möchte:

1. Welche Themen und Situationen werden im Alltag gewissensrelevant? Wenn Gewissensfragen die

personale Identität involvieren, ist nicht zu erwarten, daß jeder "Fehler" als "Fehlverhalten" das

Gewissen auf den Plan ruft. Allerdings muß man mit erheblichen individuellen Unterschieden in der

Gewissenssensibilität rechnen, auch mit der "Gefahr einer neurotischen Übersteuerung, die das

Gewissen zu oft benutzt" - wie Luhmann (1981/1968: 339) formuliert.18 Bei Gesprächen über Gewis-

sensfragen, bei der Auswertung des Interviewmaterials muß man auch darauf gefaßt sein, daß die

Akteure das Gewissensvokabular inflationär benutzen.

Mit Blick auf die sozialen Systeme besteht die Gefahr, daß das Gewissen seinen "Themenkredit", wie

Luhmann sagt, dysfunktional überzieht. In diesem Zusammenhang wäre interessant, in den Interviews

etwas darüber zu erfahren, wie die Reflexivität der Moral, wie vor allem "Takt" als Grenze des

"Moralisierens" praktisch gehandhabt wird. Kann eine als "unangemessen" erkannte Moralisierung

eines Themas ihrerseits Schuld- oder Schamgefühle hervorrufen?

2. Die zweite Fragestellung betrifft die Standards, auf die bezogen ein Verhalten retrospektiv oder

prospektiv als gewissensrelevant erfahren und erwogen wird. Worin oder wodurch sind diese Stan-

dards begründet; aus welcher Legitimitätsquelle wird ihr Verpflichtungscharakter abgeleitet: Gott, die

Natur, die Vernunft, die Moralordnung der Gesellschaft, das eigene Selbst? Wenn die Theoretiker das

nach-metaphysische Zeitalter ausrufen, heißt das noch lange nicht, daß das metaphysische Denken

19 Solche supererogatorischen Leistungen überschreiten die Bivalenz moralischer Normen: Siekönnen zwar Achtung auf sich ziehen; ihr Unterbleiben führt aber nicht zu Mißachtung. Außerdem mußman sehen, worauf Luhmann selbst hinweist, daß die Einhaltung moralischer Normen - imherkömmlichen Sinne verstanden - nicht unbedingt Achtungsgewinne einbringt. Das wirft die Frage auf,mit welchen Etiketten man jene Teile der Moral benennen und analytisch präsent halten soll, die nichtunter die Achtungskategorie fallen.

20 Zu dieser Problematik siehe die großartige Studie von N. Luhmann, Individuum,Individualität, Individualismus, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 3, 1993, S. 149 -258, hier insbesondere S. 186 ff. Habermas operiert an dieser Stelle, mit dem Apriori der idealenKommunikationsgemeinschaft, der kontrafaktischen Unterstellung von Wahrhaftigkeit - ein Gedankeder von Luhmann als "verspannt" bezeichnet wird (ebd., S. 229). Man kann Habermas' Apriori derKommunikationsgemeinschaft (in der auch Motive diskursiv zu klären sind) und Luhmanns Konzeptdes Individuums, das als autopoietisches System (s. ebd., S. 228), seine eigene Individualitätangesichts von Kontingenzen aus sich selbst heraus generieren muß, als alternative Lösungen desProblems ansehen, die Person zugleich als kausalen Bedingungen unterliegendes und gleichzeitigmoralfähiges Wesen zu denken, nachdem die Kantische Lösung des Auseinanderdenkens vontranszendentalem und empirisch/kausalem Bereich nicht mehr überzeugen kann. Soziologen drücken

21

ausgestorben sei. An dieser Stelle vor allem wären Traditionsbestände der Begriffsgeschichte hypo-

thetisch einzuführen.

