Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

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Medien und Demokratie im Irak Anja Wollenberg Öffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten Konflikten Studies in International, Transnational and Global Communications

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Medien und Demokratie im Irak

Anja Wollenberg

Öffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten Konflikten

Studies in International, Transnational and Global Communications

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Reihe herausgegeben vonC. Richter, Berlin, DeutschlandM. Brüggemann, Hamburg, DeutschlandS. Fengler, Dortmund, DeutschlandS. Engesser, Dresden, Deutschland

Studies in International, Transnational and Global Communications

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Um angesichts zunehmender Globalisierung Kommunikationsprozesse und Medienentwicklungen zu verstehen, ist eine Perspektiverweiterung über staatliche und kulturelle Grenzen hinweg unerlässlich. Eine Vielzahl von medienvermittelter Kommunikation entwickelt sich jenseits von oder quer zu nationalstaatlichen Grenzen. Gleichzeitig gilt es, die Beharrungskräfte von Nationalstaaten nicht zu vernachlässigen und in vergleichenden Perspektiven Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei Medienentwicklungen in verschiedenen Ländern und Regionen herauszuarbeiten und zu erklären. Studien zu Formen medienvermittelter Kommunikation in allen Weltregionen sollen helfen, den Blick für Phänomene der Globalisierung und ihrer Auswirkungen auf Medien und Kommunikation zu erweitern.Die Reihe ist offen für eine Bandbreite an Feldern der Kommunikationswissen-schaft, für die internationale und transnationale Ansätze konstitutiv sind oder fruchtbar gemacht werden können, wie zum Beispiel Auslands- und Kriegsbe-richterstattung, Journalismusforschung, Public Diplomacy, Medien und Trans-formation, politische Kommunikation, Mediensystemforschung (Medienpolitik, Medienökonomie), Nutzungsforschung, Medien und Migration. Genauso sind unterschiedliche theoretische und methodische Zugänge der sozialwissenschaftli-chen Forschung willkommen. Die Reihe soll dabei sowohl aktuelle Fall- und Län-derstudien als auch Überblicksdarstellungen beinhalten.

In the face of increasing globalization, understanding communication proces-ses and media developments requires a widening of perspective beyond national and cultural boundaries. A multitude of mediated communications is developing beyond or across national borders. At the same time, it is important not to neglect the enduring force of nation-states, and to identify and explain differences and similarities in media developments in various countries and regions using compa-rative perspectives. Studies on forms of mediated communication in all regions of the world should help to broaden the view on the phenomena of globalization and their impact on media and communication.The series is open for a variety of topics related to international and transnational communication, such as foreign and war reporting, comparative journalism rese-arch and political communications, public diplomacy, media and transformation, media systems research (media policy, media economics), audience research, media and migration. Theoretical and methodological approaches from different social sciences are welcome. The series intends to include current case studies and country-specific studies as well as broader overviews.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15233

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Anja Wollenberg

Medien und Demokratie im IrakÖffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten Konflikten

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Anja WollenbergBerlin, Deutschland

ISSN 2569-1481 ISSN 2569-149X (electronic)Studies in International, Transnational and Global Communications ISBN 978-3-658-23718-9 ISBN 978-3-658-23719-6 (eBook)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

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Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um eine Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt.

Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer NatureDie Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6

http://dnb.d-nb.de

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Danksagung Ich danke meinem Mann Klaas für seine unerschöpfliche Geduld und für alle Rü-ckendeckung in stürmischen Zeiten. Ich danke meinen kleinen Kindern Konrad und Solana für Nachsicht und Zuwendung. Ich danke meinem Doktorvater Kai Hafez für die vielen Jahre intensiver Zusammenarbeit und ich danke meinem Zweitgutachter Michael Meyen für die vielen spannenden Diskussionen zum Thema. Ich danke meinem Vater und meiner Mutter für ihre Unterstützung ohne Wenn und Aber. Ich danke meinem lieben Freund Tom sowie Carola Richter für Inspiration und manch hilfreichen Ratschlag. Ich danke auch meiner besten Freundin Annette für immerwährende Neugier an allen Aspekten meiner Arbeit. Ich danke zuletzt Zsolt Barat, der mir in technischen Dingen oft geholfen hat. Vielen Dank an euch alle!

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Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Abkürzungen .................................................................................................. XI Verzeichnis der Tabellen ........................................................................................................ XIII 1 Einleitung: Warum die Frage nach der Rolle der Medien im Irak relevant ist .............. 1 2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft ............................... 7

2.1 Grundprinzipien und Schlüsselverfahren demokratischen Regierens ................................. 7

2.2 Demokratietheoretische Ansätze ......................................................................................... 12

2.2.1 Demokratische Elitenherrschaft ............................................................................. 14

2.2.2 Partizipative und pluralistische Demokratieansätze ............................................. 17

2.2.3 Maximalistische versus minimalistische Konzeptionen von Demokratie ........... 24

2.3 Öffentlichkeit als intermediäres System zwischen Politik und Gesellschaft .................... 26

2.3.1 Die Informationsfunktion der Medien ................................................................... 31

2.3.2 Politische Kommunikation ..................................................................................... 39

2.3.3 Partizipation und Integration .................................................................................. 47

2.3.4 Die besonderen Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ....................... 60

3 Öffentlichkeit im Kontext von Transformation, Gewalt und fragiler Staatlichkeit ..... 65 3.1 Phasen der Transformation .................................................................................................. 65

3.2 Demokratiedefekte und fragile Staatlichkeit....................................................................... 69

3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation ...................................................................... 72

3.3.1 Medienreform als Transformationsprojekt ............................................................ 72

3.3.2 Destabilisierung durch polarisiert-pluralistische Medienstrukturen .................... 75

3.3.3 Stabilisierung als Auftrag an die Medien .............................................................. 79

3.3.4 Kontrollfunktion der Medien in der Transformation ............................................ 81

3.3.5 Medien als Agenten der Veränderung ................................................................... 83

3.3.6 Hybride Systeme: Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Verhaltensmuster ........... 87

3.3.7 Bewaffnete Konflikte als Kontext und Gegenstand der Berichterstattung ......... 89

3.3.8 Friedensjournalismus .............................................................................................. 93

4 Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen ............................................................. 99

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Inhaltsverzeichnis

VIII

5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure ................................... 109

5.1 Von der Staatsgründung bis zum Sturz des Baath-Regimes 2003 .................................. 109

5.2 Einmarsch und Regimesturz 2003 ..................................................................................... 118

5.3 Bewaffnete Konflikte und die irakische Widerstandsbewegung ..................................... 120

5.4 Wahlen und Verfassungsprozess ....................................................................................... 122

5.5 Ethno-konfessionelle Minderheiten im Irak ..................................................................... 124

5.6 Umstrittene Gebiete und Föderalismusstreit ..................................................................... 125

5.7 Provinzwahlen und die politischen Kräfte im Irak 2008.................................................. 127

5.8 The Surge und die Geschichte der Sahwa Councils ......................................................... 130

5.9 Die Transformation der Mahdi-Armee.............................................................................. 132

5.10 Wirtschaftliche Entwicklung und Versorgung ............................................................... 134

5.11 Theoriegeleitete Einordnung ............................................................................................ 135

6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003............................................. 139 6.1 Historischer Rückblick ....................................................................................................... 139

6.2 Aufbruch im Mediensektor nach dem Regimesturz 2003................................................ 140

6.3 Pressefreiheit und Regulierung im Mediensektor............................................................. 142

6.3.1 Die Communication and Media Commission (CMC) ........................................ 146

6.3.2 Gewalt gegen Journalisten .................................................................................... 150

6.4 Medienpluralismus und politischer Parallelismus ............................................................ 153

6.4.1 Öffentliche Sender und Zeitungen ....................................................................... 153

6.4.2 Parteiliche Medienangebote ................................................................................. 157

6.4.3 Private Medienangebote ....................................................................................... 159

6.4.4 Nachrichtenagenturen ........................................................................................... 162

6.5 Reichweiten und Mediennutzung ...................................................................................... 163

6.6 Beteiligung an Konfliktentwicklung ................................................................................. 167

6.7 Theoriegeleitete Einordnung und forschungsleitende Annahmen ................................... 172

6.7.1 Informationsfunktion ............................................................................................ 172

6.7.2 Politische Kommunikation ................................................................................... 173

6.7.3 Partizipation........................................................................................................... 176

6.7.4 Medien im Transformationsprozess..................................................................... 179

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Inhaltsverzeichnis

IX

7 Methodisches Vorgehen ........................................................................................................ 185 7.1 Leitfadengestützte Interviews ............................................................................................ 187

7.1.1 Auswahl der Interviewpartner und Durchführung der Interviews ..................... 187

7.1.2 Auswertung der Interviews: Qualitative Inhaltsanalyse ..................................... 189

7.2 Analyse von publizistischen Inhalten in irakischen Rundfunkprogrammen .................. 192

7.2.1 Auswahl der Sender .............................................................................................. 192

7.2.2 Auswahl von Programminhalten .......................................................................... 196

7.2.3 Qualitative Inhaltsanalyse von Programminhalten ............................................. 200

8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews ....... 205 8.1 Politische Kommunikation ................................................................................................. 206

8.1.1 Politischer Wettbewerb, Öffentlichkeitsarbeit und Publizität ............................ 206

8.1.2 Politische Kommunikation aus Sicht der irakischen Medienproduzenten ........ 231

8.1.3 Theoriegeleitete Einordnung ................................................................................ 238

8.2 Partizipation ........................................................................................................................ 246

8.2.1 Bürger und bürgernahe Gruppen im irakischen Fernsehen ................................ 247

8.2.2 Partizipation aus Sicht irakischer Medienproduzenten ...................................... 259

8.2.3 Theoriegeleitete Einordnung ................................................................................ 265

8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit ..................................................... 271

8.3.1 Konfliktbehandlung im irakischen Fernsehen .................................................... 273

8.3.2 Medien und Konfliktentwicklung aus Sicht irakischer Medienproduzenten .... 290

8.3.3 Theoriegeleitete Einordnung ................................................................................ 299

8.4 Umfang und Qualität von Informationen .......................................................................... 308

8.4.1 Anteil von Informationsangeboten im Programm der untersuchten Sender ..... 308

8.4.2 Die Informationsfunktion aus Sicht irakischer Medienproduzenten ................. 313

8.4.3 Journalistische Qualität der Informationsangebote............................................ 316

8.4.4 Theoriegeleitete Einordnung ................................................................................ 321

8.5 Die Rolle der Medien im irakischen Transformationsprozess......................................... 328

8.5.1 Gleichzeitigkeit alter und neuer (Verhaltens-)Muster ........................................ 329

8.5.2 Kontrollfunktion und Mobilisierung für den politischen Wandel ..................... 331

8.5.3 Destabilisierende Medienwirkungen ................................................................... 335

8.5.4 Engagement für Stabilisierung und Demokratie ................................................. 337

8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte ................................................ 341

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Inhaltsverzeichnis

X

8.6.1 Politische Kommunikation ................................................................................... 341

8.6.2 Partizipation: Hörerbeteiligung im irakischen Radio ......................................... 353

8.6.3 Konfliktberichterstattung ...................................................................................... 374

8.6.4 Theoriegeleitete Einordnung ................................................................................ 379

9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse........................................ 389 9.1 Informationsfunktion .......................................................................................................... 389

9.2 Politische Kommunikation ................................................................................................. 392

9.2.1 Publizität ................................................................................................................ 392

9.2.2 Verflechtungen zwischen Politik und Medien .................................................... 395

9.2.3 Politischer Wettbewerb......................................................................................... 396

9.3 Partizipation ........................................................................................................................ 398

9.3.1 Zivilgesellschaft und Mobilität von Themen ...................................................... 398

9.3.2 Vielfalt von Themen und Meinungen .................................................................. 400

9.3.3 Themen und Rollen für Bürger in den Medien ................................................... 404

9.4 Die Rolle der Medien in der Transformation.................................................................... 407

9.4.1 Mobilisierung, Regierungskritik, Stabilität ......................................................... 407

9.4.2 Hybride Widersprüche prägen die Transformation im Mediensektor ............... 410

9.4.3 Publikumsorientierung im Transformationsprozess ........................................... 411

9.5 Medien im Konflikt ............................................................................................................ 412

9.5.1 Wettbewerb um Deutungshoheit .......................................................................... 412

9.5.2 Konfliktbeteiligung ............................................................................................... 416

9.5.3 Der Streit als Mittel der Versöhnung ................................................................... 419

9.6 Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks .............................................................. 421

9.7 Offene Fragen und vorläufige Antworten: ein Ausblick.................................................. 423

Literaturverzeichnis.................................................................................................................. 427 Annex 1: Interviewpartner ...................................................................................................... 437 Annex 2: Kategorien für die Zuweisung der Sprecher zu Akteursgruppen .................... 439 Annex 3: The Professional Code of Conduct for the Iraqi Media ..................................... 441

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Verzeichnis der Abkürzungen

BBC Britisch Broadcasting Corporation CMC Commission for Media and Communication CNN Cable News Network CPA Coalition Provisional Authority CPJ Committee to Protect Journalists dpa Deutsche Presse-Agentur EUR Euro ICCPR International Covenant on Civil and Political Rights ICG International Crisis Group ICRC International Committee of the Red Cross IGC Interim Governing Council IGC Iraqi Governing Council IHEC Independent High Electoral Commission IKP Irakische Kommunistische Partei IMN Iraqi Media Network IPC Iraqi Petroleum Company IREX International Research and Exchange Board IS Islamischer Staat KDP Demokratische Partei Kurdistan LBC Lebanese Broadcasting Corporation CMC Commission for Media and Communication NGO Non Governmental Organisation PR Public Relations PUK Patriotische Union Kurdistan RKR Revolutionärer Kommandorat SAIC Science Application International Corporation SIIC Oberster Islamischer Rat im Irak SOFA Status of Forces Agreement TAL Transitional Administrative Law UN United Nations UNAMI United Nations Assistance Mission for Iraq UNDP United Nations Development Programme UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees UNICEF United Nations Childrens Fund US United States USA United States of Amerika USD US-Dollar

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Verzeichnis der Tabellen

Tabelle 2.1: Merkmale von Objektivität nach Westerstahl (1983) ........................................... 38 Tabelle 6.2: Ranking irakischer Fernsehsender ....................................................................... 165 Tabelle 6.3: Ranking irakischer Fernsehsender im Süden Iraks ............................................. 166 Tabelle 7.4: Samplestruktur....................................................................................................... 188 Tabelle 7.5: Kategoriensystem für Analyse der Interviews .................................................... 191 Tabelle 7.6: Sample TV-Sender ................................................................................................ 193 Tabelle 7.7: Datenmaterial TV-Sender ..................................................................................... 197 Tabelle 7.8: Datenmaterial Radiosender .................................................................................. 199 Tabelle 7.9: Zentrale Nachrichtenthemen im Irak, 25.-31.8.2008 .......................................... 201 Tabelle 7.10: Darstellungsmuster in den Themenbereichen Konflikt und Partizipation ........ 203 Tabelle 8.11: Repräsentation von Akteursgruppen in TV-Nachrichten/Politikvertreter ........ 207 Tabelle 8.12: Repräsentation von Akteursgruppen in TV-Talkshows/Politikvertreter .......... 208 Tabelle 8.13: Berichterstattung über SIIC bei al-Furat ............................................................. 217 Tabelle 8.14: Akteursgruppen in den TV-Nachrichten/ Bürger und bürgernahe Gruppen .... 248 Tabelle 8.15: Akteursgruppen in den Talkshows (TV) ............................................................ 249 Tabelle 8.16: Konfliktberichterstattung bei al-Sharkiya ........................................................... 274 Tabelle 8.17: Konfliktberichterstattung bei al-Sumeria............................................................ 274 Tabelle 8.18: Berichterstattung über Sahwa Councils bei al-Sharkiya.................................... 275 Tabelle 8.19: Berichterstattung über Sahwa Councils bei al-Sumeria .................................... 277 Tabelle 8.20: Berichterstattung über Sicherheit bei al-Sumeria ............................................... 282 Tabelle 8.21: Anteil von Informationen und Nachrichten am Gesamtprogramm (TV) ......... 310 Tabelle 8.22: Umfang und Anteil von Unterhaltung im Gesamtprogramm (TV) .................. 311 Tabelle 8.23: Zeitaufwand für Themen in TV-Nachrichten pro Sender .................................. 319 Tabelle 8.24: Akteursgruppen in den Nachrichten (Radio) ...................................................... 344 Tabelle 8.25: Anzahl der Anrufer in Radio Call-In Programmen ............................................ 355 Tabelle 8.26: Akteursgruppen in den Radio-Nachrichten/ Bürger und bürgernahe Gruppen 373

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1 Einleitung: Warum die Frage nach der Rolle der Medien im Irak relevant ist

Der Umbruch von autoritären zu demokratischen Verhältnissen wurde im Irak 2003 von einem US-geführten Militärschlag angestoßen, der mit Merkel (2010) als „demokratische Intervention“ (ebd.: 472) zu bezeichnen wäre. Nach drei Jahr-zehnten autoritärer Herrschaft wurde das irakische Baath-Regime durch eine Al-lianz westlicher Truppen gestürzt und von hier aus die Umwälzung aller bisher geltenden Machtverhältnisse und die Einführung demokratischer Verfahren in Gang gesetzt. Dem Demokratieversprechen folgten viele Jahre anhaltender Ge-walt, Versorgungsnotstände und Radikalisierung islamistischer Gruppen. Min-destens 162.000 Zivilisten1 sind seit Beginn der Krise den bewaffneten Konflikten zum Opfer gefallen und auch fünfzehn Jahre nach dem Ende der Baath-Ära wird deutlich, dass der irakische Staat sein Gewaltmonopol gegen bewaffnete Milizen und extremistische Gruppierungen nicht ohne ausländische Hilfe verteidigen kann. Die irakische Krise nimmt bisher kein Ende.

Das Scheitern einer geordneten Transformation ging von Beginn an Hand in Hand mit hohen Erwartungen an die Demokratie auf Seiten der Bürger, die nicht zuletzt von der US-amerikanischen Regierung im Vorfeld der Intervention geschürt wor-den waren, nachdem die Legitimation des militärischen Zugriffs durch die ver-gebliche Suche nach Massenvernichtungswaffen hinfällig geworden war. Gerech-tigkeit und Freiheit, Wohlstand für alle, Arbeit und Frieden sollte die neue Ord-nung hervorbringen. Am Ende rückte die Stabilisierung demokratischer Verhält-nisse in immer weitere Ferne, während der Demokratie gleichzeitig Dysfunktio-nalität vorgeworfen wurde, weil die irakischen Konflikte dauerhaft ungelöst blie-ben.

Die vorliegende Arbeit basiert auf einer Datenerhebung aus dem Jahr 2008. For-mal gesehen befindet sich der demokratische Prozess im Irak zu diesem Zeitpunkt in der Phase der Konsolidierung: Es sind Wahlen durchgeführt worden, eine Ver-fassung wurde verabschiedet, Regierungen wurden gewählt und abgewählt; es existiert eine dynamische Parteienlandschaft und politischer Wettbewerb. Fünf Jahre nach dem Regimewechsel ist Irak aber auch als fragiler Staat zu betrachten, dessen Gewaltmonopol von Vetomächten bedroht wird, dessen Einheit von ethno-konfessionellen Konflikten unterwandert wird und der kaum in der Lage

1 Stand Dez. 2015 gemäß Iraq Body Count (https://www.iraqbodycount.org).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019A. Wollenberg, Medien und Demokratie im Irak, Studies in International,Transnational and Global Communications,https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6_1

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1 Einleitung: Warum die Frage nach der Rolle der Medien im Irak relevant ist

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ist, grundlegende Versorgungsdienstleistungen zu erbringen. Merkel (2010) sieht im Irak ein semidemokratisches, hybrides Regime am Werk, in dem undemokra-tische Strategien Handlungsmuster in Politik und Gesellschaft prägen und das als „signifikant gewaltbereiter, kriegsanfälliger und bürgerkriegsgefährdeter als reife Demokratien oder stabile autokratische Systeme“ (ebd.: 477) einzuordnen sei. Wurzel der Instabilität sei ein schnelles Oktroy, das ohne Unterstützung relevan-ter Binnenakteure durchgesetzt worden sei und das aus diesem Grund von Beginn an mit geringen Chancen auf Erfolg ausgestattet gewesen sei: „Demokratische Interventionen führen nicht selten zu kurzfristigen Demokratieerfolgen. Länger-fristig sind stabile demokratische Regimeformen nach einer bewaffneten Inter-vention eher die Ausnahme denn die Regel.“ (Ebd.)

Die pluralistische Entwicklung der Medienlandschaft gilt als eine der wenigen Erfolgsgeschichten im irakischen Transformationsprozess. Gleich nach dem Sturz des Baath-Regimes wurde die staatliche Kontrolle über Medien und Öffent-lichkeit ausgesetzt und der Mediensektor von einer Welle der Produktivität er-fasst. Hunderte von Zeitungen und Dutzende von Rundfunksendern wurden in-nerhalb nur weniger Monate gegründet. Der bis dato herrschende Gleichklang al-ler existierenden Medien wurde ersetzt durch ein breites Spektrum unterschied-lichster Stimmen, die eine Vielzahl politischer Lager, Minderheiten und Interes-sengruppen in der Öffentlichkeit repräsentierten. Die Freiheit der Presse war greifbare Realität geworden und wurde wenig später in der Verfassung verankert und bestärkt. Bereits ein Jahr nach dem Fall des Regimes wurden die gesetzlichen Grundlagen für den Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems sowie für die Einrichtung einer unabhängigen Regulierungsbehörde geschaffen. Fünf Jahre nach Öffnung des Mediensektors ist aber auch eine systematische Usurpa-tion der Medien durch politische Interessengruppen zu beobachten. Nach Hallin und Mancini (2004) wäre das irakische Mediensystem als polarisiert-pluralisti-sches System einzuordnen, dessen primäres Erkennungsmerkmal in einer starken Ausprägung von Parallelstrukturen zwischen Politik und Medien besteht. Partei-lichkeit von Medien und gering ausgeprägte Professionalität auf operativer Ebene sind zentrale Merkmale dieses Systemtyps. Die Medien im Irak standen schnell unter dem Generalverdacht, den Zerfall der Gesellschaft und die Eskalation der Konflikte voranzutreiben.

Tatsächlich gab es zum Zeitpunkt der Datenerhebung kaum kommunikationswis-senschaftliche Forschung zur Lage der Medien im Irak, die sich nicht nur auf

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1 Einleitung: Warum die Frage nach der Rolle der Medien im Irak relevant ist

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Strukturen oder Akteure bezieht, sondern auch Medieninhalte in die Forschung einbezog. Vor 20122 wurde nur eine einzige empirische Forschungsarbeit durch-geführt, die sich mit Sendungsinhalten und speziell mit dem Framing von Ereig-nissen im irakischen Fernsehen beschäftigt und auf die in Kapitel 6 der vorliegen-den Arbeit entsprechend umfassend Bezug genommen wird. Während al-Marashi (2007) in dieser Studie das Verhältnis von Konfliktentwicklung und Berichter-stattung untersucht, wird in der vorliegenden Arbeit die Frage nach der Demokra-tie und damit das Verhältnis von Medien und Politik in den Mittelpunkt der kom-munikationswissenschaftlichen Forschung gerückt.

Konkret wird untersucht, welche Leistungen der Mediensektor für die Demokra-tie im Irak erbringt und wie der Demokratiegehalt von Strukturen und journalis-tischer Praxis im Mediensektor selbst zu bewerten ist. Dabei werden im Beson-deren drei gesellschaftliche Kernfunktionen von Massenmedien in den Blick ge-nommen: die Bereitstellung von Informationen, politische Kommunikation und politischer Wettbewerb sowie Partizipation. In welchem Umfang und in welcher Form werden diese demokratischen Kernfunktionen von Medien im Irak erfüllt? Wie werden diese Kernfunktionen von den Medienproduzenten bewertet und ge-wichtet? Zentraler Gegenstand der Analyse ist unter anderem die Repräsentation von Bürgern und bürgernahen Gruppen in Fernsehen und Radio versus Repräsen-tation von Vertretern der Politik und der Regierung. Die Forschungsarbeit soll Aufschluss darüber geben, in welche Richtung das demokratische Projekt von ira-kischen Medien vorangetrieben wurde und wie weit die Demokratisierung im Me-diensektor selbst vorangeschritten ist.

Weil aber Irak im Jahr 2008 keinesfalls als konsolidierte Demokratie nach west-lichem Zuschnitt zu betrachten ist, sondern als Transformationsland in der Krise, wird die Frage nach der Demokratie erweitert um Fragen nach der Rolle der Me-dien im irakischen Transformationsprozess und nach dem Zusammenhang zwi-schen Konflikt und Medienentwicklung: Welche Aufgaben weisen irakische Me-dienproduzenten den Medien im Transformationsprozess zu und von welchen Merkmalen ist die irakische Öffentlichkeit in dieser Hinsicht geprägt? Die For-schungsarbeit von al-Marashi (2007) wird hier zum Ausgangspunkt für eine er-weiterte Untersuchung von Mustern der Konfliktdarstellung auf verschiedenen

2 Im Jahr 2012 erschien unter dem Titel Media Practice in Iraq eine Untersuchung von Ahmed

al-Rawi zur Parteilichkeit von irakischen Nachrichtensendungen in der Wahlberichterstat-tung.

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1 Einleitung: Warum die Frage nach der Rolle der Medien im Irak relevant ist

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Sendern – mit Fokus auf den Ein- bzw. Ausschluss von Akteuren und Positionen in bzw. aus Berichterstattungen und TV-Debatten.

Wie schon die Fragestellung zeigt, werden in der vorliegenden Arbeit sowohl Me-dieninhalte untersucht als auch deren Urheber zu ihren Anliegen und Motiven befragt. Es wurde in den Jahren 2007/2008 eine Serie von Interviews mit Mitar-beitern irakischer Fernseh- und Radiostationen geführt und analysiert, und es wur-den Nachrichten und Talkshows irakischer Sender mit Blick auf die oben skiz-zierten Fragen ausgewertet. In der Erhebung und Auswertung der Daten kamen primär qualitative Methoden und Instrumente zum Einsatz, während nachgeord-net auch quantitative Aspekte in die Vorgehensweise integriert wurden.

Die vorliegende Arbeit ist in folgende Einheiten gegliedert:

Demokratietheoretische Grundlagen zum Zusammenhang zwischen Öffent-lichkeit, Politik und Gesellschaft (Kap. 2): In diesem Teil der Arbeit werden zunächst grundlegende Verfahrensweisen der Demokratie sowie die wichtigsten demokratietheoretischen Strömungen skizziert – dazu zählen liberale, partizipa-tive und pluralistische Ansätze sowie der antagonistische Ansatz von Mouffe (2007). Vor diesem Hintergrund werden Kernfunktionen von Medien in einer De-mokratie wie Publizität, Bereitstellung von Informationen, politischer Wettbe-werb und Partizipation diskutiert. Dabei sind auch Diskrepanzen zwischen nor-mativen Idealvorstellungen und empirischen Erfahrungen von Interesse.

Im anschließenden Kapitel 3 zu Öffentlichkeit im Kontext von Transforma-tion, bewaffneten Konflikten und fragiler Staatlichkeit werden die spezifi-schen Herausforderungen diskutiert, die aus den Umgebungsbedingungen in fra-gilen Transformationsländern für das Verhältnis von Politik und Medien hervor-gehen. In Kapitel 4 werden die theoretischen Erörterungen zusammengefasst und verschiedene Fragen formuliert, die sich für die klassische Öffentlichkeitstheorie aus der Anwendung auf fragile Kontexte ergeben.

Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure (Kap. 5): Im fünften Kapitel wird die politische Entwicklung im Irak nach dem Sturz des Baath-Regimes 2003 grob rekonstruiert. Gegenstand der Rekonstruktion sind die Ereignisse rund um die US-geführte Invasion, die Entstehung der sunnitisch ge-prägten Aufstandsbewegung, Wahlen und Verfassungsprozess, die Sicherheits-lage, die Lage der Minderheiten, verschiedene innenpolitische Konflikte und die

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wirtschaftliche Lage. In diesem Kapitel wird der politische Kontext für das Ver-ständnis der Arbeit aufgebaut und es werden wichtige Wissensgrundlagen für die Nachvollziehbarkeit der im empirischen Teil der Arbeit untersuchten Medienin-halte geschaffen.

Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003 (Kap. 6): In diesem, ebenfalls historischen, Teil werden zentrale Entwicklungsstränge der irakischen Medienentwicklung nach dem Regimesturz im April 2003 nachgezeichnet. Dabei stehen Fragen der Rechtsprechung und Regulierung, die Strukturierung der Me-dienlandschaft, staatliches Handeln und Pressefreiheit im Mittelpunkt der Be-trachtung. Im Anschluss an diese literaturbasierte Analyse von Strukturen und Verhältnissen im irakischen Mediensektor werden forschungsleitende Annahmen formuliert, die im empirischen Teil der Arbeit schließlich geprüft und präzisiert oder gegebenenfalls verworfen werden.

Methodisches Vorgehen (Kap. 7): Im siebten Kapitel wird das methodische Vor-gehen bei der Erhebung und Auswertung der empirischen Daten erläutert.

Forschungsergebnisse aus der Analyse der TV-Inhalte und Interviews (Kap. 8): In diesem Teil der Arbeit werden die Forschungsergebnisse aus der Analyse der Fernsehnachrichten und Talkshows sowie die Ergebnisse aus der Auswertung der Interviews vorgestellt. Die Präsentation der Ergebnisse ist nach den in Kap. 2 diskutierten Kernfunktionen von Medien strukturiert: politische Kommunikation, Partizipation und Information. Hier wird ausgeführt, in welchem Umfang und in welcher Weise diese Kernfunktionen von verschiedenen Sendern erfüllt werden. Zusätzlich werden transformationsrelevante Fragestellungen hier bearbeitet. Je-des Unterkapitel wird mit einer theoretischen Einordnung der Forschungsergeb-nisse abgeschlossen.

Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte (Kap. 8): Die Ana-lyse der Radiosendungen durchlief nicht dieselben Schritte wie die Analyse der Fernsehinhalte, sondern erfolgte als Überprüfung der für das Fernsehen formu-lierten Thesen mit dem Ziel, Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen den Gat-tungen auf den Grund zu gehen. Im achten Kapitel werden die Ergebnisse des Radio-TV-Vergleichs vorgestellt.

Theoriegeleitete Auswertung der Forschungsergebnisse (Kap. 9): Alle bis hierher formulierten Beobachtungen zu demokratie- und transformationsrelevan-ten Aspekten der irakischen Medienproduktion werden im letzten Teil der Arbeit

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1 Einleitung: Warum die Frage nach der Rolle der Medien im Irak relevant ist

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zusammengeführt, verdichtet und bewertet. Abschließend wird auf dieser Grund-lage der Versuch unternommen, Antworten auf die Forschungsfrage nach dem Verhältnis von Medien und Demokratie im Irak zu formulieren.

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

Um der Forschungsfrage nach dem Demokratieverständnis und der demokrati-schen Praxis irakischer Medienproduzenten nachgehen zu können, wird in den folgenden Kapiteln 2.1 und 2.2 zunächst ein demokratietheoretischer Rahmen aufgespannt, der den Kontext bildet für eine weitergehende Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten von Öffentlichkeitstheorie (Kap. 2.3). Das For-schungsinteresse ist in diesem Teil der Arbeit zunächst auf die Frage nach norma-tiven Vorstellungen von Medienfunktionen für die Hervorbringung oder Konso-lidierung demokratischer Verhältnisse gerichtet. Daran anknüpfend, werden aber auch reale Verhältnisse in den Blick genommen und Idealtypen vor diesem Hin-tergrund relativiert.

2.1 Grundprinzipien und Schlüsselverfahren demokratischen Regierens

„Der Geltungsanspruch der Demokratie erfordert es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger im Sinne Kants als Autorinnen und Autoren jener Gesetze und Insti-tutionen betrachten können, denen sie sich selbst unterwerfen.“ (Imhof et al. 2006: 9) Diese Form der Selbstbestimmung, in der eine Gesellschaft sich die Gesetze ihres Handelns selbst zu geben vermag, ist Ausgangspunkt und Essenz der demo-kratischen Idee. In diesem Anspruch erkennt sich jedes Mitglied der Gesellschaft als Souverän und als frei von äußeren Zwängen.

Moderne Demokratien sind weniger durch direktdemokratische Verfahren als vielmehr durch das Prinzip der Repräsentation und das damit verbundene Institut des freien Mandats charakterisiert. Das freie Mandat konzipiert den aus freien, geheimen und gleichen Wahlen hervorgehenden Volksvertreter3 als Repräsentan-ten des ganzen Volkes, der seine Entscheidungen unabhängig von Weisungen o-der Partikularinteressen jeglicher Form trifft (vgl. Kailitz 2007: 292). Volksherr-schaft realisiert sich also nicht unmittelbar als Entscheidungsmacht auf Seiten der Bürger, sondern als Delegation dieser Macht an Vertreter, die in ihrer Gesamtheit das Parlament und daraus hervorgehend die Regierung bilden. Die Bedeutung von

3 In der vorliegenden Arbeit wird auf eine explizite Ausschreibung der weiblichen Form – in

diesem Fall die Volksvertreterinnen – zugunsten der Lesbarkeit verzichtet. Wenn nicht aus-drücklich anderes erklärt wird, sollen mit der gängigen Schreibweise ohne -Innen immer weibliche und männliche Vertreter der Gruppe gleichermaßen gemeint sein.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019A. Wollenberg, Medien und Demokratie im Irak, Studies in International,Transnational and Global Communications,https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6_2

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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Volkssouveränität verschiebt sich damit vom Gesetz zur Herrschaft: Nicht jedes Gesetz, aber jede Form staatlicher Herrschaft muss durch das Volk legitimiert sein (vgl. ebd.). Die Legitimierung dieser Herrschaft erfolgt in den meisten De-mokratien nach dem Mehrheitsprinzip und im Rahmen von freien, gleichen und unabhängigen Wahlen.

Demokratie ist gekoppelt an die Geltung bürgerlicher Grundrechte für alle Bürger unabhängig von Geschlecht, Rasse, Konfession etc. und an den rechtstaatlichen Schutz des Einzelnen vor staatlicher Willkür (vgl. Schultze 2001: 51). Demokra-tie ist damit an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gebunden, das gleichsam als Grenze für den Geltungsbereich der Mehrheitsregel und der Macht der Mehrheit wirksam wird. Die Verfassung schafft inhaltlich feststehende Rahmenbedingun-gen, die die Reichweite von Mehrheitsbeschlüssen zugunsten des Minderheiten-schutzes und gesellschaftlicher Grundwerte einschränkt. „Die konstitutionelle Komponente des demokratischen Verfassungsstaats ist das Sicherheitsschloss, das den Weg der Demokratie in eine Tyrannei der Mehrheit versperrt.“ (Kailitz 2007: 288)

In Anlehnung an das Konzept der Polyarchie nach Dahl (1971) benennt Merkel (2010) Partizipation und Wettbewerb als Kernelemente moderner Demokratien: „Es muss ein offener Wettbewerb um politische Ämter und Macht und gleichzei-tig ausreichend Raum für die politische Partizipation aller Bürger gewährleistet sein.“ (Ebd.: 28) Beide Ebenen, Partizipation und Wettbewerb, finden ihren mi-nimalen Ausdruck in der Begrenzung von Regierungsperioden und einer auf diese Perioden zeitlich abgestimmten Durchführung freier Wahlen unter Geltung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Wahlen sind damit unbestrittener Schlüs-selmechanismus für die Demokratie. Weniger griffig, aber gleichermaßen ele-mentar ist ein darüberhinausgehender Einbezug der Bürger in politische Entschei-dungsprozesse durch „(1) die Möglichkeit, ihre Präferenzen zu formulieren; (2) die Möglichkeit, ihre Präferenzen den Mitbürgern und der Regierung durch indi-viduelles und kollektives Handeln zu verdeutlichen; (3) die Pflicht, dass die Re-gierung die Präferenzen unabhängig ihres Inhalts und ihrer Herkunft gleicherma-ßen gewichtet“ (ebd.: 28). Hier muss das demokratische System eine Vielzahl von Mechanismen der Vermittlung am Laufen halten, die einen ständigen Abgleich der Regierungspolitik mit dem Volkswillen ermöglichen. Wie in Kapitel 2.2 ge-nauer ausgeführt wird, herrschen unter den Vertretern verschiedener Strömungen

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2.1 Grundprinzipien und Schlüsselverfahren demokratischen Regierens

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der Demokratietheorie unterschiedliche Ansichten über Notwendigkeit, Art und Ausmaß dieser Form einer umfassenden, wahlüberschreitenden Partizipation.

Dahl (1971) benennt acht institutionelle Garantien, die zur Absicherung demo-kratischer Verhältnisse unverzichtbar seien (vgl. für das Folgende: zitiert nach Merkel 2010: 28):

(1) die Assoziations- und Koalitionsfreiheit; (2) das Recht auf freie Meinungsäu-ßerung; (3) das Recht zu wählen (aktives Wahlrecht); (4) das Recht, in öffentliche Ämter gewählt zu werden (passives Wahlrecht); (5) das Recht politischer Eliten, um Wählerstimmen und Unterstützung zu konkurrieren; (6) die Existenz alterna-tiver pluralistischer Informationsquellen (Informationsfreiheit); (7) freie und faire Wahlen; (8) Institutionen, die die Regierungspolitik von Wählerstimmen und an-deren Ausdrucksformen der Bürgerpräferenz abhängig machen.

Der bei Dahl (1971) zentrale Aspekt der Inklusion meint die in der Demokratie anzustrebende Chancengleichheit zur Teilnahme an politischer Partizipation. Diese umfasst neben der verfassungsmäßigen Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz auch die Notwendigkeit des ökonomischen und sozialen Ausgleichs, ohne die Chancengleichheit nur formaljuristisch, nicht aber praktisch Realität werden kann. Mit der Anerkennung von Chancengleichheit als Grundlage einer vollwer-tigen Demokratie entsteht für den Staat deshalb die Verpflichtung, Instrumente für eine angemessene und gerechte Umverteilung materieller Mittel zu entwickeln und umzusetzen, sowie mit den Mitteln staatlicher Steuerung Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum anzustreben (vgl. Kailitz 2007: 302). Das wohlfahrt-staatliche Bemühen um Chancengleichheit für alle Bürger wird, ähnlich wie Aus-maß und Art von Partizipation, in verschiedenen Demokratieansätzen unter-schiedlich gewichtet, unter anderem weil hier individuelle Freiheiten durch staat-liche Interventionen eingeschränkt werden (z.B. Steuern), was insbesondere von Vertretern des (neo-) liberalen Lagers kritisch bewertet wird.

Merkel (2010) klassifiziert Herrschaft nur dann als demokratisch, wenn Wahlen, Partizipation, Bürgerrechte, Gewaltenteilung und Kontrolle von Vetomächten ef-fektiv ineinandergreifen. Demokratie ist nach seinem Modell der Embedded De-mocracy erst gewährleistet, wenn die folgenden Dimensionen (Teilregime) voll entfaltet sind und sich gegenseitig stärken (vgl. für das Folgende ebd.: 31-40):

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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Demokratisches Wahlregime: Der Zugang zu den zentralen Herrschaftspositionen wird über den offenen Wettbewerb an das Votum der Bürger gebunden. Periodi-sche, freie, allgemeine, faire und gleiche Wahlen werden durchgeführt. Es gelten „das universelle aktive Wahlrecht, das universelle passive Wahlrecht, freie und faire Wahlen sowie die gewählten Mandatsträger“ (ebd.: 32).

Regime politischer Partizipationsrechte: Es gelten das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit sowie Assoziations-, Demonstrations- und Petitionsrechte. Kollek-tive Meinungs- und Willensbildungsprozesse bilden auf der Grundlage dieser Rechte eine öffentliche Arena, in der die Konkurrenz um politische Herrschafts-positionen ausgetragen wird (vgl. ebd.).

Regime bürgerlicher Freiheitsrechte: Die bürgerlichen Freiheitsrechte schützen den Einzelnen vor den Entscheidungen der Mehrheit und vor dem willkürlichen Zugriff der Herrschenden. Die individuellen Schutzrechte gewähren Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum; sie gewähren Schutz vor ungerechtfertigter Ver-haftung, Exil, Terror, Folter oder unerlaubter Einmischung in das Privatleben (vgl. ebd.).

Institutionelle Sicherung der Gewaltenteilung: Wechselseitige horizontale Inter-dependenz und Autonomie der Legislative, Exekutive und Judikative, die als stän-dige Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns wirksam wird (vgl. ebd.: 33).

Effektive Regierungsgewalt: Machtvolle staatliche oder nichtstaatliche Akteure dürfen nicht die letzte Verfügungsgewalt über bestimmte Politikbereiche oder in-nerstaatliche Territorien besitzen. Dieses Monopol obliegt der Exekutive (vgl. ebd.).

Aus dem Zusammenspiel fundamentaler Demokratieelemente wie Rechtstaatlich-keit, Gleichheit, Freiheit und Repräsentation ergibt sich als ebenfalls konstitutive Dimension der Volksherrschaft eine zwingende Fehlbarkeit von Gesetzen in ihrer Anwendung auf den Einzelfall. Gesetze, die in das Leben der Bürger eingreifen, werden nicht immer den spezifischen Umständen der jeweils individuellen Situa-tion gerecht und können daher auch nicht mit der Zustimmung aller rechnen – selbst wenn alle Bürger formal betrachtet für jedes Gesetz als Souverän Verant-wortung tragen. Aus der Kontinuität dieser systematischen Fehlleistung entsteht Kritik am Status quo als ein weiteres für die Demokratie konstitutives Element:

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2.1 Grundprinzipien und Schlüsselverfahren demokratischen Regierens

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„Das empfundene Ungenügen am jeweiligen Zustand gesellschaftlicher Verhält-nisse ist das Lebenselement demokratischer Willensbildung. Die Artikulation die-ses Ungenügens ist die Kritik.“ (Lenk 1993: 940) Stellvertretend für die Betroffe-nen des benannten Ungenügens übernehmen die Opposition, „verstanden als Min-derheitenschutz und Regierung im Wartestand“ (Schultze 2001: 52), sowie die Medien die Rolle der Kritik.

Verbunden mit der Notwendigkeit von Kritik für die Vitalität einer Demokratie ist auch das ihr innewohnende Versprechen der Gestaltbarkeit von Zukunft. Ha-bermas (1998) verweist an dieser Stelle auf jene Werte der Französischen Revo-lution, die die Entstehung europäischer Demokratien als Nationalstaaten begrün-den und seither Bestand haben:

„Das revolutionäre Bewußtsein drückt sich in der Überzeugung aus, daß ein neuer An-fang gemacht werden kann. Darin spiegelt sich ein verändertes historisches Bewußtsein […]. Denn die reflexive Verflüssigung von Traditionen hat sich inzwischen verstetigt; die hypothetische Einstellung gegenüber bestehenden Institutionen und vorgefundenen Lebensformen ist zur Normalität geworden. Die Revolution ist selbst zur Tradition ge-ronnen.“ (Habermas 1998: 605)

Zukunft ist nicht länger unentrinnbares Schicksal, sondern Gegenstand politischer Steuerung durch den Souverän. Lenk (1993) benennt in diesem Zusammenhang den Relativismus politischer Meinungen als grundlegend für die Wirksamkeit von Kritik als Motor der Veränderung: „Keine der konfligierenden politischen Mei-nungen kann Anspruch auf allgemeinverbindliche objektive Wahrheit erheben. Deshalb gilt: Die jeweilige Meinung der Mehrheit ist nur ein Mandat auf Zeit; die Opposition kann notfalls die Regierung ablösen.“ (Ebd.: 939) Damit gehören auch Utopie und Hoffnung zu den Lebenselementen einer Demokratie, die ihrem eige-nen Ideal der vollständigen souveränen Volksherrschaft unter Bedingungen von Gleichheit und Freiheit immer nur nahekommen, nicht aber damit identisch wer-den kann (vgl. ebd.: 941).

Demokratien unterscheiden sich durch Aufstellung und Organisation ihrer jewei-ligen Regierungsinstitutionen, durch Verfahrensweisen und Kompetenzvertei-lung zwischen staatlichen Organen. Als elementare Grundformen demokratischer Staatsführung müssen parlamentarische und präsidentielle Demokratien vonei-nander unterschieden werden (vgl. Schmidt 1997: 219; Kailitz 2007: 306; Merkel 2010: 106). In beiden Modellen spielt das Parlament eine maßgebliche Rolle bei der Verabschiedung von Gesetzen und Haushaltsbeschlüssen sowie bei der Auf-stellung des Kabinetts. Der Unterschied zwischen den Regierungsformen ist

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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durch das Verhältnis von Parlament und Regierung markiert. In einer parlamen-tarisch verfassten Demokratie sind Amtsdauer und -führung einer Regierung vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig, die Regierung wird vom Parlament berufen und kann mittels Parlamentsbeschluss abgesetzt werden (vgl. Schmidt 1997: 219). Im präsidentiellen System sind diese Möglichkeiten nicht vorgesehen. Die Regierungsdauer ist vielmehr festgelegt und der vom Volk direkt gewählte Präsident ist vor Ablauf der Regierungsperiode nur im Fall schwerwiegender Ver-stöße gegen geltendes Recht zu ersetzen. Kennzeichnend für die präsidentielle Form ist darüber hinaus die geschlossene Exekutive – Staatsoberhaupt und Re-gierungschef sind im Amt des Präsidenten vereint –, während die parlamentari-sche Demokratie eine doppelte Exekutive vorsieht, in der Exekutivkompetenzen auf z.B. Kanzler und Präsident verteilt sind (vgl. ebd.: 220). Mit der doppelten versus einfachen Exekutive sowie Berufung/Abberufung der Regierung durch das Parlament sind die Hauptunterschiede zwischen parlamentarischer und präsiden-tieller Demokratie benannt.

2.2 Demokratietheoretische Ansätze

Zu den wichtigsten Wegbereitern moderner Demokratietheorien, um die es in den folgenden Kapiteln gehen wird, gehört ohne Zweifel Jean-Jaques Rousseau (1712-1778), der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Konzeption eines Contract Social und der Vorstellung eines Volonté General Referenzpunkte für alle nach-folgenden Demokratieansätze geliefert hat – im Sinne der Abgrenzung wie auch im Sinne der Fortführung.4 Rousseau gilt als Vertreter einer radikalen Volkssou-veränität, in der die Bürger durch Einsatz direktdemokratischer Verfahren jene Gesetze beschließen, denen sie sich in der Folge unterwerfen. Im öffentlichen Diskurs der Bürger und der gemeinsamen Beschlussfassung werden Partikularin-teressen in Gemeinwohl (Volonté Generale) überführt, das als solches nur vom Volk selbst hervorgebracht und nicht an Repräsentanten delegiert werden kann. In dieser Doppelrolle des Bürgers als Souverän und Untertan realisiert sich De-mokratie nach Rousseau, für den entsprechend das Prinzip der Repräsentation im Widerspruch steht zum Prinzip der Volkssouveränität. Die Regierung ist als Exe-kutive lediglich Vollzugsorgan der plebiszitären Gesetzgebung (vgl. Schmidt

4 Als politisch-theoretisches Hauptwerk Rousseaus gilt die Arbeit Vom Gesellschaftsvertrag

oder Prinzipien des Staatsrechtes aus dem Jahr 1972, in dem er die Theorie vom Allgemeinen Willen und vom Vertrag als Grundlage aller Gemeinschaft darlegt.

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2.2 Demokratietheoretische Ansätze

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1997: 63-73). Rousseaus Vertragstheorie wird gemeinhin kontrastiert mit den Ar-beiten von John Locke (1632-1704), in denen grundlegende Elemente für den mo-dernen Verfassungsstaat und die Entstehung eines politischen Liberalismus ent-wickelt werden. Locke stellt den Schutz der Privatrechte des Einzelnen – das Recht auf Selbsterhalt, auf Freiheit und Eigentum – in den Mittelpunkt der Staats-aufgaben. Die Übertragung des Schutzes dieser Rechte vom Einzelnen an die Ge-meinschaft gilt für ihn, der neben Rousseau als bedeutendster Vertragstheoretiker in der frühen Phase der Aufklärung gilt, als einzig relevantes Motiv für die Ent-stehung eines politischen Körpers (vgl. Massing 1999: 37).

Neben Rousseau und Locke wären an dieser Stelle andere Vordenker wie Thomas Hobbes (1588-1679), Charles de Montesquieu (1689-1755) und John Stuart Mill (1806-1873) zu diskutieren, die für die theoretische und praktische Entwicklung moderner Demokratietheorien von historischer Bedeutung waren. Eine solche Ausdehnung würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass aus den Arbeiten der genannten Theoreti-ker verschiedene Strömungen moderner Theoriebildung entstanden sind, die sich durch unterschiedliche Gewichtung demokratierelevanter Werte und Mechanis-men voneinander unterscheiden. Als zentrales Merkmal der Abgrenzung ist hier insbesondere die Bürgerbeteiligung zu nennen. Während die Partizipationstheo-retiker für einen prinzipiell breiten Einbezug der Bürger in die Regierungsarbeit plädieren, wird aus Sicht der Elitentheorie eine eingeschränkte Teilhabe am poli-tischen Prozess und eine weitgehende Delegation der politischen Arbeit an Ex-perten gefordert (vgl. Kap. 2.2.2 und Kap. 2.2.1). Die Vertreter einer pluralisti-schen Demokratieversion setzen demgegenüber auf das politische Gewicht eines intermediären Sektors, der Interessen organisiert und zwischen Gesellschaft und Politik vermittelt. Übergeordnet ist aber die Frage nach der Realisierbarkeit von Demokratie in den Strukturen moderner Nationalstaaten eine Leitfrage im demo-kratietheoretischen Diskurs: Wie kann das Prinzip der Volksherrschaft unter glo-balisierten Bedingungen in den großen Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts nor-mativ konzipiert und faktisch in die Realität umgesetzt werden?

Im Folgenden werden verschiedene pluralistische und partizipative Theorieströ-mungen diskutiert (Kap. 2.2.2) und in Abgrenzung dazu zunächst die Grundzüge elitärer Demokratievorstellungen skizziert (Kap. 2.2.1).

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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2.2.1 Demokratische Elitenherrschaft

Charakteristisches Merkmal einer elitären Demokratietheorie, die auch als realis-tische Theorie bezeichnet wird, ist die möglichst weitgehende Delegation politi-scher Arbeit an eine vom Volk zu wählende Elite und ein programmatischer Aus-schluss der Bürger aus politischen Debatten und politischen Entscheidungspro-zessen (vgl. Schmidt 1997: 135). Die Herrschaft des Volkes realisiert sich allein am Tag der Wahl, um den das Prinzip der Souveränität zentriert ist und in dessen Vorfeld die zur Wahl stehenden Parteien und Kandidaten um die Gunst des Wäh-lers werben:

„Die Wähler außerhalb des Parlaments müssen die Arbeitsteiligkeit zwischen ihnen selbst und den von ihnen gewählten Politikern respektieren. Sie dürfen diesen zwischen den Wahlen nicht allzu leicht das Vertrauen entziehen und müssen einsehen, daß wenn sie einmal jemanden gewählt haben, die politische Tätigkeit seine Sache ist und nicht ihre.“ (Schumpeter 1950: 468)

Als wichtigste Vertreter einer elitären Demokratietheorie gelten Max Weber (1864-1920) und Joseph Schumpeter (1883-1950). Schumpeter (1950) definiert die demokratische Methode „als diejenige Ordnung der Institutionen zur Errei-chung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefug-nisse vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimme des Volkes erwerben“ (ebd.: 427).

Die elitäre Theorie ist am Prinzip des Wettbewerbs orientiert, über den – analog zur Regulierung des Marktes durch Angebot und Nachfrage – die für die Aufgabe der Führung am besten qualifizierte Partei oder Person ihrer Bestimmung zuge-führt wird. Politischer Wettbewerb ist ein Kampf um Wählerstimmen auf dem Markt der Mehrheiten. Die Auswahl der Kandidaten durch den Kunden erfolgt nach denselben Mustern wie die Auswahl von Produkten am Markt: Emotionale Neigung überwiegt das rationale Argument, Verpackung erzielt Wirkung. Hier wie dort steuern Werbeagenturen die Erscheinungsweise der Ware. Für Schum-peter (1950) ist der politische Wille des Einzelnen nicht als eine dem Wahlkampf äußerliche Größe, sondern als Resultat und Produkt von mehr oder weniger effi-zienten Werbestrategien der zur Wahl stehenden Kandidaten zu verstehen (vgl. Schmidt 1997: 135; Lenk 1993: 948; Fenske 1993: 709).

Trotz dieser ausdrücklichen Disqualifizierung der Bürger als politische Entschei-dungsträger ist das Prinzip des Marktes sowohl bei Weber als auch bei Schumpe-ter positiv konnotiert. Schumpeter und Weber sind in der Auseinandersetzung mit

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2.2 Demokratietheoretische Ansätze

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der Demokratie beide weniger auf den Aspekt der Gerechtigkeit fokussiert als vielmehr auf Fragen der Effizienz, Stabilität und Leistungsfähigkeit des politi-schen Systems. Die Regierbarkeit eines Staates wird als zentrales Argument für den Ausschluss der Bürger aus der Politik in Stellung gebracht. Mehr noch als Schumpeter, dessen Interesse auf die Mechanismen und den Segen der Selektion fokussiert, schätzt Weber Wettbewerb, Kampf und Auslese in der Politik. Seiner Herrschaftssoziologie nach kann eine starke Führung, eine leistungsfähige Regie-rung und auch ein im Verbund der Nationen mächtiger Staat nur aus der Konkur-renz der Besten um die Führung hervorgehen (vgl. Schmidt 1997: 123). Als reale Gegenbewegung zum Ideal der heroischen Führung fürchtet Weber die unaufhalt-same Bürokratisierung der Welt und die zunehmende Herrschaft der Bürokraten über die Politik. Seine Sorge ist, dass eine lückenlos durchregulierte und von Ver-fahrensregeln bestimmte Lebenswelt entsteht, in der individuelle Freiheit und po-litischer Gestaltungswille den Gang der Dinge nur ganz am Rande beeinflussen. Im Zentrum dieses Szenarios beherrschen Verwaltung und Bürokratie das politi-sche Geschehen (vgl. Lenk 1993: 958).5

Obwohl die Forderung nach charismatischer Führung und insbesondere der von ihm geprägte Begriff der plebiszitären Führerdemokratie aus heutiger Sicht auto-ritäre Züge trägt, ist Max Weber als ein Wegbereiter der modernen Demokratie zu verstehen. Ihm ist die Möglichkeit zu verdanken, Demokratie für große Staaten und die Vereinbarkeit von Volksherrschaft mit der Herrschaft von Eliten vorstell-bar zu machen (vgl. Beierwaltes 2002: 67; Schmidt 1997).

Aus Sicht der Elitentheorie ist die Delegation von Entscheidungskompetenz an qualifizierte Eliten die einzige Möglichkeit, gemeinwohldienliche und rational vernünftige Entscheidungen auf Regierungsebene zu gewährleisten. Zugrunde liegt einerseits die Annahme, dass die Existenz eines objektivierbaren Volkswil-lens, wie er noch bei Rousseau, aber auch später bei Habermas im Mittelpunkt steht, reine Fiktion sei und dass das politische Handeln des Einzelnen in jedem

5 Schmidt (1997) verweist zum besseren Verständnis dieser Positionierung auf die Schaffens-zeit Webers, die in der Periode vor Gründung der Weimarer Republik liegt. Seine theoreti-schen Positionen entstehen in der Zeit des Wilhelminischen Reichs aus der Bezugnahme auf eine Regierung, die seiner Ansicht nach durch Leistungsdefizite und Führungsschwächen ge-kennzeichnet ist. Die Gründe dafür sieht Weber unter anderem in der Machtlosigkeit der Par-lamente, aus denen, entsprechend ihrer schwachen Position, kein kompetentes Führungsper-sonal hervorgehe – was schließlich zur Herrschaft von Beamten führe, die zwar Verwaltungs-aufgaben ordnungsgemäß zu erledigen wissen, denen aber die für politische Führung notwen-dige Tatkraft fehle (vgl. ebd.: 124).

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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Fall von Individualinteressen und nicht vom Gemeinwohl getrieben sei (vgl. Schmidt 1997: 134). Zugrunde liegt andererseits die These, dass die zur Debatte stehenden politischen Fragen durch ihre meist ausgeprägte Fachspezifik und Komplexität die Entscheidungskompetenz des einfachen Bürgers in jedem Fall überfordert. Das Volk wird nach Schumpeter (1950) von den Anforderungen der Politik nach rationaler, informierter und qualifizierter Beurteilung fachspezifi-scher Problemlagen überfordert. Schumpeter erklärt den einfachen Bürger als au-ßerstande, komplexe Sachfragen unter kritischer Abwägung von Für und Wider kompetent zu entscheiden (vgl. Massing 1999: 72; Fenske 1993: 709). Aus dieser Schieflage entstehe unter anderem eine Beeinflussbarkeit des einzelnen Entschei-ders durch dritte Parteien, die sich die Überforderung der Bürger zunutze machen, um mit Mitteln der Manipulation die Durchsetzung von Partikularinteressen zu verfolgen (vgl. Schmidt 1997: 135; Fenske 1993: 709).

Es ist vor allem diese Skepsis gegenüber der intellektuellen Kapazität des einfa-chen Wählers und die gleichsam deskriptiv-empirische Genese, der die Elitenthe-orie ihre Einordnung als realistische Theorie zu verdanken hat – im Gegensatz zu normativ-idealistischen Konzepten wie sie etwa von Habermas und Barber ver-treten werden (vgl. Kap. 2.2.2).

Die elitäre (realistische) Demokratietheorie beobachtet und fordert eine struktu-relle Trennung politikinkompetenter Massen von verantwortlichen Eliten, um die Qualität der Debatten und der darin zu treffenden Entscheidungen zu schützen. Demokratie ist hier nicht – wie bei Mouffe (2007) und anderen Befürworten einer maximalistischen Demokratiekonzeption – Gesellschaftsform oder Lebensweise, sondern reine Methode zur Auswahl der passenden Führungsgarnitur (vgl. Lenk 1993: 945). Die Rolle des Souveräns reduziert sich auf den Gang zur Wahlurne:

„Die Sache der Bürger ist es nur, im Wahlakt die für die Politik verantwortlichen Per-sonen zu berufen und damit jene zu wählen, von denen sie regiert werden wollen. Haben sie dies getan, so sind sie aus der arbeitsteilig von der Gesellschaft abgehobenen Sphäre der Politik entlassen. Ihre Aufgabe besteht dann nur mehr darin, aus der Einsicht, daß es nicht ihre Sache ist, politisch tätig zu sein, die praktische Konsequenz zu ziehen, also eine Haltung vertrauensvollen Respekts gegenüber den führenden Repräsentanten ein-zunehmen.“ (Lenk 1993: 947)

Es stellt sich allerdings die Frage, wie der Bürger unter diesen Umständen die politische Kompetenz erwerben soll, die ihn zum Wähler seiner Regierung quali-fiziert. Santoro (1993) bezeichnet diesen Widerspruch als Schumpetersches Di-

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2.2 Demokratietheoretische Ansätze

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lemma. Denn die in der Demokratie essenziell erforderliche Kompetenz des Wäh-lers ist für diesen nur in der Teilhabe am politischen Prozess zu erwerben, von dem er bei Schumpeter und Weber kategorisch ausgeschlossen werden soll. Kritik gegen die Elitentheorie richtet sich entsprechend gegen das Bild eines inkompe-tenten und auch lernunfähigen Bürgers, der in einer elitär geprägten Vorstellung des politischen Prozesses keine Rolle spielen kann und darf. Demokratie, so die Gegner des Konzepts, kann an solch einem in sich geschlossenen Zirkel der In-kompetenz nur scheitern (vgl. Kap. 2.2.2). Auch fehlt es dem Elitenmodell an Kontrollmechanismen, die eine Verselbstständigung der Machteliten und den Missbrauch von Macht verhindern. Demokratie bedarf einer „institutionell wirk-samen Machtkontrolle von Seiten informierter und an den Vorgängen des politi-schen Lebens interessierter Bürger. Die Kompetenzen und Qualifikationen für eine derartige Machtkontrolle entstehen jedoch nicht von selbst; vielmehr ist ihr Zustandekommen an die Herausbildung einer politischen Kultur sowie an eine wachsame und kritische Öffentlichkeit geknüpft“ (Lenk 1993: 955).

Als Gegenmodell zu der an Ausgrenzung und Trennung orientierten Elitentheorie vertritt Jürgen Habermas das Konzept einer deliberativen Demokratie, in der die politische Willensbildung als Navigator für Politik auf Regierungsebene wirksam wird. Diese auch als partizipative Theorie bezeichnete Strömung unter den De-mokratiemodellen wird im folgenden Kapitel vorgestellt.

2.2.2 Partizipative und pluralistische Demokratieansätze

Ganz im Gegensatz zu den Befürwortern der Elitentheorie kann aus Sicht der Par-tizipationstheoretiker eine am Gemeinwohl orientierte Volksherrschaft nur als er-weiterte Teilhabe der Bürger am politischen Prozess realisiert werden „Die parti-zipatorische Demokratietheorie will den Kreis der Stimmberechtigen vergrößern und die Beteiligung der Stimmbürgerschaft an der Aussprache, der Willensbil-dung und der Entscheidung über öffentliche Angelegenheiten erweitern und in-tensivieren.“ (Schmidt 1997: 171)6 Demokratie wird damit zu einem gesamtge-sellschaftlichen Prozess, der Subjektivierung des Einzelnen, private Beziehungen und betriebliche Mitbestimmung ebenso prägt wie die Bedingungen, unter denen politische Entscheidungen zustande kommen. Partizipation wird deshalb auch, im

6 Als wichtigste Vertreter und theoretische Wegbereiter der partizipativen Demokratietheorie

gelten unter anderem Benjamin Barber, Jürgen Habermas, Robert Dahl und Mark Warren.

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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Gegensatz zum eng gefassten Demokratiekonzept der elitistisch-wettbewerbli-chen Lehre, als expansionistisches Politikkonzept bezeichnet (vgl. ebd.: 173; Beierwaltes 2002: 163).

Dabei hat insbesondere Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Han-delns und dem daraus entstandenen Modell deliberativer Demokratie die Ausrich-tung dieser theoretischen Strömung – mithin ihre Zuspitzung – geprägt (Haber-mas, 1982).

Deliberative Demokratie nach Jürgen Habermas (1998)

Die Forderung nach erweiterter Teilhabe der Bürgergesellschaft am politischen Prozess wurzelt in der grundlegenden Annahme, dass nur der politisch informierte und im Diskurs geübte Bürger seiner Verantwortung als Souverän gerecht werden kann. Nur aus der systematischen Teilhabe an politischen Entscheidungsprozes-sen kann jene Kompetenz erwachsen, die eine informierte und politisch fundierte Entscheidung an der Wahlurne ermöglicht. In der Partizipationstheorie sind die politische Versiertheit des Wählers und die demokratische Legitimität einer Re-gierung zwei Seiten derselben Medaille. Sie können nur als Einheit gedacht wer-den. Das Schumpetersche Dilemma wird durch das Postulat einer positiven Ab-hängigkeitsbeziehung aufgelöst. Vorausgesetzt wird dabei eine grundlegende Lernfähigkeit und intellektuelle Kapazität des Einzelnen, die bei Schumpeter nicht vorgesehen ist. Die Kapazität des Einzelnen entfaltet sich nach Maßgabe des Partizipationsmodells im politischen Prozess als eine Form der Selbstverwirkli-chung, in der „Bürgergeist und somit Verantwortung für die Belange des Gemein-wesens“ (Schmidt, 1997: 174; vgl. auch Massing 1999: 75) entwickelt werden.7 Politische Gleichgültigkeit und Verdrossenheit der Wähler entstehen aus dieser Sichtweise infolge begrenzter Mitwirkungschancen am politischen Diskurs und nicht als Resultat privater Sozialisation. Im zeitgenössischen Diskurs zur Lage der

7 Der Zusammenhang zwischen politischer Partizipation und Selbstverwirklichung gewann in

den 1960er-Jahren als Teil eines Wertewandels, der sich im Kern als Abwertung von Wohl-stand und Sicherheit als Lebensziele bei gleichzeitiger Hinwendung zu Selbstbestimmung, Kreativität, Ungebundenheit und Spontanität als erstrebenswerte Lebensformen realisierte, an Bedeutung (vgl. Beierwaltes 2002: 161). Verbunden mit diesem Wertewandel waren eine Kri-tik an Fremdbestimmung durch Elitenherrschaft und eine daran anknüpfende Forderung nach Ausweitung politischer Mitbestimmung. Argumentiert wurde in diesem Kontext auch mit Verbesserung der Qualität politisch-administrativer Entscheidungen durch Partizipation (vgl. ebd.: 162).

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2.2 Demokratietheoretische Ansätze

19

Demokratie in der westlichen Welt wird insbesondere die zunehmende Aus-tauschbarkeit der zur Wahl stehenden Parteien und damit das schleichende Erlö-schen von Wahlmöglichkeiten als Aushöhlung von Mitbestimmung diskutiert (vgl. Mouffe 2007; McNair 2011: 21).

Ähnlich wie Schumpeter (1950) gehen auch Partizipationstheoretiker davon aus, dass der politische Wille von Individuen oder Gruppen nicht von außen an den politischen Prozess herangetragen wird, sondern vielmehr in diesem Prozess erst entsteht. Weil Schumpeter hier Manipulation am Werke sieht, wird die proze-durale Natur der Willensbildung von ihm negativ bewertet. Habermas (1998) hin-gegen sieht stattdessen politische Subjektivierung als Bestandteil und Resultat von Diskursen, deren Qualität und Niveau den politischen Entwicklungsstand des Einzelnen ebenso wie das daraus resultierende Niveau demokratischer Politik ins-gesamt prägen: „[...] das Publikum kommt durch öffentliche Diskurse, und nur dadurch, zu begründeten, kritisch geprüften, in diesem Sinne vernünftigen, ge-meinsamen Einsichten, Problemlösungen und Zielsetzungen.“ (Peters 1994: 47)

Die intellektuelle Kapazität der Einzelperson entsteht in dieser Sichtweise aus der Qualität der Diskurse, an denen sie teilhat. Charakteristisch für die Beschaffenheit deliberativer Diskurse sind die Vorherrschaft des besseren Arguments und die da-rin angestrebte Überführung von Eigen- in Gemeinschaftsinteressen. Die Hervor-bringung und reflexive Wahrnehmung von gemeinschaftlichen Interessen gehört zu den essenziellen Funktionen der öffentlichen Kommunikation, in der die Au-torität des besseren Arguments zur Durchsetzung findet (vgl. Barber 1994: 153). Die Diskurstheorie rechnet gar mit einer „höherstufigen Intersubjektivität von Verständigungsprozessen, die sich über demokratische Verfahren oder im Kom-munikationsnetz politischer Öffentlichkeiten vollziehen“ (Habermas 1998: 362). Dabei gibt sich das bessere Argument nicht durch bestimmte Eigenschaften zu erkennen, sondern durch die Faktizität seiner Durchsetzung unter bestimmten Rahmenbedingungen.8

Deutlich sichtbar wird hier die Bezugnahme auf das Konzept des Gemeinwohls bei Jean-Jaques Rousseau und die Auflösung von Partikularinteressen in diesem Gemeinwohl als Diskursfunktion. Die politische Kompetenz des Bürgers, die Per-

8 Als Rahmenbedingungen benennt Habermas (1998) die Meinungs- und Versammlungsfrei-

heit, die Freiheit von Presse und Rundfunk, das Recht auf freie publizistische Betätigung so-wie das Recht zur Gründung von Vereinen und Gesellschaften (vgl. ebd.: 445).

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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formanz der von ihm gewählten Regierung und die Qualität der öffentlichen Dis-kurse sind unmittelbar aufeinander bezogene Bausteine demokratischer Verhält-nisse, die sich gegenseitig bedingen. Dysfunktionalität einer Komponente in die-sem Spiel bedroht die Funktionstüchtigkeit der Gesamtkonstruktion.

Öffentlichkeit dient der Politik im partizipativen Demokratiemodell als Senso-rium zur Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung gesamtgesellschaftli-cher Probleme (vgl. Habermas 1998: 365). In dieser Funktion als Resonanzraum für gesellschaftliche Schieflagen selektiert Öffentlichkeit ausgesuchte Impulse aus den privaten Lebenswelten und gibt diese weiter in das politische System. Als zentraler Mittler zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit fungiert die Zivilge-sellschaft. Elementar für das Funktionieren einer so konzipierten Demokratie ist also das Ineinandergreifen von Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und politischem Komplex inklusive Parlament:

„Zentrale Funktionsvoraussetzung einer funktionsfähigen Demokratie prozeduralisti-scher Art ist nach Habermas das Zusammenspiel einer Öffentlichkeit, die sich auf zivil-gesellschaftliche Strukturen gründet, d.h. auf freiwillig eingegangene nicht-gouverne-mentale und nicht-wirtschaftliche Zusammenschlüsse und Assoziationen in der Sphäre der Bürgergesellschaft, mit der durch den Rechtsstaat institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung im parlamentarischen Bereich und in der Entscheidungspraxis der Gerichte.“ (Schmidt 1997: 178)9

Für Habermas (1998) gehört die Schaffung formaler Voraussetzungen für Exis-tenz, Durchlässigkeit und Interaktion dieser Teilsysteme zu den zentralen Aufga-ben des Rechtsstaates.

Der hier skizzierte Ansatz deliberativer Demokratie nach Habermas (1998) wurde vielfach als unrealistisch verworfen. Kritisiert wird ein Übermaß an normativer Modellierung, der es an empirischer Überprüfung fehle und die um ein idealisier-tes, utopisches Menschenbild zentriert sei. Auch die von Tocqueville als Tyrannei der Mehrheit bezeichnete Gefahr wurde mit dem Konzept expansionistischer De-mokratie in Verbindung gebracht. Zudem sehen Kritiker die Handlungsfähigkeit der Regierung bedroht durch Übermobilisierung der Massen und daraus resultie-rendem Überschuss an Beteiligung (vgl. Schmidt 1997: 176).

9 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Konzept der Öffentlichkeit und ein Abgleich

mit dem systemtheoretisch orientierten Arenamodell von Gerhards und Neidhardt (1990) fin-den sich in Kap. 2.3.

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2.2 Demokratietheoretische Ansätze

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Pluralistische Demokratie nach Ernst Fraenkel (1969)

Die pluralistische Demokratietheorie, deren Entwicklung in Deutschland vor al-lem auf die Arbeiten Ernst Fraenkels in den 1960er-Jahren zurückzuführen ist, stellt die Rolle der Gruppe und die Bildung von Interessenverbänden in den Mit-telpunkt einer partizipativen Demokratiekonzeption. Aus der autonomen Organi-sation der Bürger zu Gruppen entlang kollektiver Interessenlagen entsteht ein in-termediärer Sektor, der zwischen Gesellschaft und Regierung vermittelt. Dieser Sektor repräsentiert die Vielfalt einer pluralistischen Gesellschaft und ist charak-terisiert durch Widerstreit, Konflikt und Verhandlung. Er ist damit Ausdruck ei-ner demokratischen Kultur, in der politische Entscheidungen als Resultat konti-nuierlicher Aushandlungsprozesse zwischen Vertretern von Partialinteressen her-vorgebracht werden (vgl. Schmidt 1997: 151).

Die politischen Parteien bündeln die pluralistische Dynamik und bilden repräsen-tative Knotenpunkte im intermediären Sektor. Ihnen obliegt die Aufgabe „den un-erläßlichen Transformationsprozeß von zersplitterten und politisch aktionsunfä-higen Gruppenwillen in politisch aktionsfähigen Organisationswillen umzuwan-deln“ (Beierwaltes 2002: 131).

Ähnlich wie Habermas betont Fraenkel (1969) also die Bedeutung des intermedi-ären Sektors als Ort der Partizipation und Vermittlung. Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen lässt sich an der Frage der Stellung des Gemeinwohls gegenüber Partialinteressen festmachen. Bei Habermas dient der Diskurs der Zivilgesell-schaft der Überführung von Eigen- in Gemeinschaftsinteressen. Der intermediäre Sektor fungiert als Diskursraum politischer Subjektivierung, in dem Gemein-schaftsinteressen hervorgebracht werden – und zwar als Ergebnis einer Transfor-mation, die auch die Subjektivierung des Einzelnen einschließt. Im pluralistischen Modell von Demokratie hingegen werden im intermediären Sektor Partialinteres-sen durch den Wettbewerb untereinander noch profiliert. Als Ergebnis werden statt Transformation dieser Interessen die Bildung von Kompromissen und der Ausgleich der Interessen gegeneinander angestrebt.

Um der Notwendigkeit des Gemeinwohls dennoch gerecht zu werden, trennt Fraenkel einen kontroversen von einem nichtkontroversen Sektor. Während im kontroversen Sektor das pluralistische Ringen der Interessen seinen Lauf nimmt, besteht der nichtkontroverse Sektor aus „von allen Bürgern geteilten grundlegen-den politischen und sozialen Prinzipien sowie den allgemein anerkannten Verfah-rens- und Verhaltensregeln“ (Massing 1999: 74). Anders als bei Habermas hat der

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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für den nicht-kontroversen Sektor entwickelte Konsens damit einen eher stati-schen Charakter, während ein dynamischer Prozess der politischen Entschei-dungsfindung davon getrennt wird. Entscheidend für das Verständnis einer plura-listischen Demokratietheorie ist aber das unabdingbare Nebeneinander von Kon-sens und Widerstreit. Konflikt wird als Motor der Demokratie gesehen, Konsens als rahmengebende Existenzbedingung.

Das Problem der Pluralisten besteht in der theoretischen und praktischen Gewähr-leistung von Chancengleichheit für Interessengruppen, die durch ihre jeweilige Verortung in der Gesellschaft mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und politi-schen Ressourcen ausgestattet sind. Es entsteht dadurch eine ungleiche Verteilung von Mitteln der Durchsetzung im intermediären Sektor, die in keinem Verhältnis zur Legitimität der jeweils vertretenen Interessen steht (vgl. Schmidt 1997: 158). Hier wird der Staat ins Spiel gebracht:

„Seine besondere Aufgabe besteht nämlich darin, der Gefahr oligopolistischen oder gar monopolistischen Trägern sozio-ökonomischer Macht entgegenzutreten und zugleich aber auch dafür Sorge zu tragen, daß die Interessen auch der Bevölkerungskreise nicht zu kurz kommen, die aus den verschiedensten Gründen nicht in der Lage sind, zur Äu-ßerung und Wahrung ihrer Interessen Vereinigungen zu bilden oder diese funktionsfä-hig zu halten.“ (Beierwaltes 2002: 129)

Damit rückt die Pluralismustheorie in die Nähe sozialdemokratischer Ansätze, gemäß denen Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit nur durch eine vom Staat ge-steuerte wirtschaftliche Umverteilung realisiert werden können.

Radikale Demokratie nach Chantal Mouffe (2007)

Unter den jüngeren Ansätzen, Demokratie neu und anders zu denken, hat das Mo-dell der radikalen Demokratie von Chantal Mouffe (2007) starken Anklang ins-besondere im Lager der linken Kapitalismuskritiker gefunden. Mouffe (2007) ar-gumentiert im Kern mit der These, dass der Streit zwischen politischen Lagern als unauflösbarer Antagonismus für eine demokratische Gesellschaft konstitutiv ist. Die Überführung von Konflikt in Konsens, wie z.B. von Habermas im Konzept der deliberativen Demokratie vorgesehen, und damit die Auflösung der politi-schen Differenzen in eine vernünftige Einigung, wird bei Mouffe (2007) als das Ende der Demokratie und des Politischen überhaupt bewertet. Genau genommen führt ihrer Konzeption nach der Versuch dieser Überführung und Auflösung von Konflikt in Konsens nur zur Verschiebung in andere, z.B. gewalttätige Formen

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2.2 Demokratietheoretische Ansätze

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der Konfrontation: „Konflikte tendieren dazu – so meine These –, im antagonis-tischen Modus aufzubrechen, wenn die Kanäle nicht da sind, über die sie eine ‚agonistische‘ Form annehmen könnten.“ (Ebd.: 12)10 Statt Idealisierung von Konsens fordert Mouffe (2007) die Anerkennung der grundlegenden Konfliktaf-finität der menschlichen Gesellschaftlichkeit und die damit einhergehende Not-wendigkeit der Ambivalenz zwischen Abgrenzung und Gemeinschaft, um demo-kratische Ausdrucksformen zu ermöglichen.

Folgerichtig zielt Mouffe (2007) in ihrem normativen Ansatz einer radikalen De-mokratie auf die Überführung antagonistischer in agonistische Beziehungen als Kernaufgabe von Politik. Feindschaft wird zur Gegnerschaft, die Unterscheidung von Freunden und Feinden wird überführt in eine zwar unverträgliche, aber nicht feindliche Abgrenzung des eigenen gegen das andere Lager. Die gegnerischen Parteien respektieren sowohl die Unvereinbarkeit der Positionen als auch die Le-gitimität ihrer Opponenten (vgl. ebd.: 30). Zentrale Aufgabe demokratischer Po-litik muss demnach nicht die Vermittlung von Konflikten und die Aushandlung von Einigungen sein, sondern vielmehr die Förderung und Profilierung agonisti-scher Gruppenbildung als Alternative zu z.B. religiösen, ethnischen oder nationa-listischen Identifikationsangeboten (vgl. ebd.: 42). Denn Letztere sind essentialis-tisch, nicht verhandelbar und nicht politisch. Theoretiker und Politiker sollten ihre Aufgabe in der „Schaffung einer lebendigen ‚agonistischen‘ Sphäre des öffentli-chen Wettstreits sehen, in der verschiedene hegemoniale politische Projekte mit-einander konfrontiert werden könnten“ (ebd.: 10). Die dauerhafte Einschreibung von Wir-Sie-Unterscheidungen in der Gesellschaft wird als Motor für eine stän-dige Bewegung demokratischer Verhältnisse wirksam. In Anlehnung an Jaques Rancière markiert Mouffe (2007) den durch Konsens erzeugten Stillstand im Ge-gensatz zur Dynamik des Konflikts als Ende von Politik.

Der demokratische Pluralismus entsteht bei Mouffe (2007) aus der Bildung von politisch profilierten Kollektiven, deren Identitäten aus Abgrenzungsprozessen hervorgehen: Erst im Unterschied zur anderen Gruppe erkennt das Kollektiv die eigene Identität. Aus der Bildung von Kollektiven, die nicht miteinander verhan-

10 Chantal Mouffe (2007) bezeichnet eine Beziehung als agonistisch, „bei der konfligierende

Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, dass es für den Konflikt keine Lösung gibt.“ (Ebd.: 30) Der Begriff Agon ist hier im Gegensatz zur An-tagonie positiv konnotiert.

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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deln, sondern unversöhnlich miteinander streiten, entsteht die Sphäre des Politi-schen. Anders als bei Habermas (1998) ist diese Sphäre des Politischen bei Mouffe (2007) kein rationaler, von Vernunft geprägter Diskurs, sondern ganz im Gegenteil ein leidenschaftlicher, von affektiver Aufladung bewegter Raum. Diese Aufladung resultiert aus der emotionalen Natur von Identitätsfragen, denn die Klärung von Zugehörigkeit und Identität ist niemals ein rein rationaler Prozess, was sich auf die Natur des Politischen bis hin zur Abgabe der Stimme an der Urne überträgt: „Der rationalistische Ansatz kann nicht begreifen, daß das, was Men-schen dazu veranlaßt, ihre Stimme abzugeben, viel mehr ist als nur der Wunsch, ihre Interessen zu vertreten. In der Stimmabgabe liegt eine bedeutsame affektive Dimension: Es geht um die Frage der Identifikation.“ (Ebd.: 35) Leidenschaft im Politischen ist ein wichtiger Aspekt der radikalen Demokratie.

Mouffe (2007) unterscheidet das Politische in Form des gesellschaftlichen Lebens von einem als Politik bezeichneten institutionalisierten Sektor (vgl. ebd.: 19). Im Modell der radikalen Demokratie entfaltet sich das Politische überall dort, wo Macht infrage gestellt und Konflikte ausgetragen werden. Der Antagonismus wird hier gewissermaßen identisch mit dem Politischen: „Mit dem ‚Politischen‘ meine ich die Dimension des Antagonismus, die ich als für menschliche Gesell-schaft konstitutiv betrachte, während ich mit ‚Politik‘ die Gesamtheit der Verfah-rensweisen und Institutionen meine, durch die eine Ordnung geschaffen wird, die das Miteinander der Menschen im Kontext seiner ihm vom Politischen auferleg-ten Konflikthaftigkeit organisiert.“ (Mouffe 2007: 16)

2.2.3 Maximalistische versus minimalistische Konzeptionen von Demokratie

Die bisher aufgeführten Konzepte von Demokratie unterscheiden sich maßgeb-lich im Stellenwert von Partizipation auf der einen und Repräsentation/Wettbe-werb auf der anderen Seite. Im elitären Ansatz wird demokratische Herrschaft im Kern über das Prinzip der Repräsentation geregelt, in partizipativen Ansätzen hin-gegen ist Volksherrschaft Inbegriff einer möglichst weitreichenden Partizipation und Mobilisierung der Bürger und bürgernaher Organisationen im intermediären Sektor. Von herausragender Bedeutung bei der Abgrenzung beider Strömungen voneinander ist zunächst die Konzeption des Politischen als Feld institutionali-sierter Politik einerseits und als Dimension gesellschaftlichen Lebens anderer-seits.

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2.2 Demokratietheoretische Ansätze

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Nach Mouffe (2007) sind soziale Interaktionen durchdrungen von politischen Ef-fekten und daher der Nähr- und Resonanzboden für institutionalisierte Politik. Auch Verhältnisse in Arbeit und Familie, in Freizeit und Freundschaft sind poli-tischer Natur. Das Politische und die Politik entwickeln sich in gegenseitiger Ver-strickung und unmittelbarer Abhängigkeit voneinander. Vertreter einer minima-listischen Demokratieauffassung sehen Gesellschaft und Politik hingegen als ge-trennte Sphären und Politik als in sich geschlossenen und institutionell organisier-ten Raum. Diese Unterschiede im Verständnis des Politischen haben unmittelbare Konsequenzen für die Modellierung von Partizipation in der einen und der ande-ren Konzeption von Demokratie. Die Teilhabe der Bürger am politischen Prozess im Rahmen elitärer Demokratievorstellungen ist im Kern reduziert auf die Wahl von Repräsentanten. Demokratie wird über Wettbewerb, Selektion und Repräsen-tation realisiert.

Es sind nach Crouch (2015) zwei Typen des demokratischen Bürgers zu ergänzen, die mit unterschiedlichen Auffassungen von Demokratie im Zusammenhang ste-hen: Der mit einem maximalistischen Ansatz harmonisierende Typus engagiert sich in politischen Gruppen, die politische Forderungen artikulieren und für deren Durchsetzung streiten. Er empfindet Verantwortung für die Gestaltung gesell-schaftlicher Verhältnisse (vgl. ebd.: 22). Der komplementäre, zur minimalisti-schen Konzeption von Demokratie passende Typus entfaltet sich in einem nega-tiven Aktivismus des Tadelns, der Kritik und der Beschwerde. Crouch (2015) sieht den so lamentierenden Bürger als Repräsentant einer Kultur, in der politisches Handeln den Eliten vorbehalten bleibt, während der Bürger sich in der Rolle des Zuschauers eingerichtet hat. „Jedesmal, wenn wir einen Fehler oder ein Mißge-schick bereits dann als behoben betrachten, wenn ein unglückseliger Minister o-der ein Beamter zurücktreten muß, machen wir uns paradoxerweise mit einem Modell gemein, in dem die Politik allein als das Geschäft kleiner Gruppen elitärer Entscheidungsträger gilt.“ (Ebd.: 23)

In Übereinstimmung mit der hier vorgeschlagenen Unterscheidung maximalisti-scher versus minimalistischer Anforderungen an die Demokratie benennt Ro-zumilowicz (2002) in Anlehnung an Robert Dahl Wettbewerb und Partizipation als unabdingbare Kerndimensionen von Demokratie, ohne diese beiden Funkti-onsaspekte allerdings in hierarchischer oder alternativer Ordnung zu sehen:

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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„In the first place, competition among political actors is necessary to ensure a meaning-ful choice for the electorate and to promote the accountability of representatives after they are elected. In the second place, participation is necessary in order to ensure that those making the choices within a competitive framework are themselves representative of the larger political community.“ (Ebd.: 11)

Eine demokratische Gesellschaft, in der beide Aspekte voll entfaltet sind, bezeich-net Rozumilowicz (2002) als „komplexe Demokratie“ (ebd.). Medienpolitik muss ihrer Argumentation nach auf die Stärkung dieser beiden Funktionsebenen zielen, denn sowohl Wettbewerb als auch Partizipation sind nur als öffentliche Kommu-nikation zu realisieren.

2.3 Öffentlichkeit als intermediäres System zwischen Politik und Gesellschaft

Elektronische Massenmedien wie Fernsehen und Rundfunk sowie Printmedien erfüllen wichtige Funktionen für den Aufbau und den Erhalt demokratischer Ver-hältnisse in einer Gesellschaft. Insbesondere die Kommunikation zwischen dem politischen System und seinen Wählern ist in beide Richtungen auf die Verfüg-barkeit und Performanz von Medien angewiesen: „Öffentlichkeit kann also ver-standen werden als ein intermediäres System, das zwischen dem politischen Sys-tem und den Bürgern, zwischen verschiedenen politischen Akteuren als auch zwi-schen dem politischen System und den Interessen anderer gesellschaftlicher Teil-systeme vermittelt.“ (Jarren 2002a: 118) Erst Medien machen Politik für die Ge-sellschaft sichtbar und umgekehrt: Ohne Massenmedien wäre die Politik blind für die Anliegen und Ansichten der Wähler. Öffentlichkeit dient als intermediäres System, das, in komplementärer Ergänzung zu Publizität und Wettbewerb der Parteien, den Bürgern als Forum für den Austausch von Standpunkten und den politischen Eliten als Orientierung bei der Ausrichtung ihrer politischen Agenda dient. Der Austausch von Standpunkten und die (Re-)Präsentation verschiedener Ansichten in der Öffentlichkeit dient den politischen Eliten – in komplementärer Ergänzung zum politischen Wettbewerb – als Orientierung bei der Ausrichtung ihrer politischen Agenda. Unbestritten ist deshalb, dass die Vitalität einer Demo-kratie in modernen Nationalstaaten existenziell von der vermittelnden Kommuni-kationsarbeit des Mediensystems abhängt. Die Medienleistungen variieren aller-dings je nachdem, welcher politische Kontext vorliegt und welches Demokra-tiemodell für die Medienakteure handlungsleitend ist. Die in der vorliegenden Ar-beit zentrale Frage nach der Leistung der Medien für die Demokratie im Irak muss

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2.3 Öffentlichkeit als intermediäres System zwischen Politik und Gesellschaft

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also unterschiedliche Auffassungen darüber berücksichtigen, wie die Bürger, Po-litiker, Verbände und Journalisten miteinander idealerweise kommunizieren soll-ten und welche Rolle den Medien dabei zukommt.

In der westlich-geprägten Kommunikationswissenschaft dient bis heute das par-tizipative Öffentlichkeitsmodell von Habermas (1998) als maßgeblicher Aus-gangspunkt und Referenz für weiterführende Auseinandersetzungen zur Rolle der Medien im demokratischen Prozess.

Habermas (1989) sieht Öffentlichkeit als Resonanzraum für gesellschaftliche Probleme, die zunächst im Privaten virulent werden und erst durch Thematisie-rung im öffentlichen Diskurs für die Politik sichtbar werden. Öffentlichkeit sei in diesem Sinne ein „Warnsystem mit unspezialisierten, aber gesellschaftsweit emp-findlichen Sensoren“ (ebd.: 435). Die gesellschaftliche Dimension von individu-ellen Problemlagen wird durch Öffentlichkeit erkennbar und Druck in Richtung des politischen Systems dahingehend aufgebaut, dass Missstände aufgegriffen und einer Lösung zugeführt werden. Es ist also Aufgabe der massenmedialen Öf-fentlichkeit, Problemlagen in der Gesellschaft zu erkennen, aufzugreifen und dis-kursiv aufzubereiten: „Im Masse seiner deliberativen Qualitäten erlaubt es das seismographische Instrument Öffentlichkeit, Probleme gesellschaftsweit wahrzu-nehmen und dem politischen System zur Bearbeitung aufzugeben.“ (Imhof 2006: 70) Dabei sind explizit Probleme gemeint, die die nichtstaatlichen Problemlö-sungskapazitäten der Bürgergesellschaft übersteigen und die entsprechend in ei-nen staatlichen Modus der Problembewältigung überführt werden müssen.

Eine Scharnierfunktion zwischen privater Lebenswelt und Medien übernimmt da-bei die Zivilgesellschaft, die „sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstan-denen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen [zusammensetzt,] wel-che die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Le-bensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die poli-tische Öffentlichkeit weiterleiten“ (Habermas 1998: 443). Es ist Aufgabe der Zi-vilgesellschaft, die in der Gesellschaft virulente Vielfalt der Stimmen und Anlie-gen zu verdichten; es ist Aufgabe des politischen Systems, die im öffentlichen Diskurs hervorstechenden Problemstellungen zu bearbeiten.

Die Öffentlichkeit und ihre Einbettung in kommunikative Umwelten kann als zwiebelartig geschichtete Figur vorgestellt werden, mit der privaten Bürgergesell-schaft als äußerster und dem Regierungsapparat als innerster Umwelt im Zentrum

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der Zwiebel. Ganz grundsätzlich wäre die Performanz einer demokratischen Öf-fentlichkeit aus dieser Perspektive daran zu messen, aus welcher Umwelt Impulse aufgegriffen werden und in welche Umwelt Impulse weitergegeben werden. Wie aufmerksam ist die Öffentlichkeit für das Geschehen in der Zivilgesellschaft und wie erfolgreich werden entsprechende Debatten im politischen System mobili-siert? Normativ gesehen muss Öffentlichkeit in beide Richtungen gleichermaßen effektiv agieren.

Die Durchlässigkeit der Öffentlichkeit für ihre Umwelten spielt in diesem Bild eine ebenso zentrale Rolle wie die Responsivität der Politik für das Geschehen in der Öffentlichkeit. Nach Imhof (2006) geht es um die Stärkung von „Interdepen-denzen zwischen Zivilgesellschaft, Medien und Politik, präziser: Um die Durch-lässigkeit von Kommunikationsflüssen von zivilgesellschaftlichen Assoziationen über die medienvermittelte Kommunikation in den deliberativen Kern des politi-schen Systems, das Parlament, das die Exekutive und die Verwaltung mit Hand-lungsanleitungen und –restriktionen versorgt.“ (Imhof 2006: 67) In der Mobilität der Themen und Positionen wird demokratische Teilhabe in politische Realität umgesetzt, beschleunigt, blockiert oder ermöglicht. Auch die Idee demokratischer Selbstbestimmung ist nach Imhof (2006) auf die Rückbindung der politischen Entscheidungsprozesse an den öffentlichen Diskurs angewiesen:

„Auf der Output-Seite [AW: auf der Ebene der politischen Entscheidungen] muss es darum gehen, dass die Problemlösung des politischen Systems den Intentionen der öf-fentlichen und der parlamentarischen Deliberation entspricht, d.h. die Entscheidungs-träger und die Problemlösung sind möglichst eng an die öffentliche Meinung zu binden“ (Imhof 2006: 67).

Habermas (1998) sieht die deliberative Qualität der Diskurse als maßgebend für das Gelingen einer demokratischen Öffentlichkeit im oben skizzierten Sinne. Qualität bedingt in seiner Konzeption auch Legitimität und damit den Wirkungs-grad von Öffentlichkeit (vgl. ebd.: 439). Je unqualifizierter die Diskurse, desto schwieriger wird die Überführung der darin formulierten Forderungen und Posi-tionen in gemeinwohldienliches Handeln auf Regierungsebene. Deliberative Qua-lität resultiert nach Habermas (1989) aus rechtlichen Rahmenbedingungen, die einschränkungslose Meinungs- und Versammlungsfreiheit für alle Bürger gewäh-ren und damit für freiwillige Assoziationen11 den nötigen Spielraum schaffen, um

11 Habermas 1998 verwendet den Begriff der freiwilligen Assoziationen äquivalent zu Organi-

sationen der Zivilgesellschaft und präzisiert dies wie folgt als „[...] organisatorisches Substrat

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Minderheiten, Randgruppen oder kaum organisierte Interessengruppen in der Öf-fentlichkeit zu vertreten. Erst mit der Vorherrschaft der freien Assoziationen ist gewährleistet, dass sich im öffentlichen Diskurs die relevanten Themen und guten Gründe durchsetzen können, sofern die teilnehmenden Akteure frei sind von an-derweitigen politischen oder sozialen Zwängen. Denn sie sollen weder mit ge-schäftlichen Interessen noch politischen Aufgaben in diesem Feld zusammen-kommen (vgl. Habermas 1998: 445f. und 625; Habermas 2006: 75f.).

In seiner Analyse Strukturwandel der Öffentlichkeit fixiert Habermas (1971) schon viel früher eine Form des öffentlichen Räsonnements privater Bürger als Ideal, das als Austausch von Argumenten zwischen freien und gebildeten Bürgern mit dem Ziel praktiziert wird, gemeinwohldienliche Entscheidungen für das poli-tische System vorzubereiten. Sozialer Status, Ränge und Repräsentation werden abgelöst vom Prinzip der Ebenbürtigkeit zwischen freien Bürgern und der Auto-rität des besseren Arguments. Die Öffentlichkeit repräsentiert die Sphäre der Ver-nunft – die „gewaltlose Ermittlung des zugleich Richtigen und Rechten“ (ebd.: 104) – und ist dadurch legitimiert, politische Macht zu begrenzen (vgl. Habermas 2006: 76).

Dies kann nur gelingen, wenn die in der Gesellschaft etablierten sozialen Stratifi-kationsmerkmale weitgehend außer Kraft gesetzt sind und freie Individuen einan-der in gegenseitigem Respekt und als gleichwertig begegnen (vgl. Habermas 1998: 438; Peters 1994: 47; Beierwaltes 2002: 172-173). Die Funktion des öffent-lichen Raums besteht also unter anderem darin, soziale Hierarchien zu entkräften und die Gleichwertigkeit der kommunizierenden Akteure zu gewährleisten, um der Macht des besseren Arguments den Weg zu ebnen. Die öffentliche Meinung entsteht im deliberativen Demokratiemodell auf diesem Weg als Resultat einer inkrementellen Zustimmung zu Positionen, die aus einer im Dialog vollzogenen Prüfung und Schärfung von Argumenten hervorgegangen sind, ohne dass die Macht sozialer Hierarchien auf diesen Prozess Einfluss genommen hätte (vgl. Ha-bermas 1998: 438; Peters 1994: 47; Beierwaltes 2002: 172-173).

Aus der Vorstellung einer auf Freiheit und Gleichheit beruhenden öffentlichen Vernunft erwächst der Anspruch einer Orientierungs- und Legitimierungsfunk-tion von Öffentlichkeit für die Regierung. Eine Regierung, die in ihrem Agenda-

jenes allgemeinen, aus der Privatsphäre gleichsam hervortretenden Publikums von Bürgern, die für ihre gesellschaftlichen Interessen und Erfahrungen öffentliche Interpretationen suchen und auf die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung Einfluß nehmen“ (ebd.: 444).

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Setting offen und aufmerksam für die Themen der öffentlichen Debatten und die darin aufscheinenden Positionen ist, kann als demokratische Regierung Legitimi-tät in Anspruch nehmen.

„Die deliberative Politik gewinnt ihre legitimierende Kraft aus der diskursiven Struktur einer Meinungs- und Willensbildung, die ihre sozialintegrative Funktion nur dank der Erwartung einer vernünftigen Qualität ihrer Ergebnisse erfüllen kann.“ (Habermas 1998: 369)

Diese Vorstellung einer von Vernunft geprägten Öffentlichkeit findet als norma-tives Ideal Verwendung zum Beispiel in Medienpolitik und Gesetzgebung, als Referenz öffentlicher Empörung über die Qualität massenmedialer Berichterstat-tung sowie als Grundlage ethischer Leitlinien in der Berufsausbildung (vgl. Peters 1994: 49). In der Realität findet das normative Ideal weitreichende Einschränkun-gen im Hinblick auf Offenheit, Reziprozität und Chancengleichheit im Zugang zur massenmedialen Öffentlichkeit und bei der Auswahl von Ereignissen durch die auf Reichweiten und Verkaufbarkeit fixierten Medienproduzenten.12

Peters (1994) verweist zusätzlich auf die relative Unwahrscheinlichkeit von dis-kursiven versus strategischen Formen der Kommunikation. Konkret benennt er (1) expressive Kommunikation in Ritualen, Zeremonien, Slogans und Demonst-rationen sowie (2) Verhandlungen als in der Öffentlichkeit vorherrschende For-men von Kommunikation. Ergänzt wird das Repertoire strategischer Kommuni-kationsformen um (3) gewaltförmige Kommunikation in der Gestalt von Beleidi-gungen, Herabsetzung und Manipulation sowie (4) um einen moralisch begrün-deten Zwang zum Konsens, der abweichende Meinungen als unmoralisch diskre-ditiert. Strategische Kommunikation wählt im Unterschied zur diskursiven Form nicht den Dissens als Ausgangspunkt und die Begründung von Standpunkten und gegenseitige Überzeugung mit Argumenten als Weg zum Ziel. Stattdessen wird Konsens behauptet oder durch andere als diskursive Mittel erzeugt (vgl. ebd.: 65).

Fraser (2007) nimmt die abnehmende Bedeutung nationalstaatlicher Institutionen unter Bedingungen der Globalisierung als Ausgangspunkt einer Kritik an Haber-mas’ Öffentlichkeitstheorie, die auf eine mögliche Erosion von zwei Kernfunkti-onen zielt: Normative Legitimacy und Political Efficacy (vgl. ebd.: 7). Normative Legitimität meint, dass aufgrund von Chancengleichheit und Offenheit, die in der Öffentlichkeit aufscheinenden Meinungen, Anliegen und Positionen tatsächlich

12 Das Problem ungleicher Zugangschancen wird ausführlich in Kapitel 2.3.3 mit Blick auf die Partizipationsfunktion von Medien diskutiert.

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den in der Gesellschaft relevanten Meinungen und Anliegen entsprechen. Die Öf-fentlichkeit ist ein legitimer Spiegel der Gesellschaft. Eine solche Legitimität kann nach Fraser (2007) unter Bedingungen globalisierter Migration und Mobili-tät nicht mehr realisiert werden. Gleiches gilt für den Einfluss der Öffentlichkeit auf die Entscheidungsprozesse der nationalstaatlichen Regierung (Efficacy). Diese werden unter globalisierten Bedingungen zunehmend von externen Akteu-ren – Konzernen, internationalen Institutionen und anderen Staaten – geprägt und beeinflusst. Die Macht einer womöglich deliberativen Öffentlichkeit gegenüber den nationalstaatlichen Regierungen schwindet angesichts dieser globalisierten Kontextbedingungen (vgl. ebd.).

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit neuen Ansätzen, eine international aufgespannte Öffentlichkeit zu modellieren, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die Relativität nationalstaatlicher Strukturen und der Einfluss nicht-staatlicher Faktoren auf die Öffentlichkeit wird aber für die Fallstudie Irak rele-vant bleiben.

Die klassische Öffentlichkeitstheorie ist einer partizipativen Demokratiekonzep-tion nahe stehend: Bürger und die Zivilgesellschaft werden als privilegierte Ak-teure gesehen, die Öffentlichkeit für die Artikulation gesellschaftlicher Problem-lagen in Anspruch nehmen. Vor dem Hintergrund ihrer Bedeutsamkeit wird die Partizipationsfunktion von Medien in Kapitel 2.3.3 weiter ausgeführt. Gleichsam müssen öffentliche Kanäle auch für die Rechtfertigung und Begründung von Po-litik durch die regierenden und politischen Eliten zur Verfügung stehen. Diese Funktion von Medien rückt in einem elitären Demokratieverständnis in den Vor-dergrund und wird in Kapitel 2.3.2 gesondert diskutiert. Die Informationsfunktion wird im nun folgenden Kapitel 2.3.1 als übergeordnete Funktionsdimension unter Berücksichtigung von Aspekten journalistischer Ethik gewürdigt.

2.3.1 Die Informationsfunktion der Medien

Die Versorgung der Bürger mit politisch und sozial relevanten Informationen aus aller Welt ist ohne Zweifel die wichtigste Funktion, die das Mediensystem für die Existenz- und Entwicklungsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft zu er-bringen hat. Die Verfügbarkeit von Informationen ist elementare Voraussetzung für politische Willensbildung, für Teilnahme am öffentlichen Diskurs und für alle anderen Formen der politischen Partizipation von der Wahl bis hin zum Engage-

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ment in Verbänden oder bei Protestaktionen (vgl. Pürer 2003: 425). Weil Infor-mation die Grundsubstanz aller Medienkommunikation darstellt und damit allen anderen Funktionsdimensionen wie Partizipation, Integration, Kritik und politi-sche Kommunikation inherent ist, muss die Informationsfunktion der Medien auch als Meta-Funktion verstanden werden. Buckley et al. (2011) ergänzen, dass Zurückhaltung von Informationen zu Korruption verleite und in der Bevölkerung eine Neigung zu Verschwörungstheorien und Misstrauen schüre (vgl. ebd.: 88). Die Verpflichtung zur Bereitstellung von Informationen für das Mediensystem ist in Deutschland durch das Informationsfreiheitsgesetz geregelt und gehört auch in den internationalen Standards einer an demokratischen Prinzipien orientierten Mediengesetzgebung zu den ganz grundlegenden Bausteinen.13

In ihrer Reinform tritt die Informationsfunktion dem Medienrezipienten in der Form von Meldungen, Nachrichten und Berichten entgegen.14 Im Rundfunk sind die Nachrichten der zentrale Ort für Informationsjournalismus. Der reine Infor-mationsjournalismus, auf den alle anderen Formen aufbauen und den alle anderen Formen voraussetzen, versteht sich als frei von Meinungen, Tendenzen und Be-wertungen. Er versteht sich also in Abgrenzung zu Formaten wie dem Kommen-tar, der Glosse, dem Blog, in denen Sichtweise und Ansichten des Autors den Text prägen dürfen und sollen.

Aus normativer Sicht steht die Informationsfunktion in enger Verbindung zur Qualität journalistischer Berichterstattung, für deren Bewertung in der Kommu-nikationswissenschaft eine ganze Reihe unterschiedlicher Systematiken zur Ver-fügung stehen (vgl. Hafez 2008; Bucher 2003; Arnold 2009). Grundlegend unter-scheiden sich die relevanten Bewertungsmodelle durch eine Hinwendung zu eher systemtheoretischen oder eher normativ-demokratietheoretischen Ansätzen. Qua-lität aus systemtheoretischer Sicht ist eine Eigenschaft von Kommunikation, die Anschlusskommunikation für die Selbsterhaltung des Mediensystems absichert.

13 Als zentrale Aspekte einer legislativen Regelung von Informationszugang nennen Buckley et

al. (2011): (1) Alle Daten öffentlicher Einrichtungen müssen öffentlich verfügbar sein; (2) es müssen Regeln definiert sein, nach denen Bürger Informationen von öffentlichen Einrichtun-gen einfordern können; (3) Ausnahmen müssen klar definiert sein; (4) es muss ein Recht ge-ben, Widerspruch gegen die Geheimhaltung von Dokumenten einzulegen. (Ebd.: 90).

14 Leitend bei der Erstellung von Texten oder Beiträgen dieser Art ist die Beantwortung der sogenannten W-Fragen: Wer hat was, wann, wo, wie und warum getan? Dabei gilt die Tren-nung von Meinung und Information als Grundregel journalistischer Arbeit.

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Kriterien für die Bestimmung journalistischer Qualität werden hier in systemthe-oretisch bestimmten Merkmalen anschlussfähiger Kommunikation begründet und explizit nicht in Bezug auf Aufgaben, die von Medienproduzenten für andere ge-sellschaftliche Systeme erbracht werden (vgl. Bucher 2003:18). Mit Luhmann (1979) rücken damit Kategorien wie Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Ver-trauen in den Fokus – Leitlinien, zu denen der Journalist sich bekennt, wenn er Vertrauen gewinnen und damit Folgekommunikation absichern will. Unter Be-zugnahme auf Grice (1979) erweitert Bucher (2003) diese Selbstverpflichtung des Journalisten um eine Reihe von Maximen, die das Vertrauen in die Arbeit des Journalisten erhärten und deswegen als Qualitätskriterien herangezogen werden. Die Qualität öffentlicher Kommunikation wird demnach dadurch bestimmt, dass relevante, ausreichende, verständliche, verlässliche und wahrhaftige Informatio-nen in Umlauf gebracht werden (vgl. Bucher 2003: 22).

Für die vorliegende Arbeit ist aber der normativ angelegte demokratietheoretische Bewertungsansatz bedeutsam, der Qualität als Leistung sieht, die von den Medien für die Demokratie erbracht werden muss. Die soziale Verantwortung besteht in dieser Sichtweise einerseits darin, grundlegende Werte einer demokratisch-frei-heitlichen Ordnung zu reproduzieren und in dieser Leistungserbringung anderer-seits die Spezifik eines sich wandelnden öffentlichen Interesses zu erkennen und zu bedienen. Massenmedien dürfen aufgrund der Annahme und Übernahme die-ser sozialen Verantwortung Informationsprivilegien in Anspruch nehmen (vgl. Arnold 2009: 185-187). Als zentrale Leitwerte der Demokratie, aus denen sich alle normativen Ansprüche an die Medien ableiten lassen, benennt McQuail (1992) Freiheit, Gleichheit (Gerechtigkeit), Ordnung (Solidarität) (vgl. Arnold 2009: 86). Verbindlichkeit der normativen Ansprüche und damit verbundene Ver-pflichtung wird durch medienrechtliche Regelungen und durch die Institutionen der Selbstregulierung erwirkt.

Als im normativ-demokratischen Sinne universelle Gütekriterien für journalisti-sche Berichterstattung werden von Pürer (2003) Objektivität, Richtigkeit und Vollständigkeit in Anschlag gebracht (vgl. ebd.: 425). Überdies gelten Produkti-onsregeln wie die doppelte Prüfung der Fakten und Quellen sowie die Strukturie-rung einer Meldung nach bestimmten Kriterien, die seitens der Leser/Zuschauer Wiedererkennbarkeit gewährleisten. Ruß-Mohl (2005) schlägt folgende Indikato-ren für die Bewertung journalistischer Qualität vor (vgl. für das Folgende ebd.: 375):

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Aktualität: zeitliche Nähe zum Geschehen; Relevanz: Bedeutung des Geschehens für die Rezipienten; Objektivität/Vielfalt: Faktentreue, Trennung von Nachricht und Meinung, Vielfalt der Blickwinkel, Fairness/Ausgewogenheit, Hintergrund; Originalität: Leseanreiz, Exklusivität/Anteil an eigener Recherche; Komplexitäts-reduktion: verständliche Sprache, angemessene Vereinfachung, Faktentreue, er-forderliche Kontextinformationen.

Hager (2000) ergänzt und variiert diese Systematik wie folgt (vgl. für das Fol-gende ebd.: 82)15:

Richtigkeit: intersubjektive Nachprüfbarkeit durch Recherche aus mehreren Quel-len, Begründetheit der Argumente durch Quellentransparenz und Vielfalt durch die Darstellung unterschiedlicher Positionen; Aktualität: Differenz von vorher und nachher (latente Aktualität: Themen, die die Gesellschaft dauerhaft beschäf-tigen); Relevanz: relevant im Sinne der Nachrichtenfaktoren (interne Relevanz: Beachtung von Folgen und Ursachen); Vermittlung: Stil, Sprache, Verständlich-keit, aber auch Vermittlung von Themenrelevanz für das Publikum; Ethik: Ver-antwortungsbewusstsein auf Seiten der Journalisten.

Anders als die bisher aufgeführten, gattungsunspezifischen Bewertungsmodelle liefern Schatz und Schulz (1992) einen viel beachteten Orientierungsrahmen für die Bewertung von Programmqualität im Fernsehen. Als zentrale Dimensionen der Qualität werden hier geltend gemacht:

Vielfalt: „Dahinter steht die demokratietheoretische Auffassung, dass die Bürger ihre Rechte auf Information, Meinungsbildung und Meinungsäußerung umso bes-ser wahrnehmen können, je vielfältiger das vorgefundene Medienangebot ist.“ (hier zitiert nach Hohlfeld 2003: 208). Gemeint sind neben der Vielfalt der For-mate auch und vor allem eine Vielfalt von Akteuren, Themen und Themenmerk-malen. Damit wird im deutschen Rundfunkgesetz auch der Integrationsanspruch verknüpft (vgl. ebd.).

Relevanz in seiner Manifestation als Wirkungsintensität, Zentralität des berührten Wertes, räumliche ethnische und soziale Nähe.

Professionalität: Neutralität der Aussagen (Trennung von Kommentar und Nach-richt), Ausgewogenheit und Fairness (durch heterogene Themen- und Aussa-gestrukturen); Sachlichkeit und Sachgerechtigkeit der Aussagen.

15 Hier zitiert nach Bilke (2008: 95f.).

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2.3 Öffentlichkeit als intermediäres System zwischen Politik und Gesellschaft

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Rechtmäßigkeit – Einhaltung rundfunkrechtlicher Vorschriften und allgemeiner Gesetze zum Schutz der Privatsphäre, der nationalen Sicherheit und der Jugend, der Minderheiten, der öffentlichen Ordnung etc. Aber auch auf übergeordneter Ebene im Sinne der Achtung der Menschenrechte.

Akzeptanz von Programminhalten (erfassbar durch qualitative und quantitative Untersuchungen von Bewertungen durch die Mediennutzer).

Eine systematische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Modellen zur Be-wertung der journalistischen Qualität von Informationen, mithin eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Diskurs selbst, kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.16 Auffällig in den bisher genannten Ansätzen ist aber ein hohes Maß an Redundanz und große Uneinheitlichkeit bei der Systematisierung von Begriffen. Teilweise werden Begriffe wie Vielfalt oder Faktizität in ganz unterschiedliche Definitionszusammenhängen eingebunden. Dennoch geben sich in der Zusam-menschau der oben skizzierten Ansätze Vielfalt, Vollständigkeit, Richtigkeit und Relevanz als zentrale Kriterien für die Bewertung von Qualität in der Berichter-stattung zu erkennen.17 Relevanz wird dabei in der Literatur bisweilen reduziert auf den Aspekt der Betroffenheit: Relevant ist eine Information, wenn ein kon-kreter Bezug zum Alltag des Mediennutzers besteht. Ruß-Mohl (2005) spezifi-ziert Relevanz entsprechend als „Bedeutung/Gewicht des Geschehens/Themas für die Publika“ (ebd.: 374), und auch in der Theoriebildung zu den Nachrichtenfak-toren wird der Faktor Bedeutsamkeit zumindest bei Galtung und Holmboe Ruge (1965) noch als persönliche Betroffenheit präzisiert. Zusätzlich zur Dimension der Betroffenheit soll in der vorliegenden Arbeit auch die politische Tragweite eines Ereignisses dem Relevanzbegriff zugeordnet werden.18

16 Die Frage nach Qualität kann auch nicht pauschal, sondern nur im Hinblick auf verschiedene

Perspektiven und Zwecke beantwortet werden. Weischenberg (2006) unterscheidet verschie-dene Dimensionen der Qualitätsbetrachtung in einem Kreis- oder Zwiebelmodell: Qualitäts-normen (Mediensystemebene), Qualitätsmanagement (Institutionenebene), Qualitätsmessung (Produktebene), Qualitätsbewusstsein (Medienakteursebene) (vgl. ebd.: 9).

17 Eine Operationalisierung der Kriterien erfolgt in Kap. 8.4. 18 Im Irak sind diese Qualitätsansprüche in einem Pressekodex formuliert, der von lokalen Me-

dienhäusern unter Moderation der BBC-Media Action 2008 entwickelt und von mehr als 80 Medienhäusern als Leitlinie der redaktionellen Arbeit übernommen wurde. Der Anspruch auf Richtigkeit und Vollständigkeit wird in diesem Professional Code of Conduct for the Iraqi Media in einem Kapitel zur Objektivität als Bündel von Untersagungen aufgegriffen: Infor-mationen sollen nicht verzerrt, nicht geändert, nicht missbraucht, nicht ausgeschmückt und auch nicht nur teilweise verwendet werden. Unter dem Titel Accuracy wird weiterhin Trans-parenz, Prüfung und Schutz von Quellen betont sowie der Anspruch auf Vollständigkeit als

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Eng verbunden mit der Informationsfunktion und speziell dem Anspruch auf Re-levanz ist die Thematisierungsfunktion der Massenmedien. Gemeint ist damit die gesellschaftliche Notwendigkeit, dass politisch und sozial relevante Themen von den Medien aufgegriffen und in der Öffentlichkeit diskutiert werden, damit auf politischer Ebene Aufmerksamkeit für diese Themen entstehen kann. Vorausset-zung dafür ist eine ausreichende Durchlässigkeit der Übergänge zwischen Gesell-schaft, Medien und Politik – dies war in Kap. 2.3 diskutiert worden (vgl. van Belle 2010: 88–90; Odugbemi und Norris 2010: 386–388). Aus normativer Sicht wäre die soziale Verantwortung der Medien also noch um politische Steuerungseffekte zu ergänzen, die aus dem Ein- und Ausschluss von Themen aus der Öffentlichkeit hervorgehen. In einer demokratischen Gesellschaft muss durch die Förderung von pluralistischen Strukturen umgekehrt deswegen auch die Wahrscheinlichkeit mi-nimiert werden, dass wichtige Themen von den Medien übersehen oder gemieden werden.

Weil mit der Thematisierungsfunktion die Auswahl der Themen als Qualitätsas-pekt bereits adressiert ist, soll das Qualitätskriterium Vielfalt auf die Repräsenta-tion von Meinungen und Positionen zu kontroversen Angelegenheiten bezogen sein. Vielfalt ist in dieser Form auch als journalistischer Anspruch in dem Profes-sional Code of Conduct for the Iraqi Media artikuliert und dort als Einbezug und umfassende Berücksichtigung aller existierenden Auffassungen zu einer kontro-versen Angelegenheit in der Berichterstattung definiert:

„We endeavour to give all differing points of view on any matter the right of expression in a professional, fair, and balanced manner, and to respect all differences of opinion and not take one side against another.” (Professional Code of Conduct for the Iraqi Me-dia, Objectivity Pkt. 2)19 Auf operativer Ebene muss für eine differenzierte Betrachtung zwischen Mikro-vielfalt sowie interner und externer Vielfalt unterschieden werden. Mikrovielfalt spiegelt Vielfalt von Perspektiven innerhalb eines Berichts, interne Vielfalt meint Vielfalt zwischen Berichten innerhalb von Nachrichtensendungen eines Senders

Teilaspekt von Richtigkeit. Vielfalt wird – ebenfalls in der Rubrik zur Objektivität – definiert als möglichst breit aufgespanntes Spektrum an Positionen zu einem Sachverhalt, Balance and Objectivity werden darüber hinaus als redaktionelle Leitlinie für alle Medien gefordert (voll-ständiger Text des Code of Conduct in Annex 3).

19 Originaltext fehlerhaft und hier nicht korrigiert.

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und externe Vielfalt meint die Repräsentation von Parteien und Perspektiven in der Öffentlichkeit insgesamt (vgl. Voltmer 2010).20

Die bei Ruß-Mohl (2005) und auch bei Pürer (2003) noch mitgenannte Forderung nach Objektivität in der journalistischen Berichterstattung ist vor dem Hinter-grund einer in den Sozial- und Geisteswissenschaften herrschenden Einigkeit über die konstruktivistische Natur menschlicher Wahrnehmung umstritten. Der Objek-tivitätsbegriff nimmt einerseits eine Vorrangstellung ein, weil er als unverzicht-bare Grundlage für demokratische Meinungsbildungsprozesse gesehen wird. Für die Meinungsbildung unter Wählern und Bürgern einer demokratischen Gesell-schaft braucht es – so die These – unverzerrte, unparteiliche und neutral dargebo-tene Informationen, damit auf Basis eigener Abwägungen die Mediennutzer zu unabhängigen und rational begründeten Urteilen über öffentliche Angelegenhei-ten kommen können (vgl. Arnold 2009: 44). Andererseits gilt als naiv, wer glaubt, dass Subjektivität sich durch die Anwendung von journalistischen Methoden oder gar durch eine journalistische Haltung neutralisieren lasse. Aus konstruktivisti-scher Sicht kann Realität immer nur als sozial konstruierte Realität in Erscheinung treten, die aus den Selektions- und Verarbeitungsmustern des Systems hervorgeht und darin Gestalt annimmt. Die Einhaltung von verbindlichen Regeln in der jour-nalistischen Recherche und Darstellung bereitet hier nicht den Weg für eine ge-treue Abbildung, sondern für eine nützliche Konstruktion von Realität. Realität ist so gesehen nicht Voraussetzung, sondern Produkt sozialer Kommunikation (vgl. Hafez 2008; Arnold 2009: 51; Bucher 2003: 18f.).

Hafez (2008) plädiert für ein intersubjektiv angelegtes Modell von Objektivität als Bemühen, „to get as close to intersubjective reconstruction of reality as one can get.” (Ebd.: 152) Die Realität wird hier gesehen als das Gesamt aller zu einem Sachverhalt vorhandenen Lesarten, Darstellungen (Frames) und Meinungen, während intersubjektive Objektivität danach strebt, dieses Gesamt möglichst voll-ständig in der journalistischen Aufarbeitung eines Themas zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 152-153). In ähnlicher Weise beschreibt Baggini (2003) die zeitge-mäße Haltung des Journalisten als das Streben danach, die eigene Perspektive un-tergehen zu lassen in einem Schwarm von Fremdperspektiven. Auch im Rahmen eines konstruktivistisch angelegten Paradigmas kann also die Suche danach, wie

20 Unterscheidung von externer und interner Vielfalt nach Hallin und Mancini (2004: 29). Er-

gänzung von Vielfalt auf Mikroebene (Mikrovielfalt) durch die Autorin.

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sich die Dinge wirklich zugetragen haben, als möglichst vollständige Zusammen-schau aller Beobachtungen eine sinnvolle Aufgabe für den Journalisten bleiben. Die Wahrheitssuche bleibt als Taktik erhalten, an die Stelle des Wahrheitsbegriffs tritt aber die Idee einer intersubjektiven Rekonstruktion von Realität.