Wieweit sind Gewissenserfahrungen überhaupt an moralische und in welchem Maße an außermora-

lische Standards gebunden? Folgt man z. B. Habermas, können aus solidarischen Bindungen Selbst-

verpflichtungen entstehen, die "moralisch" nicht gefordert sind.19 Variieren Intensität und Qualität der

Schuldgefühle mit der Art der Standards, die man akzeptiert (s. Rawls, Kap. 73)? Kann z. B. die

Verletzung eines universalistischen Prinzips zur gleichen Art von Schuldgefühlen führen, wie die

Verletzung einer konventionellen Norm? Zu fragen ist auch, mit welchen anderen Typen von Hand-

lungsmotiven (z. B. ökonomischen Interessen) moralische Normen typischerweise in Konkurrenz

treten. Wie werden Moral und Nutzenüberlegungen z. B. bei Produktion und Erwerb von Kollektivgü-

tern verträglich gemacht? Wie hoch dürfen die Kosten sein, die man auf sich nehmen muß, wenn man

einem moralischen Prinzip folgen will? Wird das Gewissen zu einem diskontierbaren Kostenfaktor in

einer umfassenderen Nutzenkalkulation?

3. Welches Gewicht nimmt in den Gewissenserwägungen die Faktizität der Handlung und der Hand-

lungsfolgen gegenüber dem Motiv (der Handlungsintention) ein? Der Begriff der "Fahrlässigkeit"

verweist auf eine allgemeinere Problemlage, die die Identifizierbarkeit der Motive und Verantwortlich-

keiten betrifft. Wie sicher kann sich der Handelnde seiner eigenen Motive sein, und schlägt sich die

Unsicherheit über Motive auf die Funktionsweise des Gewissens nieder?20 Wann und in welcher Form

sich im übrigen um diese Problematik eher herum. Luhmann hat sie weniger gelöst als durch alternativeBegriffsbildungen zerbröselt. Eine weitere Möglichkeit wäre, die logische Trennung der beidenBereiche als nicht ineinander auflösbar zu akzeptieren und sich nur noch mit der praktischenBewältigung des Befunds zu begnügen.

21 Siehe hierzu Thomas Scheff (1995).

22

tritt "existentielle Schuld" auf (s. die Schuldgefühle der Überlebenden von Konzentrationslagern; aber

auch die Schamgefühle der Deutschen, die Hitler nicht verhindert haben.)

4. Welche praktischen Konsequenzen haben Schuld- und Schamgefühle? Motivieren sie zu "wieder

gutmachenden" Handlungen oder führen sie in lähmende Empfindungen von Verstrickung und Wertlo-

sigkeit. Vor allem interessiert mich: Wie und mit wem wird über Gewissenserfahrungen kommuniziert,

wie werden die dabei auftretenden Affekte bearbeitet? Wenn Luhmanns These einer zunehmenden

Privatisierung des Gewissens, gekoppelt mit der These der Reflexivität der Moral, zutrifft, muß man

erwarten, daß persönliche Gewissenserfahrungen nur noch in eng begrenztem Maße kommunizierbar

sind. Erste schriftliche Befragungen, die ich bei Studierenden an der Universität durchgeführt habe,

scheinen dies zu bestätigen. Offensichtlich besteht eine erhebliche Scheu, mit irgend jemandem über

das eigene Gewissen zu reden, selbst Freunden gegenüber. Anscheinend können eigene Gewissens-

regungen Scham auslösen (man schämt sich seiner Scham)21. Das Gewissen wäre also nicht nur als

Rechtfertigungsgrund für Handeln, sondern auch als Kommunikationsmotiv zunehmend delegitimiert.

Anmerkung zur Vorgehensweise des Projekts

Kohlbergs Befragungsmethode konfrontiert den Interviewpartner mit vordefinierten, hypothetischen

Dilemmatastrukturen, in denen moralische Konflikte als Normenkonflikte vorgegeben werden.

Kohlberg untersucht gerade nicht das Urteilen und Verhalten in Alltagssituationen, die von den

Akteuren selbst erst einmal als moralisch relevant oder nicht relevant zu definieren sind.