Unabhängig davon, in welchem Verhältnis Objektivität zur Realität gesehen wird, ist der Objektivitätsbegriff zu einem umfänglichen Sammelbecken für Qualitäts-ansprüche an die journalistische Arbeit geworden (vgl. Sponholz 2009: 23). Wes-terstahl (1983) benennt beispielsweise Faktizität und Unparteilichkeit als Kern-merkmale von Objektivität und subsumiert eine Vielzahl anderer Ansprüche in diesen Kategorien (vgl. Arnold 2009: 44):

Tabelle 2.1: Merkmale von Objektivität nach Westerstahl (1983)*

Faktizität

Wahrheitskriterien Faktenbezogenheit, Genauigkeit, Vollständig-keit

Relevanzkriterien Normative Theorien, Publikum

Unparteilichkeit

Ausgewogenheit Gleicher vs. Proportionaler Zugang, Gleichbe-handlung bei Wertungen

Neutrale Präsentation Nicht wertend/nicht sensationell

* Eigene Darstellung

Bentele (1982) benennt Richtigkeit, Vollständigkeit (Relevanz) und Transparenz als Definitionsbegriffe für Objektivität und deklariert zusätzlich Nachprüfbarkeit als übergeordnetes Metakriterium.

Als einflussreich gilt auch die Systematik von McQuail (1992), der für die Präzi-sierung von Objektivität folgende Dimensionen geltend macht: Faktenbezogen-heit, Richtigkeit und Genauigkeit, Vollständigkeit, Relevanz, Unparteilichkeit (Ausgewogenheit und neutrale Präsentation) (vgl. Arnold 2009: 44-50).

Sponholz (2009) untersucht in einer Auseinandersetzung mit Objektivität als In-strument der journalistischen Erkenntnis unter Bezugnahme auf Bentele (1982) die Bedeutung folgender Begriffe: Faktizität, Verständlichkeit, Relevanz, Unpar-teilichkeit und Pluralismus (oder Fairness).

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In diesem kurzen Abriss relevanter Systematisierungsversuche fällt bereits auf, dass die genannten Objektivitätskriterien weitgehende Überschneidungen mit den eingangs skizzierten Qualitätskriterien aufweisen. Objektivität gewinnt damit den Stellenwert einer übergeordneten Kategorie, die dem Qualitätsbegriff selbst ver-gleichbar wird. Bisweilen sind die in den beiden Diskursen – zur Objektivität ei-nerseits und zur journalistischen Qualität andererseits – zirkulierten Begriffe kaum voneinander zu unterscheiden. Klar wird damit aber auch, dass Objektivität nicht ohne Weiteres als Merkmal journalistischer Qualität verwendet werden kann.

2.3.2 Politische Kommunikation

Aus Sicht eines elitären Demokratiemodells wäre die massenmediale Öffentlich-keit als Raum zu gestalten, in dem politische Eliten sich erklären und einen Wett-streit um die Gunst der Wähler betreiben. Die von den Massenmedien vermittel-ten Informationen haben ihren Ursprung im politischen System und dienen auf Seiten der Rezipienten als Grundlage für die leistungsorientierte Bewertung der im Wettbewerb stehenden politischen Akteure.

Vertreter eines minimalistischen Demokratiemodells werden also die Bedeutung der Kommunikation von Politik zum Demos betonen, die Beierwaltes (2002) als Publizität bezeichnet (ebd.: 43).

Publizität

Publizität ist als eine Dimension politischer Kommunikation definiert, die ausge-hend von den politischen Eliten auf ein öffentliches Publikum gerichtet ist. Im Modus der Publizität erklären die Regierenden gegenüber den Regierten politi-sche Entscheidungen und Vorhaben. Idealerweise wird hier das politische Ge-schehen transparent und damit die Handlungsfähigkeit der Bürger hergestellt, die nur unter dieser Voraussetzung beim Gang zur Wahlurne oder im Zuge jeder an-deren Form politischer Partizipation informierte Entscheidungen treffen können. Die Bedeutsamkeit dieser Kommunikationsdimension für die Demokratie insge-samt kann also nicht überschätzt werden:

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„Im Institut der periodischen Wahl kann das Volk darüber entscheiden, ob sich die ge-wählten Personen als vertrauenswürdig erwiesen haben, ob sie die Verantwortung, die ihnen übertragen worden ist, auch in seinem Sinne wahrgenommen haben oder nicht und ob es den zur Wahl stehenden Kandidaten auch in Zukunft vertraut, das zu ertei-lende Mandat auch verantwortungsvoll wahrzunehmen. Um diese Entscheidung treffen zu können, bedarf es der Transparenz und Offenheit des politischen Systems.“ (Beier-waltes 2002: 60; vgl. auch McNair 2012: 17)

Beierwaltes (2002) betrachtet die von ihm als Publizität bezeichnet Kommunika-tionsverpflichtung der Regierung gegenüber den Regierten als Wesensmerkmal der Demokratie.21 Die Bedeutung der Publizität geht dabei über den Anspruch der Bereitstellung von Informationen für die Bürger hinaus. In einer repräsentativen Demokratie sind die politischen Eliten vielmehr verpflichtet, politische Entschei-dungen und Vorhaben vor dem als Publikum versammelten Demos zu rechtferti-gen und zu begründen (vgl. ebd.: 43).22 Dieser Verpflichtung zur Rechtfertigung kann die Politik nur durch Nutzung von Massenmedien nachkommen, sodass hier eine Abhängigkeit der Politik von den Medien entsteht. Umgekehrt ist es Aufgabe der Medien, die Rechtfertigung von den Regierenden auch einzufordern.

Für Forst (2007) ist „Das Recht auf Rechtfertigung“ Grundlage von Gerechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Gemeint ist der Anspruch der Bürger, zu erfahren, warum Rechte und Güter in bestimmter Weise verteilt wurden und „wie bestimmt wird, wer worauf einen Anspruch hat und wie die Beteiligten – im de-mokratischen Verständnis in ihrer Doppelrolle als Autoren und Adressaten der Rechtfertigung – zueinander stehen“ (ebd.: 9). Zentral für das Verständnis dieses Anspruchs ist sein Stellenwert als „normative Tiefengrammatik der Gerechtig-keit“ (ebd.: 11): Jedes Mitglied der Gesellschaft muss eine auf seinen Fall bezo-gene Rechtfertigung für die in der Politik regulierte Teilhabe an Wohlstand und Macht einfordern dürfen. Gerechtigkeit ist nach Forst (2007) eben nicht an der Frage zu bemessen, inwiefern einzelne Personen bei der Verteilung von Gütern oder Rechten benachteiligt oder bevorzugt wurden, sondern an der Frage, ob sie (ihr Fall) bei der Begründung der Verteilungsregel berücksichtigt und damit in

21 Habermas (2006) klassifiziert das Prinzip der Publizität in der historischen Betrachtung gar

als „means of transforming the nature of power“ (ebd.: 76). 22 „Moderne, repräsentative Demokratie basiert auf Verantwortlichkeit der gewählten Eliten ge-

genüber dem Volk, die auf eine öffentliche Rechtfertigung ihres Handelns hinausläuft.“ (Beierwaltes 2002: 203).

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ihrer Würde als „Rechtfertigungswesen“ respektiert wurden, das „Rechtfertigun-gen geben und verlangen kann“ (Forst 2007: 10f.).23

Im Modus der Publizität wird Politik öffentlich, wobei seitens der politischen Eli-ten nur sichtbar gemacht wird, was sichtbar werden soll. Denn die Verpflichtung zur Transparenz steht im Wettbewerb zur Handlungsfähigkeit im politischen Sys-tem und Effizienz der politischen Arbeit, die aus diesem und anderen Gründen zu definierten Anteilen der öffentlichen Beobachtung entzogen bleibt. Tatsächlich findet nach Pfetsch (2005) politische Kommunikation unter realen Bedingungen in zwei Arenen statt: zum einen in einer parlamentarisch-administrativen Arena, in der politische Entscheidungen getroffen werden und die sich zumeist hinter verschlossenen Türen vollzieht; zum anderen in der Öffentlichkeit, in der sie auf ein Publikum ausgerichtet ist (vgl. ebd.: 349). Die politischen Eliten behalten sich vor, definierte Bereiche der politischen Kommunikation aus der Öffentlichkeit auszuschließen, sodass sich das Informationsmanagement der politischen Eliten und insbesondere der Regierung als Gratwanderung beschreiben lässt: zwischen dem Recht der Bürger auf Informationen, dem rechtlich begründeten Ausschluss der Öffentlichkeit von bestimmten Vorgängen, die z.B. Fragen nationaler Sicher-heit oder Persönlichkeitsrechte berühren, und dem Wunsch, unliebsame Informa-tionen über Fehler und Fehlverhalten den Bürgern vorzuenthalten. Es gilt als Auf-gabe von Öffentlichkeitsarbeit, diese Gratwanderung zu meistern, und es gilt als Aufgabe der Journalisten, den Unterschied zwischen Geheimhaltung und Ver-heimlichung zu erkennen und in der Rolle des Watchdog etwaigen Vertuschungs-versuchen nachzugehen (vgl. McNair 2011: 24).

Im Funktionsmodus der Publizität agiert der Bürger in der Rolle des Wählers, der Politik nicht macht, sondern bewertet. Entsprechend wird die Publizität von Ver-tretern minimalistischer Demokratieansätze in den Vordergrund gerückt, während sie aus Sicht maximalistischer Ansätze eine eher nachgeordnete Rolle spielt.24

23 Eine „Rechtfertigungsordnung“ zeichnet sich dadurch aus, dass das Zusammenleben auf eine

gerechtfertigte bzw. zu rechtfertigende Weise geregelt wird. Sie positioniert sich damit als Gegenordnung zur Willkür, die als Herrschaft ohne legitimen Grund gerade durch die expli-zite Nicht-Begründung von Regierungshandeln gekennzeichnet ist. (Vgl. ebd.: 10).

24 Für den Wettbewerb der Parteien um die Gunst der Wähler sieht Rozumilowicz (2002) die von ihr als „strong, partisan und segmented“ (ebd.: 15) bezeichneten privaten Medien gegen-über staatlichen oder öffentlich-rechtlichen Medien in der Rolle des Vorreiters. Hier sollen im Sinne einer pluralistisch aufgefächerten Demokratie die politischen Interessengruppen ihre Positionen nicht nur zur Darstellung bringen, sondern aktiv bewerben dürfen. Die durch die

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Wettbewerb der Parteien

Obgleich die Grenzen fließend sind, muss Publizität von Öffentlichkeitsarbeit und politischer Werbung unterschieden werden. Publizität ist die öffentliche Erläute-rung politischer Entscheidungen und politischer Positionen; Werbung und Öffent-lichkeitsarbeit dagegen dienen der Bewerbung politischer Positionen mit dem Ziel, das Meinungsklima in der Bevölkerung oder einem bestimmten Gesell-schaftssegment zu beeinflussen. Beide Formen treten in den Medien in Erschei-nung, selten allerdings als klar voneinander getrennte Kommunikationsgattungen (vgl. Schulz 2009). Im Modus der Publizität kommt die Politik einer Pflicht nach; im Modus der Öffentlichkeitsarbeit versucht sie auf den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung im Interesse des Macherhalts oder des Machtgewinns einzuwir-ken.

„Politiker verfolgen dabei grundsätzlich das Ziel, für die eigene Person und die von ihnen vertretene Organisation Macht zu erhalten oder zu erwerben. […] Der Nutzen, den Politiker aus der Interaktion mit Journalisten ziehen, besteht aus persönlicher Pub-licity, der Thematisierung eines ihnen nützlich erscheinenden oder in der De-Themati-sierung eines ihnen schadenden Themas.“ (Jarren und Donges 2002a: 80)

Aus Sicht einer minimalistischen Auffassung von Demokratie muss auch diese Möglichkeit der Mediennutzung durch das politische System als zentral für die Funktionstüchtigkeit einer auf Wahlen und Wahlkampf fokussierten Demokratie verstanden werden. Die Exklusivität des Medienzugangs als Privileg der Eliten ist dabei nicht problematisch, sondern Teil der Wettbewerbslogik.

Brian McNair (2011) identifiziert Öffentlichkeitsarbeit als die – im Vergleich zur politischen Werbung – effizientere Form der parteipolitischen Überzeugungsar-beit. Öffentlichkeitsarbeit umfasst demnach folgende Kommunikationsaufgaben:

Medienmanagement: Beim Medienmanagement geht es darum, die Präsenz der Partei, ihrer Themen, ihrer Deutungen und ihrer Positionen in den Medien zu ge-währleisten und auszudehnen. „For the politicians, this requires giving the media organisation what it wants, in terms of news or entertainment, while exerting some influence over how that something is mediated and presented to the audience.“ (Ebd.: 123) Das Placement von Politikern in Talkshows ist eine zentrale Aufgabe des Medienmanagers sowie die Inszenierung von politischen Pseudoereignissen, die kein anderes Ziel verfolgt, als Medienpräsenz für die Partei zu generieren.

kommerzielle Ausrichtung ohnehin geprägte Wettbewerbsorientierung der privaten Medien prädestiniere sie als Feld für den politischen Wettbewerb der Parteien (vgl. ebd.: 16).

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Anders als inszenierte und von der Partei selbst kontrollierte Präsentationen ver-mittelt die Talkshow ein hohes Maß an Authentizität und Glaubwürdigkeit für die Gesprächsgäste, sodass dieser und ähnlichen Formen der Medienpräsenz wie z.B. dem politischen Interview besondere Bedeutung für die Effektivität politischer Kommunikation beigemessen wird (vgl. ebd.: 123–130).

Imagemanagement: Die Entscheidung der Wähler für oder gegen eine Partei wird mehr noch als von politischen Positionen vom Image einer Partei und deren Kan-didaten im Sinne einer ästhetischen Aufladung mit Wertvorstellungen bestimmt. Die über Wortwahl, Ausstrahlung, Kleidung und Auftreten eines Politikers ver-mittelten Werte konditionieren seinen Erfolg als Kandidat in der Wahl. Seine Qualitäten als Politiker sind demgegenüber nachrangig, was von Kritikern der Mediendemokratie als Aushöhlung demokratischer Verfahren generell beklagt wird (vgl. ebd.: 133). 25

Informationsmanagement: Insbesondere für regierende Parteien entscheidet Kompetenz in der Übermittlung, Zurückhaltung und Ausformung von Informati-onen für die Medien in erheblichem Maße darüber, wie die Arbeit dieser Regie-rung in der Bevölkerung bewertet wird. Die Arbeit des Informationsmanagers ist als Balanceakt zu beschreiben: zwischen dem Wunsch nach Informationskon-trolle und dem Recht der Öffentlichkeit auf Informationen und Transparenz des Regierungshandelns (vgl. Pfetsch 2005: 349).

Aus normativer Sicht ist es Aufgabe der Medien, die Öffentlichkeitsarbeit der Parteien zu kontextualisieren und durch Hintergrund- und ergänzende Informati-onen, alternative Sichtweisen und Kritik einen Deutungsrahmen zu schaffen. Das Maß ihrer Unabhängigkeit gibt sich in dieser Leistung zu erkennen. McNair (2011) bewertet die Fähigkeit der Medien, sich von den Themen- und Deutungs-vorschlägen der politischen Eliten durch eine eigene Agenda und Kritik zu eman-zipieren, als grundlegend für die demokratische Resilienz des Mediensystems, die sich eben auch und gerade in der Verarbeitung von unpopulären Themen zu er-kennen gibt, die von der Politik gemieden werden (vgl. ebd.: 23–25).26

25 Je ähnlicher sich heutzutage die Parteien in der politischen Ausrichtung werden, desto stärker

tritt das Image der Partei als Distinktionsmerkmal in den Vordergrund. Ein ausgeklügeltes Imagemanagement, das sowohl Zielgruppenpräferenzen als auch die Wertkonzepte der ande-ren Parteien ins Kalkül nimmt, ist ein wichtiger, wenn nicht zentraler Aspekt parteipolitischer Öffentlichkeitsarbeit (vgl. McNair 2011: 3).

26 Eine konfrontative und bisweilen provokative Haltung von Journalisten im politischen Inter-view hat sich vor diesem Hintergrund gerade im angelsächsischen Fernsehen als Erweiterung

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In der Realität wird die journalistische Aufbereitung von Themen zunehmend den Informations- und Medienmanagern der Parteien überlassen, weil sich hier für die Medien Einsparungspotenziale ergeben. Als Indikator für diese Form der Ver-schränkung nennt McNair (2011) die gängige Berichterstattung über „Pseudo-Events“, die von politischen Akteuren für die Medien inszeniert werden und trotz politisch geringer Relevanz fast reflexhaft in die Nachrichten übernommen und dort von tatsächlichen Ereignissen nicht unterschieden werden (vgl. ebd.: 24f.).

Als in dieser Hinsicht heikel erweist sich auch die Abhängigkeit der Verlage und Sender von den Nachrichtenagenturen, deren Themenauswahl von den meisten Medien, auch aus Ressourcengründen, weitestgehend übernommen wird. Dabei sind die Agenturen das eigentlich schwächste Glied bei der journalistischen Ver-arbeitung von politischen Ereignissen, weil die Öffentlichkeitsarbeit der Parteien hier fast unbearbeitet übernommen und weitergereicht wird. „Das Agentursystem wird so zum Einfallstor politischer Interessen in den Journalismus.“ (Hafez 2010: 70)27 Auch Fernsehdebatten werden von den Parteien genutzt, um Öffentlichkeits-arbeit zu betreiben. Die politische Debatte kann unter diesen Bedingungen aber nicht länger als „sachorientiertes Argumentations- und Streitforum“ geführt wer-den, in dem Argumente als „öffentliche Abwägung von Sachaspekten und Inte-ressen“ (Dörner 2001:138) geprüft werden. Sie dient allein der Verteidigung, mit-hin Festigung bestehender Positionen.

Die zunehmende Professionalität und der Erfolg der Medienmanager bei der Durchsetzung von Themen und Deutungen in der massenmedialen Öffentlichkeit hat unter Medienschaffenden eine kritische Reflektion über die Rolle des Journa-listen im Verhältnis zu den Vertretern des politischen Systems angestoßen. Jour-nalisten sind sich der Manipulationsversuche von Seiten der Politik bewusst und reflektieren das schwierige Verhältnis von Medien und Politik auch zunehmend in der Berichterstattung (vgl. McNair 2011: 131).

der journalistischen Kritikfunktion durchgesetzt. Darin solidarisiert sich der Journalist mit dem Publikum gegen die politische Elite in folgender Haltung: „[…] [S]tanding up for the public and representing its interests against a political class whose members now come to the broadcast studio armed to the teeth with sophisticated public relations and news-management techniques, designed to maximise the free flow of nice-sounding but politically empty rheto-ric. The adversarial interview, say its advocates, is a necessary tool to cut through this rhetor-ical gloss and expose the hard core of policy beneath.“ (McNair 2011: 80).

27 Hafez (2010) geht davon aus, dass es sich bei etwa der Hälfte aller von den Agenturen distri-buierten Inhalte um umformulierte PR handelt, die ihnen von Politik, Wirtschaft und Gesell-schaft zugespielt wurden (vgl. ebd.: 70).

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2.3 Öffentlichkeit als intermediäres System zwischen Politik und Gesellschaft

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Politische Öffentlichkeitsarbeit ist von politischer Werbung zu unterscheiden. Letztere versucht über den Einkauf von Sendezeit und die Ausstrahlung von pro-fessionell produzierten Werbespots ein großes Publikum als Befürworter partei-politischer Positionen und als Wähler einer Partei zu gewinnen. In der politischen Werbung geht es nur nachrangig um Informationsvermittlung und vorrangig um das Ziel der Überzeugung (persuasion) mit kommunikativen Mitteln, die zu-nächst der Werbewirtschaft im kommerziellen Feld der Konsumgüterwirtschaft entliehen sind, wo Überzeugung nicht als kognitiver Prozess angelegt wird, son-dern als Aufladung von Produkten mit bestimmten Wertigkeiten, die über Dar-stellung, Ästhetik und Kontextualisierung vermittelt werden (McNair 2011: 131).28 Der Vorteil von Werbung gegenüber Berichterstattung und Öffentlich-keitsarbeit besteht in der Autonomie, die der Partei bei der Auswahl und Darstel-lung der Themen gewährt wird. Diese Autonomie im Encoding wird als Glaub-würdigkeitsverlust beim Decoding wirksam, denn der Zuschauer reflektiert die werbliche Natur der Mitteilung und distanziert sich davon. In Teilen Europas ist politische TV-Werbung für Parteien verboten, um Vorteile der ressourcenstarken Parteien gegenüber anderen zu entkräften (vgl. ebd.: 85-118).

Die Verschränkung der beiden Systeme Politik und Medien

Die demokratisch bedeutsame Unabhängigkeit der Medien von politischen Par-teien wird heute überlagert von einer zunehmenden Verschränkung beider Sys-teme, wie die Ausführungen zur Öffentlichkeitsarbeit gezeigt haben. Das verän-dert die Praxis von Politik und Medien gleichermaßen. Personenorientierung, Inszeniertheit und Symbolträchtigkeit politischen Handelns werden heute als Me-diatisierung einer Politik kritisiert, die ihre mediale Vermittelbarkeit zum Maß-stab für Erfolg gemacht hat (Neidhardt 2007).

Dabei kann zwischen Effekten unterschieden werden, die aus der Orientierung auf Medien entstehen, und solchen, die der Orientierung auf das Volk als Masse geschuldet sind. Denn auch die Masse als Adressat politischer Kommunikation stellt die Politik vor Kommunikationsherausforderungen. Crouch (2015) sieht in der seit Mitte des letzten Jahrhunderts bestehenden Möglichkeit und Notwendig-keit, über die Medien zur Masse zu sprechen, die eigentliche Ursache für eine

28 Werbung gilt als erfolgreich, wenn es gelingt, einen Gegenstand mit einer bestimmten Wer-

tigkeit/Bedeutung aufzuladen, die für die Zielgruppe als erstrebenswert erachtet wird: sexy, jung, wissenschaftlich bewiesen, glücklich, seriös, gesund, sicher (vgl. ebd.).

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Hinwendung der Politik zu den Mitteln der Werbung, denn die Werbeindustrie hat der Politik Erfahrung und Expertise in diesem Feld voraus (vgl. ebd. S. 38). Das Spektakel, die Personalisierung, das Ereignis mögen für die Medien insze-niert werden, der sympathisch-unterhaltsam-überzeugende Auftritt des Politikers im Fernsehen versucht aber, den Geschmack des breiten Publikums zu treffen. Dabei haben gemeinwohldienliche aber unpopuläre Positionen keine Chance, im politischen Wettbewerb zu bestehen:

„Government, and those who aspire to govern, allow their principles to be diluted on the recommendations of market researchers. Ideologies and value-systems are aban-doned on the altar of popularity, and the activity of political persuasion becomes a cyn-ical response to whatever this weeks poll says.“ (McNair 2011: 35)

In Ergänzung zu den Mitteln der Werbung wird in derselben Stoßrichtung auch das Instrumentarium der Unterhaltungsindustrie ausgeschöpft. Der Einsatz von Prominenten für politische Ziele oder der Auftritt politischer Akteure im Unter-haltungsfernsehen ist für alle Beteiligten gleichermaßen profitabel, entfernt aber das politische Geschäft immer weiter vom Ideal eines deliberativen Diskurses (vgl. Dörner 2001). Das zentrale Problem, das der Demokratie aus dieser Dyna-mik erwächst, ist die Ersetzung politischer Kompetenz durch die Medientauglich-keit: Der Politiker wird im Wettbewerb nicht an seiner Fähigkeit gemessen, Poli-tik zu machen, sondern an seiner Fähigkeit, die Medien und ihr Publikum zu be-dienen (vgl. McNair 2012: 36; Neidhardt 2007: 35f). 29 Eine solche Form der Machtausübung entbehrt aber demokratischer Legitimation. Die offenkundige Politikverdrossenheit der jungen Wähler in Europa, ihre Frustration und ihr Miss-trauen gegen Politik, die Abwertung von Politik insgesamt, ist nach Crouch (2015) ein Effekt dieser Machtverschiebung hin zu den Medien (vgl. Jarren et al. 2007: 14; vgl. auch Kap. 2.2.3).

Die Verschränkung und Angleichung beider Systeme ist aber keine Einbahn-straße. Gadi Wolfsfeld (1997) diagnostiziert eine jeweils unterschiedlich ausge-prägte Bereitschaft der Akteure aus Medien und Politik, sich den Regeln des je-weils anderen Systems anzupassen. Je größer der Bedarf einer Organisation an Medienaufmerksamkeit, desto größer ist auch die Bereitschaft, sich den Regeln

29 Diese Verschiebung wurde von Habermas (1971) schon Anfang der 1970er Jahre erkannt und

mit folgenden Worten kritisiert: „Die Parteiagitatoren und Propagandisten alten Stils weichen parteipolitisch neutralen Werbefachleuten, die angestellt sind, um Politik unpolitisch zu ver-kaufen.“ (Habermas 1971: 256).

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der Medien zu unterwerfen: „Dependency leads to adaption.“ (Ebd.: 22) Diese Gleichung gilt auch umgekehrt: Je exklusiver der Zugang zu einer politischen Quelle, desto größer ist die Bereitschaft der Journalisten, sich den Vorgaben des politischen Systems im Hinblick auf Auswahl und Deutung von politischen Er-eignissen anzupassen. Journalisten und Politiker pflegen hier ein informelles Tauschgeschäft „nach dem Motto: Du gibst mir möglichst exklusive Information, ich dir dafür wohlwollende Berichterstattung.“ (Hafez 2010: 69)

Das hier aufgeworfene Problem besteht erstens darin, dass die Arbeit der Medien in einem kommerzialisierten Umfeld nicht an den Anforderungen der Demokra-tie, sondern an Publikumsvorlieben orientiert ist, um Reichweite zu maximieren. Wie oben schon erwähnt, ist damit ein Widerspruch markiert zur normativen Ver-ortung von Medien in einem demokratietheoretischen Erwartungshorizont. Denn was dem Überleben des Mediensystems in einer kommerziellen Welt nützlich ist, muss nicht zwangsläufig auch dem Fortkommen der Demokratie dienen (vgl. Ha-fez 2010: 74). Zweitens werden im politischen System rationale, am Gemeinwohl orientierte Entscheidungskriterien durch die Selektionskriterien des Mediensys-tems ersetzt. Maßstab für die Machbarkeit und die Wertigkeit einer Entschei-dungsoption ist deren Medientauglichkeit. Damit ist die Autonomie beider Sys-teme und die Erfüllung ihrer Teilleistungen für die Gesellschaft gefährdet (vgl. Hafez 2010: 69).

Im empirischen Teil der Arbeit wird vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen u.a. der Frage nachgegangen, wie sich die Privatisierung und Liberalisierung des Mediensektors im Irak auf das Verhältnis von Politik und Medien auswirkt.

2.3.3 Partizipation und Integration

Auch wenn die Volksvertreter auf die Zustimmung der Wähler zu einzelnen Handlungen oder Entscheidungen formal betrachtet nicht angewiesen sind, so ist die Legitimität einer demokratisch gewählten Regierung nur unter Berücksichti-gung der Bürgerinteressen auch außerhalb der Wahlkampfperioden aufrechtzuer-halten. Demokratisches Regieren ist deswegen aus Sicht einer partizipativen Auf-fassung von Demokratie auf den öffentlichen Diskurs der Bürger als Abbild dieser Interessen angewiesen.

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„Öffentlichkeit ist als Ergänzung sowohl zu, als auch zwischen den Wahlen der Artiku-lationsort von Meinungen und Themen der Bürgerschaft und diverser Interessenorgani-sationen. Öffentlichkeit ist ein System, in dem die Agenda des politischen Systems mit-definiert wird. Hier werden Themen gesetzt und Meinungen zu den Themen gebildet, die Rückschlüsse darauf zulassen, in welche Richtung die politische Bearbeitung dieser Themen zu gehen habe.“ (Neidhardt und Gerhards 1990: 40)

Im normativen Modell einer partizipativen Öffentlichkeitstheorie ist die Öffent-lichkeit dem Austausch von „Mitgliedern einer demokratischen politischen Ge-meinschaft vorbehalten“, die sich hier über „die Regelung der öffentlichen Ange-legenheiten“ (Peters 1994: 45) verständigen. Vertreter der Zivilgesellschaft wer-den als privilegierte Akteure behandelt, weil sie verallgemeinerte Problemlagen in den Diskurs einbringen und dabei – anders als die klientelistisch agierenden Verbände, Agenturen und Lobbyisten – gemeinwohldienliche Interessen vertre-ten. Im Gegensatz zu Individuen sind Organisationen der Zivilgesellschaft auch organisatorisch in der Lage, im Wettstreit um Medienaufmerksamkeit mit den ressourcenstarken Parteien und Interessenverbänden zu bestehen. Der Transfer von Themen aus der Privatsphäre über die Zivilgesellschaft in die Öffentlichkeit gilt als elementar für die Problemlösungsfähigkeit einer Gesellschaft, weil poli-tisch relevante Missstände nur im Privaten als Leidensdruck spürbar werden und entsprechend Kommunikation über Missstände nur dort ihren Ursprung haben kann (vgl. ebd. 441). Würden Impulse aus dieser Richtung einfach ins Leere lau-fen, wäre die Politik einer bedeutsamen Quelle von Hinweisen über den Zustand der Gesellschaft beraubt. Habermas (1998) sieht die Zivilgesellschaft entspre-chend als Schnittstelle, die den Medien Zugang zu gesellschaftlich relevanten Themen eröffnet (vgl. Habermas 1998: 443).

Im normalen Alltag der redaktionellen Routinen wird die privilegierte Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure unter der Professionalität von Öffentlichkeitsar-beitern und Kommunikationsdienstleister begraben, deren Machtinteressen mit den Reichweiteninteressen der Publizisten korrespondieren. In Abgrenzung zur Normalität einer in diesem Schulterschluss vermachteten Öffentlichkeit benennt Habermas (1989) eine krisenhafte Zuspitzung und Eskalation von Problemen in der Bürgergesellschaft als Umstand, aus dem heraus die informellen Machtkreis-läufe zwischen Politik und Medien unterbrochen werden können: Wenn sich an der Peripherie der Öffentlichkeit, im Bereich des Privaten und der vorgeschalteten kleinen Öffentlichkeiten, der Eindruck einer Krise verschärft, können zivilgesell-schaftliche Akteure eine überraschend aktive und folgenreiche Rolle spielen (vgl.

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ebd.: 460).30 Dann kommt es zu effektiven Kurzschlüssen zwischen Bürgergesell-schaft, Medien und Politik, in denen die Mobilität der Themen beschleunigt und gesellschaftliche Probleme auf die Agenda der politischen Entscheidungsprozesse katapultiert werden. Die Krise wird dann als Korrektiv für die Öffentlichkeit wirk-sam, die in diesen Phasen der Zuspitzung ihrem normativen Ideal am nächsten kommt. Doch die Selektivität der Medien und die faktische Exklusivität des Zu-gangs zur Öffentlichkeit bleiben problematisch. Wolfsfeld (1997) untersucht die Instrumentalisierung von Medienaufmerksamkeit im politischen Konflikt und kommt hier zu dem Ergebnis, das die Macht der politischen Antagonisten über die Medien mit ihrer Macht über den Verlauf der Konflikte korreliert. Je ausge-prägter die Kontrolle über die politische Situation ist, desto effektiver können auch die Medien kontrolliert werden. Dabei ist ein kumulativer Effekt impliziert: je mehr Macht, desto mehr Macht. Durch den geschickten Einsatz von symboli-schen Handlungen können allerdings auch die an Macht unterlegenen „Challen-ger“ (Wolfsfeld 1997: 21) die Medienaufmerksamkeit steuern. Analog zur krisen-haften Zuspitzung der Kommunikation bei Habermas (1998) sieht Wolfsfeld (1997) spektakuläre Inszenierungen von Protest oder auch die Mobilisierung von Prominenz als legitime Möglichkeit, den Machtvorteil der „Authorities“ (ebd.: 21) zu untergraben (zu Wolfsfeld ausführlich Kap. 3.3.7).31

Auch deviantes Verhalten kann ein Defizit an Macht und Ressourcen kompensie-ren. Terroristische Gruppen, die praktisch über keine formale Macht verfügen, machen mit der Ausübung zielloser und exzessiver Gewalt (Devianz) von dieser Möglichkeit Gebrauch und nehmen die extrem negative Einfärbung ihrer politi-schen Ziele dafür in Kauf.

30 Die Umkehrung der Kommunikationsverhältnisse unter Bedingungen der Krise wird von Ha-

bermas (1998) als zentraler Mechanismus für die Möglichkeit der Bewältigung von Krisen bewertet. Die Politik sei angewiesen auf die Sensibilität der zivilgesellschaftlichen Peripherie für neue Problemlagen und auf den Umkehrreflex der Medien in diesem Fall, um auf krisen-hafte Zuspitzungen aufmerksam zu werden (vgl. ebd.: 458-462).

31 Wolfsfeld (1997) benutzt den Begriff Antagonists, um verfeindete Lager in einem bewaffne-ten Kampf zu bezeichnen. Mit dem Begriff Authorities wird die in den Kampf verwickelte Regierung belegt, als Challenger die technisch unterlegene Partei der Aufständischen gegen eine Regierung bezeichnet. Wolfsfeld (1997) geht also in seiner Analyse von einer sehr spe-zifischen Konfliktkonstellation aus, ohne die Spezifik allerdings zu thematisieren.

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„Challengers are forced to carry out exceptionally strange or violent acts as a substitute for their lack of status or resources […]. Challengers must pay a heavy price for this type of entrance: they must remain in costume. Weaker antagonists only remain news-worthy if they remain deviant and this widens the gap between the haves and the have nots.“ (Ebd.: 21)

Wenngleich also das Ansehen der Partei hier Schaden nimmt, kann über deviantes Verhalten effektiv immer Medienaufmerksamkeit erzeugt werden.32

Die Einschränkungen des von Habermas idealisierten Gleichheitsprinzips – glei-ches Rederecht für alle in der Öffentlichkeit – gehört nach Peters (1994) zu den „invarianten Grundmerkmalen moderner Gesellschaften“ (ebd.: 59). In großen Gesellschaften ist der Anteil der aktiven Sprecherrollen zwangsläufig klein, rela-tiv zur Größe des Publikums. Wer letztlich Zugang erhält, um in der Öffentlich-keit mit eigenen Positionen gesehen und gehört zu werden und zu überzeugen, wessen Interventionen zusätzlich Folgekommunikation nach sich ziehen, ist ab-hängig von persönlichen und sozialen Merkmalen, die öffentlichkeitsinteressierte Sprecher als Zugangsvorteile ins Spiel bringen können. Peters (1994) diskutiert folgende Eigenschaften als wirksam in diesem Sinne:

Einfluss: Unabhängig von der Überzeugungskraft des vorgetragenen Arguments wird die Akzeptabilität einer Äußerung oder Wahrnehmung auf die Person oder den Status des Sprechers gegründet. Ein solcher Einfluss kann darauf beruhen, dass der Person besondere Fachkompetenz oder überlegenes Wissen zugerechnet wird; auch kann der Sprecher in Anspruch nehmen, die Interessen einer Gruppe zu vertreten; schließlich können auch Charisma oder reale oder fiktive Führungs-positionen einen solchen Einfluss untermauern (vgl. ebd. 53).

Sichtbarkeit: Manche Akteure genießen aufgrund ihrer beruflichen Rolle erhöhte Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit.

Wissensvorteile: Informationsmonopole und Monopole an spezialisiertem Wissen können zur strategischen Beeinflussung der öffentlichen Meinung genutzt wer-den, da die in den Diskurs eingebrachten Informationen weder von den Journalis-ten noch vom Laienpublikum überprüft oder infrage gestellt werden können.

32 Vgl. dazu auch Mouffe (2007), die in der Aussetzung des politischen Streits eine Ursache für

die Entstehung devianter Gruppen und Aktivitäten sieht (vgl. ebd.: 106).

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Soziale Stratifikation und politische Macht: Politische Machtpositionen sind zu-sätzlich zur automatisch erweiterten Aufmerksamkeit mit Ressourcen für profes-sionelle Öffentlichkeitsarbeit ausgestattet; auch die Verfügung über ökonomische Ressourcen bringt Lautsprechereffekte mit sich (vgl. ebd. 55).

Spezialisierte Wissenswelten: Moderne berufliche Disziplinen mit öffentlicher Relevanz wie z.B. Medizin, Recht, Technik und Wirtschaft setzen die „Einübung in spezialisierte Diskursweisen und kognitive Stile und den Erwerb spezieller Kenntnisse und Qualifikationen“ (ebd.: 55) voraus. Das Publikum verlässt sich auf Empfehlungen und Urteile, die aus den spezialisierten Handlungssystemen in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden, ohne die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der Position überprüfen zu können.

Differenzierung und Stratifikation des Publikums: Aus der Differenzierung von Diskursen und Publika gehen spezialisierte Kommunikationsrollen hervor: Ex-perten als Vertreter spezialisierter Berufe, Advokaten als Vertreter einer Sache oder Ideologie, Repräsentanten als Vertreter sozialer Gruppen und öffentliche In-tellektuelle.

Differenzierung beruflicher Rollen im System der Massenmedien selbst: Journa-listen sind privilegierte Sprecher in der Öffentlichkeit und übernehmen hier ver-schiedene Teilrollen als Chronisten, Gatekeeper, Kommentatoren, Analysten, Augenzeugen oder Übersetzer. Das Publikum verlässt sich auf die Wahrhaftigkeit und Richtigkeit der Berichterstattung, ohne diese Voraussetzung überprüfen zu können.

Vor dem Hintergrund der hier beschriebenen Zugangsbedingungen muss der von Habermas (1998) formulierte Anspruch auf Gleichheit und Reziprozität im Zu-gang zur Öffentlichkeit für jeden Bürger mit Blick auf die Realität moderner Na-tionalstaaten revidiert werden. Ein gängiger Weg besteht darin, statt der (Chan-cen-) Gleichheit für alle die Repräsentation aller in der Gesellschaft relevanten Gruppen in der Öffentlichkeit anzustreben (vgl. ebd.: 59).

Um die Offenheit der Öffentlichkeit, die breite Repräsentation und die Mobilität der Themen zu gewährleisten, muss das Recht auf freie Meinungsäußerung in der

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Verfassung verankert und auf legislativer sowie exekutiver Ebene geschützt wer-den (vgl. Buckley et al. 2011: 78).33 Meinungsfreiheit ist in Artikel 19 der Men-schenrechtscharta der Vereinten Nationen sowie im International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR) als Anspruch definiert, der die Freiheit um-fasst, sich öffentlich zu äußern, sowie freien Zugang zu den öffentlichen Äuße-rungen anderer zu erhalten. Meinungsfreiheit wird traditionell vor allem gegen staatliche Interventionen verteidigt oder allgemein gegen herrschende Eliten, die bemüht sind, Kritik zugunsten des eigenen Machterhalts einzuschränken (vgl. ebd.). Für Habermas (1998) ist das Recht auf freie Meinungsäußerung eine ele-mentare Randbedingung für die Entfaltung einer demokratischen Öffentlichkeit (vgl. ebd.: 445). Aber Meinungsfreiheit hat auch eine psychologische Dimension: Die öffentliche Artikulation von Interessen, Meinungen und der Austausch mit anderen gehört zu den kommunikativen Grundbedürfnissen des Menschen, sodass auch auf dieser Ebene Einschränkungen nicht ohne Folgen bleiben würden (vgl. Rozumilowicz 2002: 13).

Das Recht auf Meinungsfreiheit steht in einem natürlichen Spannungsverhältnis zu bürgerlichen Freiheitsrechten (auf Privatsphäre und Unversehrtheit etc.) sowie zu nationalen Interessen dort, wo die öffentliche Ordnung durch die Verbreitung entsprechender Äußerungen oder Materialien gefährdet erscheint (vgl. Buckley et al 2011: 124f.). Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind in dieser Hinsicht notwendig, bieten aber immer Ansatzpunkte für die Rechtfertigung illegitimer In-terventionen des Staates. Je ungenauer die Einschränkung formuliert ist und je weniger präzise der Fall der Einschränkung geklärt wird, desto weiter ist das Ein-fallstor für die Möglichkeit des autoritären Missbrauchs geöffnet (vgl. ebd.: 126).

33 Auch wenn das Recht auf Meinungsfreiheit in Nationalverfassungen meist nur kurz umrissen

wird, sollten folgende Qualitäten gewährleistet sein: Meinungsfreiheit gilt einschränkungsfrei für jeden; Meinungsfreiheit gilt sowohl für die Artikulation als auch für die Rezeption von Meinungen, betrifft also auch das Recht auf Zugang zur Meinung anderer; Meinungsfreiheit betrifft alle Positionen; vom Recht auf Meinungsfreiheit dürfen falsche, beleidigende oder sozialschädliche Positionen nicht ausgeschlossen werden; Alle Gattungen und Formen der Kommunikationen sollten betroffen sein (Print, elektronische Medien, Internet etc.) (vgl. Buckley et al. 2011: 79).

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Das Arenamodell

Das systemtheoretisch geprägte Öffentlichkeitsmodell von Gerhards und Neid-hardt (1990) positioniert sich als realistische Alternative zu Habermas. Die Auto-ren sehen Öffentlichkeit im „Vorhof der Macht“ (ebd.: 40) verortet, in dem unter-schiedlich ressourcenstarke Interessengruppen um Deutungshoheit und Präsenz konkurrieren: „Akteure der Gesellschaft versuchen, ihre Themen durchzusetzen und ihre Meinungen als verallgemeinerbare Meinungen zu plausibilisieren. Ge-genmeinungen kommen auf und werden von anderen Akteuren profiliert, die ih-rerseits versuchen, ihre Sicht der Dinge durchzusetzen.“ (Ebd.: 40) Der Wettbe-werb um Medienzugang wird nicht mit Argumenten, sondern mit Ressourcen be-trieben. Geld, Personenstärke, Professionalität, Kontakte bestimmen die Wahr-scheinlichkeit der Durchsetzung. Organisationen, die ihre Öffentlichkeitsarbeit professionalisiert haben, werden bessere Chancen auf Medienaufmerksamkeit ge-nerieren als schlecht ausgestattete Organisationen der Zivilgesellschaft (vgl. ebd.: 59; Wolfsfeld 1997: 22f). Anders als Habermas sehen Gerhards und Neidhardt (1990) die öffentliche Meinung nicht als Manifestation deliberativer Vernunft, die aus der Durchsetzung des besseren Arguments hervorgeht sondern als Ergebnis eines Wettbewerbs von Interessengruppen, die um Meinungsmacht im öffentli-chen Raum ringen. Auch die Ablehnung eines normativ wertenden Anspruchs auf Vernunft unterscheidet das systemtheoretisch orientierte Arenamodell nach Gerhards und Neidhardt (1990) vom deliberativen Demokratiemodell nach Ha-bermas (1998). Damit rückt das Arenamodell in die Nähe pluralistischer Demo-kratiekonzepte, die mit Fraenkel (1969) Öffentlichkeit als Raum für den Wett-streit, die Profilierung und die Durchsetzung klientelistischer Interessengruppen modellieren (vgl. Kap. 2.2.2).

Die politische Funktion der Öffentlichkeit besteht im Arenamodell in der Auf-nahme (Input) und Verarbeitung (Throughput) von Themen und Meinungen so-wie in der Vermittlung der öffentlichen Meinung (Output) sowohl an die Bürger als auch an das politische System (ebd.: 35). Analog zur Zivilgesellschaft, die bei Habermas (1998) den Transfer von Themen aus der Lebenswelt in die Medien organisiert, übernimmt im Arenamodell die Versammlungsöffentlichkeit diese Brückenfunktion. Konkret unterscheiden die Autoren drei Ebenen von Öffentlich-keit (vgl. für das Folgende ebd.: 53f.):

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(1) Encounter-Öffentlichkeit: gering strukturierte, zufällige Begegnungen zwi-schen Menschen im öffentlichen Raum;

(2) Versammlungsöffentlichkeit: themenzentrierte Veranstaltungen, Protestaktio-nen;

(3) massenmediale Kommunikation.

Die drei Ebenen sind historisch nacheinander entstanden, existieren aber heute parallel und miteinander verbunden. Die Spezifik der massenmedialen Kommu-nikation gegenüber kleinen und mittleren Öffentlichkeiten liegt in der Möglich-keit umfassender Beeinflussung öffentlicher Willensbildung. Ihre Vitalität aller-dings ist nicht autonom, sondern wird von der Durchlässigkeit der Ebenen fürei-nander bestimmt und insbesondere von der Offenheit der Massenmedien gegen-über den anderen Ebenen der Öffentlichkeit. Eine kontinuierliche Beobachtung der Versammlungsöffentlichkeit sowie eine ausgeprägte Publikumsorientierung sind nach Gerhards und Neidhardt (1990) Nährboden für die politische Relevanz der massenmedialen Berichterstattung. Um authentisch und damit für das Publi-kum relevant zu sein, braucht die massenmediale Öffentlichkeit Anschluss an die kleinen und mittleren Öffentlichkeiten (vgl. ebd.: 56). Offenheit und Partizipation haben hier also einen ähnlich hohen Stellenwert wie bei Habermas, treten aber nicht als Präsenz sondern als pluralistische Vielfalt in Erscheinung:

„Fordert man von der Offenheit des Systems Öffentlichkeit, daß möglichst viele der Bürger selbst zu Wort kommen, dann handelt es sich bei den Massenmedien um ein relativ geschlossenes und damit unsensibles System. Geht man davon aus, daß für die Offenheit weniger die faktische Präsenz und die aktive Präsentation, sondern die Reprä-sentanz der eigenen Meinung wichtig sind, stellt sich die Frage neu. Dann hängt es von der Pluralität der Massenmedien sowie vom Spektrum der von ihnen vermittelten The-men und Meinungen ab, ob man sie als offen in Bezug auf ihre Informationssammlungs-funktion bezeichnen kann.“ (Ebd.: 55)

Würde man mit Habermas also eher nach Präsenz von zivilgesellschaftlichen und bürgernahen Themen oder Akteuren Ausschau halten, machen Gerhards und Neidhardt (1990) die Vielfalt der in der Öffentlichkeit kursierenden Deutungen, Positionen und Ansichten als Indikator für die Offenheit des Systems geltend. Nachgeordnet wird hier auch das Publikumsverhalten als Steuerung der Öffent-lichkeit und damit als eine Form von Partizipation klassifiziert. Einschalten, Ab-

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schalten, Kaufen seien die reduzierten Handlungsmöglichkeiten der Medienkon-sumenten, die in dieser minimalistischen Form maximale Steuerungseffekte er-zielen (vgl. ebd.: 54).

Partizipation als Integrationsfunktion

Wenn sich die Vielfalt der in der Gesellschaft existierenden Meinungen im öf-fentlichen Diskurs der Medien spiegelt, hat das auch Auswirkungen auf die Ko-häsion der Gesellschaft, denn öffentlich artikulierte Positionen sind gesellschaft-lich integrierte Positionen. Die Reproduktion einer Meinung durch die Medien wird auch als Legitimierung dieser Meinung wirksam, die im Moment ihrer Auf-nahme in den öffentlichen Diskurs gesellschaftsfähig wird. Imhof (2006) rückt mit einer von ihm gesondert behandelten Integrationsfunktion die auf gesell-schaftliche Kohäsion und gegen Fragmentierung wirkende Kraft von Öffentlich-keit in den Vordergrund. Aus normativer Sicht wird die Öffentlichkeit hier in die Pflicht genommen, die Vielfalt der in der Gesellschaft vertretenen Kulturen, Schichten, Minderheiten und politischen Gruppierungen angemessen zu repräsen-tieren, weil in der Spiegelung ein subjektiv erlebtes Gefühl von Gemeinschaft entsteht:

„Indem die Öffentlichkeit das einzige Zugangsportal der Gesellschaft für ihre Mitglie-der darstellt, verdankt sich ihr die Selbstwahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger als ‚Rechtsgenossen’ eines Gemeinwesens bedingter Souveränität und Problemlösungsfä-higkeit.“ (Imhof 2006: 69)

Die Gemeinschaft wird nur in der Öffentlichkeit sichtbar für die Mitglieder dieser Gemeinschaft. Die Transformation einer abstrakten in eine konkrete Form von Teilhabe schafft nach Imhof (2006) auch den Boden für Loyalität der Bürger mit der Regierung, denn wer in der Öffentlichkeit repräsentiert ist, kann sich selbst auch wahrnehmen als jemand, der von der Regierung gesehen wird, bzw. der für die Regierung sichtbar ist (vgl. Imhof 2006: 73). Der Ausschluss von Meinungen oder Minderheiten aus dem Prinzip der öffentlichen Repräsentation wirkt umge-kehrt als Marginalisierung dieser Positionen und Gruppen, die sich – weil sie im Spiegelbild der Öffentlichkeit fehlen – nicht länger als Teil der Gesellschaft wahr-nehmen können. Ein solcher Ausschluss von Minderheiten führt nicht selten zur Radikalisierung dieser Gruppen, die dann über deviantes Verhalten in das Prinzip der öffentlichen Repräsentation zurückfinden (vgl. Wolfsfeld 1997: 21f.).

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Dort, wo Vielfalt als Vielfalt unterschiedlicher Medienangebote realisiert wird (externer Pluralismus), können auch desintegrative Wirkungen entstehen. Zum einen ist von einer Vervielfachung der vom Einzelnen genutzten Kanäle und da-mit von zunehmender Inkohärenz in der Rezeption auszugehen. Darüber hinaus führt der Zuwachs an Optionen zur Segmentierung innerhalb der Medienangebote und zur Entstehung von Teilpublika entlang gesellschaftlich geprägter Demarka-tionslinien. So treibt sich Segmentierung gerade in politisch oder ethno-konfessi-onell fragmentierten Ländern in einer Art positiver Rückkoppelung über den Me-dienhebel selbst voran und gefährdet unter Umständen die ohnehin fragile Kohä-sion der Gesellschaft (vgl. Vlasic 2004: 55).34

„In einer derartigen Gesellschaft besteht ständig die Gefahr des Auseinanderfallens, der Desintegration: es gibt divergierende Kräfte, Interessenkonflikte, regionale Einheiten und Randgruppen, die allzu leicht vom Ganzen abgetrennt werden können. Integration herzustellen oder zu bewahren bildet also ein gesellschaftliches Ziel, das in immer neuen Bemühungen anzustreben ist. Zu den integrierenden Faktoren zählen nun in hohem Maße die Massenmedien, ohne die ein Zusammenhalt industrieller Großgesellschaften nicht denkbar ist.“ (Maletzke 2002: 71)

Die Integrationsfunktion des Mediensystems wird aber nicht über die Reduktion von Medienangeboten gestärkt, sondern über Vergemeinschaftung von Selekti-ons- und Verarbeitungsroutinen, in denen Ereignisse gebündelt und zu Themen der Öffentlichkeit transformiert werden. Medienhäuser beobachten sich gegensei-tig in dieser Tätigkeit, beziehen die eigene Themenauswahl auf die der anderen und stimmen die Muster der Informationsaufnahme und -verarbeitung aufeinan-der ab (vgl. auch Kap. 2.3.1). Erst aus der gegenseitigen Beobachtung und der Ausprägung gemeinsamer Selektionsroutinen entstehen themenzentrierte Dis-kursmomente, in denen Argumente, Deutungen, Ansichten auf ein Ereignis bezo-gen werden können und die in dieser Form integrativ wirken. Informationsim-pulse aus der Umwelt des Mediensystems verdichten sich zu Knotenpunkten einer intersubjektiv konsensfähigen Wirklichkeit in einem ansonsten offenen Feld von möglichen Themen und Deutungen – ein Funktionsaspekt von Massenmedien,

34 Maletzke (2002) verweist in diesem Zusammenhang auf die Theorie der Wissenskluft, die

besagt, dass gesellschaftliche Gruppen mit einem höheren sozio-ökonomischen Status zu ei-ner rascheren Aneignung von Informationen neigen als gesellschaftliche Gruppen mit gerin-gem sozio-ökonomischem Status, wenn die Dichte von Informationsangeboten in einer Ge-sellschaft zunimmt. Die scheinbar integrative Wirkung einer verbesserten Informationsver-fügbarkeit verkehre sich hier in eine desintegrative Kraft (vgl. ebd.: 72).

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der gesellschaftliche Diskurse überhaupt erst möglich macht (vgl. Dernbach 2005: 105; Hafez 2010: 67f.).

Eine ins Gegenteil verkehrte überintegrative Vernichtung von Meinungs- und Themenvielfalt ist Ergebnis der sogenannten Schweigespirale nach Noelle-Neumann (1989). Die Theorie der Schweigespirale erklärt die Herausbildung von Meinungsmonopolen und eine damit einhergehende Verdrängung von randstän-digen Meinungen aus der Öffentlichkeit mit der grundlegenden Furcht des Men-schen vor sozialer Isolation. Diskursteilnehmer überprüfen demnach die im Dis-kurs aufscheinenden Standpunkte auf Rückhalt in der Gesellschaft und neigen dann aus Angst vor Ausgrenzung dazu, mehrheitsfähige Meinungen zu überneh-men. Aus dieser Haltung heraus entsteht ein kumulativer Effekt: Je mehr Men-schen sich einem Standpunkt anschließen, desto mehr Menschen schließen sich diesem Standpunkt an. Im Ergebnis kommt es zur kumulativen Verdichtung von Mehrheitsmeinungen und zur Marginalisierung aller anderen Standpunkte (vgl. ebd.). Peters (1994) spricht in diesem Zusammenhang von, meist moralisch auf-geladenen, impliziten Konsenserwartungen, die Widerspruch und Gegenrede nicht zulassen:

„[...] [D]ie Äußerung von Dissens wird als unliebsame Überraschung, Störung, heimtü-ckischer Bruch eines Einverständnisses interpretiert. Kommunikation ist in solchen Fäl-len nicht primär informativ, schon gar nicht argumentativ, sondern dient der Bestätigung vorausgesetzter Gemeinsamkeiten und Zugehörigkeiten – beispielsweise in gemeinsa-mer Empörung über Dritte oder der Artikulation geteilter Empfindungen oder Betrof-fenheiten.“ (Ebd.: 67)

Das Gelingen einer pluralistischen Öffentlichkeit kann durch staatliche Regulie-rung gefördert werden, indem die Mechanismen des Marktes einerseits und der Machthunger der politischen Interessengruppen andererseits eingehegt werden (vgl. Buckley et al. 2011: 157). Zu den Aufgaben der Regulierung gehören typi-scherweise Spektrum- bzw. Frequenzplanung, Vergabe/Entzug von Lizenzen, Formulierung von Regeln und Ausschlusskriterien zu Programminhalten sowie Bearbeitung von Beschwerden. Als demokratische Regulierungsziele einer ent-sprechenden Körperschaft nennen Buckley et al. (2011) „to encourage multiple forms of ownership; to promote local and public service content; to meet the needs of particular groups; including cultural and linguistic minorities; to consider

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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equality of opportunity; and to ensure that broadcasting respects generally ac-cepted community standards“ (ebd.: 157).35

Teilhabe an Produktionsmitteln und Produktion

Bisher wurde Partizipation als eine Gunst verhandelt, die von den Bürgern und der Zivilgesellschaft gegen ein System erstritten werden muss, dessen Aufmerk-samkeit tendenziell von anderen Umwelten absorbiert wird. Einen eher struktu-rellen Ansatz auf die Frage der Partizipation verfolgt Carpentier (2011) mit einem Stufenmodell, in dem zu- bzw. abnehmender Umfang von Partizipation nicht an Repräsentation, sondern an Teilhabe an Produktionsmitteln gemessen wird. Einer politisch linken Tradition folgend wird Partizipation idealerweise als Besitz von Produktionsmitteln realisiert, während die Teilhabe an der Produktion von Inhal-ten als nachgeordnete Form zu klassifizieren wäre. In Anlehnung an einen Vor-schlag von Carpentier (2011) können verschiedene Dimensionen von Partizipa-tion als Rangreihe mit absteigender Relevanz wie folgt unterschieden werden (vgl. für das Folgende ebd.: 66-68):36

Teilhabe an Entscheidungsprozessen in Medien: direkte Beteiligung an den Ent-scheidungsprozessen, die zum Ein- und Ausschluss von Themen und Standpunk-ten im öffentlichen Diskurs führen (z.B. durch Verleger, Inhaber, Programmdi-rektoren, Redakteure);

Teilhabe an der Produktion von Inhalten: Teilhabe an der Ausgestaltung, Produk-tion und Distribution publizistischer Inhalte (z.B. Journalisten, Redakteure, Ex-perten);

Teilhabe an Öffentlichkeit durch Medien: Beteiligung an öffentlichen Debatten und Repräsentation einer Vielfalt von Positionen in verschiedenen Sphären der Öffentlichkeit;

Interaktion mit Medieninhalten: Medieninhalte werden von Mediennutzern in der Rezeption verstanden, gedeutet und interpretiert.

35 Buckley et al. (2011) betonen die Bedeutsamkeit der Unabhängigkeit der Körperschaft von

Einflussnahme aus Politik und Wirtschaft und daher auch die Notwendigkeit, die Verfahren für die personelle Besetzung der Behörde gesetzlich zu regeln und die Umsetzung sowie das Handeln der Behörde in der Öffentlichkeit transparent zu halten.

36 Die hierarchische Sortierung der verschiedenen Formen von Teilhabe ist eine Interpretation der Autorin. Carpentier (2011) selbst unterscheidet diese Formen lediglich voneinander, ohne eine Rangordnung vorzugeben.

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2.3 Öffentlichkeit als intermediäres System zwischen Politik und Gesellschaft

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Die Auflistung der verschiedenen Formen folgt hier einer Logik steigenden bzw. sinkenden Umfangs von Partizipation und damit gleichsam der Unterscheidung maximalistischer versus minimalistischer Praxis von Demokratie. Der Verleger, Besitzer oder Programmdirektor eines Senders hat offenbar mehr Einfluss auf die Ausrichtung von Themen und Diskursen in der Öffentlichkeit als der Zeitungsle-ser, der nur mittels Rezeption partizipiert. Die Offenheit des Mediensystems wäre aus dieser Perspektive an der Verteilung von Besitzverhältnissen in der Gesell-schaft, mithin Monopolisierung von Produktionsmitteln, zu bewerten.

Der Mehrwert dieser Typologie gegenüber den bisher skizzierten Modellen von Öffentlichkeit liegt (1) in der Verschiebung des Blicks auf strukturelle Aspekt und die Frage der Besitzverhältnisse sowie (2) in der Erweiterung des Partizipations-konzepts um Rezeption und Interpretation als Prozesse der aktiven Teilhabe an Öffentlichkeit.37

Die Forderung nach Aneignung der Produktionsmittel ist alles andere als neu. Die Exklusivität der Medienproduktion im Kontrast zur grenzenlosen Offenheit der Medienkonsumtion wurde von Hans Magnus Enzensberger bereits 1970 in sei-nem „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ einer sozialistischen Kritik unter-worfen. Dabei richtete sich die Kritik Enzensbergers zum damaligen Zeitpunkt weniger gegen die Medien und deren kapitalistisch motivierte Betreiber als viel-mehr gegen Technikfeindlichkeit und Kulturpessimismus der sozialistischen Lin-ken, also seiner Mitstreiter, die das Potenzial der Medien lieber denunzierten denn nutzten. Das Verhältnis der Linken zu den elektronischen Medien sei von Ohn-macht und Angst geprägt. Enzensberger hielt eine offensive Strategie dagegen: „Ein revolutionärer Entwurf muß nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen.“ (Enzens-berger 2004: 271) In Verfolgung dieses Ziels müssten die Medien durch Verge-sellschaftung von reinen Distributions- zu Kommunikationsapparaten verwandelt und die Trennung von Produzenten und Konsumenten durch kollektive Produkti-onen ersetzt werden. In Vorwegnahme aktueller Medienphänomene wie Youtube benennt Enzensberger als Beispiel solcher Formen „eine Massenzeitung, die von

37 Die Einordnung von Mediennutzung als aktive Produktion von Bedeutung ist der Erkenntnis

geschuldet, dass Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen oder Milieus gleiche Inhalte völlig unterschiedlich enkodieren. Erst in der kulturell geprägten Interpretation von Medien-inhalten wird Bedeutung hervorgebracht. Als wichtigster Vertreter der Theorie vom aktiven Publikum gilt Stuart Hall mit einem als Encoding/Decoding bezeichneten Modell der Kom-munikation (vgl. Hall 1973).

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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ihren Lesern geschrieben und verteilt wird, ein Videonetz politisch arbeitender Gruppen usw.“ (ebd.: 276). Enzensberger sah keine technischen Probleme, son-dern allein politische Hindernisse auf diesem Weg, denn Mediengeräte seien, technisch gesehen, immer zugleich Konsumtions- und Produktionsmittel. „Der Gegensatz von Produzenten und Konsumenten ist den elektronischen Medien nicht inhärent; er muß vielmehr durch ökonomische und administrative Vorkeh-rungen künstlich behauptet werden.“ (Ebd.: 273) Erst in der Transformation der Medien zu Kommunikationsmitteln können auch ihre emanzipatorischen Poten-ziale erschlossen werden.38

2.3.4 Die besonderen Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

Die von der Demokratie ausgehenden Anforderungen an die gesellschaftspoliti-schen Leistungen der Massenmedien können, so zeigt die Kritik an der Verschrän-kung der beiden Systeme Medien und Politik, von privaten Medien aufgrund ihrer kommerziellen Natur nur eingeschränkt erfüllt werden. Demokratie verlangt des-wegen nach einer Absicherung bestimmter Kommunikationsaufgaben durch den Staat. Die hier naheliegende Idee, den privaten Sektor um einen staatlichen Sektor zu ergänzen, greift dort zu kurz, wo auch Partizipation, Meinungsvielfalt und Kri-tik als Kernaufgaben eines ergänzenden Sektors wichtig erscheinen. Als ein in diesem Sinne tragfähiges Komplementärsystem ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk konzipiert, der kultur- und länderübergreifend im Kern folgende Funk-tionen erfüllen soll (vgl. für das Folgende Mattern und Künstner 1998: 30f.):

(1) Integrationsfunktion: Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Themensetzung in der demokratischen Meinungsbildung; Förderung von (natio-naler) Kultur und Identität; Sicherstellung einer gemeinsamen Informationsbasis; Verständigung zwischen gesellschaftlichen Gruppen/communities; (2) Forumsfunktion: Förderung gesellschaftlicher Partizipation; Plattform für offenen Meinungsaustausch; Sicherung von Meinungsvielfalt und ausgewogene

38 Seine Ausführungen abschließend schlägt Enzensberger (2004) folgende Systematik zur Un-

terscheidung repressiver und emanzipatorischer Formen des Mediengebrauchs vor: (1) repres-siver Gebrauch: zentral gesteuertes Programm, ein Sender, viele Empfänger, Immobilisierung isolierter Individuen, passive Konsumentenhaltung, Entpolitisierungsprozess, Produktion durch Spezialisten, Kontrolle durch Eigentümer oder durch Bürokraten; (2) emanzipatorischer Gebrauch: dezentralisierte Programme, jeder Empfänger ein potenzieller Sender, Mobilisie-rung der Massen, Interaktion der Teilnehmer, Feedback, politischer Lernprozess, kollektive Produktion, gesellschaftliche Kontrolle durch Selbstorganisation (vgl. ebd.: 278).

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2.3 Öffentlichkeit als intermediäres System zwischen Politik und Gesellschaft

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Repräsentation von Minderheiteninteressen; Repräsentation von gesellschaftli-cher Vielfalt; (3) Vorbildfunktion: Sicherstellung eines Höchstmaßes an Professionalität; Ein-haltung hoher Qualitätsstandards; Realisierung hochwertiger Programme; inno-vative Programmgestaltung; (4) Komplementär- und Garantiefunktion: Bereitstellung von Programmen, die für die Entwicklung von Demokratie und Kultur wichtig erscheinen, unter rein kommerziellen Gesichtspunkten jedoch nicht realisiert würden, z.B. Programme in Minderheitensprachen.

Die Repräsentation von Vielfalt auf allen Ebenen – kulturell, politisch, ethno-konfessionell, sozial – erscheint als zentrale Querschnittsfunktion in dieser Auf-gabenliste. Für die Konzeption öffentlicher Programme fordern Buckley et al. (2011) aus normativer Sicht (für das Folgende vgl. ebd.):

• Bereitstellung von umfassenden, ausgewogenen und unparteilichen Infor-mationen über nationale und internationale Angelegenheiten;

• Bereitstellung von universal angelegten Programmen sowie Bereitstellung von spezialisierten Programmen;

• Unterstützung einer nationalen Identität unter Berücksichtigung geografi-scher und kultureller Vielfalt;

• Repräsentation von Minderheiten und Minderheitensprachen; • Bereitstellung edukativer Programme und Programme für Kinder; • Bevorzugung und Unterstützung lokaler Produzenten.

Auffallend ist hier der systematische Abgleich zwischen dem Allgemeinen und dem Speziellen: nationale und internationale Angelegenheiten, universelle und spezialisierte Programme, nationale Identität und kulturelle Vielfalt. Ganz gene-rell soll der öffentliche Rundfunk innovative und qualitativ hochwertige Pro-gramme anbieten, die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt der Gesellschaft reflektieren. Bildung, Information und Unterhaltung werden als essenzielle Grundfunktionen genannt (vgl. ebd.: 194-197).

Buckley et al. (2011) betonen die Notwendigkeit eines unabhängigen Governing Boards, dessen Mandat im Kern darin besteht, die Erfüllung des öffentlich-recht-lichen Auftrags zu überprüfen, und ggf. durch Interventionen zu gewährleisten. Insbesondere die Besetzung des Boards mit Experten, die die vielfältigen Interes-sen der Gesellschaft repräsentieren, sollte als transparenter Vorgang gesetzlich

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2 Theoretische Einrahmung – Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft

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geregelt werden, sodass für die (zahlenden) Nutzer jederzeit einsehbar ist, wer für die Gewährleistung der Gemeinwohldienlichkeit Verantwortung trägt. Das Board benennt idealerweise auch die Intendanten des öffentlichen Rundfunks und recht-fertigt die redaktionelle Praxis gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik (vgl. ebd.: 197-201). Als Schutzschild gegen staatliche Zugriffe und als Garant für Un-abhängigkeit gilt eine von staatlicher Administration entkoppelte Form der Finan-zierung durch z.B. Gebühren in Kombination mit dem Verkauf von Werbeplät-zen.

Die Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden gemeinhin als Auf-gaben in einem dualen System diskutiert, also mit Abgrenzung und in Komple-mentarität zu einem privaten Sektor, in dem primär kommerzielle Ziele verfolgt werden. Rozumilowicz (2002) betont die Vorteile einer binären Architektur, in der Partizipation und Wettbewerb als zentrale Verfahren der Demokratie mit komplementärer Ordnung unterstützt werden. Der private Sektor sei vor allem als Arena für den politischen Wettbewerb geeignet – dies schon aufgrund des kom-merziellen und damit wettbewerblichen Charakters kapitalistischen Handelns. Der öffentliche Sektor gewährleiste demgegenüber Partizipation und hier insbe-sondere die Ansprache und Repräsentation gesellschaftlicher Randgruppen, die ggf. vom Markt übersehen oder benachteiligt werden (vgl. ebd.: 15f.). Der private Sektor wird unter anderem mit Parteilichkeit assoziiert und mit eingeschränkter Kompetenz, die Kommunikationsbedürfnisse und -rechte der Bürger zu erfüllen.39

Aus Sicht der vorliegenden Arbeit wäre der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der eben skizzierten Form, mit seinem Fokus auf Partizipation und Repräsentation von Vielfalt, als ein Konstrukt einzuordnen, das am Ideal einer maximalistischen Demokratie orientiert ist.40 Mit Rozumilowicz (2002) wäre entsprechend der pri-vate Sektor mit seinem Fokus auf Wettbewerb und Kritik eher dem minimalisti-schen Lager der Demokratietheorie zuzuordnen. Wenn man mit Rozumilowicz

39 Rozumilowicz (2002) zitiert hier Baker (1998), der über die Dysfunktionalität des kommer-

ziellen Sektors sagt: „[C]ompetitive, profit-oriented pressures could lead media entities to abandon expensive, investigative journalism and replace it with cheaper press release or wire service journalism. The market could tilt journalism towards stories that are easiest (that is, the cheapest) to uncover and, even more troubling, the easiest to explain or the most titillat-ing.“ (Ebd.: 24).

40 Hier zeigt sich der Einbezug beider in Kap. 2.2.2 referierten Partizipationsansätze: Vielfalt ist nach Neidhardt und Gerhards (1990) der entscheidende Maßstab für die Vitalität der Öffent-lichkeit, während aus Sicht von Habermas (1998) die Repräsentation der Bürger- und Zivil-gesellschaft in der Öffentlichkeit höheren Stellenwert besitzt.

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2.3 Öffentlichkeit als intermediäres System zwischen Politik und Gesellschaft

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(2002) die volle und gleichwertige Entfaltung von Wettbewerb und Partizipation als „komplexe Demokratie“ (ebd.: 11) versteht, kann der Entwicklungsstand bei-der Mediensektoren als Indikator für den Entwicklungsstand von Demokratie her-angezogen werden.

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3 Öffentlichkeit im Kontext von Transformation, Gewalt und fragiler Staatlichkeit

Irak ist mit dem Sturz des Baath-Regimes 2003 in einen Demokratisierungspro-zess eingetreten, der schnell von bewaffneten Konflikten usurpiert wurde und der zum Zeitpunkt der Datenerhebung 2008 keinesfalls abgeschlossen war. Die oben skizzierten Elemente konsolidierter Demokratien gelten für diese Situation des Wandels nur bedingt und werden deswegen im ersten Teil des vorliegenden Ka-pitels um eine Betrachtung von Verlaufsformen und Risiken demokratischer Transformationsprozesse erweitert (Kap. 3.1 und 3.2).

Im daran anschließenden Kapitel 3.3 werden die spezifischen Herausforderungen diskutiert, die aus Transformation und fragiler Staatlichkeit für das Verhältnis von Politik und Medien hervorgehen. Mit welchen besonderen Anforderungen sind Medienproduzenten und das Mediensystem im Kontext des politischen Wandels und gewaltförmiger Konflikte konfrontiert? Inwieweit können öffentlichkeitsthe-oretische Annahmen überhaupt aus dem Kontext ihrer Entstehung in Krisen- und Transformationssituationen übertragen werden? Das Spannungsverhältnis zwi-schen Stabilität und Sicherheit auf der einen versus demokratischer Öffnung auf der anderen Seite stehen im Zentrum der Auseinandersetzung. Die Theorie der Hybriden Systeme nach Voltmer (2008) und die darin zentrale Annahme von der Überlagerung alter (autoritärer) und neuer (demokratischer) Verhaltensmuster werden als möglicher Erklärungsansatz herangezogen (Kap. 3.3.6). Abschlie-ßend werden die Besonderheit von bewaffneter Gewalt als Kontext und Gegen-stand der Berichterstattung sowie Prinzipien des Friedensjournalismus diskutiert.

3.1 Phasen der Transformation

Merkel (2010) unterscheidet grob drei Phasen bei der Auflösung autoritärer und dem darauffolgenden Aufbau demokratischer Herrschaftsstrukturen:

(1) Das Ende des autokratischen Systems: Zerfall oder Sturz eines autoritären Re-gimes über sukzessive Phasen von Instabilität, Krise und Auflösung. Als Ursa-chen für den Systemzerfall werden systeminterne Legitimitätskrisen in Kombina-tion mit politischen Schlüsselereignissen von systemexternen Impulsen unter-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019A. Wollenberg, Medien und Demokratie im Irak, Studies in International,Transnational and Global Communications,https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6_3

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3 Öffentlichkeit im Kontext von Transformation, Gewalt und fragiler Staatlichkeit

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schieden. Als systemexterne Intervention wird die Niederlage in einem militäri-schen Konflikt genannt, der Wegfall von Unterstützungsleistungen sowie Domi-noeffekte aus dem Zusammenbruch benachbarter Regime (vgl. ebd.: 96–104).

(2) Demokratisierung: Überwindung von Chaos sowie Aufbau erster demokrati-scher Strukturen und Institutionen (Verfassung, Parteien, Verbände). Die Demo-kratisierungsphase ist charakterisiert durch einen sukzessiven Ersetzungsprozess: Die Herrschaft der ehemals regierenden Eliten wird ersetzt durch die Herrschaft von verbindlich normierten Entscheidungsverfahren, die für alle Akteure gleich-ermaßen gelten. In dieser zweiten Phase der Transformation ist vor allem die Koexistenz alter und neuer Herrschaftssysteme problematisch, die den politischen Akteuren viel Handlungsspielraum gewährt, Desorientierung mit sich bringt und gleichsam das Risiko des Rückfalls in autokratische Herrschaftsformen birgt (vgl. ebd.: 104-109).

(3) Konsolidierung: Stabilisierung und Ausbau demokratischer Werte und Struk-turen in den verschiedenen Segmenten von Gesellschaft und Politik, ggf. über den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten (vgl. ebd.: 110-127).

Formal gesehen befindet sich Irak im Jahr 2008, dreieinhalb Jahre nach der Durchführung erster freier Wahlen, auf der ersten Etappe der Konsolidierung de-mokratischer Strukturen. Die spezifischen Merkmale verschiedener Konsolidie-rungsphasen sollen vor diesem Hintergrund im Folgenden näher betrachtet wer-den.

Der Auftakt für die Konsolidierung demokratischer Verhältnisse in einem Staat wird nach Merkel (2010) mit der Durchführung der ersten freien Wahlen und/oder mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung markiert. Als vollständig konso-lidiert gilt die Demokratie erst, wenn „das gesamte System nicht nur in den Augen der Eliten legitim und ohne Alternative ist, sondern wenn auch Einstellungs-, Werte- und Verhaltensmuster der Bürger einen stabilen Legitimitätsglauben ge-genüber der Demokratie reflektieren.“ (Ebd.: 110) Zwischen Auftakt und Ab-schluss durchläuft der Konsolidierungsprozess mehrere Etappen, in denen Wei-chen entweder zugunsten oder zum Nachteil des Konsolidierungserfolgs gestellt werden.

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3.1 Phasen der Transformation

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Konstitutionelle Konsolidierung

Das Fundament für den demokratischen Neuanfang wird mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung gelegt. Wie belastbar dieses Fundament ist, hängt zu-nächst von der inhaltlichen Integrität der Verfassung selbst ab und von deren Fä-higkeit, die Konflikte und Probleme in einer Gesellschaft effektiv und gerecht zu lösen. Merkel bezeichnet diese Bewertungsdimension als „empirische Legitimi-tät“ (ebd.: 114), die aus einem Abgleich der kulturellen und politischen Problem-stellungen mit den Bestimmungen der Verfassung abgeleitet werden könne. „For-male Legitimität“ (ebd.) geht demgegenüber aus der Qualität der Verfahren her-vor, innerhalb derer die Verfassung entstanden ist. Dazu gehören z.B. die Proze-duren zur Besetzung der verfassungsgebenden Versammlung sowie die Mecha-nismen der Verabschiedung – z.B. mit oder ohne Referendum. Die Anerkennung der Verfassung durch Bürger, Eliten und informelle Eliten ist von essenzieller Bedeutung für den Konsolidierungsprozess und kann nur über eine mehr oder we-niger gelungene Verdichtung empirischer und formaler Legitimität erlangt wer-den.

Repräsentative Konsolidierung

Die Repräsentation von Interessen und Minderheiten wird in modernen (nicht di-rekten) Demokratien über Parteien, das Wahlsystem und über Verbände bzw. zi-vilgesellschaftliche Körperschaften organisiert. Merkel (2010) bewertet Parteisy-steme mit gering ausgeprägter Fragmentierung, Polarisierung und Wählerfluktu-ation als stabilisierend im Sinne der Konsolidierung. Im Hinblick auf das Wahl-system bewertet er mit Verweis auf entsprechende Forschungsergebnisse sowohl das absolute Mehrheitswahlsystem als auch ein reines Verhältniswahlsystem als Risiko für den Konsolidierungserfolg und benennt Wahlsysteme in der Mitte zwi-schen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht als konsolidierungsförderlich (vgl. ebd.: 119). Zusätzlich zur Arbeit der Parteien muss Interessenvermittlung durch Verbände geleistet werden, die damit ein „erhebliches Ordnungspotenzial zur Re-duzierung steuerungspolitischer Unsicherheit“ (ebd.: 121) darstellen:

„Aus demokratietheoretischer Sicht garantiert die verbandliche Selbstorganisation der Gesellschaft wirkungsvolle autonome Handlungsräume dem Staat gegenüber.“ (Ebd.)

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3 Öffentlichkeit im Kontext von Transformation, Gewalt und fragiler Staatlichkeit

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Verhaltenskonsolidierung

Merkel (2010) bezeichnet informelle Akteure wie paramilitärische Gruppen (Mi-lizen), Großgrundbesitzer, Vertreter von Finanz- oder Industriekapital und radi-kale Gewerkschaften als Vetomächte, die den Konsolidierungsprozess durch de-mokratiefeindliche Aktionen und insgesamt anti-demokratische Verhaltensmus-ter stören oder gar blockieren können (vgl. ebd.: 123). Die Loslösung bewaffneter Gruppen vom politischen Prozess oder auch die Mobilisierung von Teilen des Militärapparats durch ethnische oder nationalistische Gruppen in Osteuropa wer-den als Beispiele genannt. Der Umfang, in dem informelle Akteure sich dem de-mokratischen Prozess anschließen, wird hier als Erfolgsfaktor für die Konsolidie-rung markiert.

Konsolidierung der Bürgergesellschaft

Die Endstufe der Konsolidierung umfasst demokratische Einstellungen, Wertvor-stellungen und Verhaltensmuster der Bürger einerseits sowie die Ausdifferenzie-rung einer in der zweiten Phase bereits angelegten Zivilgesellschaft andererseits. Obschon Demokratie zunächst auch ohne aktive Zustimmung breiter Bevölke-rungsschichten überlebensfähig ist, bedarf es einer soliden Staatsbürgerkultur, um Demokratie mit Vitalität und Dynamik zu füllen und damit langfristig zu stabili-sieren. Das Selbstverständnis der Zivilgesellschaft und die demokratische Natur individueller Verhaltensmuster müssen nach Merkel (2010) allerdings den spezi-fischen Bedingungen der Konsolidierung in dieser Phase, respektive ihrer Fragi-lität, Rechnung tragen. Merkel (2010) warnt vor der destabilisierenden Dynamik einer kritisch aufgestellten Zivilgesellschaft in dieser Phase, die ihr Mandat pri-mär in der Mobilisierung von Öffentlichkeit für bestimmte Themen sieht – mit dem Ziel, Druck auf das politische System auszuüben: „Eine Zivilgesellschaft in der Idealtypik der kritischen Theorie […] birgt die […] Problematik einer zu frü-hen, d.h. dem Stabilitätsgrad der jungen Demokratie nicht angemessenen starken politischen Partizipation außerhalb und bisweilen auch gegen die repräsentativen demokratischen Institutionen.“ (Ebd.: 126) Merkel (2010) warnt mit derselben Argumentation vor einer überschießenden Mobilisierung der Bürger im Bereich des politischen Engagements: „Denn eine überhitzt partizipative Neigung der Staatsbürger kann zu gesellschaftlichen Polarisierungen führen (v.a. in multieth-nischen und multireligiösen Gesellschaften), einschneidende Reformmaßnahmen

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3.2 Demokratiedefekte und fragile Staatlichkeit

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der Regierung blockieren, die noch fragilen demokratischen Institutionen erschüt-tern sowie die ‚informellen’ Vetoakteure verunsichern und zu antidemokratischen Aktionen gegen die Demokratie mobilisieren.“ (Ebd.: 124f.) Eine breite staats-bürgerliche Partizipation könne sich ohne Risiko erst in der konsolidierten Demo-kratie entfalten.

3.2 Demokratiedefekte und fragile Staatlichkeit

Transformationsprozesse münden nicht immer, sondern eher selten in konsoli-dierte Demokratien. Die Demokratisierungswellen in Afrika, Osteuropa und La-teinamerika haben in vielen Ländern zur Herausbildung Hybrider Systeme ge-führt, in denen das Wahlregime weitgehend intakt ist, während Störungen in an-deren Teilregimen die Sicherung von Freiheit, Gleichheit und Kontrolle außer Kraft setzen (vgl. Merkel 2010: 37). Je nachdem, welche Teilregime von Ein-schränkungen betroffen sind, unterscheidet Merkel (2010) folgende Typen defek-ter Demokratien (vgl. für das Folgende ebd. 37-38):

Exklusive Demokratie: Relevante Gruppen der erwachsenen Bevölkerung sind vom Recht auf Wahlen ausgeschlossen.

Enklavendemokratie: Vetomächte (Militär, Milizen, Unternehmer, Konzerne) kontrollieren bestimmte Politikbereiche und haben diese dem Zugriff der demo-kratisch gewählten Repräsentanten entzogen.

Illiberale Demokratie: Die Exekutive und die Legislative halten sich nicht an Ge-setze. „Die Bindewirkung konstitutioneller Normen auf Regierungshandeln und Gesetzgebung ist gering.“ (Ebd.: 37) Die Bürger sind vor der Willkür der Herr-schenden nicht länger geschützt.

Delegative Demokratie: Die Exekutive entzieht sich der Kontrolle. „Regierungen umgehen das Parlament, wirken auf die Justiz ein, beschädigen das Prinzip der Legalität, höhlen die Gewaltenkontrolle aus und verschieben die Machtbalance einseitig hin zur (präsidentiellen) Exekutive.“ (Ebd.: 38)

Inwieweit den Zuständen im Irak die hier aufgeführten Defekte zuzuweisen sind, ist Gegenstand des dritten Kapitels. Deutlich wird allerdings schon jetzt, dass Transformation im Regelfall – zumindest temporär – von Einschränkungen in al-len Teilregimen begleitet wird: Paramilitärische Gruppen versuchen regierungs-kritische Regionen unter ihre Kontrolle zu bringen, andernorts behindert Gewalt

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3 Öffentlichkeit im Kontext von Transformation, Gewalt und fragiler Staatlichkeit

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die Teilnahme an Wahlen oder Referenden, die Besetzung von Kommissionen erscheint ungerecht und deren Arbeitsergebnisse in der Folge illegitim etc. Im Demokratisierungsprozess müssen Defekte ausgehalten, erkannt und bearbeitet werden. Ob und in welchem Maße dies gelingt, zeigt sich erst nach Abschluss einer möglicherweise Jahrzehnte andauernden Konsolidierungsphase. Merkel (2010) bezeichnet Afghanistan und Irak als „bestenfalls hybride Regime, die noch nicht einmal das Gewaltmonopol durchgesetzt haben und ohne internationale Hilfe auch als semidemokratische Regime kaum überleben könnten“ (ebd.: 100; vgl. dazu Kap. 5.11).

Merkel (2010) ist ganz grundsätzlich skeptisch, was die Nachhaltigkeit demokra-tischer Interventionen betrifft. Seiner Analyse nach können mit der Durchführung von Wahlen und legislativen Reformen nach einem von außen herbeigeführten Regimesturz zwar kurzfristig Demokratieerfolge erzielt werden. Wenn aber poli-tische Eliten als Binnenakteure die Transformation nicht aktiv anführen und der Wandel der Institutionen nicht kompetent betrieben wird, verbleiben die Nach-kriegsordnungen meist im Zustand semidemokratischer Verhältnisse, die von In-stabilität und Krisenanfälligkeit gekennzeichnet sind (vgl. ebd.: 477).

Typischerweise versuchen die ehemaligen Eliten im Verlauf der Transformation durch ethnische oder nationalistische Mobilisierung verlorene Macht zurückzu-gewinnen und die bewaffneten Konflikte zu eskalieren, sofern die neuen Institu-tionen und Strukturen die Mobilisierung nicht auffangen und in den politischen Wandel integrieren – bis hin zum Bürgerkrieg (vgl. ebd.: 478). Bezugnehmend auf Irak bilanziert Merkel (2010) vor diesem Hintergrund:

„Insofern stand die demokratische Dominotheorie der Neokonservativen um Paul Wol-fowitz auf empirisch tönernen Füßen. Selbst wenn sich der Irak nach der Intervention von 2003 rasch demokratisiert hätte oder sich nun längerfristig zur Demokratie wan-delte, sind die Überlebenschancen des neuen demokratischen Irak statistisch ebenso we-nig wahrscheinlich wie die erfolgreiche Ausbreitung des demokratischen Regimevirus in der tief autokratischen Region des Greater Middle East.“ (Ebd.: 479)

Für eine Analyse defizitärer Transformationsprozesse ist auch das Konzept fragi-ler Staatlichkeit bedeutsam (vgl. Schneckener 2004; Lambach 2013). Fragilität bezeichnet einen Zustand, in dem staatliche Kernleistungen in den Bereichen Si-cherheit, Wohlfahrt und Rechtstaatlichkeit nur (noch) eingeschränkt erbracht wer-den (vgl. Schneckener 2004: 12). In einem fragilen Staat werden physische Si-cherheit für alle Bürger innerhalb der nationalen Grenzen sowie Schutz vor nicht-staatlicher Gewalt nicht vollständig gewährt. Defizite in diesem Funktionsbereich

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3.2 Demokratiedefekte und fragile Staatlichkeit

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werden durch nichtstaatliche Gewaltakteure, bewaffnete Konflikte, Kriminalität und ganz allgemein durch einen schwachen Sicherheitsapparat verursacht. Auch die Gewährleistung von grundlegenden Versorgungsdienstleistungen und die ge-rechte Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen als Inbegriff der Wohlfahrtsfunk-tion kann vom Staat hier nicht erfüllt werden. Als Indikatoren für die Bemessung der Staatsleistungen in diesem Bereich werden unter anderem der Anteil der Er-werbslosigkeit herangezogen, die Kluft zwischen Arm und Reich, der Zustand der Infrastruktur und des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie der Zustand staat-licher Sozialversicherungssysteme. Die Frage der Rechtstaatlichkeit umfasst For-men der politischen Partizipation und der Entscheidungsprozeduren, die Stabilität politischer Institutionen sowie das Justizwesen und die öffentlichen Verwaltun-gen, die im Kontext fragiler Staatlichkeit unterwandert und ausgehöhlt werden von willkürlichen Vorgehensweisen, Korruption und Klientelismus (vgl. Schne-ckener 2004: 12-14). Die Performanz des Staates im Sicherheitsbereich hat nach Schneckener (2004) eine Schlüsselfunktion (ohne Sicherheit kann es keine Ent-wicklung geben) und darf doch nicht als alleiniger Maßstab für stabile Staatlich-keit missverstanden werden:

„Grundsätzlich gilt, daß eine nachhaltige Konsolidierung dieser staatlichen Funktionen nur dann zu erwarten ist, wenn alle drei [Funktionen] entwickelt werden. Dieser Ansatz geht über die Konzentration auf das zweifellos elementare Gewaltmonopol hinaus und führt dazu, daß auch autoritäre oder semi-autoritäre Regime (wie z.B. Nordkorea, Kuba, Syrien, Turkmenistan, Usbekistan und Weißrussland) als fragile Staaten bezeichnet werden können, obgleich sie landläufig – zum Teil unter Verweis auf ihr Militärpoten-tial – als ‚starke‘ Staaten gelten.“ (Schneckener 2004: 12)41

Aus einer Bewertung der drei Staatsfunktionen entwickelt Schneckener (2004) eine Typologie, die vier Erscheinungsformen von (fragiler) Staatlichkeit unter-scheidet: konsolidierte bzw. sich konsolidierende Staaten, schwache Staaten, ver-sagende oder verfallende Staaten, gescheiterte bzw. zerfallene Staaten (vgl. ebd.: 15f.).42

41 Am Beispiel des Arabischen Frühlings wird die Tragweite dieser Setzung deutlich: Die

scheinbare Stärke der autoritären Regimes in Ägypten, Libyen und Tunesien erwies sich unter dem Ansturm der Protestbewegung als faktische Fragilität und war doch für den versierten Beobachter mit Blick auf Wohlfahrt und Rechtstaatlichkeit längst vorher offensichtlich.

42 Eine Rekonstruktion des State Building im Irak und eine Einordnung nach den genannten Kriterien erfolgt in Kapitel 5.

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3 Öffentlichkeit im Kontext von Transformation, Gewalt und fragiler Staatlichkeit

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

In Transformationsländern – genauer: in den verschiedenen Etappen einer Trans-formation – sehen sich Medienproduzenten mit ganz anderen Erwartungen und Umgebungsbedingungen konfrontiert als Berufsgenossen in konsolidierten De-mokratien. Die staatlichen Strukturen, Parteien und Institutionen sind im Begriff zu zerfallen und/oder neu zu entstehen, bestehende Regeln für den journalisti-schen Beruf werden ausgesetzt und neu formuliert, die Bürger sind sowohl hoch-politisiert als auch ungeübt in der Praxis der politischen Partizipation. Auch die Kommerzialisierung von Medien und damit einhergehend Publikumsorientierung in den Redaktionen sind weit weniger ausgeprägt als z.B. in der westlichen Welt. Gleichzeitig sind immer auch Konflikte über die Neuverteilung von Macht und Wohlstand virulent. Es liegt auf der Hand, dass die Rolle der Medien im Demo-kratisierungsprozess auch aus theoretischer Perspektive um transformationsspe-zifische Aspekte ergänzt werden muss. In den folgenden Kapiteln 3.3.2 bis 3.3.8 wird nachgezeichnet, wie das Mobilisierungspotenzial und die Konfliktrelevanz sowie, allgemeiner, die integrative versus zentripedale Wirkung von Rundfunk-medien in der Transformationsforschung diskutiert werden. Das Risiko destabili-sierender Medienwirkungen wird in Bezug zur Notwendigkeit von demokrati-scher Offenheit, Dynamik und Partizipation diskutiert. Eine im Diskurs ebenfalls zentrale Rolle spielt die für Hybride Systeme charakteristische Gleichzeitigkeit alter (autoritärer) Verhaltensmuster und neuer (demokratischen) Institutionen und Regeln.

Während Medien einerseits auf den politischen Transformationsprozess einwir-ken, sind sie andererseits auch selbst von Reformen oder informellen Aspekten des Wandels betroffen. Um der Auseinandersetzung mit der Rolle der Medien für die politische Transformation den Weg zu ebnen, wird im folgenden Kapitel 3.3.1 ein Phasenmodell nach Rozumilowicz (2002) vorgestellt, in dem der Wandel des Mediensektors als Element der politischen Transformation modelliert wird.

3.3.1 Medienreform als Transformationsprojekt

In Anlehnung an die in der Transformationsforschung gängige Unterscheidung verschiedener Phasen des Wandels (vgl. Kap. 3.1) postuliert Rozumilowicz

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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(2002) vier Phasen der Reform für postautoritäre Demokratisierungsprojekte im Mediensektor:43

Pre-Transition Stage: Medienreform wird häufig zu einem Zeitpunkt eingeleitet, zu dem sich das herrschende System von Machtverlust bedroht oder herausgefor-dert sieht, das tatsächliche Transformationsprojekt aber noch keine Konturen an-genommen hat. Medienreform signalisiert an dieser Stelle die Aussicht auf poli-tischen Wandel.44 Transformationsaffine Medien, die auf Liberalisierung drän-gen, haben jetzt die Möglichkeit, Reformkräfte und oppositionelle Gruppen in der Öffentlichkeit zu unterstützen und damit den Wandel zu forcieren. Gleichzeitig kann der Druck auf die Regierung durch Kritik und Anschluss auch an eine inter-nationale Öffentlichkeit erhöht werden. Die Gefahr einer Regression in alte For-men autoritärer Politik ist in dieser Phase hoch (vgl. ebd.: 17f.).

Anders als Rozumilowicz (2002) sieht die klassische Transformationstheorie für die Massenmedien in der ersten auf Machtwechsel drängenden Phase der Mobili-sierung entweder keine oder tendenziell systemerhaltende Funktionen (vgl. Hafez 2008: 324; McConnell und Becker 2002: 2). Hier liegt die Annahme zugrunde, dass Organisationen des privaten Rundfunks eher an Selbsterhaltung orientiert sind als an politischen Zielen und dass gleichzeitig der Rundfunk insgesamt auf-grund des eigentlich hohen Mobilisierungspotenzials in autoritär regierten Staaten gemeinhin umfassender Staatskontrolle ausgesetzt ist. Elektronische Massenme-dien werden in der Transformationsforschung als Akteure beschrieben, die durch die bestehenden Umgebungsbedingungen determiniert sind und deswegen als Motoren der Veränderung nicht in Erscheinung treten. Sie sind hier eher Objekt als Subjekt der Veränderung (vgl. ebd.).45 Wenn allerdings das Machtmonopol der herrschenden Eliten bereits erodiert und infolgedessen Liberalisierung in den Medien schon grassiert, kann Rundfunk auch in der frühen Phase der Transfor-mation durch Berichterstattung über veränderungsrelevante Ereignisse bedeutsam werden. Allein die Medienaufmerksamkeit für Ereignisse in diesem Bereich wird

43 Zu den drei mit Merkel (2010) in Kapitel 3.1 diskutierten Phasen ergänzt Rozumilowicz

(2002) eine Pre-Transition Stage. 44 Indikatoren für die Einordnung von Signalen in diesem Sinne sind eine wachsende Bereit-

schaft seitens der herrschenden Eliten, Kritik und oppositionelle Gruppen zu akzeptieren, so-wie die Spaltung der herrschenden Klasse in politische Lager (vgl. ebd.: 17).

45 Als Medien der Mobilisierung stehen traditionell Printpublikationen und neuerdings natürlich Onlineforen im Vordergrund der Theoriebildung. In der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus auf Rundfunkmedien.

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3 Öffentlichkeit im Kontext von Transformation, Gewalt und fragiler Staatlichkeit

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schon als Schubkraft für die Veränderung wirksam – aber eben nur eingeschränkt und keinesfalls als Speerspitze des Wandels (vgl. McConnell u. Becker 2002: 9).

Primary Transition: Die erste Phase der Transformation ist auf politischer Ebene gekennzeichnet durch die Zerschlagung des alten Regimes und Etablierung neuer Institutionen, Strukturen und Verfahren. Im Mediensektor werden legislative Grundlagen für eine Medienreform in der Verfassung und in ersten Gesetzesent-würfen gelegt. Dabei wird oft internationale Unterstützung in Anspruch genom-men, um Erfahrungswerte aus anderen Transformationsprozessen auszuschöpfen. Der Blick wendet sich nach außen. Als Ideal wird der Aufbau einer unabhängigen und freien Medienlandschaft angestrebt; in der Praxis werden wirtschaftliche As-pekte der Medienökonomie relevant und damit auch die Verteilung von Subven-tionen, die Festlegung von Steuern, Lizenzgebühren etc. (vgl. ebd.: 18f.).

Secondary Stage: Die zweite Phase des Wandels ist gekennzeichnet von der Gleichzeitigkeit neuer und alter Regeln, die sich gegenseitig überlagern und un-terwandern. Neue Gesetze und Verfahren werden durch alte Routinen überschrie-ben oder von den alten Eliten ignoriert:

„The problem, however, most likely to be faced during this phase of transition is that of elite capture of various institutional branches or functions. This can stifle legal function-ing or turn legislative development toward non-democratic ends. Two specific problems may exist at this secondary stage of development: inappropriate structuring and inap-propriate utilization.“ (Rozumilowicz 2002: 21)

Für den postautoritären Transformationsprozess stellt insbesondere das Erbe der autoritären Kultur in den Handlungsmustern und Denkweisen der Medienprodu-zenten eine Herausforderung dar, denn dieses Erbe ist durch legislative Reformen kaum zu adressieren. Davon zu unterscheiden sind antireformistische Strategien ehemaliger Eliten, die in neuen Strukturen alte Verfahren aufrechterhalten, um den Wandel zu sabotieren. Die Gefahr eines Reformstopps und der Rücknahme aller Erneuerungen ist in dieser Phase besonders hoch. Rozumilowicz (2002) empfiehlt Seminare, Konferenzen und Trainings, um die systeminternen Blocka-den zu überwinden, und sieht folgende Szenarien als mögliche Ergebnisse der zweiten Phase:

• unmittelbare Konsolidierung; • Regression in autoritäre Politik; • institutionelle Reform.

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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Die institutionelle Reform wird als realistisch und wünschenswert eingestuft, Konsolidierung dagegen als „least likely“ (ebd.: 21).

Late or Mature Stage: Institutionelle und gesetzliche Erneuerung sind in dieser späten Phase der Reform konsolidiert, und die elementaren Gefahren der Regres-sion sind überwunden. Gleichzeitig werden neu auftretende Probleme bearbeitet und dabei neue Strukturen immer wieder geprüft und angepasst. In dieser Phase verschiebt sich ein erheblicher Teil der Erneuerungsdynamik in den Bereich der Ausbildung, und das Fundament der Reform wird durch einen stetigen Zulauf von Medienproduzenten zum Lager der Reformisten gefestigt (vgl. ebd.: 23).

Das Projekt Medienreform ist im Phasenmodell von Rozumilowicz (2002) als Pa-rallelbewegung zur politischen Transformation angelegt. Die Medien sind für den politischen Wandel nur in der Pre-Transition Stage relevant, wo sie sich in der Rolle des dynamischen Katalysators aktiv auf die Seite der Reformkräfte schlagen und den Umsturz der Verhältnisse durch Parteinahme voranbringen (können). Da-nach scheinen Medien für den politischen Transformationsprozess nicht mehr be-deutsam. In den nachfolgenden Kapiteln wird der Frage nachgegangen, wie mas-senmediale Öffentlichkeit auch nach dem Umsturz, in den verschiedenen Phasen der Neuordnung, auf den politischen Prozess und die Konfliktentwicklung ein-wirkt.

3.3.2 Destabilisierung durch polarisiert-pluralistische Medienstrukturen

In einer Studie der BBC Media Action zur Rolle von Medien in fragilen Staaten (Deane 2013) beschäftigen sich die Autoren mit den destabilisierenden Effekten eines liberalisierten Mediensystems im Kontext fragiler Staatlichkeit. Als fragil gelten dabei Staaten mit gering ausgeprägter Rechtstaatlichkeit, schwacher Leis-tungsfähigkeit im Bereich Government und Governance und starkem Konfliktpo-tenzial (vgl. ebd.: 4; vgl. auch Kap. 3.2). Meist zerfurchen ethnisch, konfessionell oder politisch markierte Konfliktlinien die Gesellschaft. Ergänzt wird die desin-tegrative Dynamik durch eine vom Staat dissoziierte Bürger- und Zivilgesell-schaft, eine Trennlinie, die zwischen Regierung und Regierten verläuft (vgl. ebd.: 3-6).46 Den Zusammenhalt fragiler Staaten sehen die Autoren dort durch Medien

46 Deane (2013) geht dabei von struktureller Ähnlichkeit zwischen den post-autoritären Trans-

formationsländern des Arabischen Frühlings und den „media trends in fragile states“ (ebd.: 9) aus. Als Fallbeispiele werden Afghanistan, Irak, Kenia und Somalia in der Studie unter-

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gefährdet, wo die Struktur einer pluralistischen Medienlandschaft die bestehen-den Konfliktlinien der Gesellschaft reproduziert und damit zur Vertiefung der Gräben beiträgt. Liberalisierung wird aus diesem Blickwinkel gegen Stabilität und gegen Konsolidierung staatlicher Strukturen wirksam.

Hallin und Mancini (2004)47 bezeichnen eine in dieser Form weitgehende Aus-prägung von politischem Parallelismus als polarisiert-pluralistische Medienstruk-tur. Eine enge Verstrickung zwischen (Konflikt-)Parteien und Medien ist ihr her-ausragendes Merkmal, als Maximalausprägung gilt die Eins-zu-eins-Beziehung: Jede Partei hat ihren eigenen Sender, jeder Sender/jede Zeitung ist einer Partei zuzuordnen. Dabei wird die politische Unabhängigkeit auf Seiten der Journalisten unwahrscheinlicher, je enger die Beziehungen zwischen Parteien und Medien sind.

Pluralistische Polarisierung bringt eine klar erkennbare politische Einfärbung der Medieninhalte mit sich sowie eine politisierte, mithin auch aktivistische Haltung unter den Journalisten, die sich hineinverlängert in ein mit der politischen Linie der Zeitung/des Senders sich identifizierendes Publikum. Meinungsstarke Dar-stellungsformen wie der Kommentar stehen im Vordergrund der journalistischen Arbeit, während klassische Berichterstattung und das journalistische Handwerks-zeug eine nachgeordnete Rolle spielen. Journalisten sind in diesem Umfeld Mei-nungsführer, Medien sind politische Instrumente (vgl. ebd.: 114). Nach Hallin und Mancini (2004) sind politischer Parallelismus und journalistische Autonomie über eine negative Korrelation miteinander verbunden: Je dichter die Beziehun-gen zwischen Parteien und Medien, desto geringer sind journalistische Freiheits-grade in der Produktion. Der Journalist ist selbst Protagonist einer politischen

sucht, sodass für die vorliegende Arbeit die oben genannten Trends als Vorschlag für trans-formationsspezifische Merkmale in die Überlegungen zur Rolle von Medien in Transforma-tionsprozessen einfließen (vgl. ebd).

47 Hallin und Mancini (2004) entwickeln in Comparing Media Systems eine Typologie für den internationalen Vergleich von Mediensystemen, die aktuell als wichtigste Referenz in diesem Forschungsbereich gilt. Es werden vier Typen von Systemen unterschieden: Mediterranean or Polarized Pluralist Model (Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien), Northern European or Democratic Corporatist Model (Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Deutschland, Niederlande, Norwegen, Schweden, Schweiz), North Atlantic or Liberal Model (Großbritannien, USA, Kanada, Irland) (vgl. ebd.: 67). Die Autoren wurden für den fehlenden Einbezug nichtwestlicher Kulturen und Länder in ihre Forschungsarbeit kritisiert und haben auf die Kritik mit einer Publikation reagiert: Comparing Media Systems Beyond the Western World (Cambridge 2012). Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Beiträgen, die sich mit der Anwendung der Typologie in nichtwestlichen Kulturen beschäftigen.

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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Agenda und wird in dieser Rolle auch in der Organisation gesehen, die ihrerseits der Steuerung durch externe Interessengruppen unterliegt.

„Where political parallelism is very high, with media organizations strongly tied to po-litical organizations, and journalists deeply involved in party politics, professionaliza-tion is indeed likely to be low: journalists are likely to lack autonomy, except to the extent that they enjoy it due to high political positions […]” (ebd.: 38).

Gerade postautoritäre, neue Demokratien in Osteuropa, Lateinamerika und der arabischen Welt sind häufig von einer polarisiert-pluralistischen Öffentlichkeit geprägt, die aus dem Erbe einer autoritären Medienkultur in Kombination mit der Liberalisierung des Mediensystems hervorgeht (vgl. Voltmer 2008). Die Konzep-tion von Medien als Instrument politischer Manipulation war hier Teil autoritärer Regierungsführung in der Vergangenheit und unterwandert häufig noch lange Zeit nach dem Regimewechsel die Medienpraxis in den entsprechenden Ländern. Im Rahmen der Liberalisierung vervielfältigen sich zwar die Medienangebote, aber das Verhältnis zwischen Parteien und Medien bleibt von Instrumentalisie-rung geprägt. Voltmer (2008) übt allerdings Kritik an der pauschalisierten Ein-ordnung aller nicht-westlichen Mediensysteme in die Kategorie der polarisiert-pluralistischen Mediensysteme:

„With its defining characteristics of journalistic partisanship, political instrumentaliza-tion of the media, and uncontrolled commercialization of the media industry, all of which are regarded as problematic and potentially obstructive to a healthy democratic public sphere, the Polarized Pluralist model seems to have become something like a catch-all category for media systems outside the Western world of established democ-racies.” (Ebd.: 225)

Voltmer (2010) sieht in den aus westlicher Sicht diskreditierten polarisiert-plura-listischen Medienstrukturen neuer Demokratien auch Orientierungsvorteile, weil die erst entstehenden Parteienlandschaften für die Wähler häufig schwer zu durch-schauen sind. Eine entlang politischer Lager strukturierte Medienlandschaft kann Unterschiede zwischen Parteien deutlich machen und Parteiprofile für die Wähler schärfen (vgl. ebd.: 143-144).48 Allerdings kann die Reproduktion von politischen Konfliktlinien in den Strukturen der Medienlandschaft, eine Spiegelbildlichkeit

48 “Even though internal diversity conforms most closely with the ideal of rational citizenship,

the downside of balancing opposing views is that it provides little, if any, cues as to the value and validity of a position. Thus, it hardly meets the needs for orientation which is in particular short supply in periods of transition when the breakdown of familiar institutions and value systems can cause an acute sense of disorientation and anomy. External diversity offers this orientation.“ (Ebd.: 144).

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beider Systeme, im Kontext einer liberalisierten Öffentlichkeit auch zur Verschär-fung von Konflikten führen – hier sind Voltmer (2008) und Deane (2013) dersel-ben Ansicht. Durch Segmentierung der Medienlandschaft wird die Vielfalt nicht-staatlicher Subidentitäten gestärkt und damit der nationale Zusammenhalt der Ge-sellschaft geschwächt (vgl. ebd.: 10-12). Dies ist vor allem in Zeiten politischer Anspannung wahrscheinlich, wenn die Polarisierung sich zuspitzt und antagonis-tische Züge annimmt. Dabei treten die beiden für die Transformation gleicherma-ßen zentralen Ziele Stabilisierung und Demokratie in Konkurrenz zueinander, denn anders als Demokratie profitiert Stabilisierung zunächst scheinbar nicht von Liberalisierung des Mediensektors im Transformationsprozess. Stabilisierung wird vielmehr von der Konflikthaftigkeit und von der antagonistischen Dynamik einer liberalen freien Presse gefährdet.

Zugespitzt wird die Problematik dort, wo Meilensteine der Transformation – wie Wahlen oder Verabschiedung der Verfassung – eingebettet sind in bewaffnete Konflikte und wo pluralistisch-fragmentierte Medienlandschaften als Quelle der Eskalation wirken. Als Beispiel für eine solche Entwicklung werden von Stremlau (2015) die Wahlen in Kenia und die politische Entwicklung in Somaliland disku-tiert.

Hafez (2014) warnt mit Blick auf die teilweise invertierten Transformationspro-zesse in der arabischen Welt vor den Gefahren, die von einer radikalen Polarisie-rung im Mediensektor für die Konsolidierung der demokratischen Ordnung aus-gehen. Als radikal bezeichnet er eine Form von Kommunikation, in der die Exis-tenzberechtigung anderer als der eigenen Lager infrage gestellt wird und damit sowohl Toleranz als auch Pluralismus als demokratische Grundformen außer Kraft gesetzt sind.49 Hafez (2014) zeigt am Beispiel Ägyptens, wie Polarisierung im Mediensektor über den Weg der Radikalisierung in Gleichschaltung umschla-gen kann. Seiner Beobachtung nach trug die Parteinahme der Medien in Ägypten unter Präsident Mohammed Mursi als jeweils Freunde oder Feinde der neuen Re-gierung anti-demokratische Züge, weil die Existenzberechtigung der jeweils an-deren Partei von beiden politischen Lagern nicht länger anerkannt wurde. Der po-litische Wettkampf wurde in Feindschaft überführt und der politische Gegner als

49 Auch Mouffe (2007) markiert die Aberkennung der Legitimität gegnerischer Parteien als

Grenze zwischen agonistischen (demokratischen) und antagonistischen (anti-demokratischen) Formen des politischen Wettbewerbs. Anders als Hafez (2014) verwendet sie den Begriff ra-dikale Demokratie aber positiv.

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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illegitime Partei diskreditiert. In seiner Analyse macht Hafez (2014) die Aberken-nung von Legitimität gegnerischer Parteien in der öffentlichen Kommunikation als Indikator für die Dysfunktionalität polarisiert-pluralistischer Strukturen, mit-hin den Übergang zu radikal-pluralistischen Formen, geltend. In Ägypten hat die Radikalisierung im Mediensektor den Weg geebnet für eine Renaissance autori-tärer Regierungsführung und regierungskonforme Gleichschaltung der Medien. Beide Formen – Gleichschaltung und radikale Polarisierung – basieren seiner Analyse nach auf derselben Intoleranz gegen die pluralistische Koexistenz unter-schiedlicher politischer Lager. Ein Minimalkonsens gegenseitiger Anerkennung sei Grundlage für die Entwicklung einer demokratischen Öffentlichkeit. Freiheit sei eben immer auch die Freiheit des Anderen – andernfalls wende sich Pluralis-mus gegen das demokratische Projekt, sabotiere es von innen heraus und könne den Zusammenbruch der Demokratie mitbewirken, wie in Ägypten geschehen (vgl. ebd.).

Auch die Autoren der BBC-Studie (Deane 2013) empfehlen den Einstieg der Massenmedien in einen Identitätsdiskurs, der auf die Genese einer Shared Identity zielt. Ein solches Engagement könne aber nicht von oben verordnet werden, es müsse aus der Praxis heraus im Kreis der Medienproduzenten entstehen (vgl. ebd.: 20).

Diese Überlegungen legen den Rückschluss nahe, dass aus demokratietheoreti-scher Perspektive die von Habermas (1998) favorisierte Form eines öffentlichen Strebens nach Konsens durch Deliberation und die integrative Ausrichtung dieser Theorie unter Bedingungen fragiler Staatlichkeit eher dazu geeignet erscheinen, den demokratischen Prozess zu stützen, als die von Mouffe (2007) favorisierte Vorstellung einer antagonistischen Öffentlichkeit, in der die Abgrenzung und die Gegnerschaft der politischen Lager betont wird (vgl. Hafez 2014). Insgesamt wird Stabilisierung als Aufgabe der Medien gerade im derzeitigen Trend zur Priorisie-rung von Sicherheit versus Demokratisierung in der europäischen Außenpolitik wieder stärker betont.

3.3.3 Stabilisierung als Auftrag an die Medien

Medienpolitik und -regulierung sowie Medienunterstützung durch externe Ak-teure müssen nach Meinung der Liberalisierungskritiker am Ziel des State-Buil-ding orientiert sein und daran, die Regierung in der Konsolidierung von Struktu-ren und Autorität zu unterstützen. Meinungsfreiheit und das Ziel einer kritisch-

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pluralistischen Öffentlichkeit müssen sich unter Bedingungen fragiler Staatlich-keit dem Ziel der Stabilisierung unterordnen (vgl. Putzel und van der Zwaan 2005: 6; Deane 2013):

„In situations where the state is fragile and the political process is unstable and de-legit-imated, the primary objective of donor assistance should be supporting the formation of a functioning state. In such a scenario, unsophisticated liberalisation of the media can potentially undermine the state-building project.“ (Putzel und van der Zwaan 2005: 22)

Nach einem Umsturz und im Prozess der Neuordnung50 ist die transformations-spezifische Rolle der elektronischen Medien aus dieser Sicht als zentripedale Kraft zu modellieren, die zur Stabilisierung der neu entstehenden Verhältnisse beiträgt und den Prozess der Veränderung eher verlangsamt als beschleunigt (vgl. McConnell und Becker 2002). Eine übermäßige Mobilisierung der Öffentlichkeit gilt in der Konsolidierungsphase als dysfunktional, weil der revolutionäre, meist nur assoziativ geordnete Aktivismus aus der Phase des Regimesturzes die jetzt anstehende Neuordnung der Gesellschaft hemmt (vgl. Merkel 2010; vgl. Kap. 3.1). McConnell und Becker (2002) benennen für die Konsolidierung sowohl Ver-mittlung von Wissen über Demokratie als mögliche Aufgabe der Medien als auch die aktive Bewerbung von „political and social cooperation“ (ebd.: 10). Dabei sollen einerseits den Rezipienten demokratische Werte und Methoden (Basic Va-lues) nahegebracht und andererseits die tatsächliche Umsetzung demokratischer Praxis in den Fernseh- und Radioprogrammen der Sender erprobt werden. Die Kommunikation der Medien bringt sich idealerweise in Einklang mit den Anfor-derungen der angestrebten Demokratie und kann dabei eine Rolle als Vorbild und Labor übernehmen. Es geht darum, den konstruktiven Streit mit politischen Geg-nern zu erproben und dabei etwas über Demokratie zu lernen. Darüber hinaus geht es in dieser Phase der Stabilisierung weniger darum, die Regierung infrage zu stellen als vielmehr ihre Legitimität durch Anerkennung zu stärken (vgl. ebd.). Dieses Funktionsspektrum steht in offenkundigem Widerspruch zu der im Rah-men des Übergangs üblicherweise aufbrechenden Anarchie im Mediensektor: Medien werden von Interessengruppen vereinnahmt, ihre Anzahl steigt explosi-onsartig, bisher unterdrückte Konflikte und Emotionen werden an die Oberfläche getrieben, das Publikum ist von der Komplexität der Lage überfordert etc. Diese

50 Mit Merkel (2010) wäre diese Etappe als Demokratisierungsphase zu bezeichnen, die charak-

terisiert ist durch eine sukzessive Einsetzung verbindlich normierter Entscheidungsverfahren und einen Aufbau erster demokratischer Strukturen und Institutionen (Verfassung, Parteien, Verbände) (vgl. ebd.: 105; vgl. auch Kap. 3.1).

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Diskrepanz zwischen Erfordernis und Faktizität kann nach McConnell und Be-cker (2002) durch eine – vielleicht nur für den Übergang geltende – restriktive Mediengesetzgebung in Richtung der demokratischen Erfordernisse harmonisiert werden (vgl. ebd.).

Als Beispiel für eine in diesem Sinne erfolgreiche Medienpraxis wird von den Autoren die Demokratisierung in Spanien nach dem Tod Frankos herangezogen. Hier hätten die Medien zur Resozialisierung der Öffentlichkeit einen wichtigen Beitrag geleistet durch (1) Anerkennung der Legitimität der neuen Regierung, (2) Bereitstellung von Kommunikationsmöglichkeiten für verschiedene Parteien, (3) Bereitstellung von Informationen und (4) Förderung von Toleranz für die Ver-handlung vieler verschiedener Ansichten (vgl. ebd.: 10f.).

„The authors conclude that the principal function of the media during Spain´s transition from an authoritarian to a democratic regime […] was to channel mes-sages that originated among the political elite to the general public.“ (Ebd.: 11) Die transformationsspezifische Rolle von Medien trägt hier Züge einer minima-listischen Konzeption von Demokratie: Der Rezipient wird belehrt, unterrichtet, informiert und gefördert. Seine Rolle ist die des passiven Empfängers, während aktive oder aktivistische Aspekte seines Handelns in den Hintergrund treten. Diese Konstruktion erscheint mit Blick auf die Rolle des Bürgers paradox, da ja der Umsturz autoritärer Verhältnisse im Idealfall dem Engagement einer aktiv den Wandel vorantreibenden Zivilgesellschaft geschuldet sein sollte. Die Forderung nach der Unterwerfung der Medien unter die Ziele des State Building und der darin priorisierten Ziele wie Stabilität und Sicherheit wird entsprechend, vor al-lem von westlichen Media Assistance Organisations als undemokratisch kriti-siert.

3.3.4 Kontrollfunktion der Medien in der Transformation

Die Gefahr, die mit der von McConnell und Becker (2002) empfohlenen Unter-ordnung der Medien unter die Anforderungen der Konsolidierung verbunden ist, besteht in der Abschwächung oder partiellen Aussetzung der Kontrollfunktion des Mediensystems. Die Kontrollfunktion referenziert sowohl auf Bürgerinteressen als auch auf Vorgaben und Ziele, die die Regierung sich selbst gesetzt hat und die insofern ihre Legitimationsgrundlage bilden. In ihrer Rolle als Watchdog sollen Massenmedien dazu beitragen, die Interessen der Wähler als Maßgabe allen Han-

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delns für die Politik aufrechtzuerhalten (vgl. Coronel 2010: 114). Die Antizipa-tion von Kritik soll integraler Bestandteil politischer Entscheidungsprozesse sein – das ist ihr eigentlicher Sinn – und dort zur Prüfung von Argumenten für oder gegen eine Entscheidung eingesetzt werden. Kritik wird aus dieser Perspektive zum beständigen Referenzpunkt der politikinternen Deliberation.

Gerade in neu entstehenden Demokratien bringt das Erbe der Autokratie erhöhte Anforderungen an Kritik und Kontrolle gegenüber der herrschenden Elite mit sich. Ebenso wird der Anspruch auf Transparenz in einer von Propaganda, Des-information und Denunziation geschädigten Gesellschaft insbesondere von den Mediennutzern mit Vehemenz vertreten. Gleichzeitig sind Rechtstaatlichkeit und Regierungskompetenz in postautoritären Lagen nur gering entwickelt, Korruption und stark inkohärente Politik hingegen sind weit verbreitet. Hier sollte die Kon-trollfunktion der Medien nach Ansicht von Coronel (2010) eher gestärkt als ge-schwächt werden. In postautoritären Ländern kann investigativer Journalismus, in Kooperation mit staatlichen Initiativen, durch Recherche und Berichterstattung z.B. zur Eindämmung von Korruption einen wichtigen Beitrag leisten und damit zugleich die Glaubwürdigkeit der Medien in ihrer Rolle als Watchdog stärken: „The press as an institution is strengthened if journalists have demonstrated that they serve the public interest by uncovering malfeasance and abuse.“ (Coronel 2010: 129)51 Auch eine Synthese bestehender Forschung zur Frage von Medien-wirkungen in entstehenden Demokratien bringt Coronel (2010) zu diesem Ergeb-nis: „[O]n the whole, media exposure is conducive to democratic consolidation and helps build support for democracy.“ (Ebd. 129)

Coronel (2010) benennt die Auflösung bisheriger Kontrollmechanismen im Rah-men politischer Umbrüche und eine damit einhergehende Steigerung des Infor-mationsbedarfs in der Öffentlichkeit als ideale Rahmenbedingungen für die Ent-faltung einer investigativen Journalismuskultur. Auch steigt das Interesse des Publikums an Politik, weil das Geschehen auf politischer Ebene sich viel unmit-telbarer auf den Alltag der Menschen auswirkt, als dies in einer konsolidierten Gesellschaft der Fall ist (vgl. ebd.: 116). Damit übernimmt Coronel (2010) eine Position, in der Stabilität und Unterstützung staatlicher Konsolidierung nicht im Vordergrund stehen, sondern der Kontrollfunktion nachgeordnet sind.

51 Im Irak sollen auf diesem Wege über 2.000 Fälle von Amtsmissbrauch aufgeklärt worden sein

(vgl. Awad und Eaton 2013).

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3.3.5 Medien als Agenten der Veränderung

In autoritären Gesellschaften der arabischen Welt, in denen oppositionelle Par-teien für die effektive Verfolgung politischer Reformen keine Binde- und Strahl-kraft aufbringen, beobachtet Hafez (2004) einen für die Demokratisierung bedeut-samen Funktionstransfer zwischen Politik und Medien: Die Aufgabe der Mobili-sierung wird von den Parteien auf die Medien übertragen. Wie spätestens im Arabischen Frühling zu beobachten war, können transnationale Satellitensender wie al-Jazeera politische Lager und Interessen integrieren, aggregieren und fokus-sieren – und damit klassische Parteifunktionen übernehmen (vgl. Hafez 2004; Ro-zumilowicz 2002). Auch lokale Satellitensender wie Nesma TV und Hewar in Tunesien haben gezeigt, dass sie nach dem Sturz des Regimes und der Liberali-sierung des Mediensektors in der Lage sind, zivilgesellschaftliches Engagement für die Demokratisierung zu mobilisieren.

Neben der treibenden Kraft von Massenmedien wird hier auch die im Transfor-mationsprozess zugespitzte Parteilichkeit von Medien neu bewertet und Partei-nahme für demokratische Werte und Akteure unter Transformationsbedingungen legitimiert:

„Das Satellitenfernsehen hat im Kontext des demokratischen Wandels die Funktion, alle wichtigen Stimmen ins Boot zu holen, die Opposition ebenso wie die Regierung, und zusätzlich die Agenda der Demokratisierung durch eigene Meinungsbilder im Sinne der Substituierung der programmatischen und politisch visionären Aufgaben von Parteien voranzutreiben.“ (Hafez 2004: 18)

Das Engagement für die Transformation kollidiert dabei formal betrachtet mit dem Auftrag journalistischer Unparteilichkeit, der letztlich Parteinahme für jede Ideologie verbietet. Hafez (2004) bezeichnet den „Grenzgang zwischen Professi-onalität und Advokatismus [als] wichtigste Transformationsfunktion“ (ebd.: 19) von Satellitensendern in der arabischen Welt. Je nachdem, an welcher Stelle der Entwicklung der Sender oder aber der Transformationsprozess sich gerade befin-den und je nachdem, wie intensiv der Transformationsprozess von seinen Geg-nern behindert wird, schwingt das Pendel des Medienverhaltens zwischen Partei-nahme und Unparteilichkeit. Das ständige Oszillieren zwischen Journalismus und Advokatismus, zwischen Engagement und journalistischer Distanz ist charakte-ristisch für Massenmedien in Transformationsländern und lässt sich sowohl zwi-schen als auch innerhalb der Medienhäuser beobachten. Wie im Falle von al-Jaze-era, dessen Mitarbeiter und Sprecher bis zum Beginn des Arabischen Frühlings unbeirrbar den Einsatz des Senders für einen politischen Wandel in der arabischen

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Welt dementiert haben, kann diese Oszillation auch als Diskrepanz zwischen Selbstbeschreibung und Programminhalt in Erscheinung treten.

Die Aufgabe der professionellen Informationsvermittlung kann nach Hafez (2004) auch im Rahmen prodemokratischer Parteinahme in angemessener Form erfüllt werden:

„Demokratischer Advokatismus steht nicht im Widerspruch zur Objektivität der Infor-mation, denn schließlich geht es darum, Schieflagen der Öffentlichkeit zu beseitigen, in der die Bevölkerungen, anders als die Regierungen, nicht repräsentiert waren.“ (Ebd.: 18)

Voraussetzung für eine effektive Ausübung der Parteifunktion ist eine vitale Ver-schränkung von Medien mit Organisationen der Zivilgesellschaft und politischen Bewegungen. In Einklang mit dem Öffentlichkeitsmodell von Gerhards und Neidhardt (1990) sowie implizit Bezug nehmend auf die intermediäre Funktion von Öffentlichkeit bei Habermas (1998) sieht Hafez (2008) die Verbindung zwi-schen den verschiedenen Schichten der Öffentlichkeit sowie die Durchlässigkeit zur Regierungsseite als entscheidend für einen möglichen Mobilisierungseffekt. Nur aus einer dichten Interaktion zwischen Zivilgesellschaft und Medien, einer forcierten Präsenz von Vertretern oppositioneller Bewegungen und anderer zivil-gesellschaftlicher Organisationen im öffentlichen Raum kann eine Erneuerung der politischen Verhältnisse hervorgehen (vgl. ebd.: 328).52 In der Hinwendung der Medien zu den dissidenten Bewegungen, die hier Gelegenheit zur Artikulation ihrer Ziele erhalten und so Alternativen zur aktuellen Machtlage vorstellbar ma-chen, treten diese Bewegungen für die breite Masse der einfachen Bürger über-haupt erst in Erscheinung. Das setzt sowohl Empathie der Medien mit den Anlie-gen dieser oppositionellen Bewegungen voraus als auch eine ausgereifte Organi-sation, Vernetzung und Fokussierung dieser Gruppen. Denn die politische Aktion muss weiterhin den politischen Bewegungen vorbehalten sein. Dies können Me-dien nicht, hier hat die Funktionsübernahme ihre Grenze.

Nachrangig, aber ebenso bedeutsam für die Macht der Medien als Motor der Ver-änderung, ist die Durchlässigkeit der Systemgrenze zur Regierungsseite. Konkret

52 Im Öffentlichkeitskonzept von Gerhards und Neidhardt (1990) gilt der Thementransfer zwi-

schen den verschiedenen Schichten von Öffentlichkeit als entscheidend für deren Vitalität und auch Habermas (1998) sieht die Öffentlichkeit als Resonanzraum für gesamtgesellschaftliche Probleme, die ihren Ursprung in der privaten Sphäre haben und von dort über das Scharnier der Zivilgesellschaft in die Öffentlichkeit übertragen, verallgemeinert und dem politischen System als Aufgabe übertragen werden.

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sieht Hafez (2008) die Medien in der Pflicht, zwischen herrschenden Eliten und Opposition zu vermitteln, denn auch die Regierungen müssen erfahren dürfen, mit wem sie es auf gegnerischer Seite zu tun haben (vgl. ebd.: 322). Idealerweise wer-den Gelegenheiten zum Dialog oder zu konstruktivem Streit geschaffen.

Ähnlich wie Hafez (2008) sieht Hroub (2011) den Mobilisierungseffekt von al-Jazeera im Arabischen Frühling als Resultat einer „happy marriage between the ‚wide screen’ TV stations, and the ‚small screen’ social media“ (ebd.: 27). Seiner Analyse nach hat al-Jazeeras Parteinahme für die Revolution in Tunesien, Ägyp-ten und Libyen erst durch den engen Schulterschluss des Senders mit Protestbe-wegungen auf der Straße und durch Einbindung von bürgerjournalistischen Bei-trägen aus den sozialen Netzwerken zur Mobilisierung der Massen beitragen kön-nen. Aufgrund der Monopolisierung von Macht in den Händen der Exekutive sind die von al-Jazeera ausgehenden Impulse für Demokratisierung nach Ansicht von Hroub (2011) vor dem Arabischen Frühling, der im Dezember 2010 im tunesi-schen Sidi Bouzid seinen Anfang nahm, auf keinen fruchtbaren Boden gefallen. Erst mit der effizienten Organisation von Protest in den sozialen Onlinenetzwer-ken und der systematischen Bezugnahme von al-Jazeera auf diese Proteste als Quelle und Gegenstand der Berichterstattung ist der Zusammenhang zwischen Medien, Gesellschaft und Politik effektiv hergestellt und Veränderung in Gang gesetzt worden.

Ausgehend von diesen und anderen Beobachtungen, ist in der westlichen Kom-munikationswissenschaft die These von einer spezifisch arabischen Journalismus-kultur entstanden, die durch eine enge Verzahnung von On- und Offlinemedien geprägt ist, und die sich offen zum politischen Aktivismus bekennt. Hanitzsch (2010) hat in diesem Zusammenhang journalistische Milieus als Derivate unter-schiedlicher Selbstbilder von Journalisten in 18 verschiedenen Ländern unter-sucht. Ausgangspunkt der Studie ist das Modell eines journalistischen Feldes im Sinne Bourdieus, in dem Journalisten durch unterschiedliche Vorstellungen von der Funktion des Journalismus informelle Gruppen bilden, die dieses Feld struk-turieren.53 Hanitzsch (2010) findet in Ägypten eine überwältigende Identifikation

53 Nach Bourdieus (1984) Feldtheorie wäre Journalismus als ein Feld zu begreifen, das durch

den Wettbewerb beruflicher Werte strukturiert ist. Im Vordergrund steht hier die Konkurrenz zwischen journalistischer Unabhängigkeit, die einhergeht mit Orientierung am demokrati-schen Auftrag versus einer Ausrichtung am kommerziellen Erfolg von Medienangeboten (He-teronomie versus Autonomie). Beide Werteorientierungen ringen um Vorherrschaft im Feld (vgl. Hanitzsch 2010: 478).

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von 74 % der befragten Journalisten mit der Rolle des Critical Change Agent, der sich die Veränderung der politischen Verhältnisse zum Ziel setzt und sowohl po-litischem Opportunismus als auch Publikumsorientierung in der journalistischen Praxis ablehnend gegenübersteht.54

„Journalists in this professional milieu emphasize the importance of advocating social change, influencing public opinion and setting the political agenda. Another important characteristic of this group is that their members are most eager to motivate their audi-ences to participate in civic activity and political discussion.“ (Hanitzsch 2010: 486)

Die Haltung dieser Gruppe ist der des politischen Aktivisten näher als dem klas-sischen Rollenbild des Journalisten als kritischem, aber distanziertem Beobachter, dem z.B. deutsche und amerikanische Journalisten mehrheitlich nahestehen (vgl. ebd.). Journalisten der Critical-Agent-Gruppe sind weniger als andere an den In-teressen des Publikums orientiert und sie lehnen eine affirmative Haltung gegen-über Politik und Wirtschaft grundsätzlich ab.

Pintak (2011) kommt in einer Studie zum Selbstbild von Journalisten in der ara-bischen Welt zu ähnlichen Ergebnissen. In einer Befragung von 600 Journalisten in 13 arabischen Ländern im Jahr 2008 identifiziert sich eine deutliche Mehrheit der Befragten mit der Rolle des Change Makers (vgl. ebd.: 156). 75 % der Be-fragten bezeichneten das Engagement für politische Reform als ‚most important job for a journalist’, 43 % bezeichneten sich selbst als einen Agent of Change, 56 % benannten Civic Engagement als wichtigstes Merkmal ihres Berufs (vgl. ebd.). Die Informationsfunktion der Medien ist den aktivistischen Aspekten des journalistischen Berufs, seiner politischen Mission, in diesem Selbstbild aus-drücklich nachgeordnet.

In diesen zuletzt genannten Studien wird eine aktivistische, auf Veränderung zie-lende Haltung des Journalisten als kulturell geprägtes Selbstbild der Akteure klas-sifiziert, während die zuvor skizzierten Ansätze von Hroub und Hafez von einem Zusammenhang zwischen dieser Haltung und dem Kontext der politischen Trans-formation ausgehen. Die aktivistische Praxis der Journalisten wäre im einen Fall als vorübergehendes Phänomen zu begreifen, als Haltung, die aus der Verände-rung politischer Entwicklungen hervorgeht, sich an diesen Veränderungen betei-ligt und dann mit Konsolidierung der Verhältnisse vom klassischen Rollenbild des Journalisten abgelöst wird. Die an Störung oder gar Auflösung bestehender

54 In der Studie Mapping journalism cultures across nations (2010) wurden 100 Journalisten in

Ägypten befragt.

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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Verhältnisse orientierte Haltung des Change Agent ist im anderen Fall auf Dauer gestellt. Hier wird eine journalistische Haltung beschrieben, die unabhängig von den verschiedenen Phasen der Transformation auf Veränderung der herrschenden Verhältnisse in Politik und Gesellschaft ausgerichtet ist.

3.3.6 Hybride Systeme: Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Verhaltensmuster

Die bisher diskutierten transformationsspezifischen Aspekte von Medienfunktio-nen treten mit etwas Abstand auch als Zusammenspiel (oder Wettbewerb) integ-rativer und desintegrativer Kräfte in Erscheinung, das in den verschiedenen Pha-sen der Transformation Veränderung forciert oder bremst. Roudakova (2012) schafft eine analytische Klammer für diese Betrachtung, indem sie ganz generell „order maintaining processes“ von „order eroding processes“ (ebd.: 249) unter-scheidet und damit dem strukturellen Zugriff der traditionellen Transformations-forschung ein prozessorientiertes Instrument zur Seite stellt. Ordnungserhaltende (maintaining) Prozesse perpetuieren ihrer Konzeption nach Bestehendes durch eine fortlaufende Einhaltung von Regeln, durch eine Praxis der Kontinuität, in der laufende Routinen vielleicht verbessert oder adaptiert, nicht aber verändert wer-den. Zersetzende (eroding) Prozesse sind demgegenüber völlig unklar oder brin-gen Unklarheit hervor. Sie sind in sich widersprüchlich und inkonsistent, wech-selhaft und instabil. Die genannten Merkmale sind jeweils sowohl auf die Qualität des Prozesses bezogen als auch auf Wirkungen, die aus dem Prozess hervorgehen (vgl. ebd.).

Roudakova (2012) unterscheidet weiterführend einen Zustand von Unbestimmt-heit (indeterminacy) von dem der Regelhaftigkeit (regularity) – im ersten Fall überwiegen die eroding, im anderen die maintaining forces. Die Balance zwi-schen zwei Kräften, ihr Spannungsverhältnis, ist in dieser Betrachtung der Schlüs-sel zum Verständnis einer spezifischen Systemlage – insbesondere zum Verständ-nis Hybrider Systeme, in denen autoritäre und demokratische Kulturen miteinan-der um Vorherrschaft konkurrieren (vgl. ebd.: 250).55

Voltmer (2012) beschreibt Hybride Systeme als „unique mix of persisting struc-tures inherent from the past alongside newly adopted elements from existing –

55 Die Unterscheidung von Unbestimmtheit und Regelhaftigkeit in einer prozessorientierten Be-

trachtung wird auch als Alternative in Stellung gebracht zu der in der Transformationsfor-schung vorherrschenden strukturfokussierten Unterscheidung demokratischer und autokrati-scher Verhältnisse (vgl. ebd.: 249).

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3 Öffentlichkeit im Kontext von Transformation, Gewalt und fragiler Staatlichkeit

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usually western – role models and, in addition, specific features born out of the desire to implement something different and better than the institutional prede-cessors.“ (Ebd.: 235) Aus dem Erbe der autoritären Vergangenheit werden be-währte Verhaltensmuster in die demokratische Gegenwart hineinverlängert, wäh-rend gleichzeitig neue Gesetze, Verfahren und Strukturen nach Anerkennung ver-langen. Der Fortbestand alter Muster findet sich dabei eher im Denken und Han-deln der beteiligten Akteure während Erneuerung sich eher auf der Ebene von Strukturen und Regeln konsolidiert. Aus der Gleichzeitigkeit beider Regimetypen entstehen Widersprüche und Konflikte, die im Alltag von den betroffenen Akteu-ren ständig bewältigt werden müssen. Rozumilowicz (2002) hatte die spannungs-reiche Überlagerung widersprüchlicher Anforderung als besondere Herausforde-rung der Secondary Stage einer politischen Transformation diskutiert; vor allem die Gefahr einer Regression in autoritäre Regierungsformen sei in dieser Situation hoch (vgl. ebd.: 21). Mit Roudakova (2012) kann man hier auch einen dynami-schen Wettbewerb zwischen Kräften der Erneuerung und rückwärtsgewandten Kräften der Bestandswahrung erkennen. Voltmer (2012) spricht dahingegen von einer „puzzling diversity of institutions and practices of public communication“ (ebd.: 233), aus der lokal adaptierte Versionen von demokratischen Öffentlich-keiten hervorgehen. In diesem Zuge müssen auch demokratierelevante Begriffe wie Pressefreiheit, Objektivität oder Unabhängigkeit unter lokalen Akteuren neu verhandelt und Deutungsprozesse an die lokalen Arbeitsbedingungen der Akteure angebunden werden. Der westlich geprägte Universalitätsanspruch dieser Be-griffe muss dekonstruiert und in lokale Varianten überführt werden. Voltmer (2010) bezeichnet gelungene Deutungsarbeit als „floating but anchored“ (ebd.: 234): ein Bedeutungskern bleibt kontextübergreifend erhalten (anchored), wäh-rend Details und Facetten von vermeintlich universalistischen Begriffen sowohl in der journalistischen Praxis als auch in anhängigen Diskursen neue Bedeutung gewinnen (floating).

Stremlau (2015) diskutiert die Entstehung hybrider Medienkulturen in Afrika als notwendige Folge einer nur unvollständig vollzogenen Ablösung der afrikani-schen Staaten aus westlicher Bevormundung. In einem Umfeld von Instabilität, fragiler Staatlichkeit und prekären Versöhnungsprozessen hatte in den 1990er Jahren das Drängen internationaler Agenturen wie Weltbank und IMF auf schnelle Liberalisierung in Ländern wie Somalia, Kenia, Kamerun und Äthiopien zu einer elementaren Spannungslage zwischen Sicherheit und Freiheit geführt.

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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Rundfunkmedien, vor allem das Radio, wurden im Nachgang der Befreiungs-kämpfe weiterhin von Warlords genutzt, um die neuen Regierungen anzugreifen und Aufruhr zu mobilisieren. Die Liberalisierung des Mediensektors kam so den Gegnern der neuen Machtverhältnisse zugute, die mit Mitteln der Medien erfolg-reich die Aufrechterhaltung bewaffneter Konflikte befeuerten. Analog zu den Be-obachtungen von Voltmer (2012) sieht Stremlau (2015) in Afrika aus der Span-nung zwischen Sicherheitsanforderungen, demokratischer Liberalisierung und Abhängigkeit von westlichen Zuwendungen politische Führungsstile entstehen, die in der Art Hybrider Systeme Elemente autokratischer Führung mit Elementen demokratischen Regierens kombinieren. Das in Ruanda, Äthiopien, Botswana und Südafrika praktizierte Development Model sieht die Medien als Partner und Unterstützer einer starken demokratischen Regierung, die sich um ökonomisch-technischen Fortschritt und gerechten Wohlstand für alle bemüht. Die Loyalität der Medien zur demokratischen Regierung wird als Engagement für den demo-kratischen Prozess etikettiert. Am Beispiel Äthiopiens zeigt Stremlau (2015) wie diese Partnerschaft auch stark repressive Züge annehmen kann.

3.3.7 Bewaffnete Konflikte als Kontext und Gegenstand der Berichterstattung

Transformation ist fast unausweichlich mit der Entstehung von (bewaffneten) Konflikten verbunden, weil politische und wirtschaftliche Machtstrukturen zu-nächst aufgebrochen und einem Prozess mehr oder weniger radikaler Neuordnung unterworfen werden. Alle sogenannten ethno-konfessionellen Konflikte im Irak sind an ihrer Wurzel Konflikte um Entzug und Aneignung von Macht und Res-sourcen. In solch einer Konfliktsituation sind Medien potenziell immer auch Werkzeug zur Durchsetzung von Sichtweisen einer Konfliktpartei gegen die an-dere. Sie werden benutzt, um die öffentliche Meinungsbildung in eine bestimmte Richtung zu bewegen, um den Gegner zu diskriminieren oder um die eigene Ver-sion der Realität in der Wahrnehmung der Leser und Zuschauer durchzusetzen.

Wie in den Kapiteln 2.3.2 und 2.3.3 bereits ausgeführt, analysiert Wolfsfeld (1997) die Interaktion zwischen Medien und Politik als Arena eines Wettbewerbs, in dem die Ausstattung der Antagonisten mit Ressourcen wie Macht und Status darüber entscheidet, wie umfangreich und im Rahmen welcher Deutungsmuster über den Konflikt berichtet wird. Dabei korreliert seiner Auffassung nach Über-legenheit im Bereich der Ressourcen mit Kontrolle über den Konfliktverlauf, so-dass hier über einen privilegierten Zugang zu Medien für die ohnehin dominanten

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Konfliktparteien deren Machtposition noch gestärkt wird. Journalisten und Me-dien stehen dabei in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander:

“Political activists and leaders rely on the press to get their message to a variety of pub-lics and the press relies on the antagonists for information and events that can be turned into news. It is this exchange of information for publicity that explains an important part of the relationship between the two systems. […] The relative power of either side – a given news medium and a given antagonist – is determined by the value of its services divided by its need for those services offered by the other. “ (Ebd.: 13f.)

Trotz dieser gegenseitigen Abhängigkeit verhalten Journalisten sich Wolfsfelds (1997) Beobachtung nach mehrheitlich nicht aktiv, sondern passiv, wenn es um die Auswahl von Ereignissen oder Themen für die Berichterstattung geht. Sie re-agieren reflexhaft auf Signale von Macht und Status, die von den Antagonisten ins Spiel gebracht werden, und lassen sich in dieser Passivität von den Konflikt-parteien benutzen (vgl. ebd.: 216).

Wolfsfeld (1997) plädiert für einen Ausstieg aus diesem Tauschgeschäft und for-dert mehr Souveränität der Medien in der Berichterstattung über bewaffnete Kon-flikte. Anzustreben wäre eine emanzipierte Berichterstattung, die sich nicht durch den strategischen Einsatz von Informationsprivilegien manipulieren lässt und die sich den oben skizzierten Machteffekten entzieht.56

Konkret untersucht Wolfsfeld (1997) unterschiedliche Verhaltensmuster von Me-dien in unterschiedlich strukturierten Konfliktsituationen und identifiziert dabei folgende Rollen:

The media as public servant: Die Regierung ist in diesem Fall Initiator und sou-veräner Steuermann eines bewaffneten Konflikts. Sie kontrolliert den Gang der Ereignisse, den Fluss der Informationen über die Ereignisse sowie auch ihre Deu-tung z.B. als Erfolg oder Niederlage, als Angriff oder Abwehr. Der Zugang zu gegnerischen Parteien ist für die Journalisten blockiert. In dieser Form der Ab-hängigkeit verschaffen die Medien durch Berichterstattung der herrschenden Par-tei weitere Machtvorteile (vgl. ebd.: 215).57

56 Die Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit von Journalisten und Regierenden benennt Wolfsfeld

(1997) als Indikator für den Grad der Emanzipation. Journalisten in der Untersuchung waren umso zufriedener, je weniger Informationen auf Seiten der Regierung monopolisiert waren, während im Gegenzug die Zufriedenheit der politischen Eliten immer dann am größten war, wenn das Informationsmonopol gesichert war (vgl. ebd.: 205).

57 Für Rozumilowicz (2002) ist jede Form der Monopolisierung als zentrale Gefahr für die Frei-heit der Medien und ihre demokratische Performanz zu verstehen. Das von Wolfsfeld (1997)

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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The news media as advocates for the weak: Zentrale Merkmale der Situation sind die Verfügbarkeit relevanter Informationen außerhalb der Regierungsinstitutio-nen und daher keine Abhängigkeit in dieser Hinsicht sowie relativ uneinge-schränkter Zugang für Medien zum Konfliktfeld und zu allen Parteien. Der Kon-flikt ist von den formal machtärmeren Herausforderern eröffnet worden, die

Authorities sind in der Defensive. Die plötzliche Medienaufmerksamkeit wird als Machtgewinn auf Seiten der Herausforderer wirksam, die vor diesem Hintergrund ihr Verhalten vollständig an die Erwartungen der Medien adaptieren.

The news media as semi-honest brokers: In diesem Fall liegt die Macht über die Steuerung der politischen Ereignisse nicht bei einer Partei, sondern verteilt sich über die am Konflikt beteiligten Parteien. Die Situation ist unklar, relevante In-formationen sind im Besitz verschiedener Akteure. Seitens der Medien wird die Regierung zwar privilegiert behandelt; gleichwohl sind die Herausforderer in an-gemessener Weise in der Berichterstattung als Quellen sowie als Vertreter politi-scher Anliegen präsent.

Bilke (2008) schließt sich Wolfsfelds Thesen zur Parteilichkeit von Medien in Kriegszeiten an. In einer umfassenden Auswertung von Inhaltsanalysen und Stu-dien zur Auslands- und Kriegsberichterstattung stellt sie fest, dass Konfliktbe-richterstattung tendenziell der Argumentation der heimischen Regierung folgt, wobei nationale und kulturelle Deutungsmuster berücksichtigt werden. Ähnlich wie Wolfsfeld (1997) geht sie davon aus, dass ein Informationsmonopol in Kom-bination mit Kontrolle der Ereignisse seitens der Regierung diese Schieflage maß-geblich herbeiführt (vgl. ebd.: 167). Die Parteilichkeit der Medien gibt sich an der Auswahl militärischer Funktionsträger als favorisierte Interviewpartner zu erken-nen, deren Darstellungen in der Folge die öffentliche Wahrnehmung dominieren. Dabei kommen vornehmlich stereotype Begründungsmuster zum Einsatz:

„Ihre Begründungen – die humanitären Motive und die Unvermeidbarkeit des Krieges – spiegeln sich in den Medien wider und führen zu seiner Legitimierung. Die Gut-Böse-Unterscheidung von Moralisierungsdiskursen, die zunehmend in der internationalen Po-litik benutzt werden, kann auch in der Berichterstattung als Analysesubstitut dienen.“ (Ebd.: 176-177)

problematisierte Informationsmonopol von politischen Akteuren als Mittel politischer Kon-trolle wäre hier auch mit Rozumilowicz (2002) als antidemokratisch einzuordnen.

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Wolfsfeld (1997) und Bilke (2008) gehen davon aus, dass die Struktur der politi-schen Situation die journalistischen Spielräume und in der Folge die Berichter-stattung determiniert. Eine bestimmte Offenheit bzw. Geschlossenheit des Feldes und eine bestimmte Strukturiertheit des Konflikts bringen einen bestimmten Ty-pus von Berichterstattung hervor – und zwar unabhängig von der politischen Aus-richtung einzelner Medienangebote. Die hier skizzierte Argumentation basiert da-mit auf der Vorstellung von Medienakteuren, die sich aus einer genuin unabhän-gigen Position heraus in Erwartung von Informationsvorteilen durch Konfliktpar-teien instrumentalisieren lassen. Wie die Ausführungen in Kapitel 3.3.2 gezeigt haben, ist das Verhältnis von Medien- zur Konfliktentwicklung in Transformati-onsländern mit fragiler Staatlichkeit aber häufig als Parallelstruktur angelegt: Die Vielfalt der (ethno-konfessionell geprägten) Interessen- und Konfliktgruppen spiegelt sich in der politischen Struktur der Medienlandschaft (vgl. Deane 2013). Medienakteure lassen sich vor diesem Hintergrund nicht im Konflikt instrumen-talisieren, sie sind a priori als Instrumente aufgestellt und damit prädestiniert, sich in dieser Rolle an der Eskalation ethno-konfessioneller Konflikte zu beteiligen. Die Angemessenheit der Argumentation von Bilke (2008) und Wolfsfeld (1997) muss also für fragile Staaten und Transformationsländer infrage gestellt und für den irakischen Fall überprüft werden.

Ob das eskalative Potenzial von Medien in der journalistischen Praxis in tatsäch-liche Eskalation verwandelt wird, hängt nach Reljic (2004) von folgenden Rah-menbedingungen ab (ebd.: 328):

• politischer Kontext: Rechtstaatlichkeit versus autoritäre Despotie; • ökonomische Bedingungen: wirtschaftliche Eigenständigkeit der Medien

versus Abhängigkeit vom Staat und Kontrolle durch den Staat; • journalistische Qualität: kritische und analytische Berichterstattung versus

Hofberichterstattung; • gesellschaftliche Werte: demokratische Traditionen versus autoritär ge-

prägtes Wertesystem.

Die Wahrscheinlichkeit, mit der Medien sich aktiv an der Eskalation von Gewalt in einer Konfliktentwicklung beteiligen, hängt dieser Konzeption nach vom Zu-sammenspiel der Rahmenbedingungen ab: Je eher der Kontext von autoritären Formen geprägt ist, desto wahrscheinlicher wird das Konfliktpotenzial der Me-dien in Phasen politischer Spannungen tatsächlich in Konflikteskalation umge-setzt.

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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3.3.8 Friedensjournalismus

Neben dem Problem parteilicher Medienstrukturen und der strukturell bedingten Parteinahme und Beteiligung von Medien an der Konfliktentwicklung werden un-ter dem kontrovers diskutierten Begriff Friedensjournalismus (oder konfliktsen-sitiver Journalismus) journalistisch geprägte Muster der Konfliktdarstellung als unbeabsichtigte Interventionen problematisiert. Im Zentrum der Kritik stehen ins-besondere holzschnittartige Vereinfachungen von komplexen Konfliktmustern zu schlicht gestrickter, womöglich ethno-konfessionell begründeter Konfrontation zweier Parteien. Weiterhin wird der unreflektierte Einsatz von stark wertenden Begriffen problematisiert, die Übernahme von ungeprüften und nicht begründeten Aussagen über die Konfliktursachen sowie die stark ausgeprägte Fokussierung der Medien auf Gewalt und Eskalation bei gleichzeitiger Nichtbeachtung von Friedensinitiativen und Fortschritten bei der Beilegung von Konflikten (vgl. Rel-jic 2004).

Als Begründer des „Friedensjournalismus“ gilt Johann Galtung, der Konfliktfor-schung mit Forschung zur Selektivität von Redaktionen bei der Auswahl von Nachrichten (Nachrichtenwerttheorie) verbindet und aus dieser Arbeit weitrei-chende Forderungen an journalistische Berichterstattung über Konflikte formu-liert. Konkret bezeichnet Galtung (1998) die existierende Praxis der Berichterstat-tung als Kriegsjournalismus (the low road), der aufgrund defizitärer Konfliktana-lyse und unreflektierter Übernahme militärischer Darstellungen zur Eskalation der Konflikte beitrage.

„The low road, dominant in the media, sees a conflict as a battle, as a sports arena or gladiator circus. The parties, usually reduced to two, are combatants in a struggle to impose their goals. The reporting model is that of a military command: who advances, who capitulates short of their goals; losses are counted in terms of numbers killed or wounded and material damage.“ (Ebd.: 96)

Friedensjournalismus (the high road) stellt demgegenüber die Transformation von Konflikt in den Mittelpunkt der journalistischen Beobachtung. Konflikt wird hier als möglicher Ausgangspunkt für Veränderung gesehen; die Konfliktlösung und die darin geborgenen Potenziale für die am Konflikt beteiligten Parteien wer-den ausgeleuchtet. Ausgangspunkt für Galtungs Konzept ist die Annahme, dass journalistische Berichterstattung – gewollt oder ungewollt – Resonanz im politi-schen Konflikt erzeugt und dass die Verantwortung für diese Resonanz nicht ab-

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gelehnt werden kann. Friedensjournalismus, im Gegensatz zur gängigen Aus-landsberichterstattung, bekennt sich zu diesem Faktum politischer Einmischung und zielt dabei auf Deeskalation: „Peace journalism tries to depolarise by showing the black and white of all sides, and to de-escalate by highlighting peace and con-flict resolution as much as violence.“ (Galtung 1998: 98)

Galtungs Kritik findet Niederschlag in einer Reihe von weiterführenden Modellen von konflikt-sensitivem Journalismus (vgl. Bilke 2008: 195). Viel Aufmerksam-keit hat in diesem Feld Jake Lynchs (2002) Konzept des Ethical Reporting erregt, das explizit und umfassend an Galtungs Konfliktanalyse und sein Konzept des Friedensjournalismus anschließt. Ethical Reporting basiert auf der These wech-selseitiger Rückkoppelungen zwischen Medien und Konflikt, die von Lynch (2002) als Feedback-Loops beschrieben werden. Der zentrale Mechanismus be-steht zunächst darin, dass die Konfliktparteien ihr Verhalten auf die Selektions-mechanismen der Medien und ihre narrativen Muster einstellen:

„Every time a reporter reports the facts, it adds another layer to the collective under-standing of how reporters are likely to report similar facts in the future. That understand-ing in turn feeds in to the actions of parties to a conflict, concerned to hold the public’s interest on their own terms and prepared to calibrate their policies in order to do so.“ (Ebd.: 11)

Die zugespitzte Fassung dieser Feedback-Routine besteht darin, dass Ereignisse für die Medien inszeniert werden – vom friedlichen Protest bis zum terroristischen Anschlag (Feedback-Loop II). Hier kommt es zur Umkehrung der Verhältnisse: Medien werden vom scheinbar unbeteiligten Beobachter zum Verursacher des-sen, was vor der Kamera geschieht, und zwar auch dort, wo Anschläge verübt werden und Menschen zu Tode kommen (vgl. ebd.: 22). Im Grunde ist die These von der doppelten Rückkoppelung eine Variante der in Kapitel 2.3.2 diskutierten Unterwerfung von Politik unter die Logik des Mediensystems. Hier wie dort wird der Versuch beschrieben, Medienaufmerksamkeit durch Inszenierung von Ereig-nissen zu steuern.

Nach Lynch (2002) hat die Rückkoppelungsthese weitreichende Folgen für die Verantwortung des Journalisten, der durch sein individuelles Verhalten gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, die Ausrichtung politischen Handelns mitsteuert. Lynch (2002) fordert die Anerkennung dieser Verantwortung unter Journalisten und damit den Abschied von der Illusion des unbeteiligten Beobach-ters. Die Ausrichtung des eigenen Handelns auf Deeskalation ist dann durch we-nige Korrekturen in der Kultur der journalistischen Beobachtung zu erreichen. Im

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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Kern geht es um die Öffnung des Blicks für bisher unbeachtete Aspekte des Kon-flikts, um Differenzierung und um den Einbezug von Kontext in den Beschrei-bungs- und Erklärungshorizont des journalistischen Beitrags.

Eine zentrale Rolle spielt für Lynch (2002) in Anlehnung an Galtung (1998) die Unterscheidung direkter, struktureller und kultureller Gewalt. Sein Argument: Die reflexhafte Fixierung der Medien auf direkte Gewalt führe durch Rückkop-pelung mit dem politischen System (Feedback Loop) zur Aufrechterhaltung der Gewalt und zum Rückgriff auf unpolitische Erklärungsmuster, die Ursachen in ethno-konfessionellen oder atavistischen Antagonismen verorten. „Framing out structural violence, as a factor helping to account for incidents of direct violence, allows ‘stock’ or background explanations to prevail by default.“ (Lynch 2002: 39) Die Verschiebung des journalistischen Blicks auf die strukturelle Gewalt als Vorläufer direkter Gewalt oder auf Proteste, die z.B. Unterdrückung und Unge-rechtigkeit adressieren, könne als Krisenprävention wirksam werden, weil die In-szenierung von Gewalt für die Erregung von Medienaufmerksamkeit in der Folge obsolet werde (vgl. ebd.: 48).

Neben der Blickverschiebung auf den strukturellen Kontext von Konflikten for-dert Lynch (2002) von den Medien mehr Aufmerksamkeit für Komplexität, was zunächst eine Korrektur der Publikumserwartungen erforderlich macht. Medien sehen ihre Aufgabe unter anderem in der Vereinfachung komplexer Sachverhalte für ein nicht sachkundiges Publikum, das von Differenzierungen schnell überfor-dert ist. Konflikte werden im Rahmen dieser Selbst- und Fremdwahrnehmung ge-meinhin als Frontalkonfrontation zweier Parteien dargestellt, deren Ziele unver-einbar sind und die im Kampf um Sieg oder Niederlage miteinander verstrickt sind. Das Konfliktmuster ist einfach: Die Konfliktparteien sind in sich homogene Interessenkörper, ihre Ziele sind eindeutig, die Konfrontation markiert. Wenn nun die Aufgabe darin bestünde, die Lupe auf eine der beiden Konfliktparteien zu richten und innerparteiliche Konflikte zu beschreiben, und würde außerdem die Aufgabe darin bestehen, den Blick gleichzeitig zu öffnen und nach weiteren am Konflikt beteiligten Interessengruppen zu fragen, so nähme ein vielschichtiges Gebilde interdependenter Parteien mit Bedürfnissen und Interessen Gestalt an – Lynch (2002) spricht hier von einem cat´s cradle, das an die Stelle eines tug of war trete (vgl. ebd.: 43). Die Konfrontation zweier Feinde wird abgelöst durch die Darstellung eines dynamischen Netzwerks von Interessengruppen, die in un-terschiedlichen Formen aufeinander bezogen sind. Disaggregation nennt Lynch

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(2002) diesen Vorgang, in dessen Folge sich ganz neue Verhandlungsoptionen und neue Möglichkeiten der Konfliktbeilegung eröffnen (vgl. ebd.: 46). Denn die Bereitschaft der Konfliktakteure, sich an Verhandlungen zu beteiligen, wächst mit der Anerkennung ihrer Existenz und ihrer Position durch Medienaufmerksamkeit. Hier greift das Prinzip der Repräsentation: Ausgrenzung von Akteuren oder Po-sitionen begünstigt Radikalisierung, während Integration die Bereitschaft zur An-erkennung bestehender gesellschaftlicher Regeln fördert (vgl. Kap. 2.3.3).

Der Einwand liegt bei all dem nahe, dass auf Seiten des Publikums weder genü-gend Vorbildung noch ausreichend Interesse vorhanden seien, um sich auf diese Form der Komplexität umzustellen. Auch Journalisten müssten, um den von Lynch (2002) formulierten Anforderungen gerecht zu werden, viel offener und tiefer als gemeinhin üblich in die politische Analyse einsteigen. Das ist mit Blick auf den Überlebenswillen der Zeitung oder des Senders, als (auch) auf die kom-merzielle Organisation in der Tendenz unrealistisch. Dennoch können die hier formulierten Forderungen an den Journalismus als Indikatoren verwendet werden, um zu verstehen, wie die eine oder andere Form der Berichterstattung den Kon-fliktverlauf verändern wird.

Abschließend soll auf die von Galtung (1998), Lynch (2002) und anderen be-klagte Ausblendung von nichtstaatlichen Friedensbemühungen in der Krisenbe-richterstattung hingewiesen werden. Bewaffnete Konflikte werden fast immer be-gleitet von Projekten, die sich auf kommunaler und privater Ebene um Dialog zwischen Angehörigen der Interessengruppen bemühen und in diesem Bemühen oft Erfolge erzielen, die wiederum auf der politischen Ebene kaum zur Kenntnis genommen werden (vgl. Lynch 2002: 48). Mehr Interesse auf Seiten der Medien für diese Art von Konfliktüberwindung würde den Verhandlungen und der Frie-densoption auch auf offizieller Ebene Auftrieb geben.

Während die bisher diskutierten Ansätze von Galtung (1998), Lynch (2002), Bilke (2008) und Wolfsfeld (1997) um das Eskalationspotenzial und nicht inten-dierte Kollateralschäden journalistischer Arbeit kreisen, sehen Price et al. (2010) für Medien auch eine aktive Rolle im Friedensprozess. Unter anderem wird hier vorgeschlagen, massenmediale Foren als Orte der Vermittlung zwischen Kon-fliktparteien zu nutzen. Konkret fragen die Autoren danach, wie Medien beste-hende Dialoge aufgreifen und im Rahmen der massenmedialen Möglichkeiten verstärken können (vgl. ebd.: 222). Naheliegend wäre in diesem Kontext die Nut-

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3.3 Die Rolle der Medien in der Transformation

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zung von Talkformaten für den Schlagabtausch zwischen Vertretern von Kon-fliktparteien. Price et al. (2010) gehen so weit, irakischen Medien einen Dialog zwischen Insurgents und Governement anzuraten (vgl. ebd.). Dieser Vorschlag mag utopisch anmuten, doch da der Talk im Rundfunk ohnehin tagein, tagaus praktiziert wird, geht es letztlich nur um Nuancen bei der Auswahl von Themen und Akteuren. Im Grunde schaffen Price et al. (2010) hier einen Anschluss an Mouffes (2007) Forderung nach kommunikations-politischen Taktiken für die Überführung antagonistischer in agonistische Beziehungen (vgl. Kap. 2.2.2): Je heftiger in der Öffentlichkeit über Politik gestritten wird, desto geringer ist die Notwendigkeit, auf Gewalt als Kommunikationsform zurückzugreifen (vgl. ebd: 30).

Deane (2013) sieht für die Medien eine zentrale Aufgabe darin, sich in Gegenbe-wegung zur konflikthaften Spaltung der Gesellschaft an der diskursiven Konsoli-dierung einer Shared Identity zu beteiligen (vgl. ebd.: 21). Dies setze eine kom-plexe und dezentral organisierte Medienlandschaft voraus, in der die verschiede-nen Gruppen, Lager und Konfliktparteien Gelegenheit zur freien Artikulation fin-den (vgl. ebd.).58 Zugrunde liegt hier eine Einordnung von Repräsentation als in-tegrativ wirkender Mechanismus, denn Gesellschaft ist nicht Gegenstand von Pri-märerfahrungen, sondern ein über die Medien hergestellter Erfahrungshorizont – dem man entweder angehört oder eben nicht, wie auch Vlasic (2004) bemerkt:

„Indem das Individuum sich bzw. seine Einstellungen, seine Meinungen oder ganz ge-nerell seine Lebenshaltung in den Medienangeboten wiederfindet, kann es sich selbst als Teil dieser Gesellschaft wahrnehmen.“ (Ebd.: 74)

Entsprechend sieht Deane (2013) auch speziell den öffentlich-rechtlichen Rund-funk in der Verantwortung, im Rahmen des gemeinwohldienlichen Auftrags die Kohäsion einer fragmentierten Gesellschaft durch eine breit gefächerte Repräsen-tation von Minderheiten im Programm zu festigen (vgl. ebd.: 22).59

Zweitens zielt der öffentliche Streit zwar auf die Klärung, mithin Zuspitzung, geg-nerischer Positionen; er verweist aber durch die Faktizität der geordneten Inter-aktion immer auch auf gemeinsame Werte, wie Mouffe (2007) und auch Fraenkel (1969) betonen, denn das der öffentlichen Debatte zugrundeliegende Regelwerk

58 Deane (2013) grenzt sich hier gegen den Vorschlag ab, das konflikteskalative Potenzial von

Medien in fragilen Staaten durch repressive Medienpolitik einzudämmen (vgl. Kap. 3.3.3). 59 Vgl. Kapitel 2.3.4 zum gemeinwohldienlichen Mandat des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

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3 Öffentlichkeit im Kontext von Transformation, Gewalt und fragiler Staatlichkeit

98

findet schon im Moment des öffentlichen Redens Anerkennung von allen Betei-ligten. Abgesehen davon bringt das politische Streitgespräch fast zwingend auch explizit Knotenpunkte der Einigkeit hervor (z.B. das Streben nach Frieden), an denen gemeinsame Werte als Ansatzpunkte einer Shared Identity greifbar werden.

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4 Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen

In den Kapiteln 2 und 3 sind bisher theoretische Grundlagen zu verschiedenen Funktionen von Medien in einer demokratischen Gesellschaft und zum Verhältnis von Medien- und Konfliktentwicklung im Kontext von Transformationsprozessen diskutiert worden. Abschließend werden im vorliegenden Kapitel 4 die wichtigs-ten Elemente dieser theoretischen Einrahmung zusammengefasst.

Informationsfunktion

Die Bereitstellung von Informationen für die Bürger und Wähler gilt unumstritten als grundlegendste Aufgabe des Mediensystems in einer demokratischen Gesell-schaft – ungeachtet der Unterschiede zwischen den in Kapitel 2.2 skizzierten de-mokratietheoretischen Strömungen. Die demokratische Idee vom Wähler als Sou-verän basiert auf der Annahme eines informierten Bürgers, der Politik beobachtet und dem genügend Informationen zur Verfügung stehen, um sich ein Urteil zu politischen Fragen zu bilden. Aus normativer Sicht ist es deshalb Aufgabe der Medien, politisch und sozial relevante Themen aufgrund ihrer Bedeutsamkeit für die Gesellschaft und unabhängig von ihren kommerziellen oder anderweitigen Ei-genschaften aufzugreifen und zur Diskussion zu stellen. Die Thematisierungs-funktion ist in dieser Sichtweise Bestandteil der Informationsfunktion.

Als Gütekriterien für die Beurteilung von Informationsqualität waren in Kapitel 2.3.1 Vielfalt, Vollständigkeit, Richtigkeit und Relevanz entwickelt und die iraki-sche Adaption dieser Kriterien mit dem Professional Code of Conduct for the Iraqi Media als Qualitätsmaßstab in die Überlegungen einbezogen worden. Die Analyse von Vielfalt an Perspektiven, Positionen und Meinungen in der (Kon-flikt-)Berichterstattung hat mit Blick auf die Parteilichkeit der irakischen Medi-enlandschaft einen besonderen Stellenwert in der vorliegenden Arbeit. Aber auch der Umfang von Informationsanteilen im Programm und die Auswahl von The-men für die Nachrichten irakischer TV-und Radiosender ist im empirischen Teil der Arbeit Gegenstand der Untersuchung.

Politische Kommunikation

Mit dem Modell der elitären Demokratie wurde in Kapitel 2.2.1 ein Ansatz vor-gestellt, in dem die Wahl von Regierung und Parlament sowie der öffentliche

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019A. Wollenberg, Medien und Demokratie im Irak, Studies in International,Transnational and Global Communications,https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6_4

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4 Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen

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Wettbewerb der zur Wahl stehenden Akteure als Schlüsselmechanismen demo-kratischer Verfahren gelten. Das politische Geschäft wird in diesem Modell den dafür qualifizierten Eliten überlassen; eine Teilhabe der Zivilgesellschaft an poli-tischen Debatten und Entscheidungen ist nur in engen Grenzen erwünscht. Die Schlüsselfunktion der Medien besteht darin, als Diskursraum für den Wettbewerb der Parteien zu fungieren und darüber hinaus die politische Kommunikation der Parteien generell – und speziell die der Regierung – in den Massenmedien zu er-möglichen und für die Mediennutzer aufzubereiten.

Mit Beierwaltes (2002) ist in diesem Zusammenhang Publizität als zentrale Di-mension politischer Kommunikation herausgearbeitet worden: Im Modus der Publizität erklären und begründen die Regierenden gegenüber den Regierten po-litische Entscheidungen und Vorhaben und schaffen damit eine wichtige Infor-mationsgrundlage für die Beurteilung der Regierungsarbeit auf Seiten der Wähler. Die Aufgabe der Medien besteht sowohl in der Aufbereitung, Kontextualisierung und Kommentierung der Regierungskommunikation als auch darin, Rechtferti-gung für politische Entscheidungen von den Regierenden einzufordern. Als Er-füllungsvoraussetzung gilt relative Autonomie der Redakteure und Journalisten in den Medienhäusern von externer Einflussnahme (Kap. 2.3.2). Eine Sonderstel-lung nimmt das von Forst (2011) formulierte Recht auf Rechtfertigung ein, das, grob gesprochen, auf die Pflicht der Regierenden verweist, ihre Entscheidungen mit Blick auf alle davon Betroffenen öffentlich zu begründen. Beierwaltes (2002) bezeichnet den öffentlichen Vollzug von Politik als „zentrales Charakteristikum des demokratischen Verfassungsstaates“ (ebd.: 43).

Für die Analyse und Bewertung von Medieninhalten im Bereich der politischen Kommunikation sind politische Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Publizität voneinander zu unterscheiden. Während Werbung und Öffentlichkeitsarbeit der politischen Parteien auf die Beeinflussung von Meinungsbildung in der Gesell-schaft abzielt ist die Publizität als Informationspflicht zu begreifen, der die Re-gierenden als Teil demokratischer Verfahren nachkommen müssen – auch wenn dies im Einzelfall dem Interesse nach Popularität und Machterhalt der Akteure zuwiderläuft (Kap. 2.3.2).

Die Unterwerfung politischer Akteure und Positionen unter die Kriterien der Me-dientauglichkeit ist Gegenstand von Kritik speziell im Kontext kapitalismuskriti-scher Debatten. In der Kultur einer mediatisierten Politik würden gemeinwohl-dienliche Ideale durch machtpolitische Reichweiten- und Popularitätsinteressen

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4 Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen

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verdrängt – so die Kritik im Kern. Gefordert wird eine Trennung von Politik und Medien sowie eine Rückbesinnung auf die notwendige Unabhängigkeit beider Systeme, die jeweils unersetzliche Funktionen für die demokratische Gesellschaft erfüllen. Auch wenn die problematische Verstrickung von Politik und Medien in der Literatur als westlich-kapitalistisches Phänomen erscheint, soll in der vorlie-genden Arbeit auch der Frage nachgegangen werden, wie die beiden Systeme im Irak zueinander stehen und ob Liberalisierung und Privatisierung des Mediensek-tors ähnliche oder andere Formen der Grenzüberschreitung mit sich bringen.

Partizipation

Im Rahmen der Rekonstruktion grundlegender Verfahren und Prinzipien der De-mokratie wurde Teilhabe der Bürger am politischen Prozess als Schlüsselfunktion von Medien in einer demokratischen Gesellschaft identifiziert. Aus der Perspek-tive unterschiedlicher demokratietheoretischer Strömungen wird der Stellenwert von Partizipation und damit die Bedeutsamkeit dieser Aufgabe für den Medien-sektor allerdings unterschiedlich gewichtet – das ist in Kapitel 2.2.3 vereinfacht durch die Gegenüberstellung maximalistischer und minimalistischer Ansätze deutlich gemacht worden. In einem elitären Demokratiemodell ist Partizipation zweitrangig gegenüber dem Wettbewerb der Parteien in den Medien, während partizipative Ansätze die Teilhabe der Bürger am politischen Prozess als norma-tive Aufgabe für die Medien priorisieren. Für eine differenzierte Betrachtung von Partizipation im Mediensektor im Rahmen maximalistischer Demokratievorstel-lungen sind mit Habermas (1998), Neidhardt und Gerhards (1990), Imhof (2006) sowie Carpentier (2011) die zentralen Modelle von Öffentlichkeit aufbereitet worden.

Habermas (1998) sieht die Öffentlichkeit als Resonanzraum von Themen, die ih-ren Ursprung in der privaten Lebenswelt haben und über die Zivilgesellschaft in das Licht der Öffentlichkeit verschoben und dort zum Gegenstand politischer De-batten werden (vgl. Kap. 2.2.2 und 2.3.3). Grundsätzlich ist eine Dominanz zivil-gesellschaftlicher Akteure und Themen im Mediensektor aus dieser Sicht anzu-streben und gegen die ressourcenbedingte Übermacht politischer Interessengrup-pen zu verteidigen. Eine solche Zielstellung korrespondiert auf legislativer und auf Verfassungsebene mit einem robust angelegten Schutz von Presse- und Ver-sammlungsfreiheit.

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Gesellschaftliche Krisen begünstigen nach Habermas (1998) die Verschiebung der Medienaufmerksamkeit auf Themen der Zivilgesellschaft in der Form, dass eine „sonst latent bleibende Gesetzmäßigkeit in Kraft tritt, die in der Binnenstruk-tur jeder Öffentlichkeit angelegt ist [...]: daß die Spieler in der Arena ihren Einfluß der Zustimmung der Galerie verdanken“ (ebd.: 461f.). Meinungs- und Versamm-lungsfreiheit befördern aus seiner Sicht eine wünschenswerte Dominanz von zi-vilgesellschaftlichen Akteuren gegenüber Parteien und Agenturen in der Öffent-lichkeit, sodass Themen von gesellschaftlicher Relevanz in den Vordergrund tre-ten können (vgl. ebd.: 445).

An der Responsivität des Mediensystems für Impulse aus der Zivilgesellschaft bemisst sich im Rahmen dieser Konzeption der Entwicklungsstand demokrati-scher Verhältnisse: Wie aufmerksam sind die Medien für die Anliegen und Le-benslagen der Bürger? Welchen Niederschlag findet diese Aufmerksamkeit in den Medieninhalten? Im empirischen Teil wird deswegen auch der partizipative An-teil von Öffentlichkeit an der Präsenz bürgernaher Themen und Akteure bemes-sen. Teilhabe der Bürger an der öffentlichen Debatte über Politik ist bei Habermas (1998) auch deswegen essentiell für die Demokratie, weil der Bürger sich darin als souveräner Wähler einer demokratischen Regierung qualifiziert (Kap. 2.2.2).

Im systemtheoretisch geprägten Arenamodell von Neidhardt und Gerhards (1990) wird die Tuchfühlung des Mediensystems für das Geschehen in den umgebenden Versammlungs- und Encounteröffentlichkeiten als Gradmesser für die Funktio-nalität der Massenmedien in einer Demokratie in Stellung gebracht. Dies gilt ins-besondere für das Verhältnis der Massenmedien zur Versammlungsöffentlichkeit, die – im Unterschied zu den spontanen, semi-privaten Encounteröffentlichkeiten – Strukturen für meinungsbildende Diskurse und für die Generalisierung von In-teressen aufweist. Die Mobilität von Themen zwischen Zivilgesellschaft, Öffent-lichkeit und Politik-Agenda ist auch hier ein wichtiger Indikator für die Leben-digkeit demokratischer Verhältnisse in einem Staat. Die Offenheit des Medien-systems im Sinne der Partizipation zeigt sich im Arenamodell, anders als bei Ha-bermas (1998), an der Vielfalt von Meinungen und Positionen, die in der Öffent-lichkeit kursieren (Kap. 2.3.3).

Mit Carpentier (2011) wurde der demokratische Anspruch auf Partizipation er-weitert um strukturelle Aspekte, die Besitz von Produktionsmitteln und Teilhabe an Entscheidungsprozessen im Produktionsprozess betreffen. Hier wäre Teilhabe nicht daran zu bemessen, welche Themen in der Öffentlichkeit kursieren, sondern

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wer über den Ein- und Ausschluss von Themen entscheidet, bzw. wie diese Form der Teilhabe organisiert ist (vgl. Kap. 2.3.3). Die Verschlossenheit des Medien-systems gibt sich hier an Monopolbildung zu erkennen, während eine breite Streu-ung der Besitzverhältnisse über verschiedene Schichten und Segmente der Ge-sellschaft auf offene Strukturen verweist.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk

Sowohl Demokratie als auch Demokratisierung und Transformation stellen au-ßerordentliche Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Mediensystems – dies haben die Ausführungen in Kapitel 2.3 deutlich gemacht. Die Diskussion über Mediatisierung von Politik hat ebenfalls deutlich gemacht, dass private Me-dien die notwendigen Leistungen auf der Basis ihrer genuin kommerziellen Mo-tive nur eingeschränkt erbringen (können). Im Gegensatz und in Ergänzung zu den Anbietern im privaten Mediensektor hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Aufgabe, die Grundversorgung der Bürger mit Informationen sowie die Erfül-lung demokratischer Basisfunktionen im Mediensystem abzusichern. In Kapitel 2.3.4 waren die Integrationsfunktion, die Forumsfunktion, die Vorbildfunktion sowie die Komplementär- und Garantiefunktion als Entsprechungen dieses ge-meinwohldienlichen Mandats genannt worden. Für Transformationsländer und fragile Staaten wäre die Repräsentation von Minderheiteninteressen und gesell-schaftlicher Vielfalt sowie die Absicherung der Meinungsvielfalt als mögliche Strategien der Konfliktprävention oder -bewältigung hervorzuheben. Ein öffent-lich-rechtlicher Sektor ohne Eigeninteressen im Konflikt kann hier als ausglei-chendes Gegengewicht zur üblicherweise polarisierten Berichterstattung in den privaten Medien wirksam werden. Auch die Förderung des gesellschaftlichen Zu-sammenhalts durch Verständigung und Identitätsbildung im Rahmen der Integra-tionsfunktion zielt in diese Richtung.

In einer dualen Systemarchitektur beobachtet Rozumilowicz (2002) eine komple-mentäre Aufgabenverteilung zwischen dem öffentlich-rechtlichen und dem priva-ten Mediensektor: Der private Sektor ist ihrer Analyse nach vor allem als Arena für den politischen Wettbewerb geeignet – dies schon aufgrund des kommerziel-len und damit wettbewerblichen Charakters kapitalistischen Handels. Der öffent-liche Sektor gewährleistet demgegenüber Partizipation und hier insbesondere die Ansprache und Repräsentation gesellschaftlicher Randgruppen, die ggf. vom Markt übersehen oder benachteiligt werden (vgl. ebd.: 15f.).

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4 Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen

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Öffentlichkeitstheorie in der Transformation

Die politische Situation im Irak ist gekennzeichnet von der Willkürherrschaft be-waffneter Milizen in verschiedenen Teilen des Landes, die eine elementare Ein-schränkung des staatlichen Gewaltmonopols darstellt. Auch Rechtstaatlichkeit und die Bereitstellung von öffentlichen Versorgungsdienstleistungen sind keines-wegs garantiert. Vor diesem Hintergrund sind in Kapitel 3.2 die besonderen Merkmale fragiler und versagender Staaten sowie defizitärer Demokratien disku-tiert worden (Schneckener 2004; Merkel 2010). Fragile Staatlichkeit bedeutet demnach im Kern, dass staatliche Basisleistungen in den Bereichen Sicherheit, Wohlfahrt und Rechtstaatlichkeit nur (noch) eingeschränkt erbracht werden. De-fekte Demokratien sind demgegenüber von der Aussetzung demokratischer Me-chanismen und Verfahren gekennzeichnet: die Regierung entzieht sich der parla-mentarischen Kontrolle und übergeht Verfassung und Gesetze, Vetomächte kon-trollieren relevante Politikbereiche, Teile der Bevölkerung sind von Wahlen aus-geschlossen. Beide Konzepte sind für die Einordnung der irakischen Situation be-deutsam und werden in Kapitel 5.11 wieder aufgegriffen.

Unter Bedingungen fragiler Staatlichkeit und politischer Transformation müssen die normativen Anforderungen westlich geprägter Öffentlichkeitstheorie im Zu-sammenhang zu Anforderungen in den Risikobereichen Sicherheit und Stabilität gesehen werden – das ist in Kapitel 3.3 deutlich geworden. Medienproduzenten sind aus normativer Sicht aufgefordert, das demokratische Projekt durch Partizi-pation, Kritik und Kontrolle voranzutreiben; gleichzeitig müssen Stabilität und Sicherheit als übergeordnete Ziele systematisch in allen Belangen der öffentlichen Kommunikation berücksichtigt werden. Frieden, Versöhnung, Sicherheit und Sta-bilisierung können als politische Ziele von den Medienproduzenten im Rahmen gängiger Ethikanforderungen weder außer Acht gelassen noch sabotiert werden. Stabilisierung politischer Strukturen einerseits und die Idee demokratischer Kon-trolle durch Medien andererseits erscheinen hier als widersprüchliche Aufgaben, da die im demokratischen Prozess notwendige Liberalisierung des Mediensektors fast zwangsläufig die Reproduktion der gesellschaftlichen Konfliktmuster in Me-dienlandschaft und Öffentlichkeit mit sich bringt. Durch die enge Verstrickung von Medien und (Konflikt-)Parteien werden Mechanismen der gegenseitigen Verstärkung in Gang gebracht, die nicht Stabilisierung, sondern Verschärfung von Konflikten befördern – so die These der Liberalisierungsskeptiker (vgl. Kap. 3.3.2).

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Auch in den besonderen Merkmalen hybrider Staatlichkeit (und deren Nieder-schlag im Mediensektor) spiegeln sich die Widersprüche, die aus dem Wettbe-werb zwischen Sicherheit/Stabilität und demokratischer Öffnung hervorgehen (vgl. Voltmer 2010). Der Fortbestand autoritärer Verhaltensmuster aus der Ver-gangenheit kann sich konsolidieren, weil diese Verhaltensmuster mit der Gewähr-leistung von Kontrolle und Sicherheit in einem ansonsten von Instabilität und Ri-siken geprägten Umfeld der demokratischen Erneuerung assoziiert werden (vgl. Kap. 3.3.6).

Die Medienproduzenten müssen dieses Dilemma im Alltag bewältigen und auch für die Theoriebildung stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese Meta-Anforderungen zu den Funktionsdimensionen der Öffentlichkeit stehen. Voltmer (2010) sieht in einer lokal organisierten Aushandlung neuer Begriffsbedeutungen einen produktiven Lösungsansatz für die Überwindung der im Hybriden angeleg-ten Dilemmata. Vermeintlich universalistische Begriffe wie Unabhängigkeit der Medien, journalistische Objektivität und Pressefreiheit sollten einem Prozess der sozialen (De-) Konstruktion unterzogen werden, in dem fragile Staatlichkeit als politischer und kultureller Kontext der journalistischen Arbeit Berücksichtigung findet (vgl. Kap. 3.3.6).

Der konservative Flügel der Transformationsforscher plädiert dagegen für eine Vorrangstellung minimalistischer Demokratie in der Phase der Konsolidierung (vgl. Kap. 3.3.3). Übermäßige Mobilisierung, polarisierte Debatten und eine (zu) weitgehende Partizipation der Bürger gefährden den Konsolidierungsprozess und verwehren den frisch entstehenden Strukturen Grundlagen einer möglichen Fes-tigung. Es wurde in diesem Zusammenhang auch die Notwendigkeit formuliert, den Start der neu gewählten Regierungen nicht mit übermäßiger Kritik und inves-tigativen Recherchen oder Enthüllungen zu erschweren; eine unterstützende und die Legitimität der Regierung stärkende Form der journalistischen Praxis wird durch McConnell und Becker (2002) als transformationsfördernd bewertet (vgl. Kap. 3.3.3). Die Kritik und Kontrollfunktion der Medien rückt zugunsten einer kooperativen Haltung unter Medienschaffenden aus dieser Perspektive in den Hintergrund (vgl. Kap. 3.3.4). Aus Sicht der in Kapitel 2.3 ausgearbeiteten Öf-fentlichkeitstheorie erscheint aber eine andere Schlussfolgerung überzeugender. In der Auseinandersetzung mit Habermas (1998) und Imhof (2006) wurde deut-lich gemacht, dass die Legitimität der Regierung nicht aus einer wohlmeinenden Aussetzung von Kritik, sondern vor allem aus dem konstruktiven Umgang mit

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4 Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen

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Kritik auf Seiten der Kritisierten resultiert. Responsivität wird hier als Quelle der Legitimität gesehen (vgl. Kap. 2.3). Kurzfristig können über eine affirmative Journalismuskultur vielleicht oberflächlich Stabilitätseffekte erzielt werden. Langfristig wird aber eine Regierung, die keine Gelegenheit erhält, sich mit kriti-schen Bürgern und investigativen Journalisten auseinanderzusetzen, keinen Nähr-boden für Legitimität finden. Die Angst vor Kritik und die Diskreditierung kriti-scher Stimmen wäre aus dieser Sicht kontraproduktiv für das Ziel der Stabilisie-rung. Coronel (2010) sieht deswegen Kritik und Kontrolle als wichtigste Funktion von Medien, gerade in Zeiten der Konsolidierung, weil in dieser Phase Korruption und Machtmissbrauch ansonsten normalisiert werden – Praktiken also, die lang-fristig die politischen Eliten in den Augen der Regierten diskreditieren (vgl. Kap. 3.3.4).

Die Durchlässigkeit der verschiedenen Ebenen von Öffentlichkeit war in Kapitel 2.3 als Garant für die Integrität demokratischer Verhältnisse und mit Verweis auf Hroub (2011) und Hafez (2004) in Kapitel 3.3.5 als Katalysator für politischen Wandel diskutiert worden. Für die Konsolidierung demokratischer Verhältnisse und damit für den Erfolg der Transformation erhält Durchlässigkeit hier mit Blick auf die Anforderungen der Transformation eine neue Bedeutung als stabilisieren-der Faktor. Eine Regierung, die ihr eigenes Agenda-Setting an den in der Öffent-lichkeit aufscheinenden Themenschwerpunkten und Positionen orientiert, die also offen und aufmerksam das Geschehen der Öffentlichkeit beobachtet, würde in genau dieser Haltung ständig Legitimität reproduzieren. Eine Regierung, die auf die Turbulenz öffentlicher Debatten mit Abwehr und Repression reagiert, lässt diese Chance ungenutzt.

Als zweite Quelle der Instabilität wurden polarisiert-pluralistische Medienstruk-turen identifiziert, die in Zeiten politischer Anspannung zum Antrieb gesellschaft-licher Desintegration und ethno-konfessioneller Fragmentierung, mithin zur Es-kalation bewaffneter Konflikte beitragen (vgl. Kap. 3.3.2). Aus der Koinzidenz ungebremster Liberalisierung in der Phase der Demokratisierung und einem zeit-gleich beginnenden Wahlkampf entstehen im Demokratisierungsprozess typi-scherweise polarisiert-pluralistische Mediensysteme. Aus Sicht von Habermas (1998) wäre hier die strategische Orientierung der Akteure zu beklagen: die Me-dienanbieter sind parteilichen Strömungen und deren Machtinteressen unterwor-fen. Gleichzeitig ist aber die polarisiert-pluralistische Öffentlichkeit nicht allein

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von Parteilichkeit, sondern auch vor allem von Vielfalt geprägt – Vielfalt der Min-derheiten, Vielfalt der parteilichen Strömungen, Vielfalt der Themen und Mei-nungen. Wenn man mit Carpentier (2011) die Offenheit eines Mediensystems an der Verteilung von Besitzverhältnissen bewertet, erscheinen polarisiert-pluralis-tische Strukturen – sofern keine Monopolbildungen zu erkennen sind – als offen (vgl. Kap. 2.3.3). Sieht man mit Imhof (2006) die Repräsentation von Minderhei-ten als Voraussetzung für die Kohäsion der Gesellschaft, dann rücken integrative Wirkungen in den Vordergrund der Bewertung solcher Strukturen: auch eine frag-mentierte Medienlandschaft kann sich aus dieser Sicht positiv auf die Kohäsion der Gesellschaft auswirken. Imhof (2006) sieht zusätzlich in dem Gelingen plura-listischer Repräsentation Loyalitätseffekte, denn wer in der Öffentlichkeit mit sei-ner Gruppe repräsentiert ist, fühlt sich auch von der Regierung gesehen. Desin-tegrative Wirkungen gehen in dieser Auffassung nicht von polarisierten Struktu-ren aus, sondern entstehen durch den Ausschluss von Minderheiten und politi-schen Strömungen, die sich von der Regierung ignoriert und der Gemeinschaft nicht zugehörig fühlen. Ausschluss erzeugt Risiken für den Zusammenhalt der Gesellschaft und wird als Antrieb für Abspaltung und Radikalisierung wirksam. Ausschluss wäre für eine Theoriebildung zur Öffentlichkeit in ethno-konfessio-nell fragmentierten Gesellschaften im Kontext fragiler Staatlichkeit entsprechend als Problem in den Vordergrund zu verschieben. Gleichsam müsste untersucht werden, unter welchen Umständen die desintegrative Wirkung polarisiert-plura-listischer Strukturen virulent wird. Hier gibt Hafez (2014) erste Antworten mit dem Hinweis auf die öffentliche Diskreditierung politischer Gegner als nicht-le-gitime Akteure im politischen Feld (vgl. Kap. 3.3.2). Daraus kann die These for-muliert werden, dass die desintegrative Wirkung polarisiert-pluralistischer Struk-turen vor allem im Zusammenhang mit hegemonialen Ansprüchen zum Tragen kommt.

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5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure

Im vorliegenden Kapitel 5 werden die wichtigsten Ereignisse in der politischen Entwicklung nach dem Regimesturz im April 2003 rekonstruiert. Dabei stehen politische Konflikte, die Entwicklung der Parteienlandschaft, die wirtschaftliche Lage, Minderheiten und die Genese der sunnitisch geprägten Aufstandsbewegung sowie al-Qaida im Mittelpunkt der Betrachtung. Zuvor werden die wichtigsten Stationen der Landesgeschichte seit Staatsgründung 1921 kurz skizziert.

5.1 Von der Staatsgründung bis zum Sturz des Baath-Regimes 2003

Im November 1914, einen Tag nach Beginn des ersten Weltkrieges, starteten bri-tische Truppen einen mehrere Jahre dauernden Feldzug im damals osmanischen Mesopotamien, im Zuge dessen die drei Provinzen Bagdad, Mosul und Basra un-ter britische Herrschaft gebracht wurden. Nach diesem Zusammenschluss wurde die Region Mesopotamien bis in das Jahr 1920 von britischen Beamten mit Un-terstützung einheimischer Berater als Mandatsgebiet verwaltet und regiert. Da sich die Direktherrschaft der britischen Verwaltungsbeamten bald als zunehmend kostspielig und gleichzeitig riskant erwies, entschied der damalige Kolonialmi-nister Winston Churchill im Jahr 1921, eine irakische Regierung zu installieren, die von britischen Beratern unterstützt würde, anstatt, wie bisher, irakische Bera-ter zu beschäftigen, die eine britische Regierung unterstützten. Als König der nun-mehr konstitutionellen Monarchie wurde der haschemitische Prinz Faisal Ibn al-Husain berufen, der das Land bis zu seinem Tod 1933 regierte (vgl. Farouk-Slug-lett und Sluglett 1991: 19-21). Die Einsetzung al-Husains als König markiert den Beginn einer machtpolitischen Schieflage – ein sunnitischer Clan regiert ein mehrheitlich von Schiiten bevölkertes Land –, auf die sich viele der nach 2003 aufbrechenden Konflikte um Neuverteilung von politischer Macht und Wohlstand zurückführen lassen. Weil militärische Führungseliten traditionell von Sunniten dominiert wurden, entsprach diese Entscheidung seinerzeit den Herrschaftsinte-ressen der Briten, die in erster Linie an der Kontrolle und Ausbeutung der iraki-schen Ölvorkommen interessiert waren.

Irak blieb bis 1958 eine typische koloniale oder halbkoloniale Ökonomie. 1953 war industrielle Produktion wirtschaftlich mit weniger als 8 % kaum bedeutend, während das Einkommen aus Erdöl 49,3 % des Volkseinkommens ausmachte.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019A. Wollenberg, Medien und Demokratie im Irak, Studies in International,Transnational and Global Communications,https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6_5

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5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure

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Fördermengen und Ölpreise wurden von der britischen Iraq Petroleum Company diktiert (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 46f.).

Die Monarchie wurde 1958 durch einen Militärputsch unter Führung von General Abdel Karim Qasim zerschlagen. Dem Putsch war eine erste Phase der Industria-lisierung vorangegangen, in der auch eine Arbeiterklasse Gestalt angenommen hatte, die sich alsbald, unter informeller Führung der Irakischen Kommunisti-schen Partei (IKP) in Gewerkschaften zu organisieren begann.60 Unzufriedenheit über niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit und schlechte Lebensbedingungen entluden sich zunehmend in öffentlichen Protesten und brachten eine erstarkende Arbeiter-bewegung hervor (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 49-56). Die letzten Jahre der Monarchie waren gekennzeichnet von Unruhen, Streiks und Protesten der Arbeiterbewegung im Schulterschluss mit der kommunistischen Partei und der gleichsam systematischen Unterdrückung jeglicher Kritik durch Militär und Polizei. Alle regierungskritischen Zeitungen und alle oppositionellen Parteien wurden verboten. Unzählige Kommunisten wurden in Gefängnisse verbracht (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 49-56; Fürtig 2016: 45-60).

Innerhalb des Militärs entstand in dieser Zeit eine geheime Widerstandsorganisa-tion, die sogenannten Freien Offiziere, die schließlich im Juli 1958 den Staats-streich wagten und die Monarchie abschafften (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 56-57). Regierungschef wurde General Abdel Karim Qasim, der, um den Rückhalt in der Bevölkerung für die neue Regierung zu stärken, die kommunisti-sche Partei IKP als Bündnispartner an seine Seite holte (ohne jedoch echte Regie-rungsbeteiligung zu gewähren).

Aufstieg und Machtergreifung der Baath-Partei

Nationalistische Parteien und die Baathisten wurden in dieser Zeit zum Kern der Opposition gegen die IKP und gegen die neue Regierung, die als Marionette der mächtigen Kommunisten angesehen wurde (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 66). Das programmatische Profil der damaligen Baath-Partei zentrierte sich um die Verfolgung und Durchsetzung panarabischer Ziele und damit auch um die Aufhebung der bestehenden Staatsgrenzen, die den Baathisten als Manifestation einer imperialistischen Aufspaltung des arabischen Volkes und des arabischen Territoriums in fremdgesteuerte Mandatsgebiete galten (vgl. Fürtig 2016: 51).

60 Die Gründung von Parteien war seit 1946 erlaubt. Die Führungsriege der IKP war aber wei-testgehend inhaftiert und agierte aus dem Untergrund bzw. aus dem Gefängnis heraus.

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5.1 Von der Staatsgründung bis zum Sturz des Baath-Regimes 2003

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Nach dem Vorbild des ägyptischen Präsidenten und Panarabisten Gamal Abdel Nasser sollte Irak Teil einer länderübergreifenden arabischen Nation unter Füh-rung der Baath-Partei werden. Der Islam sollte den Stellenwert als wesentliche Religion und kulturelle Identität behalten, während das Selbstverständnis der Baathisten aber im Kern von säkularen und vor allem sozialistischen Werten ge-prägt war. Die Ziele der Partei waren im damaligen Parteiprogramm mit den Schlagworten Einheit, Freiheit und Sozialismus umrissen (vgl. Fürtig 2012: 52). Die Partei verstand sich als antiimperialistisch und befürwortete neben der zent-ralistischen Steuerung des Staates kostenlose Sozial- und Gesundheitsversorgung sowie kostenlose Bildung für alle (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 101). Die Zugehörigkeit zur Partei und ihre innere Struktur waren durch familiäre Ver-bindungen geprägt, was sich beispielsweise auch an der dominanten Stellung der Alawiten in den politischen Führungskreisen um Bashar al-Assad im benachbar-ten Syrien zeigte sowie später an der Bedeutung von Stammesstrukturen in und um Tikrit für den Aufstieg des späteren Präsidenten Saddam Hussein (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 120; Fürtig 2016: 91-92).

Entstanden war die Baath-Partei 1947 in Syrien unter Führung von Generalsekre-tär Michel Aflaq. Im Irak waren Baathisten zunächst illegal aktiv, bis die Partei, nach Aufhebung des Ausnahmezustands im März 1952, auch dort offiziell tätig werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt zählte die Baath-Partei insgesamt aber kaum mehr als 500 Mitglieder (vgl. Fürtig 2016: 52).

Im Jahr 1963 war die irakische Baath-Partei eine winzige aber entschlossene Gruppe mit wenig Mitgliedern und wenig Anhängern, aber einer gut organisierten Führung, der es gelang Schlüsselfiguren in der Armee für die Idee eines Putsches zu gewinnen.61 Der amtierende Präsident Abdul Karim Qasim erkannte den Ernst der Lage nicht, wähnte sich unantastbar und wurde kurzerhand gegen den erbit-terten Widerstand seiner Gefolgsleute unter Führung von General Hassan al-Bakr gestürzt und am 9. Februar 1963 exekutiert (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 95).

Kurz nach der Machtergreifung führte die Nationalgarde der Baath-Partei einen beispiellosen Vernichtungsfeldzug gegen Kommunisten und Parteigänger Qasims. Tötungen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Attentate auf offener

61 Die Baath-Partei zählte Anfang 1963 etwa 850 Mitglieder und 15.000 Sympathisanten (vgl.

Fürtig 2016: 78).

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5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure

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Straße waren jetzt an der Tagesordnung. Irak sollte systematisch von Kommunis-ten gesäubert werden. „Da nahezu jede Familie in Bagdad betroffen war und Män-ner wie Frauen gleichermaßen malträtiert wurden, erzeugten die Aktionen der Ba-thisten ein Gefühl tiefen Abscheus, das sich bis heute bei vielen Irakis der dama-ligen Generation erhalten hat.“ (Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 98) Äquiva-lent ist auch die Reputation der Kommunisten von ihrer Haltung als unbeugsamer Gegner der Baathisten und als aufrechter Streiter für Gerechtigkeit und Volks-herrschaft geprägt. Ganz im Gegensatz zur insgesamt als korrupt geltenden Klasse der politischen Eliten haben die Kommunisten sich ihren Ruf als intellektuelle Streiter für das Richtige und Rechte bis heute erhalten können.

Die Ära der Baath-Herrschaft wurde 1963 durch einen Militärputsch und eine drei Jahre währende Präsidentschaft von Abid as-Sallam Arif unterbrochen und währte aber ansonsten 35 Jahre lang bis zum US-geführten Regimesturz 2003. Am 18. Juli 1968 wurde der Revolutionäre Kommandorat (RKR) gegründet, der fortan den eigentlichen Nukleus von Macht und Herrschaft im Irak darstellte (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 125; Fürtig 2016: 93-94).

Aufstieg und Machtergreifung Saddam Husseins

Saddam Hussein war im Oktober 1964 im Zuge der Entmachtung und Verfolgung der Baathisten als Sekretär des nichtmilitärischen Flügels der Baath-Partei ver-haftet worden und blieb zwei Jahre im Gefängnis. Nach seiner Freilassung 1966 wurde er stellvertretender Generalsekretär der Partei und 1968 stellvertretender Vorsitzender des RKR und damit zweiter Mann im Staat mit weitreichenden Ent-scheidungsbefugnissen. Sukzessive befreite er in dieser ersten Zeit den RKR von Kritikern und Konkurrenten (vgl. Schäbler 2003: 107; Fürtig 2016: 96).

Im September 1968 erließ das Regime die erste Verfassung, die den Islam zur Staatsreligion, den Sozialismus zur Volksökonomie und den von Mitgliedern der Baath-Partei besetzten RKR zum obersten gesetzgebenden und exekutiven Organ erklärte. Staat und Partei wurden auf diesem Wege miteinander verschmolzen (vgl. Fürtig 2016: 94). Anfängliche Versuche, Allianzen mit den Kurden und den Kommunisten einzufädeln, wurden von diesen aufgrund ihrer schlechten Erfah-rungen im Jahr 1963 abgelehnt. Es folgte eine weitere Phase intensiver Verfol-gung von Mitgliedern aller erdenklichen Gruppierungen wie Nasseristen, Kom-munisten, Kurden, ehemaliger Minister und anderen. Die Bakr-Regierung agierte

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völlig willkürlich gegen jeden, der sich potenziell den Machtinteressen der Partei in den Weg stellen könnte:

„Die Zeit von Herbst 1968 bis Mitte 1969 war eine völlig chaotische Zeit, in der ledig-lich die Entschlossenheit der Bath-Führung erkennbar war, diesmal um jeden Preis an der Macht zu bleiben, jegliche vorhandene oder potentielle Opposition zu zerschlagen, sich selbst in den Schlüsselpositionen einzunisten und den Parteiapparat als Kontrol-linstrument auszubauen.“ (Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 131)

Es wurde ein Revolutionsgericht für Verfahren gegen Volksfeinde eingerichtet, das allein im Jahr 1969 53 Personen wegen Spionage und Verrat zum Tode ver-urteilte (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 133). Ende der 1970er Jahre be-lief sich die Zahl der öffentlichen Hinrichtungen durch den RKR auf 86 (vgl. Schäbler 2003: 107).

In dem enormen Ausmaß an Gewalt und Unterdrückung spiegelte sich auch der fehlende Rückhalt der Partei in der Bevölkerung. Die Baath-Partei war ja zum Zeitpunkt der Machtübernahme relativ unbedeutend gewesen und konnte vor die-sem Hintergrund auf keine substantielle Unterstützung durch die irakischen Bür-ger zählen. Diesem Manko begegnete die Regierung mit Gewaltinszenierungen und Schreckensherrschaft (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 135). Anfang der 1970er Jahre begann die Zahl der Mitglieder zu wachsen, weil auch jegliches Fortkommen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik von der Mitgliedschaft ab-hängig gemacht wurde (vgl. Schäbler 2003: 107). Jetzt wurde die Machtbasis breiter und die Herrschaftsinstrumente zivilisierten sich.

Um die Regierung zu stabilisieren, suchte die Baath-Partei nach Bündnispartnern, die Zugang zur irakischen Bürgergesellschaft eröffnen würden. So kam es 1968 erstmals zur Eingliederung der kommunistischen Partei in die regierende Allianz der Nationalen Front unter Führung der Baath-Partei. Die Baath Partei benutzte das Bündnis dazu, ihre Macht auf die den Kommunisten nahestehenden Organi-sationen wie Gewerkschaften und Medien auszudehnen und diese schließlich zu beherrschen (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 186).

In den südlichen Städten Kerbela und Najaf begann sich in dieser Zeit Widerstand gegen die sunnitisch dominierte Zentralregierung zu formieren. Der systemati-sche Ausschluss der Schiiten aus dem politischen Geschäft und die Vetternwirt-schaft der sunnitischen Clans im Zentrum und Norden des Landes gaben den Nährboden für wachsenden Unmut im Süden (vgl. Fürtig 2006: 59). Im Norden strebten währenddessen die Kurden weiterhin nach Autonomie und schreckten in

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den Grenzgebieten zwischen der arabischen und der kurdischen Region Iraks auch vor bewaffneten Angriffen auf arabische Stellungen nicht zurück. Ein zentraler Streitpunkt zwischen den Kurden und der baathistischen Zentralregierung war schon damals der Verbleib der ölreichen Stadt Kirkuk im kurdischen oder arabi-schen Teil Iraks. Für den Fall einer bewaffneten Eskalation wussten die kurdi-schen Peshmerga den Iran als militärischen Partner an ihrer Seite. Die Baath Par-tei konnte sich die Feindschaft mit den Kurden nicht leisten und gestand ihnen im Jahr 1970 die Beteiligung an der Regierung der kurdischen Gebiete zu. Im Ge-genzug wurde nun die Baath Partei zumindest vom kurdischen Führer Masud Barzani unterstützt und die kurdischen anti-baathistischen Beziehungen zum Iran wurden ausgesetzt (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 144).

1974 endete die neu geschlossene Freundschaft mit einem Streit über das Auto-nomiegesetz, bzw. über die Ausdehnung des Territoriums der autonomen Region Kurdistan und die Beteiligung der Kurden an den nationalen Öleinnahmen. Die Streitigkeiten wurden im März 1975 durch das Abkommen von Algier beigelegt. Das Verhältnis blieb aber angespannt und der Verbleib der ölreichen Gegenden um Mosul und Kirkuk umstritten – ein Streit, der bis heute andauert (siehe Kap. 5.6).

Die Blütezeit in den 1970er Jahren

Anfang der 1970er Jahre schnellten die Staatseinnahmen im Irak infolge des Öl-preisanstiegs in Kombination mit der Verstaatlichung der Ölindustrie 1972 in die Höhe. Die von den Briten dominierte Erdölgesellschaft Iraqi Petroleum Company (IPC) hatte der irakischen Regierung bisher wenig für die Ausbeutung der Ölvor-kommen vor allem in Mosul bezahlt. Sie hatten sich überdies vertraglich absi-chern lassen, dass Irak kein eigenes Öl fördern und verkaufen würde (vgl. Schäb-ler 2003: 106). Darüber herrschte schon lange Unmut in der irakischen Gesell-schaft und als Saddam Hussein 1972 die Verstaatlichung der Ölindustrie gegen die Briten durchsetzen konnte, wurde dies als Sieg der Nation gegen die westli-chen Ausbeuter gefeiert. Die Verstaatlichung und der darauffolgende wirtschaft-liche Aufschwung schafften endlich den lang ersehnten Rückhalt für die Baath-Partei in der Bevölkerung (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 167). Im Mai 1970 waren bereits im Rahmen einer Agrarreform weite Teile der irakischen Ag-rarflächen verstaatlicht und so die Macht der Großgrundbesitzer gebrochen wor-

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den. „Die bisherige Oberschicht aus Stammesscheichs, Großgrundbesitzern, Kon-traktoren ausländischer Firmen, Großhändlern usw. sollte abgeschafft und damit der ‚Sumpf’ ausgetrocknet werden.“ (Fürtig 2016: 99)

Zwischen 1973 und 1978 verzehnfachten sich die Öleinnahmen und die Regie-rung investierte in Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungs- und Wohlfahrtswesen (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 184). Es begann eine Zeit der wirtschaft-lichen Blüte und der sozialistischen Modernisierung Iraks auf der Grundlage scheinbar grenzenloser Öleinnahmen (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 191; Fürtig 2012: 99-103). Der Anteil des Öleinkommens belief sich bald auf 87% des Staatshaushaltes. Der neue Reichtum wurde für Steuersenkungen und Lohn-erhöhungen genutzt, Grundnahrungsmittel wurden subventioniert und Mindest-löhne angehoben. Die Verfolgung sozialistischer Wohlfahrtsideale konnte erfolg-reich auch in wachsende Popularität der Baath-Partei umgesetzt werden (vgl. Schäbler 2003: 109; Fürtig 2012: 100). Auch die Stellung der Frau in der Gesell-schaft wurde gemäß der sozialistischen Doktrin verbessert. Der Zugang von Frauen zu Bildungsangeboten wurde verbessert, und durch Kinderbetreuung er-mutigte das Regime Erwerbsarbeit für Frauen (vgl. Schäbler 2003: 109).

Im Jahr 1979 trat Bakr als Vorsitzender des RKR zurück, um dem machthungri-gen Saddam Hussein seinen Platz zu überlassen. Dieser avancierte sogleich zum Präsidenten Iraks, zum Generalsekretär der Baath-Partei, zum Oberkommandie-renden der Streitkräfte und zum Vorsitzenden des RKR. Seine Machtfülle de-monstrierte er, indem er als erste Amtshandlung 60 Mitglieder des RKR als Ver-räter hinrichten ließ (vgl. Schäbler 2003: 108).

Krieg und Sanktionen

Der wirtschaftliche Aufschwung und insgesamt die positive Entwicklung der Ge-sellschaft in den 1970er Jahren wurden durch den Krieg mit dem Iran in den Jah-ren 1980-1988 zunächst gedrosselt und schließlich invertiert. Die Machtüber-nahme von Ayatollah Khomeini in Iran 1979 war auf Seiten Iraks vor allem we-gen der Allianz mit den Kurden aber auch wegen einer möglichen Unterstützung eines schiitischen Aufstands als konkrete Bedrohung wahrgenommen worden, ge-gen die Saddam Hussein glaubte, präventiv handeln zu müssen (vgl. Fürtig 2016: 121). Im November 1980 griff die irakische Armee den Iran an und fand dafür alsbald Unterstützung durch die arabischen Golfstaaten sowie später auch durch

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die USA (vgl. Schäbler 2003: 113; Fürtig 2016: 131). Aufgrund von schwerwie-genden Fehleinschätzungen der politischen Verhältnisse im Iran einerseits und der militärischen Stärke der iranischen Armee und der Revolutionswächter (Pas-daran) andererseits rechnete Saddam Hussein mit einem – maximal mehrwöchi-gen – Blitzkrieg, den ein schneller Sieg beenden würde (vgl. Fürtig 2016: 123). In der Realität folgte ein neun Jahre währender Krieg, dem allein auf irakischer Seite mehr als 200.000 Soldaten zum Opfer fielen und der auch das Ansehen der Baath-Partei stark beschädigte (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 271). Am 20. August 1988 trat ein beidseitig anerkannter Waffenstillstand auf der Basis der UNO-Sicherheitsresolution Nr. 598 in Kraft und ein Krieg, der Irak 452,6 Mrd. US-Dollar gekostet hatte, war damit beendet. Die irakischen Auslandschulden be-liefen sich zu diesem Zeitpunkt auf 80 Mrd. US-Dollar (vgl. Fürtig 2012: 133).

Ein insbesondere für die Kurden traumatisches Ereignis stellte die Bombardie-rung von Halabja am 16. März 1988 mit Giftgas durch die irakische Luftwaffe dar. 3.200-5.000 kurdische Zivilisten sind an den Folgen des Giftgasangriffs ge-storben, etwa 10.000 wurden schwer geschädigt. Halabja war zuvor von irani-schen Truppen erobert worden und die Kurden sollten auch für den mangelnden Widerstand gegen diese Besetzung und ihre vermeintliche Kollaboration mit den iranischen Truppen bestraft werden (vgl. Schäbler 2003: 113).

Ab 1983 waren die großen Entwicklungsprojekte langsam eingestellt worden und der Rückgang der Ölpreise und die Zerstörung der Infrastruktur wurden damit nun auch für die Bevölkerung als deutliche Verschlechterung der Lebensbedingungen spürbar (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 271-273). Um die Erosion des mühsam errungenen Rückhalts zu kompensieren, wurden Kontrolle, Repression und Propaganda intensiviert. Jede Form von Kritik oder Opposition wurde un-möglich gemacht und Saddam Hussein begann Mitte der 1980er Jahre, noch wäh-rend des Krieges, die Öffentlichkeit mit propagandistischen Volksreden zu über-schwemmen (vgl. Farouk-Sluglett und Sluglett 1991: 273). Kurden wurden zu Tausenden verhaftet und verschwanden teilweise spurlos, geheime Berichte von Massenexekutionen erschienen Jahre später. Repression und Verfolgung richteten sich auch explizit gegen Schiiten. Als Meilenstein in den schlechten Beziehungen zwischen der Baath-Regierung und den schiitischen Stämmen im Süden des Lan-des gilt die brutale Niederschlagung eines schiitischen Aufstandes 1991, die Zer-störung von Heiligtümern in Kerbela und Najaf durch das Militär in diesem Zuge und die vom Regime angeordnete Austrocknung riesiger Sumpfgebiete, die als

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mögliche Rückzugsorte für schiitische Regimegegner galten. Viele Massengräber wurden erst nach 2003 in dieser Gegend entdeckt.

Irak war nach dem 8-jährigen Krieg mit Iran besonders bei den arabischen Nach-barländern hoch verschuldet und die Regierung war innenpolitisch ruiniert. Gleichzeitig war der militärische Apparat über den Krieg hinaus zu einem Koloss herangewachsen, der über moderne, auch chemische Waffen und fast eine Million Soldaten in 55 Divisionen verfügte (vgl. Fürtig 2016: 136). Aus dieser doppelbö-digen Situation heraus entschied Saddam Hussein, das benachbarte Kuwait – ebenfalls Gläubiger des Irak – anzugreifen und zu annektieren. Der Angriff auf Kuwait erfolgte am 2. August 1990 und wurde – für Saddam Hussein überra-schend – von der internationalen Staatengemeinschaft sofort verurteilt (vgl. Schäbler 2003: 115). Im August 1990 erließ die UN mit der Resolution 661 ein vollständiges Handelsembargo gegen Irak, das letztlich erst 2003 wieder aufge-hoben wurde. Mit der weiteren Resolution 662 wurde die Annexion Kuwaits durch Irak für ungültig erklärt und mit der US-geführten Militäroffensive Opera-tion Wüstensturm wurde Kuwait schließlich befreit. Internationale Streitkräfte flogen in den ersten 20 Stunden der Operation 1.300 Angriffe auf Militärstandorte im Irak und zerstörten die kriegsrelevante Infrastruktur auf diesem Wege weitge-hend (vgl. Schäbler 2003: 116). Im April 1991 wurden die Bedingungen für die Aufhebung des Handelsembargos durch die Resolution 687 an die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen geknüpft. Erst eine vollständige Abrüstung würde gemäß der neuen Resolution eine Wiederaufnahme der Handelsbeziehun-gen nach sich ziehen (vgl. Sponeck 2003: 159).

Die Wirtschaftssanktionen gegen Irak waren die umfassendsten Sanktionen, die je gegen ein Land verhängt wurden (vgl. Sponeck 2003: 163). Das Embargo führte zur wirtschaftlichen Isolation des Landes und in der Folge zu einer huma-nitären Katastrophe, von der vor allem Kinder betroffen waren. Zwischen 1990 und 1993 hatte sich die Zahl der von Unterernährung betroffenen Kinder unter fünf Jahren von 102.487 auf 1.390.131 praktisch verzehnfacht und die Kinder-sterblichkeit62 hatte sich allein im ersten Halbjahr 1991 verdreifacht (vgl. Simons 1998: 127f.).63 Laut UNICEF starben im Jahr 1999 131 von 1.000 Kindern – fast

62 Kinder unter einem Jahr. 63 Genauere Daten führt Simons (1998) wie folgt auf: „The monthly average death rate (under

5) for August to December (1991) was 712; for May 1992 the figure was 3341 infant deaths. For over-5s (same period) the monthly average number of deaths increased from 1833 to 6730. Reduced birth weight was one of the factors contributing to the higher infant mortality rates.

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dreimal soviel wie noch neun Jahre zuvor – wegen Wasserverschmutzung, Unter-ernährung und fehlender Medikamente (vgl. Sponeck 2003: 165).

Ökonomisch, politisch und gesellschaftlich war Irak zur Jahrhundertwende an ei-nem Tiefpunkt seiner Geschichte angelangt. Die Verelendung der Bevölkerung und die Unterdrückung von ethno-konfessionellen Minderheiten waren weit fort-geschritten. Die politische Führung hatte sich von der Realität im Land und seinen von Krieg und Gewalt traumatisierten Bürgern isoliert. Insbesondere das Verhält-nis des sunnitisch geprägten Regimes zum schiitischen Teil der Bevölkerung und zu den Kurden war von Feindseligkeit geprägt. Dissidenten hatten ihre Heimat verlassen und waren nur noch aus dem sicheren Exil gegen das Regime aktiv. Damit sind die wesentlichen Ausgangsbedingungen skizziert, die den nach 2003 einsetzenden Prozess des State-Building und der Transformation prägen würden.

5.2 Einmarsch und Regimesturz 2003

Am 3. März 2003 wurden der irakische Präsident Saddam Hussein und seine Re-gierung von einer Allianz internationaler Truppen unter US-amerikanischer Füh-rung in Bagdad gestürzt. Dem vorangegangen waren zunächst eine ergebnislose Suche nach Massenvernichtungswaffen im Irak sowie vergebliche Bemühungen seitens der amerikanischen Regierung, den Sicherheitsrat der UN von der Not-wendigkeit einer militärischen Intervention zu überzeugen. Auch Verbindungen zwischen Saddam Hussein und al-Qaida konnten nicht nachgewiesen werden (vgl. Fürtig 2006: 49). Mit der ersatzweise formulierten Zielsetzung, Irak demo-kratisieren zu wollen, verzichtete der damals amtierende amerikanische Präsident George W. Bush schließlich auf die Legitimierung durch die UN und rekrutierte stattdessen eine Allianz der Willigen, deren Truppen über Umm Qasr in Kuwait und Basra im Süden Iraks nach Bagdad marschierten, die Hauptstadt einnahmen und die Regierung ihrer Ämter enthob. Der gesamte Einmarsch und die Zerschla-gung des Regimes erfolgten ohne nennenswerten Widerstand der irakischen Ar-mee innerhalb nur weniger Wochen. Die Besatzungsmächte setzten auf eine schnelle Demokratisierung im Irak und davon ausgehend auf Dominoeffekte in der ganzen Region (vgl. Fürtig 2011: 3ff.; Hafez 2003: 15).

Thus in 1990 a monthly average of 4,5 percent of babies was under 2.5 kg at birth; in May 1992 the percentage was 17,1.“ (Ebd.: 124).

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5.2 Einmarsch und Regimesturz 2003

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Konkrete Vorbereitungen für die politische Neuordnung des Landes nach dem Regimesturz waren bereits 2001 im Rahmen der Arbeitsgruppe Future of Iraq Project in Washington begonnen worden.64 Die Gruppe bestand aus vornehmlich schiitischen Exil-Irakern rund um die Schlüsselfigur Kanan Makiya.65 Ihr erstes und zugleich wichtigstes Arbeitsergebnis war der Verfassungsentwurf für das Transitional Adminstration Law (TAL), das nach Übernahme der Regierungs-macht im April 2003 als Übergangsverfassung in Kraft trat (vgl. Fürtig 2006: 49).

Mit der Coalition Provisional Authority (CPA) unter Zivilverwalter Paul Bremer wurde eine US-amerikanische Verwaltung installiert, die für 14 Monate zunächst allein und ab Juli 2003 in Kooperation mit dem Iraqi Governing Council (IGC) das Land regierte. Eine amerikanische Direktverwaltung war in dieser Form nicht vorgesehen, erschien aber den Amerikanern angesichts des um sich greifenden Chaos, der Plünderungen und erster Anschläge als einzige Möglichkeit, der Lage Herr zu werden – sehr zur Enttäuschung der am Regimesturz beteiligten Exil-Iraker, denen im Vorfeld der Intervention eine schnelle Übernahme der Regie-rungsmacht in Aussicht gestellt worden war (vgl. Fürtig 2011: 3).

Das entscheidende erste Jahr nach dem Regimesturz, die Arbeit der CPA und das Scheitern einer auf Integration zielenden Politik können im Rahmen der vorlie-genden Arbeit nicht im Detail rekonstruiert werden. Es sei an dieser Stelle nur auf drei zentrale Entscheidungen hingewiesen, die rückblickend als Weichenstellun-gen für die Eskalation der Konflikte wirksam wurden:

64 Das Future of Iraq Project war ein Zusammenschluss von themenspezifischen Arbeitsgrup-

pen, die zwischen 2001 und 2003 in insgesamt 33 Sitzungen für die Zeit nach dem Regi-mesturz für eine große Bandbreite verschiedener Politikbereiche Vorschläge für Reformen und deren Umsetzung erarbeitet haben. Der Prozess wurde vom US-amerikanischen State De-partment initiiert und organisiert. Als Teilnehmer wurden hauptsächlich schiitische Exil-Ira-ker sowie ergänzend Experten zu Fachthemen ausgewählt. Die Empfehlungen der Gruppe, ihre Warnungen und Vorschläge wurden in der Phase der Umsetzung weitgehend außer Acht gelassen, was insbesondere dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush harsche Kritik bescherte.

65 Kanan Makiya war einer der einflussreichsten Berater des State Department in der Vorberei-tung der Intervention. Er war bekannter Regimegegner und vehementer Befürworter der In-vasion. Makiya ist Autor des Buches Republic of Fear (1989) und gründete bereits 1992 das Iraq Research and Documentation Project (IRDP), um die repressive Politik des Regimes und des Sicherheitsapparates zu dokumentieren.

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Als Meilenstein gilt zunächst die Besetzung des IGC nach ethno-konfessionellem Proporz66, die den Boden bereitete für eine zukünftige Ausrichtung von Parteien und Wählern an ethno-konfessionellen Merkmalen – ein Prinzip, das der Idee von politischen Parteien und demokratischen Wahlen zuwiderläuft (vgl. Fürtig 2011: 4-5).

Zweitens führte der Ausschluss aller ehemaligen Mitglieder der Baath-Partei aus Führungspositionen in Politik und Wirtschaft im Rahmen der De-Baathifizierung zu einem Wissens- und Kompetenzvakuum in allen staatlichen Einrichtungen. 67 Viele der plötzlich macht- und perspektivlosen Führungskräfte schlossen sich zu-dem der sunnitisch geprägten Widerstandsbewegung an.

Drittens hatte auch die Ad-hoc-Auflösung der Armee zur Folge, dass eine große Zahl bewaffneter Soldaten in den Untergrund abwanderte, um von dort die un-willkommene Neuordnung der Verhältnisse zu bekämpfen (vgl. Fürtig 2006: 53; Dodge 2012).

5.3 Bewaffnete Konflikte und die irakische Widerstandsbewegung

In den Jahren 2003 bis 200868 wurde Irak zum Schauplatz bewaffneter Konflikte, die im Kern zwischen der irakischen Armee in Koalition mit den multinationalen Truppen auf der einen Seite und dem sunnitisch geprägten Widerstand in episo-discher Koalition mit al-Qaida auf der anderen Seite ausgetragen wurden und die zwischen April 2003 und Sommer 2008 wahrscheinlich etwa 107.000 Zivilisten das Leben gekostet haben.69 Die ethno-konfessionelle Einfärbung der Konflikte

66 Um eine gerechte Mitsprache aller irakischen Bevölkerungsanteile zu gewährleisten, wurde der IGC nach ethno-konfessionellem Proporz zusammengestellt: 13 Schiiten, fünf Sunniten, fünf Kurden, ein Turkmene und ein Assyrer gehörten dem Gremium an, das zwischen Juli 2003 und Juni 2014 gemeinsam mit der CPA Irak regierte.

67 Die Entfernung ehemaliger Baath-Mitglieder aus staatlichen Institutionen ist unter anderem Gegenstand der CPA-Order Nr. 1 mit dem Titel Debaathifictaion of Society vom Mai 2003, in der bestimmt wird, dass alle Führungskräfte mit Verbindungen zur ehemaligen Baath-Partei entlassen werden und Verbrechen aus der Saddam-Zeit unnachgiebig per Gerichtsverfahren verfolgt und Täter verurteilt werden. Vgl: http://www.iraqcoalition.org/regulati-ons/20030516_CPAORD_1_De-Ba_athification_of_Iraqi_Society_.pdf.

68 In der vorliegenden Arbeit wird auf den Zeitraum 2003-2008 Bezug genommen, weil die der Inhaltsanalyse zugrundeliegenden Daten aus dem Jahr 2008 stammen und sich die Untersu-chung insgesamt auf den Zustand der Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt bezieht.

69 Iraq Body Counts, ein Projekt des britischen Conflict Casualties Monitor (iraqbo-dycounts.org), beziffert die Zahl der zivilen Opfer im Zeitraum 2003 bis 2008 auf 105.778; die Brookings Institution (2008) nennt ca. 107.000. Am 31. Januar 2008 publizierte das New

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war dabei weniger Ursache als vielmehr Folge der Umwälzung von Machtver-hältnissen, aus denen die einstmals privilegierten Sunniten als Verlierer und die Schiiten als neue Machthaber unter amerikanischer Schirmherrschaft hervorgin-gen. Treibende Kraft des bewaffneten Widerstands war der Furor der ehemaligen Eliten über ihren Machtverlust gepaart mit der Angst vor Rache, Verfolgung und Unterdrückung (vgl. Fürtig 2011: 5; Dodge 2012: 35f.). Als Meilenstein der Es-kalation gilt die bis heute ungeklärte Zerstörung des al-Askari-Schreins in Sa-marra im Februar 2006. Dieses Ereignis wurde zum Ausgangspunkt einer Gewalt-spirale, die allein im Jahr 2006 34.000 zivile Opfer forderte (vgl. Dodge 2012: 17).

In der Aufstandsbewegung waren zum Zeitpunkt der Datenerhebung um das Jahr 2008 vor allem jihadistische mit national-islamistischen Strömungen alliiert. Ihr Vorgehen war beschränkt auf das Instrumentarium des klassischen Guerillakriegs wie Bomben- und Selbstmordattentate, Anschläge, Entführungen und gezielte Tötungen durch Scharfschützen. Steinberg (2006) betont den stark dezentralen Charakter aller beteiligten Organisationen und sieht die international aufgestellten jihadistischen Gruppen wie al-Qaida gegenüber den auf den Irak bezogenen Na-tional-Islamisten in der schwächeren Position. Er unterscheidet Ziele und Strate-gien folgender am Aufstand beteiligter Gruppen:

(1) Die Islamische Armee im Irak rekrutiert ihre vorwiegend sunnitisch-iraki-schen Mitglieder aus der ehemaligen Armee und aus der Baath-Partei. Sie gilt als stärkste Kraft der irakischen Aufstandsbewegung und propagiert national-islamis-tische Ziele im Zusammenhang mit Anschlägen und Attentaten.

(2) Die Bataillone der 1920er-Revolution referenzieren mit ihrem Namen auf einen gescheiterten Aufstand der Iraker gegen die britische Besatzung im Jahr 1920. Die Gruppe ist in ihrer Ausrichtung im Vergleich zu den anderen Organi-sationen stärker politisch aufgestellt und weniger offensiv im bewaffneten Kampf. Sie betreibt keine über Irak hinausreichende Expansion, nationalistische Ziele stehen klar im Vordergrund.

(3) Ansar al-Sunna ist als jihadistische Bewegung mit engen Verbindungen zu al-Qaida und national-islamistischen Zielstellungen einzuordnen. Die Ansar

England Journal of Medicine eine umstrittene Studie, in der die Zahl der zivilen Opfer zwi-schen März 2003 und Juni 2006 auf 151.000 beziffert wird.

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al-Sunna ist vorwiegend im Norden Iraks aktiv und zählt neben sunnitischen Ara-bern eine Vielzahl von Kurden zu ihren Mitgliedern. Ihre Stärke ist der Guerilla-krieg, ihre Aktionen richten sich gegen Ausländer und Schiiten im Irak gleicher-maßen.

(4) Al-Qaida im Irak ist die einzige Gruppierung, die sich klar zu einer inter-nationalen Ausrichtung bekennt und den Heiligen Krieg als globale Angelegen-heit betreibt. Al-Qaida konzentriert sich mit Selbstmordattentaten und Bomben-anschlägen auf die Eskalation der Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten, um das Gelingen der Transformation zu verhindern. Dabei kommen, mehr als in allen anderen Organisationen, ausländische Kämpfer zum Einsatz.

Anders als die genuin irakischen Organisationen benutzte al-Qaida Irak nur als Schauplatz für eine Abrechnung mit dem verhassten Westen. Um diesen Schau-platz zu erhalten, musste die Instabilität im Irak auf Dauer gestellt und so der Abzug der internationalen Truppen verhindert werden (vgl. Ibrahim 2011: 25). Darin besteht das Kalkül von al-Qaida im Irak, und zwar mit dramatischen Fol-gen: „Gerade die Vermengung von transnationalem ‚Glaubenskrieg‘ und Bürger-krieg trieb den Irak zwischen 2003 und 2006 […] fast ausweglos dem Staatszerfall entgegen.“ (Fürtig 2011: 6)

5.4 Wahlen und Verfassungsprozess

Trotz der stetigen Zunahme bewaffneter Gewalt wurden in den ersten fünf Jahren nach dem Fall des Regimes einige wichtige Stationen der Demokratisierung ab-solviert, namentlich Rückführung der Souveränität an den provisorischen Natio-nalrat im August 2004, Verabschiedung einer vorläufigen Verfassung, Parla-mentswahlen, Präsidentschaftswahlen sowie Verfassungsreferendum und Verab-schiedung einer neuen Verfassung (vgl. Fürtig 2011: 7; Dodge 2012).

Im Oktober 2005 wurde eine neue Verfassung per Referendum mit knapp 80 % Zustimmung verabschiedet, in der Irak als islamische, demokratische und föderal organisierte parlamentarische Republik definiert ist. Der Verfassungsprozess war von heftigen Konflikten um die föderalistische Neuordnung des Landes, die Au-tonomie der kurdischen Region und speziell um die territoriale Zuordnung von umstrittenen Gebieten an der Grenze zu dieser Region begleitet worden. Kontro-

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5.4 Wahlen und Verfassungsprozess

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verse Sachverhalte wurden schließlich in eine Revisionskommission verlegt, so-mit vertagt, und die Verfassung wurde am 15.10.2005 angenommen und verab-schiedet.

Die Validität des Volksentscheids, der teilweise boykottiert wurde und teilweise von Gewalt überschattet war, wurde insbesondere in sunnitisch dominierten Ge-bieten wie al-Anbar, Diyala und Ninawa infrage gestellt. Hier galt die Verfassung als ein von Schiiten und Amerikanern im Alleingang durchgesetztes Produkt im-perialistischer Politik. Auch internationale Beobachter wie die International Cri-sis Group kritisierten insbesondere die Unbesonnenheit und Eile des Verfassungs-prozesses, der in der Folge von Inklusionsmängeln gezeichnet sei.70 Neben Legi-timitätsdefiziten bestand mittelfristig das größere Problem in der Überführung der in der Verfassung formulierten demokratischen Grundsätze in tatsächliche Ge-setzgebung. De facto gelten bis heute viele Gesetze aus der Zeit des Baath-Re-gimes, die in substanziellem Widerspruch zu den Bestimmungen der Verfassung stehen. Die Auswahl und Anwendung der gültigen Gesetze obliegt im Einzelfall den zuständigen Richtern.

Der Staatsaufbau ist nach klassischer Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative gegliedert. Die Exekutive umfasst die Position des Präsidenten, des Premierministers und das Kabinett der Minister. Die Legislative umfasst das Parlament und die Vertreter der Länder (Föderationsrat). Die im Parlament tätigen Volksvertreter werden alle vier Jahre gewählt. Laut Verfassung muss der Parla-mentspräsident Sunnit, der Ministerpräsident Schiit und der Präsident Kurde sein. Dem Gesetz nach müssen die Abgeordneten zuerst den Parlamentspräsidenten be-stimmen. Erst danach können sie den Präsidenten und später den Ministerpräsi-denten wählen.

Der Irak ist eine föderalistische Republik, in der 18 Provinzen von lokalen Pro-vinzräten regiert werden. Die Kompetenzen der Provinzregierungen sind weitrei-chend, finden aber ihre Grenzen in den Ressorts Außen- und Verteidigungspoli-tik, Haushaltsplanung und Finanzen, Postwesen, Rundfunk, Wasserressourcen und Ölpolitik. In diesen Bereichen trifft die Zentralregierung alle wichtigen Ent-scheidungen. Den Norden des Landes bildet die föderale Region Kurdistan-Irak,

70 Das Middle East Briefing Nr. 19 der ICG vom 26. September 2005 trägt den Titel Unmaking

Iraq: A Constitutional Process Gone Awry.

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5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure

124

die die einzige rechtlich definierte föderale Einheit bildet. Die Schaffung neuer föderaler Strukturen setzt ein Referendum in den jeweiligen Provinzen voraus.

Aus den ersten Wahlen zur provisorischen Nationalversammlung im Januar 2005 ging Nuri al-Maliki als Premierminister mit einem ambivalenten Sieg hervor. Die sunnitischen Parteien hatten die Wahl boykottiert und wegen der schlechten Si-cherheitsbedingungen konnte der Wahlgang gerade in den sunnitisch dominierten Provinzen im Zentralirak und in nördlichen Provinzen wie Diyala, al-Anbar und Bagdad keineswegs als fair und frei bezeichnet werden. Zugleich wurde mit einer Wahlbeteiligung von 58 % ein relativ hoher Wert erzielt (vgl. Fürtig 2006: 55).

Im Dezember 2005 erfolgte dann die Wahl einer erstmals vollwertigen (nicht pro-visorischen) Nationalversammlung, aus der erwartungsgemäß die große Allianz der schiitischen Parteien (Vereinigte Irakische Allianz) mit 128 von 325 Sitzen als stärkste Kraft hervorging. Nuri al-Maliki wurde als Premierminister im Amt bestätigt, die kurdischen Parteien KDP und PUK71 wurden gemeinsam zweit-stärkste Fraktion mit 53 Sitzen, gefolgt von der sunnitisch geprägten Irakischen Einheitsfront (44 Sitze) und der ebenfalls sunnitisch geprägten Front für den Na-tionalen Dialog (elf Sitze) (vgl. ebd.).

Aus dem Wahlmarathon im Jahr 2005 ging ein ethno-konfessionell geprägtes Par-teiensystem hervor. Die Kritik an dieser Form klientelistischer Politik beherrschte später, im Jahr 2008, die Debatten im Vorfeld der Provinzratswahlen (vgl. Fürtig 2011: 8; Khoury 2009).

5.5 Ethno-konfessionelle Minderheiten im Irak

Iraks Muslime gehören mehrheitlich der schiitischen (60 %) und zu einem klei-neren Anteil von etwa 25 % der sunnitischen Glaubensrichtung an (vgl. Ibrahim 2011). Bis 2003 war die Bildungs- und Führungselite aus der Minderheit der Sun-niten um Saddam Hussein rekrutiert worden, die Entscheidungen über Verteilung von Macht und Wohlstand im Land zugunsten ihrer Konfessionsgenossen fällte. In den drei Jahrzehnten der Baath-Herrschaft war ethno-konfessionelle Vielfalt zugunsten einer homogen sunnitisch geprägten Öffentlichkeit in die Randzonen gesellschaftlicher Realität und darüber hinaus gedrängt worden. Nun, nach dem

71 Demokratische Partei Kurdistan und Patriotische Union Kurdistan (KDP steht für die engli-

sche Bezeichnung Kurdish Democratic Party, die üblicherweise auch in der deutschen Lite-ratur verwendet wird).

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5.6 Umstrittene Gebiete und Föderalismusstreit

125

Sturz des Regimes, wurden diese Machtverhältnisse umgekehrt. Schiitische Par-teien hatten auf der Basis eines Bevölkerungsanteils von zwei Dritteln die Wahlen gewonnen, während sunnitische Parteien und Gemeinden politisch marginalisiert wurden – eine Machtverschiebung, die auch den Nährboden für den sunnitisch geprägten Widerstand bildete.

Neben den muslimischen Konfessionen wären als ethnische Minderheiten die Turkmenen (ca. 5 %) und Kurden (25 %) zu nennen, ergänzt um Christen sowie die heterodoxen islamischen Gruppen Yeziden, Mandäer, Shabak und Kakaiya (vgl. Ibrahim 2011: 25). Gerade für die zahlenmäßig kleineren Minderheiten, die in den drei Dekaden der Baath-Herrschaft marginalisiert und benachteiligt wor-den waren, wurde die internationale Intervention als Befreiungsschlag wirksam.

„Zweifelsohne haben die Minderheiten im Irak nach dem Sturz des Baath-Regimes das erste Mal seit der Gründung des Staates im Jahr 1921 politische Anerkennung erfahren. Die politischen Freiheiten, die Hervorhebung ihrer besonderen Identitäten und die Par-tizipation im politischen System sind sichtbare Elemente des Systemwechsels im Irak.“ (Ebd.: 25)

In der Verfassung sind die Rechte und Freiheiten der Religionsgemeinschaften stark verankert. In Artikel 42 wird die Freiheit der Religionsausübung gewährt sowie Sicherheit und der Schutz der religiösen Einrichtungen. Artikel 3 bestimmt den Irak als multi-religiöses/multi-nationales Land und erlaubt die Verwendung verschiedener Sprachen in Schule und Ausbildung. Die verfassungsmäßige Fest-legung des Islam als Staatsreligion (Artikel 2) wird von den nichtmuslimischen Minderheiten allerdings als Diskriminierung beklagt (vgl. Ibrahim 2011: 26). Ibrahim (2011) bezeichnet die Verfassung zwar als „gute Basis für das Zusam-menleben der Völker im Irak“ (ebd.: 30), bezweifelt aber, dass die irakischen Si-cherheitskräfte in der Lage seien, „geltende Gesetze durchzusetzen und der Be-völkerung den nötigen Schutz zu gewähren“ (ebd.).

5.6 Umstrittene Gebiete und Föderalismusstreit

Der Sezessionsdrang einzelner Provinzen im Süden und die Frage nach dem Ver-bleib verschiedener Grenzgebiete zwischen der kurdischen Region und dem Zentralirak war seit Beginn der Transformation Quelle heftiger Konflikte. Feder-

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5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure

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führend im Streit um mehr Autonomie der schiitisch dominierten ölreichen Pro-vinz Basra im Süden des Landes war der Irakische Islamische Hohe Rat (SIIC)72 unter Führung des Geistlichen Abdul Aziz al-Hakim, der aber gegen die für eine starke Zentralregierung eintretenden Schiiten der Sadr-Bewegung und der Fadila-Partei seinerzeit nicht genügend Rückhalt in der Bevölkerung mobilisieren konnte.

Ganz anders im Norden: Die Autonome Region Kurdistan unterhält eine eigene Armee, eine eigene Flagge, ein eigenes Parlament sowie eigene Präsidenten und Premierminister. Es werden eigenständig Gebühren und Steuern erhoben, das kur-dische Außenministerium betreibt eine unabhängige Ein- und Ausreisepolitik (vgl. Fürtig 2006: 56). Seit Beginn des Verfassungsprozesses bestand Uneinigkeit zwischen den Kurden und der Zentralregierung über den Verbleib verschiedener Gebiete an der Grenze zwischen den kurdischen und den arabischen Teilen Iraks. Bei diesen umstrittenen Gebieten handelte es sich um Teile der Provinzen Ninawa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Viele in dieser Grenzregion gelegene Städte wurden im Zuge der Invasion 2003 von der kurdischen Armee (Peshmerga) besetzt.

Im Zentrum der Konflikte stand Kirkuk, das auf dem drittgrößten Ölfeld Iraks gelegen ist. Paragraf 140 der irakischen Verfassung bestimmt, dass die Bewohner von Kirkuk in einem Referendum über den Verbleib ihrer Stadt in dem einen oder dem anderen Teil Iraks bis November 2007 entscheiden sollten. Dieser Termin ist seither immer wieder verschoben worden, was schließlich die Ungültigkeit des Paragrafen selbst zur Folge hatte und zu Spannungen zwischen den Minderheiten vor Ort, aber auch zu Konflikten zwischen Erbil und Bagdad führte. Es wurde eine parlamentarische Kommission zur Lösung der Kirkuk-Frage einberufen, die sich selbst unter Schirmherrschaft der United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI) stellte. Die UN und andere Organisationen der internationalen Gemein-schaft sind seither intensiv um die Lösung der sogenannten Kirkuk-Krise bemüht, die als Blockade des irakischen Friedensprozesses gilt.

Ende August 2008 – der Monat der Datenerhebung für die vorliegende Arbeit – sind die erneute Verschiebung des Referendums sowie die Fortführung dessen

72 Abkürzung SIIC hier nach der englischen Bezeichnung Supreme Islamic Iraqi Council, die

weitgehend auch in der deutschen Literatur verwendet wird.

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5.7 Provinzwahlen und die politischen Kräfte im Irak 2008

127

Vorbereitung Thema in den Nachrichten. Es kommt außerdem zu Demonstratio-nen von schiitischen Stämmen im Süden Iraks gegen eine Zuordnung Kirkuks zu den kurdischen Gebieten.

Mit Kanaqin in der Provinz Diyala wird im Sommer 2008 ein anderer Schauplatz zum Zentrum der Grenzkonflikte. Im Rahmen der Sicherheitsoperation Bashair al-Khair (Das Versprechen der Hoffnung) war Militär nach Diyala entsandt wor-den, um dort gegen Aufständische vorzugehen. In der Kreisstadt Kanaqin erwei-terte die irakische Armee ihren Aktionsradius auf die kurdischen Peshmerga, die nach Ansicht der Zentralregierung die Stadt unrechtmäßig als ihr Territorium be-trachteten. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung lieferten sich kurdische Peshmerga und arabische Soldaten heftige Kämpfe vor Ort. Bürger demonstrierten in den Straßen und die kurdische Regierung protestierte gegen die Präsenz und gegen das Vorgehen der irakischen Armee in Kanaqin.

5.7 Provinzwahlen und die politischen Kräfte im Irak 2008

Am 31. Januar 2009 wurden in 14 von 18 irakischen Provinzen Provinzräte ge-wählt. Insgesamt konkurrierten über 14.000 Kandidaten um 440 Sitze unter Be-rücksichtigung der Vorgabe, dass ein Drittel aller Sitze an Frauen vergeben wer-den musste (vgl. Khoury 2009: 3). Die eigentlich für den Sommer 2008 geplanten Wahlen wurden wegen anhaltender Konflikte um die gesetzliche Festlegung von Kompetenzen der Provinzen um einige Monate verschoben. Auch über Details des neuen Wahlgesetzes konnte bis Sommer 2008 keine Einigkeit erzielt werden. Strittig waren hier insbesondere der Übergang von einem System geschlossener Listen zu offenen Listen73 sowie der Einbezug oder Ausschluss der kurdischen Provinzen und Kirkuk bei dem Wahlgang. Auf technisch-organisatorischer Seite stellte die Registrierung der fast drei Millionen Binnenflüchtlinge ein zusätzliches Problem dar.

Während diese Fragen in der für die Wahlen zuständigen Iraqi High Election Commission (IHEC) verhandelt wurden, bildete die UNAMI regionale Wahlleiter für die Durchführung der Wahlen aus. Das Wahlgesetz wurde schließlich am 24. September 2008 im irakischen Parlament verabschiedet; im November 2008

73 Das System der offenen Listen ermöglicht den Wählern sowohl einzelne Kandidaten als auch Listen auszuwählen, während das System der geschlossenen Listen nur Listen als Wahloption anbietet. Begünstigt werden durch offene Listen die großen Parteien sowie beliebte und sehr bekannte Einzelkandidaten (vgl. Khoury 2009: 3).

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5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure

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wurde der 31. Januar 2009 als Termin für die Wahlen kurzfristig fixiert. Dem Wahlgang wurden offene Listen zugrunde gelegt und die kurdischen Provinzen sowie Kirkuk wurden ausgeschlossen (vgl. Khoury 2009: 4). 74

Als neue Parteien mit Erfolgsaussichten im sunnitisch geprägten Norden des Zentralirak traten zunächst die Irakische Liste unter Führung des ehemaligen In-terimspräsidenten Iyad Allawi mit einem säkular nationalistischen Programm zur Wahl an sowie die ebenfalls säkular profilierte Irakische Front für den nationalen Dialog mit dem ehemaligen Interimspräsidenten Ibrahim al-Jafari als Gallionsfi-gur. Beide Parteien befürworteten, wie al-Malikis Dawa-Partei, einen zentralis-tisch organisierten Staat. Im sunnitischen Lager blieb die etablierte Irakische Is-lamische Partei75 mit Wählerbasis in den sunnitisch geprägten Provinzen wichtig, wurde aber von der Popularität der neu gegründeten Sahwa Councils76 insbeson-dere in al-Anbar bedrängt (vgl. Steinberg 2008: 5; Khoury 2009: 3). Die Sahwa Councils hatten sich im Kampf gegen al-Qaida mit Unterstützung der Amerikaner profiliert und stellten sich 2009 erstmals als Partei zur Wahl.77

Der Wahlkampf im schiitischen Lager wurde maßgeblich geprägt durch den Wett-bewerb zwischen der Dawa-Partei unter Führung des amtierenden Premierminis-ter Nuri al-Maliki und dem Obersten Islamischen Rat im Irak (SIIC), der für grö-ßere Autonomie der südlichen Provinzen und für eine weitgehende Verschrän-kung von Staat und Religion eintrat.78 Al-Maliki vertrat demgegenüber das Kon-zept eines starken Zentralstaates und eine klare Trennung von Religion und Staat. Er profilierte sich als „Garant und Sachwalter des Fortbestands des Irak als Zent-ralstaat“ (Fürtig 2011: 7) und verschaffte sich Respekt auch im sunnitischen Lager durch die Zerschlagung der Mahdi-Armee in Basra und Bagdad (vgl. ebd.). Auch in den Verhandlungen mit den USA um das Status of Forces Agreement (SOFA)

74 Siehe Webseite der Independent Higher Electoral Commission of Iraq für Details zu den Wahlen: www.ihec.iq.

75 Die Irakisch Islamische Partei hatte als einzige sunnitisch geprägte Partei die Wahlen im Jahr 2005 nicht boykottiert und avancierte auf diesem Weg zur größten Partei im sunnitischen La-ger. Sie gilt als irakischer Arm der Muslimbruderschaft (vgl. Khoury 2009: 8).

76 Im Deutschen werden die Sahwa Councils als Räte des Erwachens bezeichnet, viel geläufiger ist jedoch der englische Ausdruck Sahwa Councils auch im deutschen Sprachgebrauch.

77 Vgl. Kapitel 5.8 zur Sicherheitsoperation The Surge. 78 Der SIIC wurde 1982 im Iran von dem Geistlichen Abdul Aziz al-Hakim gegründet, der die

Führung der Partei kurz vor seinem Tod 2009 an seinen Sohn Ammar al-Hakim abgab. SIIC ist die größte Mitgliedspartei der Vereinigten Irakischen Allianz (Zusammenschluss der gro-ßen schiitischen Parteien) und gilt als konservativ-religiöse, aber gemäßigte Partei im Seg-ment der schiitischen Akteure.

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5.7 Provinzwahlen und die politischen Kräfte im Irak 2008

129

zeigte sich der amtierende Premierminister als selbstbewusster Staatslenker (vgl. ebd.). Zu den namhaften Parteien im schiitischen Lager gehörte im Jahr 2008 auch die Bewegung der Sadristen, die von Muqtada al-Sadr als anti-amerikanische Wi-derstandsbewegung kurz nach dem Sturz des Regimes 2003 gegründet worden war und unter den „poor, marginalised urban Iraqi youth“ (Dodge 2012: 102) vor allem in Bagdad und Basra erfolgreich Anhänger warb.79 Abschließend wäre die Fadila-Partei zu nennen, die als Partei der Tugend konservative islamisch-schii-tische Zielgruppen anspricht und damit vor allem in Basra Erfolge erzielte. Die eben genannten Parteien des schiitischen Lagers gehörten bei den ersten Wahlen 2005 zum Verbund der Vereinigten Irakischen Allianz, traten aber 2009 unabhän-gig voneinander zu den Provinzwahlen an.

Die politische Abgrenzung der zur Wahl stehenden Koalitionen und Lager zentrierte um die Vormachtstellung föderalistischer versus zentralistischer An-sätze in den jeweiligen Parteiprogrammen. Dabei standen vor allem der SIIC so-wie die großen kurdischen Parteien KDP und PUK auf der Seite der Föderalisten, was die bereits schwelenden Konflikte zwischen den Kurden und Premierminister al-Maliki zusätzlich befeuerte. Während die Kurden eine autonome Region er-folgreich etabliert hatten, wünschte sich der Hohe Rat eine ähnliche Lösung für die südlichen, schiitisch dominierten Provinzen (vgl. Khoury 2009: 4).

Premierminister Nuri al-Maliki, der mit seiner Rechtsstaatskoalition schließlich die meisten Provinzen für sich gewinnen konnte80, hatte sich mit Blick auf die Verdrossenheit der Bürger klug aufgestellt, indem er pragmatische Themen wie öffentliche Dienstleistungen und Rechtstaatlichkeit in den Vordergrund seines Wahlkampfs stellte und vom Einsatz religiöser Aspekte gänzlich absah. Auch die Ausrichtung militärischer Interventionen gegen sowohl sunnitische als auch schi-itische Milizen wurde als Popularitätsgewinn für die Rechtstaatskoalition wirk-sam (vgl. Khoury 2009: 5).

Die geplanten Provinzratswahlen galten wegen der erstmaligen Teilnahme der sunnitisch geprägten Parteien, die die ersten Parlamentswahlen im Januar 2005 boykottiert hatten, als Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie. Die vorliegende

79 Vgl. Kapitel 5.9 zu Aufstieg und Wandel der Sadr-Bewegung und ihrem bewaffneten Flügel

der Mahdi-Armee. 80 Die Islamische Dawa-Partei von Nuri al-Maliki war zu den Provinzratswahlen 2009 als füh-

rende Partei einer Liste von insgesamt acht Parteien angetreten, die als Rechtstaatskoalition 129 von 440 Sitzen gewann.

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5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure

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Datenerhebung liegt ein knappes halbes Jahr vor diesen Wahlen in der Zeit des Wahlkampfes und der technischen Vorbereitung.

5.8 The Surge und die Geschichte der Sahwa Councils

Der für die vorliegende Arbeit entscheidende Erhebungszeitraum August 2008 liegt im Fahrwasser der US-amerikanischen Sicherheitsoffensive The Surge (Die Welle), die die Zerschlagung von al-Qaida im Irak zum Ziel hatte (vgl. Steinberg 2008: 1; Dodge 2012: 75-100).81

The Surge begann auf operativer Ebene mit der Aufstockung der internationalen Streitkräfte um 39.000 Soldaten und einem Bündnis der internationalen Truppen mit sunnitischen Stammesmilizen in al-Anbar zu Beginn des Jahres 2007. Die in Zentralirak gelegene Provinz al-Anbar hatte sich nach dem Einmarsch der Ame-rikaner im Irak 2003 als Rückzugsort und Basis für al-Qaida und für die Kämpfer der irakischen Widerstandsbewegung etabliert. Gleichzeitig war es aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen und Vorgehensweisen zu schweren Zerwürfnis-sen zwischen den beiden Gruppen gekommen, die schließlich zur Abspaltung und Neuordnung sunnitisch geprägter Stammesmilizen unter dem Namen Sahwa Councils (Räte des Erwachens) führten. Al-Qaida hatte „zunehmend die Autorität und häufig auch Leib und Leben der sunnitischen Stammesführer bedroht, die in engem Kontakt zu den nationalistischen Aufständischen standen, mit dem Ergeb-nis, dass sich diese im Jahr 2006 den US-Truppen als Verbündete anboten“ (Stein-berg 2008: 4). Die Sahwa Councils erklärten die Vertreibung von al-Qaida zu ihrem Ziel und wurden von den USA mit Waffen, Geld und anderen Ressourcen in diesem Vorhaben unterstützt (vgl. Steinberg 2008: 4; Fürtig 2011: 6; Dodge 2012: 88-101).82 Der seinerzeit zuständige Oberkommandeur der amerikanischen Truppen General David Petraeus nutzte also das entstehende Zerwürfnis, um ei-nen Schulterschluss mit den sunnitischen Stammesmilizen zu erwirken, die damit

81 Vgl. auch Kapitel 5.9 für eine detaillierte Diskussion der Sicherheitsoperation The Surge. 82 Zur Frage, wer bei der Vertreibung von al-Qaida aus al-Anbar federführend war, unterschei-

den sich die Darstellungen. Anders als Steinberg (2008) sieht Dodge (2012) die Sahwa Coun-cils eher in der Rolle einer unterstützenden, denn einer führenden Kraft: „However, as events in al-Qa’im in 2005 indicate, the Anbaris lacked the military organisation and social cohesion necessary to fight against their better-organised and more determined adversaries. Instead, the Anbar Awakening was more useful in supplying intelligence and offering local support to US troops.“ (Ebd.: 94).

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5.8 The Surge und die Geschichte der Sahwa Councils

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vom Lager der Aufständischen ins Lager der Aufstandsbekämpfer wechselten. Der militärische Erfolg war bereits Ende 2007 in Zahlen darstellbar:

„From February 2007 onwards, civilian casualties in Iraq steadily declined. By mid-2008, fewer than 500 people were being killed every month. From then on the figure fell to about 300 a month.“ (Dodge 2012: 17)

Die Zahl der zivilen Kriegsopfer ist von 100 pro Tag im Jahr 2006 auf rund 25 pro Tag Ende 2007 gesunken (vgl. Steinberg 2008: 1). Im Jahr 2007 gab es rund 25.000 Tote, im Jahr 2008 noch rund 9.000 – dies ist ein Rückgang der Kriegsop-fer um mehr als 75 % (vgl. Fürtig 2011: 6; Brookings Institution 2008: 6).83

Insgesamt bewirkte The Surge eine Aufwertung der Stämme als militärischer Partner und eine Ausdehnung der Kooperationsstrategie im Rahmen der beiden Militäroperationen Bashair al-Khair (Das Versprechen der Hoffnung) und Farad al-Qanun (Durchsetzung der Gesetze) in Diyala, Bagdad und al-Anbar. Dadurch konnten 2007 al-Qaida-Strukturen in der gesamten Region effektiv geschwächt und teilweise zerschlagen werden.84 Der ständige Zuwachs an Stammesmilizen und ihre Versorgung mit Waffen und Geld führte gleichzeitig zur Entstehung ei-ner sunnitisch dominierten nichtstaatlichen Streitkraft mit eigenen Spielregeln und eigenen Führungsfiguren, die sich weder von den internationalen Truppen noch von der irakischen Regierung steuern ließ (vgl. Steinberg 2008: 5; Dodge 2012: 88-101). Um das Problem der im Juni 2008, nach Abschluss der Operation The Surge, frei flottierenden Kämpfer unter Kontrolle zu bringen, wurde zwischen der irakischen Regierung und den Sahwa Councils unter Vermittlung der USA vereinbart, dass 20 % der Kämpfer in die Armee integriert und ihre Gehälter vom Staat bezahlt würden. Die übrigen Mitglieder der Sahwa Councils sollten in Be-hörden übernommen werden oder eine Rente erhalten.

Zum Zeitpunkt der Datenerhebung wurde eine Zuspitzung von Konflikten zwi-schen den Sahwa Councils und der Zentralregierung virulent, weil Letztere nur etwa 5.200 der fast 100.000 Kämpfer in die Armee und in staatliche Institutionen

83 Dennoch kann von einer verbesserten nicht auf eine gute Sicherheitslage geschlossen werden.

Für das erste Halbjahr 2008 dokumentiert die Initiative Iraq Body Counts immer noch 55 Anschläge pro Tag, und allein in der letzten Augustwoche (Erhebungszeitraum) wurden 63 Anschläge verübt, die insgesamt 158 Opfer forderten. Im ganzen Monat August waren dem-nach 600 Opfer zu beklagen. Siehe dazu https://www.iraqbodycount.org.

84 Das amerikanische State Department schloss in dieser Zeit 779 Verträge mit lokalen Milizen, versorgte 103.000 Kämpfer mit Waffen und investierte 370 Millionen USD in „local security bargains“ (Dodge 2012: 96).

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übernahm und sich gleichzeitig bemühte, die Bewegung durch Verhaftung von Führungsfiguren zu schwächen. Während die Eingliederung in al-Anbar im ersten Schritt einschränkungslos vollzogen wurde, lehnten Verteidigungsminister Jas-sim und Innenminister Bulani eine entsprechende Umsetzung in Bagdad ab (vgl. Steinberg 2008: 6). Faktisch standen die Zentralregierung und die Sahwa Coun-cils einander feindselig gegenüber: Letztere betrachteten al-Maliki als Politiker, der allein die Interessen eines schiitischen Klientels bediente, während die von Schiiten und Kurden dominierte Zentralregierung in den Sahwa Councils nur scheinbar geläuterte Terroristen sah, die das Gewaltmonopol des Staates bedro-hen. Beobachter fürchteten eine Welle von Rückläufen zwischen den Sahwa Councils und al-Qaida für den Fall, dass diese Konflikte ungelöst blieben (vgl. Steinberg 2008: 5f.; Dodge 2012: 98).

Mitte August 2008 wurden einige Hundert Haftbefehle gegen Mitglieder der Sahwa Councils erlassen. Im Erhebungszeitraum kam es zu Verhaftungen von etwa einem Dutzend Führungsfiguren aus der Sahwa-Bewegung in der Provinz Diyala.

5.9 Die Transformation der Mahdi-Armee

Die verbesserte Sicherheitslage war nicht allein dem Rückzug von al-Qaida ge-schuldet, sondern ebenfalls einer substanziellen Schwächung der Mahdi-Armee, die sich angesichts der amerikanischen Offensive The Surge aus Bagdad zurück-zog und den bewaffneten Kampf zugunsten politischer und sozialer Arbeit suk-zessive aufgab (vgl. International Crisis Group 2008).

Die Mahdi-Armee wurde 2004 als militärischer Arm der schiitischen Sadr-Bewe-gung gegründet, die mit zeitweilig mehr als 60.000 Anhängern unter Führung des Predigers Muqtada al-Sadr85 zum gefährlichsten Gegner der amerikanischen Ar-mee und ihrer Alliierten im Irak avanciert war (vgl. Steinberg 2008: 2). Zu Beginn der Operation The Surge kontrollierte die Sadr-Bewegung große Teile Bagdads mit Sadr City als Hochburg und Rückzugsort. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht entglitt die Mahdi-Armee allerdings Muqtada al-Sadrs Kontrolle und zerfiel in

85 Muqtada al-Sadr ist der jüngste Sohn des Ayatollah Muhammad Sadiq al-Sadr, der zunächst von der Baath-Partei im Irak gegen Ayatollah al-Sistani aufgebaut, dann fallengelassen und 1999 ermordet wurde. Muqtada al-Sadr besitzt, anders als sein Vater, nicht den Status des Ayatollah, setzt aber den familiären Hintergrund geschickt für die Verfolgung seiner politi-schen Ziele ein. Er gilt als aggressiver Prediger und Kriegstreiber.

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5.9 Die Transformation der Mahdi-Armee

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eine Vielzahl gefährlicher Splittergruppen, die auf eigene Faust Raubzüge und Hinrichtungen durchführten (vgl. International Crisis Group 2008; Dodge 2012: 102-106).

Vor dem Hintergrund des beginnenden Zerfalls der Bewegung reagierte Muqtada al-Sadr auf die Offensive The Surge im August 2007 mit einem überraschenden Rückzug aus Sadr City/Bagdad nach Basra und der Ankündigung eines auf sechs Monate befristeten einseitigen Waffenstillstand. Er selbst zog sich in dieser Zeit für Studien in den Iran zurück (vgl. International Crisis Group 2008; Steinberg 2008: 2.; Dodge 2012: 103). Im März 2008, kurz nach Ablauf der Waffenruhe, wurde die Mahdi-Armee in Basra mit der Militäroffensive Charge of the Knights (Der Angriff der Ritter) konfrontiert, die sich explizit gegen nichtstaatliche Mili-zen in diesem Teil des Landes und speziell gegen die Mitglieder der Mahdi-Ar-mee richtete. Kämpfe entflammten parallel auch in Sadr City und endeten im Mai 2008 mit einer Niederlage der Mahdi-Armee. Der Triumph der staatlichen Armee in Basra mehrte die Popularität von Nuri al-Maliki, weil damit sowohl der Will-kürherrschaft der Milizen ein Ende bereitet wurde als auch dem Prinzip ethno-konfessioneller Solidarität zwischen Parteien und bewaffneten Gruppen. Al-Ma-liki war als Schiit gegen schiitische Milizen vorgegangen und hatte damit eine Trendwende gegen ethno-konfessionelle Politik markiert (vgl. Khoury 2009: 5; Dodge 102-106).

Im Sommer 2008 war die Sadr-Bewegung ein umfassendes soziales Netzwerk und eine politische Partei in Gründung, die sich auf die anstehenden Provinzwah-len vorbereitete. Der bewaffnete Kampf wurde aufgegeben und die Fortführung des Widerstands gegen die amerikanischen Besatzer mit Mitteln der Politik und des sozialen Engagements proklamiert. Für Muqtada al-Sadr ergaben sich aus die-sem Wandel Spannungen mit einem Großteil seiner Anhängerschaft, auf die ge-rade seine radikale Ablehnung der politischen Eliten Anziehungskraft ausgeübt hatte und die jetzt abtrünnig wurde:

„Their increasingly violent und undisciplined militia, the Mahdi Army, engaged in ab-horrent sectarian killings and resorted to plunder and theft. Militants claiming to be Mahdi Army members executed untold numbers of Sunnis, allegedly in response to Al-Qaeda´s ruthless attacks, but more often than not merely because they were Sunnis […]. Divisions within the movement deepened; splinter groups – often little more than crim-inal offshoots – proliferated.“ (International Crisis Group 2008: executive summary)

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5.10 Wirtschaftliche Entwicklung und Versorgung Die irakische Wirtschaft entwickelte sich im Jahr 2008 außerordentlich positiv. Laut Weltbank betrug das Wirtschaftswachstum 10 %, das Exportvolumen ver-doppelte sich gegenüber dem Vorjahr auf über 35 Milliarden EUR, die Inflation wurde von 50 % im Jahr 2006 auf 3 % reduziert und auch das BIP wuchs im Jahr 2008 um 7 %.86

Die Förderung von Rohöl lag im August 2008 bei 2.287 Millionen Barrel pro Tag. Das entspricht ungefähr dem Niveau vor Kriegsbeginn 2002 und einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 1,6 Millionen Barrel pro Tag (vgl. Brookings Institu-tion 2008: 40). Das Staatseinkommen durch Ölexporte hatte sich innerhalb eines Jahres von 3,39 Milliarden USD im Juli 2007 auf 7,09 Milliarden USD pro Monat im Juli 2008 verdoppelt. Kurzum: die staatliche Wirtschaft prosperierte und nahm 2008 weiter an Fahrt auf, was im Zusammenhang mit der ebenfalls verbesserten Sicherheitslage insgesamt als Entwicklungszäsur und Ausstieg aus der Abwärts-spirale bewertet wurde.

Die positive Wirtschaftsentwicklung fand allerdings in der Versorgung der Bür-ger mit Strom, Wasser, Lebensmitteln und sozialen Dienstleistungen keinen Nie-derschlag. Im Gegenteil scheint die Wirtschaftsentwicklung fast abgekoppelt von Aspekten der Lebensqualität, was von Beobachtern auch der grassierenden Kor-ruption angelastet wird, die große Teil der Staatseinkünfte bis heute zu verschlin-gen scheint. Ende 2007 lebten jedenfalls 22,39 % der irakischen Bürger von we-niger als 2 USD am Tag und damit unter der Armutsgrenze.87

Im August 2008 deckte die staatliche Stromversorgung nur 50 % des Bedarfs. Gerade im Hochsommer, wenn die Temperaturen in Bagdad teils 50 Grad Celsius erreichen, war die Lebensqualität in den Städten durch stillstehende Kühl- und Klimaanlagen erheblich beeinträchtigt, ganz abgesehen von Einschränkungen in der Gesundheitsversorgung und Behinderungen der Arbeit in Industrie und Wirt-schaft (vgl. Brookings Institution 2008: 41).

Zur Gesundheitsversorgung stellt das Internationale Rote Kreuz im Dezember 2007 fest:88

86 Vgl. http://data.worldbank.org/country/iraq. 87 Vgl. http://data.worldbank.org/country/iraq. Zahlen für das Jahr 2008 sind zum Zeitpunkt der

Fertigstellung des Manuskripts nicht verfügbar. 88 International Review of the Red Cross/Volume 89, Number 868, December 2007.

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5.11 Theoriegeleitete Einordnung

135

„Currently, violence threatens health in Iraq and the country has some of the worst sta-tistics for diarrhoea, measles, respiratory infections, malaria and under- nutrition affect-ing 30 per cent of children under five, contributing to excessive rates of infant and child mortality .“ (ebd.: 935)

20.000 Ärzte haben das Land seit 2003 verlassen, 250 wurden entführt und 2.200 getötet (ebd.: 921). Eine Basisversorgung kann selbst in den urbanen Zentren kaum angeboten werden, geschweige denn in den eher ländlichen Regionen.

Auch die Zahl der Arbeitslosen ist seit mindestens drei Jahren mit 25-40 % un-verändert hoch (vgl. Brookings Institution 2008: 42).89 Aus der Frustration und Perspektivlosigkeit insbesondere der jungen Männer nährt sich eine erhöhte Zu-wendung zu extremistischen Strömungen wie der schiitischen Sadr-Bewegung und den sunnitischen Widerstandsgruppen bzw. al-Qaida, die gute Bezahlung, eine Gemeinschaft und geregelte Arbeitsverhältnisse in Aussicht stellen.

5.11 Theoriegeleitete Einordnung

Die Rekonstruktion der politischen Entwicklung seit März 2003 macht deutlich, dass Irak fünf Jahre nach dem Regimewechsel keinesfalls den Status einer kon-solidierten Demokratie erreicht hat. Auch ist der Prozess der Konsolidierung de-mokratischer Verhältnisse bis zur Unkenntlichkeit von bewaffneter Gewalt und politischen Konflikten überlagert. Nach Merkel (2010) ist dies keine überra-schende, sondern eine erwartungsgemäße Entwicklung, da der Regimesturz im Irak nicht von einer im Land verwurzelten und gut organisierten Opposition be-trieben worden ist, sondern von externen Mächten herbeigeführt wurde, denen die für den Aufbau demokratischer Strukturen notwendige Unterstützung durch die irakische Gesellschaft versagt blieb (vgl. Kap. 3.2). Grundsätzlich schätzt Merkel (2010) die Erfolgschancen für demokratische Interventionen als gering und zu-sätzlich abnehmend ein, je weniger gut der Schulterschluss mit oppositionellen

89 Im Iraq Index der Brookings Institution (2008) wird die Arbeitslosenstatistik wie folgt kom-

mentiert: „Estimates of Iraq’s unemployment rate varies. The CPA has referred to a 25 % unemployment rate, the Iraqi Ministry of Planning mentioned a 30 % unemployment rate, whereas the Iraqi Ministry of Social Affairs claims it to be 48 %. There is an inherent diffi-culty in measuring the Iraqi rate of unemployment over time. Considering the increase in entrepreneurial activity after the end of the war, we have for the purposes of this database assumed that there has been an improvement in unemployment levels, and hence weighted information supporting such a conclusion heavier than contradictory data reports.“ (Ebd.: 42).

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5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure

136

Bewegungen im Land gelingt. Wie die Rekonstruktion der Geschehnisse in Ka-pitel 5.2 gezeigt hat, war die Neuordnung der politischen Strukturen in einem zu-künftig demokratischen Irak ausschließlich in Kooperation mit schiitischen Dis-sidenten im Exil geplant worden. Auch wurde die Macht der ehemaligen Eliten und ihr Rückhalt in der Gesellschaft unterschätzt und infolgedessen die von die-sen Eliten ausgehende „ethnische und nationalistische Mobilisierung“ (Merkel 2010: 478) nicht kompetent aufgefangen. Eine positive Entwicklung erscheint aus dieser Ausgangslage heraus völlig unrealistisch.

Augenfällig für den irakischen Fall ist die faktische Einschränkung des staatlichen Gewaltmonopols durch Vetomächte wie die Mahdi-Armee, die Sahwa Councils, al-Qaida, die verschiedenen Gruppen der irakischen Widerstandsbewegung und Parteimilzen. Mit Merkel (2010) wäre der Irak aufgrund des weitgehend erodier-ten Gewaltmonopols als Enklavendemokratie einzuordnen, deren zentrales Merk-mal darin besteht, dass bewaffnete Vetomächte der demokratisch legitimierten Regierung bestimmte Machtbereiche entziehen (vgl. ebd.: 37). Aufgrund der Herrschaft der nichtstaatlichen (demokratisch nicht legitimierten) Gruppen in Teilen Iraks ist auch die Rechtstaatlichkeit suspendiert und somit sind die indivi-duellen Freiheits- und Schutzrechte der Bürger durch den Staat nicht länger ge-währleistet. Irak gewinnt vor diesem Hintergrund zusätzlich den Status einer il-liberativen Demokratie, als deren Hauptmerkmal die Beschädigung der Recht-staatsdimension definiert ist (vgl. ebd.: 37f.).

Die Einordnung als defekte Demokratie mit Merkel (2010)90 wäre um eine Ein-ordnung als fragiler Staat zu ergänzen, in dem staatliche Kernleistungen nicht nur in den Sektoren Sicherheit und Rechtstaatlichkeit, sondern auch im Bereich der staatlichen Wohlfahrt nur sehr eingeschränkt erbracht werden (vgl. Kap. 3.2). Für die Bewertung staatlicher Fragilität werden bei Schneckener (2004) mit Recht-staatlichkeit und Sicherheit ähnliche Parameter herangezogen wie für die Bewer-tung demokratischer Defekte bei Merkel (2010). Schneckener (2004) ergänzt seine Matrix um staatliche Wohlfahrt als Bewertungsdimension, für deren Be-messung der Anteil der Erwerbslosigkeit, die Kluft zwischen Arm und Reich, der Zustand der Infrastruktur und des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie der

90 Eine Demokratie ist nach Merkel (2010) als defekte Demokratie zu betrachten, wenn definie-

rende Elemente – sogenannte Teilregime – wie Wahlen, Partizipation bürgerliche Freiheits-rechte, Gewaltenteilung und das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr gewährleistet sind (vgl. Merkel 2010: 37; vgl. auch Kap. 3.2).

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5.11 Theoriegeleitete Einordnung

137

Zustand der staatlichen Sozialversicherungssysteme geltend gemacht werden (vgl. Kap. 3.2). Die Rekonstruktion der irakischen Wirtschafts- und Versorgungs-lage in Kapitel 3.10 verweist auf erhebliches Staatsversagen in diesem Sektor. Die ebenfalls signifikanten Fehlleistungen des Staates in den Bereichen Sicherheit und Rechtstaatlichkeit sind oben bereits diskutiert worden und erhärten die Ein-ordnung Iraks als fragiler Staat im Zustand der Transformation. In der Typologie nach Schneckener (2004) wäre Irak in Abgrenzung zum gescheiterten Staat einer-seits und zum schwachen Staat andererseits als versagender Staat (failing state) einzuordnen, der im Kern durch die Einschränkung des Gewaltmonopols gekenn-zeichnet ist, aber in den Bereichen Rechtstaatlichkeit und Wohlfahrt noch Steue-rungsfähigkeit besitzt:

„Die Regierungen dieser Staaten sind nicht in der Lage, ihr gesamtes Territorium o-der/und ihre Außengrenzen zu kontrollieren, und müssen sich mit einer hohen Zahl an privaten Gewaltakteuren auseinandersetzen. Gleichwohl sind andere Bereich noch eini-germaßen intakt: In Sri Lanka gilt dies zum Beispiel sowohl für staatliche Maßnahmen im Wohlfahrtsbereich als auch für die demokratische und rechtstaatliche Struktur. Wie die Beispiele deutlich machen, handelt es sich bei dem hier beschriebenen Typus häufig um (formal-)demokratische Staaten, die mit separatistischen Tendenzen und/oder einem hohen Grad an Kriminalität (wie etwa Kolumbien) zu kämpfen haben.“ (Ebd.: 16)

Fragile Staatlichkeit und Demokratiedefizite entstehen an verschiedenen Punkten im Konsolidierungsprozess, der bei Merkel (2010) unterteilt wird in repräsenta-tive Konsolidierung, Verhaltenskonsolidierung, konstitutionelle Konsolidierung sowie abschließend Konsolidierung der Bürgergesellschaft (vgl. Kap. 3.1). Die mehr oder minder gelungene Bewältigung von politischen Arbeitsaufgaben auf den einzelnen Etappen des Konsolidierungsprozesses entscheidet über die Frage der Stabilität demokratischer Verhältnisse und langfristig gesehen über die Integ-rität von Staatlichkeit.

Auf der Ebene der konstitutionellen Konsolidierung wäre mit Merkel (2010) die empirische Legitimität der Verfassung91 im Irak als eher stark und damit stabili-sierend zu bewerten, während die formale Legitimität92 als Qualität der Verfahren

91 Empirische Legitimität ist bei Merkel (2010) definiert als „Fähigkeit, gesellschaftliche Kon-

flikte und Probleme fair und effektiv zu lösen“ (ebd.: 113). Gemessen wird diese Fähigkeit am Ausmaß der durch die Verfassung verfügten sozialen Inklusion, die institutionelle Effizi-enz sowie die politische Effektivität der verfassungsmäßigen Verfahren (vgl. ebd.: 117).

92 Formale Legitimität wird „durch staatsrechtlich vorbildliche Ausarbeitungs- und Verabschie-dungsverfahren“ (Merkel 2010: 113) erwirkt.

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5 Irak nach 2003 – Staatliche Strukturen, Konflikte und Akteure

138

eine Schwachstelle im Konsolidierungsprozess darstellt, wie die Ausführungen in Kapitel 5.4 gezeigt haben. Das Referendum zur Verfassung war in großer Eile durchgeführt worden. In vielen sunnitischen Gebieten waren die Bürger durch Gewalt von der Teilnahme ausgeschlossen.

Auf der Ebene der repräsentativen Konsolidierung sind die ausgeprägte Fragmen-tierung der Parteienlandschaft, ihre Ausrichtung an ethno-konfessionellen Merk-malen, die Polarisierung und die Verwicklung von Parteien über Milizen in be-waffnete Konflikte als klar destabilisierende Faktoren zu bewerten (vgl. Merkel 2010: 119).

Die „Verhaltenskonsolidierung informeller Akteure“ (ebd.: 123) durch Einbin-dung in den politischen Prozess ist im Irak auf ganzer Linie gescheitert. Die Mar-ginalisierung sunnitisch geprägten Protestbewegungen und die Militarisierung der Konflikte mit ehemaligen Eliten haben der sunnitischen Widerstandsbewegung vielmehr Zulauf gebracht und die Radikalisierung der bewaffneten Gruppen be-fördert. Der Konsolidierungsprozess ist durch die wachsende Macht der Veto-mächte nachhaltig destabilisiert worden.

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

Im vorliegenden Kapitel 6 werden die wichtigsten Stränge der irakischen Medi-enentwicklung nach dem Regimesturz im April 2003 nachgezeichnet. Dabei ste-hen Fragen der Rechtsprechung und Regulierung, die Strukturierung der Medien-landschaft, staatliches Handeln und Pressefreiheit im Mittelpunkt der Betrach-tung. Zuvor werden wesentliche Merkmale des Mediensystems in der Zeit vor dem Umsturz skizziert.

6.1 Historischer Rückblick

Die Ära der Baath-Herrschaft (1968-2003) war gekennzeichnet von totalitärer Medienkontrolle und totalitärer Instrumentalisierung der Medien durch die Re-gierung. Massenmedien hatten keine andere Funktion, als Übereinstimmung zwi-schen der öffentlichen Meinung und den Zielen der Baath-Partei herzustellen. Es durften keine Zweifel an der Legitimität des staatlichen Handelns und der Integ-rität des Präsidenten in der Öffentlichkeit aufkommen (vgl. Cazes 2003: 6ff.).

Chronologisch gesehen, markierte die Machtübernahme Saddam Husseins 1979 im Mediensektor den Übergang von staatlicher Zensur zur Gewaltherrschaft: „[…] Censorship of the Iraqi media, which has been the norm since 1958, changed in 1979 into a bloody crackdown on all journalists.“ (Cazes 2003: 13) Mit der Verabschiedung von Dekret 840 im Jahr 1985 wurde jede Möglichkeit von Kritik endgültig unterbunden: Die Beleidigung des Präsidenten, seiner Gefolgschaft, des Revolutionären Kommandorats oder der Regierung konnte fortan mit dem Tode bestraft werden. Hier zeigte sich neben totalitärer Paranoia auch ein offenes Be-kenntnis zur Gewalt als Mittel des Machterhalts. Der Druck auf das Mediensys-tem wurde verschärft mit Beginn der UN-Sanktionen 1991, da die sich ausbrei-tende Not die Menschen im Irak auch gegen die Regierung aufbrachte. Die Me-dien sollten unter keinen Umständen diesen Unmut aufgreifen und sich, im Schul-terschluss mit den notleidenden Menschen gegen das Regime aufstellen. Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag Iraq im Jahr 2002 auf Platz 130 von 139.

Der totalitären Medienkontrolle unter Saddam Hussein war eine historische Phase umfangreicher Pressefreiheit in der Zeit zwischen der Staatsgründung 1920 und dem Sturz der Monarchie im Jahr 1958 vorangegangen (vgl. Kap.5.1). Es wurden in dieser Zeit sowohl Parteien als auch eine Vielzahl von Zeitungen gegründet,

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019A. Wollenberg, Medien und Demokratie im Irak, Studies in International,Transnational and Global Communications,https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6_6

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

140

die ein breites Spektrum politischer Lager repräsentierten (vgl. al-Rawi 2012: 13; al-Zubaidi 2004: 44). Unabhängigkeit und Ausgewogenheit waren als journalis-tische Leitwerte im frühen 20. Jahrhundert noch nicht entwickelt und Zeitungen hatten, ähnlich wie heute in vielen Ländern der arabischen Welt, die Aufgabe, für die Anliegen politischer Parteien in der Öffentlichkeit zu streiten. Damit bereite-ten sie unter anderem den Weg für den Sturz der Monarchie und für die danach einsetzende Verschiebung der Medienmacht unter Staatskontrolle (vgl. al-Rawi 2012: 13ff).

Zum Ende der Baath-Herrschaft Anfang 2003 gab es im Irak fünf staatliche Zei-tungen, einen staatlichen Fernsehkanal und vier staatliche Radiostationen. Die Kontrolle über die Medien oblag dem Informationsministerium.

6.2 Aufbruch im Mediensektor nach dem Regimesturz 2003

Das wohl prägnanteste Merkmal der irakischen Medienentwicklung nach April 2003 war die enorme Zahl der in hoher Geschwindigkeit neu entstehenden Zei-tungen, Radiostationen und Fernsehsender (vgl. Isakhan 2009:10; Wollenberg 2015: 255). Die BBC Media Action zählte die Neugründung von 150 nichtstaatli-chen Zeitungen, 80 Radiostationen und 21 Fernsehstationen im ersten Jahr nach dem Regimesturz (vgl. Deane 2013: 18). Im März 2006 war die Menge der Me-dienhäuser bereits angewachsen auf 114 Radiostationen, 54 Fernsehsender und 268 Zeitungen und Magazine (vgl. Brookings Institution 2007: 47) und im Jahr 2011 stellt die dänische Organisation International Media Support (2011) fest:

„With 200 radio and television stations registered in Iraq, about 600 print media and more than 10.000 journalists and with 180 radio and television stations registered in Kurdistan, 600 print media and more than 7000 journalists for a population of 25 million Iraqi´s and 6 million Kurdish people, Iraq has proven to support a pluralistic media sec-tor.“ (Ebd.: 35)93

Aus Sicht der Mediennutzer wird die Vielfalt der neuen Anbieter noch ergänzt um ein breites Spektrum transnationaler Satellitensender. Zu Zeiten Saddam Husseins war der Besitz von Satellitenschüsseln verboten; nun, nach dem Fall des Regimes, wurde das Land davon überschwemmt. Fast die Hälfte aller irakischen Bürger erwarb noch im Jahr 2003 eine Satellitenschüssel (vgl. al-Deen 2005: 11; Isakhan 2009: 10).

93 Die Angaben zur Anzahl der Medienhäuser variieren je nach Quelle stark.

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6.2 Aufbruch im Mediensektor nach dem Regimesturz 2003

141

Das zweite, nicht weniger spezifische Merkmal der irakischen Medienentwick-lung nach 2003 war die von Beginn an stark ausgeprägte Parteilichkeit der neuen Medienhäuser. Vor dem Hintergrund des bisher geltenden Ausschlusses aller nichtstaatlichen Akteure aus der Sphäre der Öffentlichkeit war jetzt jede Gruppe bestrebt, hier ihren Platz zu markieren – sei es, um Interessen gegenüber dem politischen System geltend zu machen, sei es, um für die eigene Community eine Instanz in der Öffentlichkeit zu schaffen (vgl. Cochrane 2006; IREX 2006: 11ff.; Price 2010: 232; al-Rawi 2012: 63ff.; Isakhan 2009: 10-12). Mobilisiert wurde die Parteilichkeit der neuen Medien maßgeblich von der zeitgleich anbrechenden Gründungswelle im Parteiensektor und dem sehr frühen Einstieg der neuen Par-teien in den Wahlkampf, für den entsprechende Kommunikationsmittel gebraucht wurden (vgl. Deane 2013: 19). Während die neue Vielfalt der Quellen gemeinhin positiv bewertet wurde, galt die Parteilichkeit im Hinblick auf die Konfliktent-wicklung im Irak als problematisch. Medien unterlagen dem Generalverdacht, in Phasen politischer Anspannung die Konflikteskalation durch Parteinahme zu ver-schärfen (ausführlich dazu: Kap. 6.6).94 Zugleich gerieten Journalisten selbst ins Visier der Aufständischen und der bewaffneten Islamisten. Allein in den Jahren 2003-2008 sind mindestens 150 Journalisten und affiliierte Medienarbeiter (Tech-niker, Assistenten, Fahrer) im bewaffneten Konflikt ums Leben gekommen, in mindestens 70 % dieser Fälle sind die Betroffenen in gezielten Aktionen exeku-tiert worden (vgl. Kap. 6.3.2).

Als erster Meilenstein für die irakische Medienentwicklung nach der Wende gilt die Konferenz Framework for Change: Transforming Iraq´s Media Landscape, auf der bereits im Juni 2003 mehr als 80 internationale Experten mögliche Szena-rien für die Zukunft der Medien im Irak verhandelten. Initiator und Schlüsselfigur der Konferenz war Simon Haselock, der später im Auftrag der britischen Regie-rung das Media Development Team des Interim Governing Councils (IGC) leitete (vgl. Awad und Eaton 2013: 13). Aus der Konferenz ist das sogenannte Athens Framework (2003) hervorgegangen, in dem Empfehlungen für die Steuerung und Gesetzgebung sowie Grundlagen für die Einrichtung einer Regulierungsbehörde

94 Cochrane (2006) vergleicht die neu entstehende Medienlandschaft mit den Strukturen im Li-

banon und bezeichnet die irakische Entwicklung, mithin die ethno-konfessionelle Segmentie-rung der Medienlandschaft, als ‚Lebanization of the Iraqi Media’. Damit ist vor allem die systematische Anbindung von Medien an Parteien gemeint, die im Libanon schon länger etab-liert ist.

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

142

und den Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Senders formuliert wurden. Als über-geordnetes Ziel staatlicher Medienpolitik wird hier die weitere Förderung von Pluralität und Meinungsfreiheit empfohlen (vgl. Price 2007: 10). Kritisiert wurde der Athener Vorstoß für den weitgehenden Ausschluss irakischer Akteure, was die Legitimität der Empfehlungen aus Sicht der Kritiker beschädigte (vgl. ebd.). Als Ursachen für diese, den gesamten Transformationsprozess im Irak betref-fende, Ausschluss- und Legitimitätsproblematik werden in der Literatur das De-Baathifizierungsprogramm, die Marginalisierung der sunnitischen Eliten und ein daraus hervorgehender Mangel an lokalen Experten genannt (vgl. ebd.). Tatsäch-lich sind dem Athens Framework, das nur zwei Monate nach Einmarsch der Alli-ierten im Irak verfasst wurde, bereits folgende Dokumente als Annex beigefügt: Draft Interim Media Law, Draft Code for Professional Conduct, Model Public Service Broadcasting Law, Organizational Chart of Interim Media Commission. Das Legitimitätsproblem gewinnt an Gewicht, wenn man den Ausschluss der Ira-ker hier im Verhältnis zur Umfänglichkeit der Vorschläge sieht.

6.3 Pressefreiheit und Regulierung im Mediensektor

Der Regimesturz im April 2003 markierte auch für die Pressefreiheit einen Wen-depunkt, der die bestehenden Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrte. Sämtliche Beschränkungen zur Teilhabe an massenmedialer Öffentlichkeit und am Besitz von Produktionsmitteln wurden aufgehoben. Jeder Bürger konnte fortan mit ge-ringsten Mitteln Verleger, Betreiber eines Radiosenders oder Produzent werden, denn auch die zu einem frühen Zeitpunkt installierte Regulierungskommission stellte dem neuen Drang zur Artikulation keine Hindernisse in den Weg (vgl. Kap. 6.3.1).

Im Oktober 2005 wurde im Irak eine neue Verfassung verabschiedet, die bürger-liche Freiheitsrechte wie folgt einschließt:

„The state guarantees in a way that does not violate public order and morality: (1) Free-dom of expression, through all means. (2) Freedom of press, printing, advertisement, media and publication. (3) Freedom of assembly and peaceful demonstration, and this shall be regulated by law.“ (Artikel 38)

Während internationale und irakische Beobachter die verfassungsmäßige Veran-kerung von Meinungsfreiheit als unveräußerliches Grundrecht positiv bewerten, wird die Formulierung von einschränkenden Bedingungen als möglicher Hebel für die Zurücksetzung dieser Rechte problematisiert (vgl. Article 19 2007: 4). In

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6.3 Pressefreiheit und Regulierung im Mediensektor

143

Artikel 38 werden „Moral und Ordnung“ als Grenze von Freiheit markiert, ohne dass näher bestimmt würde, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, oder wer Moral im Anwendungsfall definieren wird (vgl. al-Jezairy 2006: 6). In Artikel 46 wird verfügt, dass die gesetzliche Einschränkung von Meinungsfreiheit rechtens sei, solange ihre „Essenz“ unberührt bleibe. Hier gibt vor allem die Formulierung Rätsel auf. Die auf Rechtsfragen im Mediensektor spezialisierte Organisation Ar-ticle 19 kommt zu der Einschätzung, dass die Freiheitsrechte zwar einen Fort-schritt zur vorhergehenden Verfassung darstellen, aber der verfassungsmäßige Schutz von Presse- und Meinungsfreiheit noch hinter den Anforderungen des von Irak ratifizierten ICCPR95 zurückbleibe. Problematisiert werden insbesondere die vage definierten Einschränkungsbedingungen:

„We are concerned that, along with the already limited protection for freedom of ex-pression in Article 38, Article 46 creates significant leeway for restrictions to be im-posed which are not permitted by international law.“ (Article 19 2007: 5; vgl. auch IREX 2008: 12)

Ein eher grundlegendes Problem stellte die weiterhin bestehende Gültigkeit und die Anwendung von Gesetzen aus dem noch nicht reformierten Strafgesetzbuch von 1969 dar. Zunächst werden hier Verleumdung und Beleidigung als Straftaten klassifiziert, was im Kontext internationalen Rechts unüblich erscheint (vgl. Ar-ticle 19 2007: 13). Im Irak kann bis heute die Beleidigung folgender Einrichtun-gen oder Institutionen mit hohen Gefängnisstrafen geahndet werden: das irakische Volk, das arabische Volk, die Flagge, öffentliche Einrichtungen oder Personen der Öffentlichkeit, religiöse Symbole oder religiöse Minderheiten und Beamte (vgl. ebd.).

Ebenfalls weiterhin in Kraft war durch die Gültigkeit des Strafgesetzbuches eine Reihe freiheitseinschränkender Bestimmungen zum Schutz der öffentlichen Ord-nung. Als kritisch wurde hier insbesondere Artikel 215 gesehen, der den Besitz von Material unter Strafe stellt, das den „Ruf der Nation“ oder aber die „öffentli-che Sicherheit“ gefährdet (vgl. Article 19 2007: 14).

Doch auch die amerikanische Übergangsverwaltung Coalition Provisional Admi-nistration (CPA) hat mit Order Nr. 14 ein Gesetz zur Bestimmung von Prohibited Media Activities erlassen, in dem die Pressefreiheit zugunsten von Sicherheitsas-pekten eingeschränkt wird. Gemäß CPA-Order Nr. 14, die angesichts der fakti-

95 International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR).

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

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schen oder gefürchteten Beteiligung der Medien an der Eskalation der ethno-kon-fessionellen Konflikte im Juni 2003 von Zivilverwalter Paul Bremer verabschie-det wurde, war fortan die Veröffentlichung von Material verboten, „that

(1) incites violence against any individual or group, including racial, ethnic or reli-gious groups and women;

(2) incites civil disorder, rioting or damage to property; (3) incites violence against coalition forces or CPA personnel; (4) advocates alterations to Iraq’s borders by violent means; and (5) advocates the return to power of the Iraqi Ba’ath Party or makes statements that

purport to be on behalf of the Iraqi Ba’ath Party“ (al-Rawi 2012: 82).96

In der Praxis wurde Order Nr. 14 genutzt, um die CPA und die amerikanischen Truppen vor Aufhetzung gewaltbereiter Akteure durch oppositionelle Medien zu schützen (vgl. al-Rawi 2012: 83-85; Isakhan 2009). Bekannt geworden war zu-nächst die Schließung der mit der Sadr-Bewegung assoziierten Zeitung al-Hawza sowie das Verbot der Fernsehsender al-Zawra und Salah ad-Din im November 2006. Auch temporäre Schließungen von al-Arabia und al-Jazeera in den Jahren 2006 und 2007 erfolgten mit Verweis auf Order Nr. 14 (vgl. Article 19 2007: 16; Isakhan 2009: 14; Hama Saeed 2008: 588).97 Hinzu kommen kleinere Akteure wie der oppositionelle Radiosender Sawt Bagdad und die Zeitung Sada al-Uma, die wegen des Aufrufs zur Gewalt verboten wurden (vgl. al-Rawi 2012: 82).

Mit Verweis auf die Gefahrenlage wurde im Mai 2007 die journalistische Recher-che nach Anschlägen am Tatort verboten. Damit wurde die rechtliche Grundlage geschaffen, um den Zugang zu diesen Orten für Journalisten und damit auch die Befragung von Zeugen zu verwehren (vgl. Reporters Without Borders 2010: 4; IREX 2008: 15).

Zur Einordnung der Interventionen sei hier bemerkt, dass Sender wie Salah ad-Din und al-Zawra als Sprachrohr der sunnitisch geprägten Aufstandsbewegung de facto zur Gewalt gegen die amerikanischen Besatzer und gegen irakische Kolla-borateure aufgerufen haben. Insbesondere al-Zawra machte sich bald einen Na-men als propagandistischer Hetzsender und die Zeitung al-Hawza war bekannt für

96 In Order Nr. 7 war zuvor speziell der Aufruf zur Gewalt gegen amerikanische und britische

Truppen bereits verboten worden. 97 Al-Jazeera war bereits 2004 vom damaligen Regierungschef Iyad Allawi unter Bezugnahme

auf Order Nr. 7 mit einem temporären Bann belegt worden (vgl. Reporters Without Borders 2010: 3).

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6.3 Pressefreiheit und Regulierung im Mediensektor

145

die Verbreitung extremistischer Ansichten, die sich speziell gegen die US-ameri-kanischen Besatzer richteten. So sehr also internationale Organisationen wie Ar-ticle 19 und andere über den möglichen Missbrauch freiheitseinschränkender Ge-setze wie Order Nr. 14 Besorgnis zeigen, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Aufruf zur Gewalt einen legitimen Grund für Sanktionen darstellt. Gleichsam ist gerade im Irak deutlich geworden, dass repressive Maßnahmen die Popularität der betroffenen Medienangebote und ihrer Herausgeber fördern. Dies ist speziell zutreffend für die Sadr-Bewegung, deren politische Stellung im Irak durch die Schließung ihrer Zeitung ohne Zweifel gestärkt wurde.98

Anders sind die Sanktionen gegen al-Arabiya und al-Jazeera zu bewerten. Die Schließungen wurden hier jeweils mit Verweis auf Nachrichtenbeiträge veran-lasst, in denen über Demonstrationen oder Aktivitäten sunnitischer Widerstands-gruppen berichtet wurde – ein mit Blick auf die damalige politische Lage wichti-ges und relevantes Nachrichtenthema (vgl. al-Rawi 2012: 85). Beide Sender ste-hen aber dem Einmarsch der Alliierten und der Machtübernahme durch schiiti-sche Parteien im Irak kritisch gegenüber, beide Sender haben hohe Reichweiten und genießen Glaubwürdigkeit und Popularität vor allem in sunnitischen Kreisen, sodass allgemein deren Schließung als willkürlich-autoritäres Regierungshandeln kritisiert wurde.

Die Angst der Amerikaner vor al-Jazeera wurde bereits im Mai 2003 zur Triebfe-der illegaler Sanktionen gegen einen kommunalen Sender in Mosul, der Pro-grammteile von al-Jazeera übernommen und ausgestrahlt hatte. General David Petraeus, seinerzeit Division Commander der 101st Airborne Division in Diyala, verwarnte den Direktor von Mosul TV und entsandte einen militärischen Be-obachter, der fortan in den Studios von Mosul TV Posten bezog, um die Arbeit dort zu überwachen. Amerikanische Soldaten, die das Vorgehen kritisierten, wur-den suspendiert (vgl. Price 2007: 8; Jayasekera 2009: 17). Al-Jazeera wurde seit-dem und bis heute regelmäßig mit Sanktionen wie Schließung der örtlichen Büros und Ausschluss von Pressekonferenzen und vom Informationszugang seitens der irakischen Regierung bedacht. Die Abwesenheit von al-Jazeera in der IREX-

98 Die Schließung der Zeitung al-Hawza, insbesondere der Protest der Bürger gegen die Vorge-

hensweise der CPA und die paradoxe Wirkung der Sanktionen waren Gegenstand einer Son-derausgabe des Iraq Media Developments Newsletter, der vom Stanhope Centre for Commu-nications Policy Research in den ersten Jahren nach dem Regimesturz herausgegeben wurde.

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

146

Rangliste der populärsten zehn Sender lässt vermuten, dass diese Maßnahmen aus Sicht der irakischen Regierung mit Erfolg belohnt wurden.

6.3.1 Die Communication and Media Commission (CMC)

Der nach dem Regimesturz um sich greifende Wildwuchs von Sendern und Zei-tungen war in der irakischen Medienpolitik Gegenstand kontroverser Debatten. Auf der einen Seite wurde auf das amerikanische Freiheitsversprechen verwiesen und für die Beibehaltung einer maximal liberalen Politik plädiert. Seit April 2003 waren Lizenzen vom Iraqi Media Network99 ohne Ansehen des Antragstellers mehr oder weniger automatisch vergeben worden. Der Meinungsfreiheit wurden in dieser Hinsicht keine Grenzen gesetzt und auch die Vielzahl unlizensierter Me-dienangebote wurde stillschweigend geduldet. Gegner der grenzenlosen Liberali-sierung problematisierten das Eskalationspotenzial einer politisierten Medien-landschaft und plädierten aus dieser Perspektive für restriktivere Gesetze, Regeln und Regulierung (vgl. Awad und Eaton 2013: 13).

Auf der Grundlage der Order Nr. 65 wurde schließlich im März 2004 die Grün-dung einer Regulierungsbehörde durch die CPA verfügt. Verfasst worden war die Vorlage für das Gesetz von einem der Übergangsregierung IGC zugeordneten Medien-Komitee (vgl. Isakhan 2009: 17). Die Communication and Media Com-mission (CMC) sollte in erster Linie für die Vergabe von Lizenzen und das Ma-nagement der Frequenzen Verantwortung tragen. Darüber hinaus sollte die Kom-mission Regeln für journalistisches Verhalten allgemein und speziell für den Um-gang mit Gewalt und Konflikt formulieren (Code of conduct/Code of ethics).100 Die übergeordneten Ziele sind in CPA-Order 65 wie folgt formuliert:

„Foster plurality of and competition among Iraq´s communication and media services, thereby promoting an informed and culturally diverse citizenship that derives maximum benefit in terms of choice, price and quality.“ (CPA-Order 65, article 1/section 1)101

99 Auch wenn die gesetzliche Grundlage für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk IMN erst im

Juni 2004 verabschiedet wurde, wurde das IMN als Rundfunkinstitution de facto bereits im Zuge der Besetzung der Hauptstadt Bagdad im April 2003 unter Einsatz der staatlichen Sen-deanlagen in Betrieb genommen. In dieser ersten Phase des Aufbaus war das IMN auch für die Vergabe von Lizenzen zuständig.

100 Zu den Aufgaben der CMC siehe auch www.cmc.iq. 101 Für CPA Order 65 siehe http://govinfo.library.unt.edu/cpa-iraq/regulations/.

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6.3 Pressefreiheit und Regulierung im Mediensektor

147

Die Kommission ist als unabhängige Behörde konstituiert, die Sanktionen zwar nicht durchführen, wohl aber einem Gericht vorschlagen kann. Sie hat in den ers-ten zwei Jahren ihrer Existenz zwei für den Mediensektor bedeutsame Regel-werke auf den Weg gebracht:

• A Code for Media During Elections (Dezember 2004): Hier wird u.a. ge-rechter Zugang für alle Parteien zur Öffentlichkeit gesetzlich festgelegt; irakische Sender werden verpflichtet, die Informationskampagnen der In-dependent High Electoral Commission (IHEC) auszustrahlen.

• Interim Broadcasting Programm Code of Practice (Juli 2004)102: In diesem Kodex wird der Aufruf zur Gewalt oder zu öffentlicher Unruhe untersagt; es wird verboten, ‚terrorist messages’ oder ‚false material’ auszustrahlen.103

Zu den Aufgaben der CMC gehört auch das Monitoring von Medieninhalten, das im Juli 2010 erstmals mit der Prüfung von 15 Sendern über einen Zeitraum von einer Woche offiziell angestoßen wurde. Ziel war die Identifizierung von Verstö-ßen gegen den Interim Broadcasting Code for Media in Iraq in den Programmin-halten irakischer Fernseh- und Radiosender. Das Monitoring wurde seither suk-zessive erweitert bis hin zur Prüfung von 22 Sendern Ende 2012, deren Programm zwölf Stunden am Tag beobachtet und geprüft wurde. Über die Ergebnisse des Monitoring wurden regelmäßig Protokolle auf der Webseite des CMC veröffent-licht, in denen die Anzahl von Regelverstößen auf den einzelnen Sendern zur Kenntnis gebracht wurden, ohne dass aber in den Berichten Details über den Ver-stoß erläutert wurden.104 Die Sender, die in den Berichten des CMC mit kontinu-ierlichen Regelverstößen auffallen, sind ausschließlich regierungskritische Sen-der mit sunnitisch geprägtem Hintergrund wie al-Babeliya, Bagdad TV, al-Ra-fidayn, al-Sharkiya, al-Bagdadiya (vgl. al-Rawi 2012: 89). Allein in der Zeit vom 10. August bis 9. September 2010 wurden bei al-Bagdadiya ohne Angaben zu Details 162 Regelverstöße identifiziert. Al-Rawi (2012) bezweifelt die politische Unabhängigkeit der Gutachten und sieht das Monitoring als Instrument staatlicher Repression gegen regierungskritische Medienakteure (vgl. ebd.: 89). Eine weit-

102 Die CPA-Order Nr. 14 und der Interim Broadcasting Code sind inhaltlich im Wesentlichen

identisch. Letzterer hat im Gegensatz zur Order Nr. 14 nicht den Stellenwert eines Gesetzes, sondern nur den Charakter einer Empfehlung.

103 Siehe für beide Dokumente die Webseite der Kommission www.cmc.iq. 104 Die Liste der auf der Webseite veröffentlichten Berichte endet Ende 2012. Es ist unklar, ob

das Monitoring seither fortgeführt wird oder eingestellt wurde.

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

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gehende Übereinstimmung zwischen den im Monitoring als nonkonform einge-stuften Sendern mit der Liste von Schließungsbescheiden in den Jahren 2012 und 2013 legt eine entsprechende Motivlage nahe.105

Das CMC stand mit der Gründung Anfang 2004 vor der Herausforderung, die Lizenzen und Tätigkeiten der bereits bestehenden Sender zu überprüfen und neue Lizenzen entweder zu vergeben oder alte zu entziehen. Als zentrales Problem er-wies sich die unkooperative Einstellung der Medienakteure zur neuen Regulie-rungsbehörde, deren Unabhängigkeit und Kompetenz in Zweifel gezogen wurde und deren Notwendigkeit den Medienunternehmern nicht einleuchten wollte. Re-gulierung erschien als Zensur im demokratischen Gewand und so wurden die Existenz und die Ansinnen der neuen Behörde von den Adressaten der Regulie-rung häufig ignoriert (vg. Awad und Eaton 2013: 14; Sins 2011). Im Jahr 2008 waren gut ein Drittel der Sender nicht registriert, viele von ihnen hatten noch nie Kontakt mit der Kommission.106

Ein Grund für die fehlende Anerkennung der Organisation seitens der Medien-häuser war auch die bekanntermaßen schlechte Qualifizierung der Mitarbeiter (vgl. Price 2007: 11). Bis Mitte 2010 war das CMC nicht in der Lage, das für die Erfüllung ihrer Aufgaben zentrale Medien-Monitoring aufzusetzen. Ressourcen-zehrend war insbesondere ein Dauerstreit mit dem Kommunikationsministerium, das die Zuständigkeit für das Lizenzgeschäft mit Telekommunikationsanbietern für sich reklamierte (vgl. Jayasekera 2009: 14; Sadawi 2007: 23; Sins 2011: 27).

Die CMC (2007) resümiert entsprechend unzufrieden über sich selbst:

„Attacks by various political entities and the Ministry of Communications have required the CMC to spend considerable time and energy defending its existence and its remits under the law. Additionally security concerns have meant that efforts to consult with the industry have suffered. Furthermore, due to lack of qualified staff and capacity, the CMC has often been overwhelmed and unable to respond as effectively as required, particularly when faced with competing issues and events in telecommunications and broadcasting at the same time.“ (Ebd.: 25)

Im Juni 2012, fast zehn Jahre nach ihrer Gründung, trat die Kommission erstmals mit einem autoritären Zugriff in Erscheinung. Es wurde in diesem Monat eine

105 Die Schließungen wurden nicht mit den Ergebnissen des Monitorings begründet, sondern mit

ausstehenden Lizenzzahlungen einerseits und aufwiegelnder Berichterstattung in einem ganz bestimmten Konfliktfall andererseits. Siehe dazu auch Fußnote 107 und 108.

106 Einschätzung der Autorin Anja Wollenberg nach eigenen Recherchen im Jahr 2006/2007 im Rahmen eines Media-Mapping-Projektes.

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6.3 Pressefreiheit und Regulierung im Mediensektor

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Liste von 44 Medienhäusern veröffentlicht, denen vorgeworfen wurde, entweder über keine gültige Lizenz zu verfügen oder ihre Gebühren nicht ordnungsgemäß entrichtet zu haben und die laut CMC deswegen den Betrieb im Irak einstellen müssten. Hintergrund war eine im Februar desselben Jahres erlassene Bestimmung, der zufolge alle im Irak tätigen Medienunternehmen neue Lizenzen erwerben müssen, um weiter senden zu dürfen.

Die Publikation der Liste und die Ankündigung der Schließung wurden von Beobachtern als Vorstoß der Regierung gegen regierungskritische Akteure bewertet. Die politische Ausrichtung der aufgelisteten TV- und Radiostationen lässt an dieser Lesart kaum Zweifel. Neben ausländischen Medienhäusern sind vor allem explizit regierungskritische Medienhäuser wie der TV-Sender al-Sharqiya hier genannt. Einige Medienhäuser, wie die von der US-Regierung finanzierte Radiostation Sawa hatten bereits eine Lizenz erworben und waren entsprechend überrascht, sich auf der Liste wiederzufinden. Auch die Höhe der neu definierten Gebühren wurde als unangemessen kritisiert. Infolge heftiger Kritik im In- und Ausland wurde das Vorhaben zunächst auf Eis gelegt und keiner der genannten Sender tatsächlich geschlossen oder anderweitig belangt (vgl. Wollenberg 2015: 256).

Im April 2013, fast ein Jahr später, wiederholte sich ein ähnlicher Vorgang unter anderen Vorzeichen: Zehn regierungskritische Sender107 aus vornehmlich sunnitisch geprägten Regionen wurden von der CMC wegen Beteiligung an der Konflikteskalation zwischen sunnitischen Demonstranten und dem irakischen Militär in der Stadt Hawija108 mit einem Schließungsbescheid konfrontiert, dessen Umsetzung dann aber nicht weiter verfolgt wurde (vgl. ebd.). In der ausbleibenden Durchsetzung von Sanktionen zeigt sich, neben der politischen Instrumentalisierung der formal unabhängigen Kommission CMC, auch die begrenzte Machtfülle einer Regierung, die in weiten Teilen Iraks aufgrund der dort herrschenden Machtverhältnisse Sanktionen nicht durchsetzen kann. Die Mehrheit der betroffenen Sender hat ihre Produktionsstätten ohnehin ins benachbarte Ausland verlegt und sich auf diese Weise dem Zugriff der irakischen

107 Die vom Lizenzentzug betroffenen Sender waren: Al-Jazeera, al-Sharkiya, Bagdad TV, al-

Sharkiya News, al-Falluja, Babiliya, Salah ad-Din, al-Tagheer, al-Gharbiya und Anwar 2. 108 In der nordirakischen Stadt Hawija nahe Kirkuk wurde am 23. April 2013 eine Demonstration

sunnitischer Bürger von der irakischen Armee brutal zerschlagen. Das Ereignis war Auslöser für eine spätere Eskalation der Konflikte zwischen der irakischen Armee und der sunnitisch geprägten Protestbewegung im Norden Iraks.

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

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Regierung entzogen. Jegliche Schließungsbescheide können insofern immer nur die Länderbüros und nicht den Sender selbst betreffen, was einmal mehr die geringen Handlungsspielräume der Regierung unterstreicht.

6.3.2 Gewalt gegen Journalisten

Die von der irakischen Regierung, den internationalen Truppen, ökonomischen Faktoren und der Gesetzgebung ausgehenden Freiheitbeschränkungen wurden er-gänzt um Bedrohung und faktische Gewalt von Seiten bewaffneter Gruppen ver-schiedener Provenienz. „Iraq was the deadliest country in the world for the media for the fifth straight year in 2007“, konstatiert IREX (2008) in einer Analyse zum Zustand der Pressefreiheit im Irak Anfang 2008 (vgl. ebd.: 4). Al-Rawi (2012) benennt folgende Akteursgruppen als Quellen der Bedrohung für Journalisten: „coalition forces, Iraqi government officials, powerful political parties, insurgent groups, religious leaders, and armed militias and sometimes foreign intelligence officers“ (ebd.: 66). Das Committee to Protect Journalist (CPJ) zählt in der Zeit zwischen 2003 und 2009 151 Todesfälle unter Journalisten, Redakteuren und Me-dienarbeitern. Reporters Without Borders (2010) dokumentiert 230 solcher To-desfälle.109

Als alarmierend gilt insbesondere der in der Bilanz hohe Anteil an gezielten Tö-tungen. Journalisten kommen demnach nicht ums Leben, weil sie gefährliche Orte aufsuchen oder in Kampfhandlungen geraten, sondern weil sie gezielt erschossen werden. Nach Angaben von Reporters Without Borders (2010) sind fast 70 % der Todesfälle dieser Form zuzuordnen (CPJ: 62 %). Täter wurden in keinem Fall gefasst oder verurteilt, Nachforschungen wurden nur vereinzelt und ohne Erfolg angestellt. Es herrschte faktische Straffreiheit, sodass auch über die Hintergründe der Taten nur spekuliert werden kann (IREX 2008: 16). Offenkundig erscheint, dass ein großer Teil der Anschläge sich gegen Kollaborateure richtet, die für Sen-der oder Publikationen des öffentlichen Sendernetzwerkes Iraqi Media Network (IMN) arbeiten, das von der CPA gegründet wurde und daher als Projekt der west-lichen Besatzer gilt (s. Kap. 6.4.1). Das IMN hat laut Reporters Without Borders (2010) in den Jahren 2003 bis 2010 zwanzig Mitarbeiter auf diese Weise verloren.

109 Reporters Without Borders und das Committee to Protect Journalists (CPJ) sind Organisati-onen, die Daten zu Verfolgung und Ermordung von Journalisten weltweit (also auch im Irak) systematisch erheben und dokumentieren. Die Ergebnisse sind teilweise sehr unterschiedlich. Ohne einen systematischen Vergleich vornehmen zu können, sei hier auf die Daten beider Organisationen verwiesen.

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6.3 Pressefreiheit und Regulierung im Mediensektor

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Mitarbeiter von regierungskritischen, sunnitisch geprägten Sendern wie Bagdad TV und al-Bagdadiya sind ebenfalls von Gewalt betroffen. Bagdad TV hat als Sender der sunnitischen Irakisch Islamischen Partei den Verlust von sieben Mit-arbeitern zu beklagen, der saudi-arabische Sender al-Arabiya hat sechs Mitarbei-ter verloren, al-Bagdadiya zwei (ebd.). Die Gleichverteilung der Opfer zwischen sunnitisch und schiitisch geprägten Medienhäusern wirft Fragen über die Motive der Täter auf, denn unter Beobachtern galt die Vermutung, dass Journalisten auf-grund ihrer Tätigkeit für regierungsfreundliche Medienhäuser ins Visier verschie-dener Gruppierungen aus der sunnitisch geprägten Aufstandsbewegung und von al-Qaida geraten. Angriffe auf sunnitisch-oppositionelle Medienhäuser stehen zu dieser These im Widerspruch und sprechen für Täter aus dem breiten Spektrum der politischen Parteien bzw. deren Milizen.

Kim und Hama-Saeed (2008) identifizieren im Rahmen ihrer Untersuchung neben terroristischen Gruppen entsprechend auch Sectarian Militias und Militant Groups Connected to Politicians als bedeutendste Quelle der Bedrohung für Jour-nalisten, ohne jedoch diese Tätergruppen genauer einzugrenzen (vgl. ebd.: 586). Gemäß den Darstellungen der von den Autoren befragten Journalisten geht Ge-fahr für Medienarbeiter primär von Parteimilizen aus, die im Auftrag führender Politiker unliebsame Kritiker aus dem Weg räumen. Auch al-Rawi (2012) ver-weist auf schiitische Parteimilizen wie die Mahdi-Armee und die Badr Brigaden als wesentliche Quelle der Gewalt gegen Journalisten und benennt darüber hinaus sowohl klerikale Autoritäten wie Muqtada al-Sadr und Ayatollah al-Sistani als auch al-Qaida als unantastbar, wollen Journalisten ihre Sicherheitsinteressen wah-ren. Jede Kritik an den genannten Akteuren sei für den jeweiligen Autor mit dem Risiko einer Gewalterfahrung verbunden (vgl. ebd.: 65-69).

Die ständige Präsenz faktischer und potenzieller Gewalt hat das Berufsleben der irakischen Journalisten im Untersuchungszeitraum geprägt wie kein anderer Fak-tor. Dennoch ist eigentlich bemerkenswert, in welch geringem Maße die Journa-listen sich vom Journalismus haben abbringen lassen. Die Produktivität und Viel-falt der Medienlandschaft war selbst in den gefährlichen Jahren 2005-2007 nicht rückläufig, im Gegenteil: Die Brookings Institution (2007) verzeichnet auch in diesen Jahren einen leichten Anstieg in der Zahl der Publikationen und Sender, was auf eine ebenfalls steigende Anzahl von Journalisten schließen lässt. Inwie-fern die Gewalt im Umfeld des journalistischen Berufs die Auswahl und journa-listische Verarbeitung von Themen inhaltlich dennoch konditioniert, ist bisher

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

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nicht systematisch untersucht worden. Die von Kim und Hama-Saeed (2008) be-fragten Journalisten beschreiben Vermeidungsverhalten auf zwei Ebenen: Erstens wird nicht über Ereignisse berichtet, bei denen ein Zusammenhang zwischen den Aktionen bewaffneter Milizen, Parteien und Politiker offenkundig ist. Dies gilt insbesondere auf lokaler Ebene, weil hier Anonymität von Autoren kaum gewahrt werden kann. Über die Taten lokaler Parteimilizen gibt es entsprechend keine Be-richterstattung. Zweitens haben sich allerorten sogenannte No-Go-Areas heraus-gebildet, die von Journalisten ganz generell gemieden werden, sodass Ereignisse in diesen Gebieten überhaupt keiner journalistischen Beobachtung mehr ausge-setzt sind (vgl. ebd.: 586). In der Expertenrunde zum Media Sustainability Index (IREX 2008) wird eine von Angst geprägte Atmosphäre unter den Journalisten und zunehmende Hoffnungslosigkeit beschrieben. Der gesamte Arbeitszyklus, von der Themensuche über die Auswahl der Quellen bis hin zur Auswertung von Informationen, sei überschattet von der Frage einer mit dem Beitrag möglicher-weise verbundenen Gefahr der juristischen oder bewaffneten Verfolgung (vgl. ebd.: 14; al-Rawi 2012: 101).

Neben den Milizen und anderen lokalen Akteuren stellten in den ersten Jahren der Besatzung auch die internationalen Truppen unter US-amerikanischer Führung eine Bedrohung für die irakischen Journalisten dar. Reporters Without Borders (2010) umreißt die Rechtspraxis der Truppen wie folgt:

„Suspected of collaborating with the insurgents, Iraqi journalists were routinely arrested during the conflict. As the war progressed, the lengths of their detentions increased, even though they had not been charged or tried by any competent authority.“ (Ebd.: 10)

Zwischen 2003 und 2010 sind mindestens 30 Journalisten ohne Rechtsgrundlage über Wochen und Monate festgehalten worden. Camp Bucca im Süden Iraks galt zeitweise als Gefängnis mit der höchsten Zahl inhaftierter Journalisten im ganzen Mittleren und Nahen Osten (vgl. ebd.). In diesem von den multinationalen Trup-pen erschaffenen rechtsfreien Raum wurde ein Militärgericht improvisiert, das Combined Review and Release Board, das über Freilassung und weitere Festset-zung der Inhaftierten zu entscheiden hatte, die aus ihrer Sicht entweder einen „im-perative threat to coalition forces and Iraqi security“ darstellten – oder eben nicht (vgl. ebd.:10). Bekannt geworden ist der Fall von Pulitzer-Preisträger Bilal Hussein, der als Fotograf im Irak für Associated Press tätig war und über zwei Jahre ohne Anklage, Verfahren oder Rechtsbeistand in dieser Weise verwahrt wurde (vgl. IREX 2008: 15). Reporters Without Borders (2010) kritisierte diese

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6.4 Medienpluralismus und politischer Parallelismus

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Praxis als verfassungswidrig und als tiefgreifende Verletzung der Genfer Kon-ventionen und der Internationalen Menschenrechte.

6.4 Medienpluralismus und politischer Parallelismus

In Anlehnung an bestehende Typologien110 sollen für die nun weiterführende Analyse der Medienlandschaft im Folgenden drei Typen von Medienangeboten unterschieden werden: öffentliche Sender und Zeitungen sowie parteiliche und private Medienangebote.

6.4.1 Öffentliche Sender und Zeitungen

Als wohl wichtigstes und zugleich schwierigstes Projekt der Zivilverwaltung CPA im Mediensektor ist der Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks anzu-sehen, für den mit CPA-Order Nr. 66 im März 2004 das rechtliche Fundament gelegt wurde. Die Vorbereitungen für den Aufbau einer öffentlich-rechtlichen Sendergruppe hatten bereits 2002 im Rahmen der Planungsgruppe Future of Iraq111 begonnen. Die De-facto-Implementierung dieser Pläne war direkt nach dem Einmarsch im April 2003 unter Supervision von Zivilverwalter Paul Bremer eingeleitet worden. Bereits am 10. April 2003 wurde eine öffentliche Radiostation in Betrieb genommen und am 13. Mai folgte der Start des öffentlichen TV-Sen-ders al-Iraqiya (vgl. al-Rawi 2012: 72).

Zu den zentralen Aufgaben des hiernach als Netzwerk der öffentlich-rechtlichen Sender gegründeten Iraqi Media Network (IMN) gehörte im Kern die Erneuerung von kultureller Kohärenz in der Gesellschaft sowie die Unterstützung des Demo-kratisierungsprozesses durch Partizipation und Publizität. Die Repräsentation von

110 Typologien z.B. von Ibrahim al-Marashi (2007), International Media Support (2011) und Ah-med al-Rawi (2012). Al-Rawi (2012) zählt die staatlichen Sender zur Gruppe der parteilichen Medien und ergänzt seine Typologie um die Gruppe der „regional channels that are supported by other countries/regional groups“ (ebd.: 105), eine Merkmalsausprägung, die für viele par-teiliche sowie unabhängige/kommerzielle Sender gleichermaßen zutrifft, sodass in der vorlie-genden Arbeit von dieser Kategorie abgesehen wird. Al-Rawi (2012) unterscheidet somit fol-gende Gruppen: (1) Partei- und Regierungssender, (2) semi-unabhängig/kommerziell und (3) „regional channels that are supported by other countries/regional groups“ (ebd.: 105f.).

111 Das Future of Iraq Project wurde in den USA Mitte 2002 als Planungsstab für eine Transfor-mation der irakischen Gesellschaft nach dem Sturz des Saddam-Hussein-Regimes gegründet. Über 200 Exil-Iraker entwickelten in 17 Arbeitsgruppen über den Zeitraum eines knappen Jahres Transformationsstrategien für verschiedene Politikbereiche, die dann aber nach April 2003 nur eingeschränkt umgesetzt wurden.

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Vielfalt wird im Mandat ebenso verankert sowie zivilgesellschaftliches Engage-ment. Auch die Unparteilichkeit des Senders wird im Gesetz gleich zu Beginn festgelegt. Im Wortlaut wird unter anderem formuliert:

„This order is designed to establish an institutional framework that will educate, enter-tain and inform the people of Iraq, but will not be a tool of political or inappropriate outside interest (CPA-Order 66, Section 1/1) […]. [It] is designed to create a platform to reflect and foster the varied values of Iraqi society, which facilitates access by the public to information vital to participating in a rapidly globalizing world and which contributes to an unbiased representation of Iraqi society to the world (CPA-Order 66, section 1 /3). […] The public service broadcaster shall act in accordance with the prin-ciples of independence, universality, diversity and distinctiveness. The public service broadcaster shall reflect the democratic, social and cultural values of Iraqi society and at all times shall strive to reflect fairly and equitably the regional, cultural and political diversity of Iraq and its people.“ (CPA-Order 66, section 3/2)112

Auch die Versorgung der Bürger mit Informationen aus allen Bereichen der Ge-sellschaft wird im Gesetz als Teil des Auftrags bestimmt. Im Mittelpunkt des Mandats steht aber prominent die Inklusion, Repräsentation und Förderung von kultureller und sprachlicher Vielfalt.113

Um die Unabhängigkeit des Senders zu sichern und ihn gegen Interventionen von staatlicher Seite zu schützen, wurde ein neunköpfiger Beirat installiert und mit einer Reihe von Supervisionsfunktionen versehen. Die Beiratsmitglieder werden laut CPA-Order Nr. 66 vom Premierminister vorgeschlagen und vom Parlament bestätigt.

Für den Aufbau des IMN und das Management der 350 Mitarbeiter wurde zu-nächst das amerikanische Unternehmen Science Application International Cor-poration (SAIC) für eine Vergütung von 108,2 Mio. USD im ersten Jahr ver-pflichtet (vgl. al-Rawi 2012: 72). SAIC ist ein sogenannter Defense Contractor mit Kernkompetenzen in der Entwicklung und Implementierung komplexer Si-cherheitssysteme, der schon an der Suche nach Massenvernichtungswaffen im

112 Für den vollständigen Text CPA Order 66 siehe: http://govinfo.library.unt.edu/cpa-iraq/regu-

lations/[letzter Zugriff: März 2018]. 113 In Paragraph 1/4 der CPA-Order 66 wird wie folgt explizit auf Sprachen und Minderheiten

Bezug genommen: „[This order is designed to] create a forum within which minority lan-guages and culture are allowed to develop in a non-divisive manner and in a way that contrib-utes to reconciliation, tolerance and unity.“

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6.4 Medienpluralismus und politischer Parallelismus

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Irak maßgeblich beteiligt gewesen war.114 SAIC-Experten engagierten sich als ve-hemente Kriegsbefürworter sowohl in den Medien als auch in den Entscheidungs-gremien des Pentagon. Eine Woche vor Einmarsch der alliierten Truppen im Irak erhielt SAIC den Auftrag für den Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vor Ort.

Die Beauftragung von SAIC erwies sich bald als Fehlentscheidung mit dramati-schen Folgen (vgl. Price 2007: 8; al-Rawi 2012: 70-80; Barlett und Steele 2007). Aufgrund fehlender Kompetenzen im Bereich der Medienentwicklung und in Un-kenntnis der Bedeutung öffentlich-rechtlicher Unabhängigkeit wurde dem Drang der Regierenden, die staatlichen Sender für ihre Kommunikationsinteressen ein-zusetzen, keinerlei Widerstand entgegengesetzt. Die CPA hatte in dieser frühen Phase der Besatzung praktisch uneingeschränkten Zugriff auf die Studios und die Programmplanung bei al-Iraqiya (vgl. Awad und Eaton 2013: 11; al-Rawi 2012: 72-74; Isakhan 2009; Wollenberg 2015: 255). Engagierte Schlüsselfiguren wie TV-Direktor Jalal al-Mashta, Nachrichtenchef Ahmed al-Rikabi und Berater Don North verließen das IMN schon nach wenigen Monaten frustriert und desillusio-niert (vgl. al-Rawi 2012: 72-74).

Ende 2003 wurde deutlich, dass keines der mit SAIC vereinbarten Vertragsziele erreicht worden war, eine weitere Bestandsaufname der SAIC-Performanz im März 2004 förderte zudem Missmanagement, Korruption und Vertragsverletzun-gen auf breiter Front zutage (vgl. Katulis 2004: 4f.).115 SAIC wurde an diesem Punkt seiner Aufgaben enthoben und ersetzt durch die Harris Corporation, die für die weitere Betreuung des Projektes 118 Mio. USD erhielt und mit der Leba-nese Broadcasting Corporation (LBC) einen arabischen Partner ins Boot holte.116

114 Es war SAIC-Vorstandsmitglied David Kay, der in den NBC-Nachrichten erklärte, wie in den

als Chemiefabriken identifizierten mobilen Containern Saddam Husseins Massenvernich-tungswaffen hergestellt würden – eine Behauptung, die sich wenig später als substanzlos er-weisen sollte (vgl. Barlett und Steele 2007).

115 Trotz eines monatlichen Budgets von etwa sechs Mio. USD war es nicht gelungen, im Sender eine technische Grundausstattung aufzubauen, Möbel zur Verfügung zu stellen oder angemes-sene Gehälter auszuzahlen. Der Präsident von Internews Network David Hoffmann beschreibt den Zustand der Organisation nach eigener Anschauung als „worst mess I have ever seen in my life“ (zitiert nach al-Rawi 2012: 72).

116 Die Mittel für den Aufbau des IMN und damit für die Vergütung der Harris Corporation und der LBC wurden nicht aus dem amerikanischen Haushalt, sondern vom Iraqi Trust Fund be-reitgestellt, in dem Einnahmen aus dem irakischen Ölgeschäft von der UNDP für den Wie-deraufbau des Landes verwaltet werden (vgl. Awad und Eaton 2013: 12).

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Mit Übergabe der Regierungsgeschäfte an den Interim Governing Council unter Führung von Interim-Premierminister Iyad Allawi wurde die Rolle des IMN als Kommunikationsinstrument der politischen Eliten perpetuiert. Statt auf dem öf-fentlichen Sendekanal in einen Wettbewerb mit anderen Parteien zu treten, be-warb Iyad Allawi seine zur Wahl stehende Partei Irakische Liste dort im Allein-gang (al-Jezairy 2006: 11) – mit geringem Erfolg, nebenbei bemerkt, denn die Wahlen im Januar 2005 wurden von anderen Parteien gewonnen.117 Doch die Weichen für die Zukunft des IMN waren in diesem ersten Jahr in eine Richtung gestellt worden, die von den in Order Nr. 66 formulierten Idealen eines unabhän-gigen Public Service Broadcasters deutlich abwich.

Zum Zeitpunkt der Datenerhebung für die vorliegende Studie im Jahr 2008 um-fasst das IMN über 20 regionale und eine Handvoll zentraler Fernseh- und Radi-ostationen sowie die Zeitung al-Sabah, die mit 30.000 Exemplaren die auflagen-stärkste Publikation ist. Auch al-Iraqiya rangiert 2008 in Konkurrenz mit den pri-vaten Sendern al-Sumeria und al-Sharkiya unter den ersten drei im Reichweiten-ranking der irakischen Sender (vgl. Kap. 6.5).

In einer Untersuchung von Sendeinhalten irakischer Satellitensender im Jahr 2007 beschreibt al-Marashi (2007) die Berichterstattung auf al-Iraqiya als parteilich zu-gunsten der Regierung. In der Darstellung von Konflikten wird bei al-Iraqiya eine regierungskonforme Linie favorisiert; Fortschritte im Bereich Sicherheit und wirtschaftlicher Wiederaufbau werden thematisch in den Vordergrund gerückt. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen Erfolge im Kampf gegen den Terro-rismus und nachgeordnet die loyale Haltung der Bürger zum Militär in diesem Kampf. Einfache Bürger erklären sich mit den Soldaten solidarisch und in soge-nannten Public Service Announcements werden die Iraker eingeladen, Informati-onen über terroristische Aktionen an die Behörden zu liefern. Insgesamt wird un-ter Einsatz von exklusivem Bildmaterial umfassend über militärische Operationen berichtet (vgl. al-Marashi 2007: 75). Ereignisse oder Missstände, die im Wider-spruch zu der von den Regierenden avisierten Entwicklung Iraks stehen, werden

117 Die Irakische Liste wurde drittstärkste Kraft hinter der Vereinigten Irakischen Allianz (Ibra-

him al-Jafari) und der Demokratisch Patriotischen Allianz Kurdistans, einem Parteienbündnis der großen kurdischen Parteien.

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6.4 Medienpluralismus und politischer Parallelismus

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bei der Nachrichten- und Themenauswahl von der Redaktion ausgeblendet (vgl. al-Rawi 2012: 78).118

6.4.2 Parteiliche Medienangebote

Als parteiliche Medienangebote werden in der vorliegenden Arbeit Sender und Zeitungen bezeichnet, die von politischen Interessengruppen und Parteien ge-gründet, betrieben und/oder finanziert werden. Analog zur Struktur der Parteien-landschaft wären als repräsentative Beispiele in dieser Gruppe für das Jahr 2008 zu nennen: al-Furat (Oberster Islamischer Rat im Irak), Bagdad TV und Dar al-Salam Radio (Irakische Islamische Partei), al-Masar TV und al-Masar Radio (Dawa Partei), al-Salam TV und Radio (Sadr Bewegung), KurdSat (Patriotische Union Kurdistan), Kurdistan Satellite Channel (Kurdische Demokratische Partei), Turkmeneli Radio und TV (Iraqi Turkmen Front) (vgl. al-Marashi 2007; Sins 2011: 13). Je nach Ressourcenausstattung sind die Parteien bestrebt über den Ein-satz einzelner Kanäle hinaus alle denkbaren Mediengattungen zu kombinieren. Große Parteien wie der Oberste Islamische Rat im Irak, die Dawa Partei, die Ira-kische Islamische Partei oder die beiden kurdischen Parteien KDP und PUK be-treiben jeweils Webseiten, mehrere Fernsehkanäle, Zeitungen und Radiostationen und versuchen so, ihre Reichweite zu optimieren (vgl. Sins 2011: 13; Price et al. 2010: 232). Der Anschluss des Senders an die Parteilinie wird gemeinhin durch eine parteipolitisch motivierte Besetzung der Führungsriege realisiert. Grundle-gend für die Konstitution einer Abhängigkeitsbeziehung ist aber immer die Fi-nanzierung des Senders oder der Zeitung durch die Partei.

Politische Loyalität wird vom Führungspersonal erwartet, nicht aber zwingend von den auf operativer Ebene tätigen Journalisten, deren politische Haltung Pri-vatsache bleibt, solange die Mitarbeiter die im Betrieb maßgebliche Parteilinie nicht infrage stellen. Entsprechend gibt es Mobilität auf dieser Ebene, da Journa-listen zwischen Medienhäusern verschiedener politischer Provenienz wechseln – verbunden mit einem hohen Maß an Unzufriedenheit über die eigene Praxis des parteipolitischen Journalismus (vgl. al-Jezairy 2006: 11; IREX 2006: 19).

118 „For example, the Iraqia channel ignored the serious security and public service issues be-

cause they were not in line with the CPA´s media plan. Other incidents – like the Abu Ghraib scandal, the assaults on Falluja city and the high amount of radiation left there, the rape of 14-old Abeer Al-Jinabi and the slaying of her family in a Sunni area – received scant if no cov-erage by IMN. In fact, airing any kind of criticism against the Iraqi and US authorities was not part of IMN’s policy.“ (al-Rawi 2012: 78).

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Der Zusammenhang zwischen Sender und Partei wird in vielen Fällen offen kom-muniziert, in manchen aber verdeckt und mit der Behauptung der Unabhängigkeit geleugnet, sodass die Gruppe der Parteimedien von der Gruppe der privaten Me-dienhäuser nur ungenau unterschieden werden kann. In der Grauzone zwischen Privat- und Parteibetrieb operieren auch sogenannte Shadow Media (vgl. Sins 2011: 19), Medienhäuser, die sich selbst als unabhängig bezeichnen, aber im Hin-blick auf Agenda, Personal und finanzielle Ausstattung bestimmten Parteien ein-deutig zuzuordnen sind. Als Beispiel wäre hier die kurdische Zeitung Rozhnama zu nennen, die ihrer Selbstdarstellung nach als unparteiliche Publikation auftritt, de facto aber der kurdischen Goran-Bewegung verbunden ist. Der Sender Biladi TV wird vom ehemaligen Ministerpräsidenten sowie Gründer und Vorsitzenden der Nationalen Reformbewegung Ibrahim al-Jafari betrieben, bezeichnet sich aber in der Selbstdarstellung auf der Webseite als unparteilich: „without siding with any group or sect“ (ebd.; al-Rawi 2012: 181).

Die Funktion der Parteimedien im Irak beschreibt Price (2010) als Derivat reiner Machtpolitik:

„The parties sought to employ agenda setting tactics to further their view on the role of Islam in the state, the nature of federalism, and how to maintain security, all of which are intimately related with issues of power sharing. Federalism would augment the Kurdish and Shia parties’ power, at the expense of Sunni and Turkmen parties, while an Islamist state would augment the power of the Shia Islamist parties and threaten the power of secular Kurdish parties.“ (Ebd.: 234)

Zur Gruppe der parteilichen Medien werden in der Literatur pauschal auch Sender gezählt, die von ganz unterschiedlichen Interessengruppen zwischen Zivilgesell-schaft, Religion und Politik betrieben werden. Im Süden Iraks sind schiitisch-kle-rikale Organisationen wie die al-Mudarassi Hawza, die al-Sistani Hawza und die al-Mihrab Martyr Foundation mit eigenen Zeitungen und Radiosendern aktiv. Ihre Mission liegt ganz klar in der religiösen und ideellen Festigung der schiiti-schen Glaubensgemeinschaft, die Programminhalte sind weitestgehend religiösen Themen gewidmet. Im Zentral- und Nordirak und ganz besonders in Kirkuk be-treiben christliche, turkmenische, assyrische und andere ethno-konfessionelle Ge-meinschaften Medien als Knotenpunkt ihrer Selbstbehauptung im Prozess der ge-sellschaftlichen Neuordnung.

Auch amerikanische Projekte wie al-Hurra Iraq und Radio Sawa sind dem Seg-ment der Parteimedien zuzuordnen. Al-Hurra Iraq wurde ursprünglich als natio-nale Adaption des arabischsprachigen Senders al-Hurra (Die Freie) gegründet, mit

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6.4 Medienpluralismus und politischer Parallelismus

159

der erklärten Absicht ‚to win the hearts and minds’ der Iraker und dem darüber hinaus reichenden Ziel, eine moderne und jugendliche Alternative zu al-Jazeera anzubieten (vgl. Jayasekera 2009: 16f.). Auch der in Sulimaniya ansässige kurdi-sche Radiosender Nawa wurde mit US-amerikanischen Geldern in den ersten Jah-ren nach dem Regimesturz finanziert.

Kritisiert wurde die amerikanische Öffentlichkeitsarbeit später für die systemati-sche Produktion positiv eingefärbter Artikel über die Lage der Nation und die Distribution dieser Artikel über irakische Zeitungen. Agenturen fertigten journa-listisch anmutende Artikel und die irakischen Zeitungen wurden für deren Veröf-fentlichung bezahlt (vgl. Cochrane 2006; Jayasekera 2009: 15; Isakhan 2009: 16-17). Noch im Jahr 2009 hat das amerikanische Verteidigungsministerium Ver-träge über 300 Mio. USD mit privaten Firmen über die Produktion von Nachrich-ten, Unterhaltungssendungen und Public Service Announcements für den iraki-schen Markt abgeschlossen (vgl. Isakhan 2009: 17).

6.4.3 Private Medienangebote

Als unabhängig werden in der Literatur nichtstaatliche Medienangebote bezeich-net, deren wirtschaftliche Existenz auf privaten Geldern sowie Werbe- und Ver-kaufseinkünften beruht und die entsprechend von keiner Partei finanziert oder be-trieben werden. Gemeinhin handelt es sich um Sender und Publikationen mit einer stark regierungskritischen oder oppositionellen Agenda, die in vielen Fällen von politisch ambitionierten Gegnern der neuen Regierung bzw. der amerikanischen Besatzung gegründet wurden. Unabhängigkeit ist in diesem Kontext also keines-wegs gleichzusetzen mit Unparteilichkeit, sondern eher als Synonym für eine op-positionelle Agenda zu verstehen. In der vorliegenden Arbeit wird deswegen der Begriff der privaten Medien verwendet.

Als umstrittener Protagonist in diesem Segment gilt der Satellitensender al-Sharkiya, der aufgrund der stark antiamerikanischen, regierungskritischen und sunnitisch geprägten Programmagenda von vielen Beobachtern auch als parteilich klassifiziert wird (vgl. Cochrane 2006). Al-Sharkiya und die begleitende Zeitung Azzaman wurden im Jahr 2004 von dem Medienmogul Saad al-Bazzaz gegründet, dem eine politische Karriere aufgrund seiner engen Beziehungen zu Saddam

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

160

Hussein nach dem Regimewechsel nicht offenstand und der seine politischen Am-bitionen seither erfolgreich im Mediensektor verfolgt.119 Al-Sharkiya sendet aus Dubai und wird von der saudi-arabischen Königsfamilie finanziell unterstützt – ein Umstand, der die prosunnitische Parteilichkeit des Senders noch unterstreicht und auch die mangelnde Trennschärfe zwischen parteilichen und privaten Sen-dern verdeutlicht (vgl. Isakhan 2009: 13; al-Jezairy 2006; al-Rawi 2012: 179)120. Al-Sharkiya beschreibt sich selbst als unabhängig, unparteilich und als Gegner ethno-konfessionell motivierter Berichterstattung (al-Marashi 2007: 84).121

Als Speerspitze für unabhängigen Journalismus haben sich die Zeitungen etab-liert. Schlüsselpositionen in diesem Feld nehmen unter anderem die kurdischen Zeitungen Hawlati und Awene sowie die arabischen Zeitungen al-Mada, al-Alam und Sabah al-Jadeed ein. Die Chefredakteure und vor allem die Kolumnisten die-ser Zeitungen genießen in der irakischen Bildungselite viel Anerkennung, weil sie trotz anhaltender Finanzmisere und ungeachtet der andauernden Bedrohung durch radikale Islamisten auf der einen und staatliche Akteure auf der anderen Seite am Ideal des kritischen Journalismus festhalten und, zumindest formal betrachtet, den Beweis für die Möglichkeit parteiunabhängiger Berichterstattung im Irak antre-ten. Printpublikationen sind elitäre Projekte, die politische Zielgruppen adressie-ren, und für diese als Stimmungsbarometer und Meinungsbild von Bedeutung sind (vgl. Sins 2011: 39).122 Mit Ausnahme der staatlichen Zeitung al-Sabah, die mit etwa 30.000 Exemplaren zirkuliert, verkauft eine irakische Zeitung im Durch-schnitt nur 3.000-5.000 Exemplare. Weil auf der Basis solcher Auflagenzahlen kaum Umsatz gemacht werden kann, wird Zeitungsjournalismus im Irak praktisch privat finanziert. Viele Medienhäuser werden von wohlhabenden irakischen Mä-zenen unterstützt, viele Verleger betreiben industrielle Projekte, um ihre Zeitung

119 Saad al-Bazzaz war zu Zeiten des Baath-Regimes eine Schlüsselfigur im irakischen Medien-

betrieb. Er leitete unter anderem die staatliche Nachrichtenagentur sowie zeitweise den staat-lichen Rundfunk. Bevor er 1992 aufgrund eines Zerwürfnisses mit Saddam Hussein aus Irak nach London flüchtete, war er Chefredakteur der staatlichen Zeitung al-Jumhuriya.

120 Die Förderung sunnitisch geprägter Medienangebote durch Saudi-Arabien ist aber kein Ein-zelfall. Al-Rawi (2012) bemerkt dazu: „Many Iraqi experts think that Iran and Saudi Arabia are the main instigators of sectarian hatred in Iraqi society by their direct and indirect support of certain media channels and political parties.“ (Ebd.: 65).

121 Siehe auch die Webseite des Senders www.alsharkiya.com. 122 Vgl. Kapitel 6.5 zu Reichweiten und Bedeutung von Zeitungen in der Medienlandschaft: Nur

3 % der Iraker lesen regelmäßig Zeitung, die Auflagen für reichweitenstarke Zeitungen liegen unter 10.000 Stück. IREX (2010) konstatiert dazu: „Newspaper readership is generally low in Iraq.“ (Ebd.: 41).

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6.4 Medienpluralismus und politischer Parallelismus

161

zu finanzieren. In den meisten Fällen wird eigenes Vermögen mit Zuwendungen von Sponsoren kombiniert. Im Wettbewerb mit den parteifinanzierten Medien um Reichweiten, aber auch um qualifizierte Mitarbeiter haben die privaten Zeitungen das Nachsehen (vgl. IREX 2008: 21).

Die Gruppe der politisch ambitionierten Zeitungen und Sender wird innerhalb dieser Kategorie der Privaten ergänzt um eine kleine Gruppe von Anbietern, die keiner politischen Partei zuzuordnen sind und die in Programmgestaltung und Äs-thetik auf kommerzielle Ziele ausgerichtet sind. Führend in dieser Gruppe ist der TV-Sender al-Sumeria, der von al-Marashi (2007) als Sender mit der „most neut-ral and objective language in its news program“ (ebd.: 84) identifiziert wird. Al-Sumeria offeriert eine große Bandbreite an Unterhaltungsformaten und hat sich mit diesem Profil des kommerziellen Unterhaltungssenders auf Platz 2 im Wett-bewerb um Reichweiten etabliert (vgl. IREX 2010; siehe auch Kap. 6.5). Art und Umfang der auf Al-Sumeria gezeigten Werbung lassen substanzielle Einkünfte vermuten, sodass der Sender auch für die Möglichkeit von lukrativen Medienge-schäften im Irak steht. Das kommerzielle Zugpferd im Programm ist der populäre Gesangswettbewerb Iraqi Star (Zayer 2007: 8).

Unter dem Slogan Broadcasting Life präsentiert al-Sumeria sich in der Selbstdar-stellung als Fürsprecher von Werten wie Integrität, Moral, Mut, Familie und Har-monie123 sowie als Bollwerk gegen den Zerfall des Landes, für den Zusammenhalt der Iraker und für die Einheit Iraks. Insgesamt spiegelt die Selbstbeschreibung des eigentlich kommerziell aufgestellten Senders einen umfassenden gesellschaft-lichen Auftrag wider, der zwar auf etwas naive Weise, gleichwohl treffsicher die Lebenslagen der Menschen im Irak adressiert. Kommerzielle Interessen werden hier verklammert mit gesellschaftspolitischen Anliegen im Bereich konsensfähi-ger Werte.

Als weitere Sender in diesem Segment wären al-Bagdadiya zu nennen, ein Satel-litensender mit moderat sunnitischem Einschlag und Hauptsitz in Kairo, sowie die Radiosender al-Nas und Dijla, die miteinander um die größte Call-In-Com-munity Bagdads konkurrieren. Beide Radiosender wurden von Irakern gegründet,

123 Konkret werden in der Selbstdarstellung des Senders hervorgehoben: Integrität (‘Alsumeria

TV adheres to a high level of ethical and moral conduct’), Mut (‘Alsumeria TV dares to face all challenges in Iraq, determined to overcome all obstacles’) und Harmonie (‘A social, fam-ily, and individual coherence will ultimately paint a more beautiful picture of the country’); zitiert nach einer englischsprachigen Printbroschüre des Senders aus dem Jahr 2008.

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

162

die viele Jahre im Ausland gearbeitet hatten und ihr Kapital nach dem Fall des Regimes über ihre Radiosender zurück ins Land brachten.124

Fünf Jahre nach der Liberalisierung der Medienlandschaft ist die wirtschaftliche Existenz der nicht-parteifinanzierten und unabhängigen Medien prekär, denn der Werbemarkt ist schwach entwickelt. Der größte Kunde am Werbemarkt ist mit ca. 60 % die Regierung, die breit gefächert Werbeplatz für Public Service An-nouncements, für Projekt- und Stellenausschreibung und für Kampagnen ein-kauft. Im Anzeigengeschäft mit der Regierung werden regierungskritische Me-dien klar benachteiligt oder gar nicht erst in den Kreis der Werbepartner aufge-nommen (vgl. Sins 2011: 36). Ismail Zayer, Chefredakteur der oppositionellen Zeitung Sabah al-Jadeed, berichtet, dass mitunter Anzeigen der Regierung in un-mittelbarer Reaktion auf kritische Berichterstattung in der Art einer Bestrafung oder Warnung zurückgezogen wurden (vgl. Sins 2011: 36). Die Agenturen ver-langen zudem Provisionen von bis zu 60 % insbesondere von kleinen, unabhän-gigen Medienhäusern, sodass deren ohnehin geringe Werbeeinkünfte zusätzlich wegschmelzen.125 Da Politik und Wirtschaft stark miteinander verstrickt sind, wird auch die Mediaplanung privater Wirtschaftsunternehmen im Irak von politi-schen Interessen überformt. Wirtschaftsunternehmen sind auf das Wohlwollen der Regierung und vielleicht auch auf Regierungsaufträge angewiesen und schal-ten schon deswegen keine Anzeigen in oppositionellen Medien.

6.4.4 Nachrichtenagenturen

Im Gegenzug zur zunehmend politisierten Berichterstattung wurde bereits im ers-ten Jahr nach dem Fall des Regimes eine Handvoll Nachrichtenagenturen gegrün-

124 Der Journalist Ahmed al-Rikabi ist Gründer und Besitzer von Radio Dijla. Al-Rikabi hat den

Irak aus politischen Gründen zu Zeiten des Baath-Regimes verlassen und war vor seiner Rück-kehr in den Irak 2003 als Journalist in Schweden und London tätig. 2003 war er für kurze Zeit Nachrichtenchef des öffentlichen Senders al-Iraqiya. Khalil al-Mussawi, irakischer Ge-schäftsmann im Londoner Exil, ist Gründer und Besitzer von Radio al-Nas sowie heute iraki-scher Botschafter in Südkorea.

125 Das Problem der politisch gelenkten Verteilung staatlicher Werbeetats war Gegenstand einer Beiratssitzung der Media Academy Iraq im Oktober 2013 in Erbil, an der die Autorin teil-nahm. Der Diskussion zufolge ist dem Büro des Premierministers eine Petition vorgelegt wor-den, in der unabhängige irakische Zeitungen mehr Transparenz über die Verteilung der staat-lichen (Steuer-)Gelder in diesem Bereich verlangten sowie einen gerechten Anteil an staatli-cher Werbung auch für regierungskritische Akteure.

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6.5 Reichweiten und Mediennutzung

163

det, deren medienpolitische Funktion in der Bereitstellung unparteilicher Infor-mationen für alle irakischen Medienangebote bestand und besteht. Alle Agentu-ren wurden mithilfe ausländischer Expertise und Finanzmittel gegründet: Aswat al-Iraq (Die Stimme Iraks) wurde von der UNDP finanziert und von der Thomson Foundation in der Gründungsphase speziell im Bereich der Ausbildung von Kor-respondenten begleitet. Die Agentur NINA wurde mit US-amerikanischen Gel-dern und Unterstützung der US-amerikanischen nichtstaatlichen Medienentwick-lungsorganisation IREX (International Research and Exchange Board) entwi-ckelt und der Aufbau der kurdischen Agentur AK News wurde von der Deutschen Presse-Agentur (dpa) und anderen deutschen Organisationen begleitet (vgl. Sins 2011: 18). Zusätzlich zu diesen Angeboten hat der kommerzielle Fernsehsender al-Sumeria eine eigene Agentur gegründet. Doch der in der Literatur vielfach for-mulierte Bedarf an handwerklich fundiertem Informationsjournalismus und an ei-ner insgesamt verbesserten Informationslage ist in der irakischen Medienland-schaft noch nicht gekoppelt an die Bereitschaft, für eine entsprechende Dienst-leistung zu zahlen. Keine der genannten Agenturen hat es in den ersten fünf Jahren ihrer Existenz zu wirtschaftlicher Profitabilität gebracht.

6.5 Reichweiten und Mediennutzung

Die Frage nach den gesellschaftlichen Wirkungen einer politisch gefärbten Seg-mentierung von Medien im Irak wird nicht in der Produktion, sondern der Rezep-tion von Medieninhalten entschieden, zu der es bisher keine relevanten For-schungsarbeiten gibt. Die umfassendste Datenerhebung zur privaten Nutzung von Medien führte die amerikanische Medienentwicklungsorganisation IREX126 im November 2009 im Rahmen einer quantitativen Studie durch (IREX 2010). 2.200 irakische Medienkonsumenten wurden in 18 verschiedenen Provinzen in allen Teilen des Landes zur Nutzung von Radio, Zeitung, Fernsehen und Internet be-fragt.127 Als zweite relevante Quelle im Feld der Reichweitenforschung sind die

126 IREX ist das International Research and Exchange Board – eine US-amerikanische Nonpro-

fit-Organisation, die die Stärkung von Zivilgesellschaft, unabhängigen Medien und Bildung weltweit zum Ziel hat (siehe: www.irex.org).

127 Mit der Durchführung der Studie wurde die Forschungsgruppe 3DSystems beauftragt. Die Befragung wurde von der türkischen Organisation KA Research Limited durchgeführt. Be-fragt wurden 2.200 Iraker im Alter über 15 Jahre, in Gesprächen mit einer Länge von 49-90 Minuten. Es wurden 85 (geschlossene) Fragen zur Mediennutzung gestellt plus 19 demogra-fische Fragen und 28 Kontrollfragen.

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

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Erhebungen von Ipsos zu nennen. Das französische Unternehmen ist auf Markt-forschung in der arabischen Welt spezialisiert und hat im Frühjahr 2009 2.701 irakische Bürger in allen Teilen des Landes zu ihren Nutzungsgewohnheiten be-fragt.128

Der IREX-Studie zufolge geben 100 % der Befragten an, irakische Fernsehsender als Informationsquelle zu nutzen, nur 3 % (im Zentralirak nur 1 %) lesen Zeitun-gen oder nutzen das Internet, 24 % hören Nachrichten im Radio. Irakisches Fern-sehen zeigt sich damit als mit großem Abstand wichtigste Quelle für Informatio-nen, Radio folgt weit abgeschlagen. Auch die Ergebnisse der Ipsos-Studie bestä-tigen die herausragende Bedeutung von Fernsehen als Informationsquelle: 97,2 % der Befragten geben an, am Vortag ferngesehen zu haben, während nur 33,8 % Radio gehört hatten. 129

Zeitungen werden von sehr kleinen, wahrscheinlich elitären, Zielgruppen rezi-piert, worauf schon die oben erwähnten niedrigen Auflagen verweisen. 59 % der Befragten geben an, niemals Zeitung zu lesen. Die Zeitungsleser interessieren sich in der Hauptsache für oppositionelle Publikationen mit klar regierungskritischer Agenda wie Sabah al-Jadeed (49 %), Azzaman (42 %) und Hawlati (34 %) (vgl. IREX 2010: 41). Die vom staatlichen Iraqi Media Network publizierte Zeitung al-Sabah wird von 33 % der befragten Zeitungsleser gelesen, sodass die nach eige-nen Angaben hohe Auflage von 30.000 Stück hier relativiert wird durch niedrige Werte in der IREX-Rangliste der Reichweiten (vgl. ebd.).

Reichweiten TV

In der IREX-Reichweitenmessung irakischer Fernsehsender setzt sich al-Sharkiya an die Spitze der Popularität. 82 % der Befragten geben an, in den letzten Monaten den Sender geschaut zu haben. Al-Sumeria belegt mit 72 % den dritten Platz und

128 Die Befragung wurde im Frühjahr 2009 in Form quantitativer Interviews am Telefon durch-

geführt. Der Fragebogen umfasste demografische Fragen sowie Fragen zur Mediennutzung am Vortag der Befragung und in den letzten vier Wochen zuvor. Befragt wurden Bewohner von Mosul (10 %), Bagdad (40 %), Basra (16 %) und Sulimaniya (24 %) (others = 10 %).

129 Anders als die IREX-Studie, in der nach Nutzung von Medienangeboten in den letzten drei Monaten gefragt wird, fragt Ipsos nach der Mediennutzung am Vortag, konkret: „Watched TV Yesterday for at least five minutes“.

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6.5 Reichweiten und Mediennutzung

165

al-Iraqiya Platz 6 (67 %) (vgl. ebd.: 17). Die anderen Plätze werden von arabi-schen regionalen Sendern wie al-Arabia, MBC1 und MBC2 sowie Abu Dhabi TV belegt. Al-Jazeera rangiert nicht unter den ersten zehn Plätzen.

Tabelle 6.2: Ranking irakischer Fernsehsender*

*Quelle: IREX 2010:17

Aus dem Ipsos-Ranking der Fernsehsender wird ein Wettbewerb zwischen al-Ira-qiya und al-Sharkiya um die ersten Plätze in der Gunst der Zuschauer erkennbar, wobei al-Iraqiya in der Primetime zwischen 18.00 Uhr und Mitternacht mit 31 % Platz 1 und al-Sharkiya mit 30,6 % Platz 2 belegt (vgl. ebd.: 25). In der Gesamt-betrachtung ziehen al-Iraqiya 40 % und al-Sharkiya 38 % der Zuschaueranteile auf sich130 (vgl. ebd.: 20).

Beide Studien zeigen unter anderem, dass die parteilichen Fernsehsender gemes-sen an Reichweiten eine bestenfalls marginale Rolle spielen. Al-Furat ist der ein-zige parteiliche Sender, der zumindest für die Befragten im schiitisch geprägten Süden Iraks eine relevante Rolle spielt und hier Platz 6131 in der Rangreihe be-legt.132 Bemerkenswert ist die große Popularität von al-Sharkiya, einem Sender mit sunnitisch geprägter Agenda und Finanzierung aus Saudi-Arabien, in den süd-lichen (schiitisch geprägten) Provinzen Iraks: 95 % der im Süden Iraks befragten

130 Yesterday Viewership – Total Population / Top 15 Stations – Total Day (vgl. ebd.: 20). 131 Al-Arabia wird hier als nicht-irakischer Sender rausgerechnet. 132 Al-Furat ist der offizielle Sender des Obersten Islamischen Rats des Irak, einer islamisch-

konservativen Partei mit schiitischer Prägung, die 1982 in Iran gegründet wurde. Die südli-chen Provinzen/Städte Maysan, Najaf, Wasit, Kerbela und nachgeordnet auch Basra gelten als Hochburgen des Obersten Rats. Parteivorsitzender ist der Geistliche Ammar al-Hakim.

55%

55%

58%

66%

67%

71%

71%

72%

74%

82%

Abu Dhabi TV

MBC Action

MBC 2

Al-Baghdadia

Al-Iraqia

MBC 1

Al Hurra

Al Sumaria

Al Arabiya

Al Sharqia

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

166

Iraker geben an, al-Sharkiya in den letzten drei Monaten geschaut zu haben (vgl. ebd.: 22). Das ist vor dem Hintergrund der ethno-konfessionellen Segmentierung der irakischen Gesellschaft im positiven Sinne überraschend.

Tabelle 6.3: Ranking irakischer Fernsehsender im Süden Iraks*

* Quelle: IREX 2010: 22

Für die vorliegende Arbeit ebenfalls aufschlussreich ist die Angabe der Iraker, im erfragten Zeitraum (letzte drei Monate) viele verschiedene Fernsehsender ge-schaut zu haben. Das Nutzungsverhalten erscheint hier in der Tendenz eklektisch und verweist auf geringe Loyalität zu bestimmten Sendern. Daran lässt sich plau-sibel die Vermutung anschließen, dass irakische Mediennutzer der Einseitigkeit der einzelnen Angebote die Kombination verschiedener Informationsquellen ent-gegensetzen (vgl. Isakhan 2009: 20f.; Amos 2010: 7-9). Die These vom nahtlosen Übergang zwischen ethno-konfessioneller Ausrichtung des Senders und ethno-konfessioneller Prägung des Publikums muss in Anbetracht solcher Werte ver-worfen werden. IREX (2010) selbst bemerkt dazu: „[T]he generally high levels of stations watched suggests a lack of loyalty to one particular station.“ (Ebd.: 22) Auch die Daten der Ipsos-Erhebung weisen in dieselbe Richtung: Aus der Addi-tion von Zuschaueranteilen der ersten 15 Fernsehsender im Ranking ergibt sich für Samstage z.B. eine Nutzungsdichte von 376,7 %. Das heißt, dass die Befragten im Durchschnitt an diesem Tag 3,7 verschiedene TV-Kanäle geschaut haben.

Die These vom reflektierten Mediennutzer wird zusätzlich dadurch erhärtet, dass die Werte zwischen Nutzung auf der einen Seite und Vertrauen auf der anderen stark diskrepant sind. Während beispielsweise 95 % der Befragten im Südirak an-geben, al-Sharkiya als Informationsquelle zu nutzen, geben nur 37 % an, dem

44%46%

52%68%

85%88%88%

90%91%

95%

Abu Dhabi TVAl Anwar TV

MBC 1Al Forat

Al-BaghdadiaAl-IraqiaAl Hurra

Al Sumaria TVAl Arabiya

Al-Sharqia TV

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6.6 Beteiligung an Konfliktentwicklung

167

Sender auch zu vertrauen; 61 % der Befragten im Zentralirak schalten al-Sumeria ein, aber nur 12 % vertrauen dem Sender als Informationsquelle (vgl. IREX 2010).

Reichweiten Radio

Das IREX-Ranking der Radiostationen zeigt eine überraschende Beliebtheit der von den Amerikanern initiierten Projekte Radio Nawa (Platz 2/61 %) und Radio Sawa (Platz 3/54 %) sowie mit Radio Bagdad Platz 1 für einen Sender des öffent-lichen Iraqi Media Network. Für die Radiorezeption wiederholen sich ansonsten die oben skizzierten Nutzungsmuster: hohe Rezeptionsmobilität, geringe Loyali-tät zu bestimmten Sendern, marginale Bedeutung von parteilichen Sendern. Die Vertrauensfrage wird in der IREX-Studie aus nicht genannten Gründen für Radi-osender nicht gestellt und ersetzt durch die Frage nach best coverage of news issues, die den beiden Sendern Nawa und Sawa die Plätze 1 (23 %) und 2 (16 %) beschert. Diese klare Favorisierung von nichtirakischen Projekten in der Radi-onutzung gibt Grund zu der Annahme, dass Radio und Fernsehen für die Iraker ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Ein Vergleich von Programminhalten beider Gattungen ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit und wird hierzu weite-ren Aufschluss geben (vgl. Kap.8.4).

6.6 Beteiligung an Konfliktentwicklung

Irakischen Medien allgemein und den parteilichen Sendern im Besonderen wird vorgeworfen, sich an der Eskalation der ethno-konfessionellen Konflikte im Irak durch einseitige Berichterstattung und Parteinahme zu beteiligen (vgl. Al-Marashi 2007; al-Rawi 2012: 63f.; Cochrane 2006). Nach Meinung der Kritiker agiert das konflikteskalative Potenzial der Medien allerdings nicht aus sich selbst heraus, sondern reagiert auf die Dynamik politischer Spannungen. Eine Zuspitzung von Konflikten habe polarisierende Effekte auf die Berichterstattung, die dann einsei-tig werde und sich mehr oder weniger subtil in die Zuweisung von Täter- und Opferrollen einbringe. Als Beispiele für dieses Zusammenspiel werden häufig die Gewalteskalation in Sadr City im November 2006 herangezogen sowie die Zer-störung des al-Askari-Schreins in Samarra im Februar desselben Jahres. In Sadr City hatte eine Serie von Bombenattentaten eine Welle von Gegengewalt ausge-löst. In Samarra war es infolge des Angriffs auf die schiitische Pilgerstätte zu blutigen Rachefeldzügen gekommen. In beiden Fällen wurde lokalen Radio- und

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6 Medienentwicklung und Öffentlichkeit im Irak nach 2003

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Fernsehstationen später eine Teilschuld an der Zuspitzung der Lage zugewiesen, obwohl es zu einem tatsächlichen Gewaltaufruf in den Medien nicht gekommen war (vgl. Cochrane 2006; al-Marashi 2007: 87; Price et al. 2010: 237; al-Rawi 2012: 64).

Al-Marashi (2007) sieht die irakischen Medien entsprechend auch nicht in der Rolle einer proaktiv den Konflikt schürenden Kraft. Aus seiner Studie zur Bedeu-tung irakischer Fernsehsender für den politischen Prozess133 geht vielmehr hervor, dass die Medienlandschaft das Eskalationspotenzial strukturell aufgebaut hat, es aber nur ganz vereinzelt zur tatsächlichen Mobilisierung dieses Potenzials kommt. Die Medien haben sich zu gefährlichen Mitspielern entwickelt, das Ri-siko ist verdichtet, doch das Interesse am nationalen Zusammenhalt übersteigt bisher (noch) ethno-konfessionelle Partialinteressen (vgl. ebd.: 88).134

Auch eine vergleichende Studie der BBC Media Action (Deane 2013) kommt zu dem Ergebnis, dass der in den Medien geführte Diskurs zur Frage der irakischen Identität trotz Polarisierung und Fragmentierung zugunsten der nationalen Ver-söhnung wirksam wird (vgl. ebd.: 19). Hervorgehoben wird, dass ethno-konfessi-onell geprägte Medienangebote sich zunehmend auch auf Aspekte einer nationa-len Identität beziehen und in dieser Form eher Integration als Spaltung betreiben:

„Today these channels serve as an incubator of identity in Iraq. Each of these channels portrays what it means to belong to a particular ethno-sectarian community and what it means to be an Iraqi after the fall of Saddam Hussein.“ (Ibrahim al-Marashi zitiert nach Deane 2013: 19)

Als Ausnahme oder Einzelfall wird der extremistische Sender al-Zawra diskutiert, der im Jahr 2005 von dem ehemaligen Parlamentarier Michan al-Juburi als Un-terhaltungs- und Parteisender gegründet und später zu einem Sprachrohr der ira-kischen Aufstandsbewegung transformiert wurde. Die Radikalisierung von al-

133 Al-Marashi (2007) untersucht die Teilhabe irakischer Satellitensender an der ethno-konfessi-onellen Konflikteskalation in ihrem Land: „Have the media in Iraq reached a point where they can be described as conflict media?“ (Ebd.: 7) Methodisch liegen der Studie eine Diskurs- und Inhaltsanalyse von Fernsehinhalten sowie Interviews mit Mitarbeitern irakischer Fern-sehsender zugrunde.

134 Al-Marashi (2007) unterscheidet vier Phasen in der Entwicklung eines Fernsehsenders zum Status eines conflict media: (1) Ausprägung einer starken Ideologie, (2) Kontrolle über ein Massenmedium, (3) Psychologische Wegbereitung für Hass, (4) Aufruf zur Gewalt (vgl. ebd.: 73). Er kommt zu dem Ergebnis, dass irakische Medien in der dritten Phase dieses Stufenmo-dells einzuordnen sind; Die Mitglieder der jeweils anderen ethno-konfessionellen Gemeinden werden nicht dämonisiert. Die eigene Gemeinde wird aber als Opfer der anderen stilisiert (vgl. ebd.: 88).

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6.6 Beteiligung an Konfliktentwicklung

169

Zawra war eine mehr oder weniger unmittelbare Folge von Regierungsinterven-tionen: Nachdem dort pro-baathistische Demonstrationen am Tag des Todesur-teils gegen Saddam Hussein gezeigt worden waren, forderte das irakische Innen-ministerium die Schließung von al-Zawra und ließ dieses Urteil von der Polizei durchsetzen. Michan al-Juburi verlegte die Produktionsstätten in den Untergrund und sendete fortan sein Programm über Nilesat und Arabsat (vgl. al-Marashi 2007: 79; al-Rawi 2012: 94; Isakhan 2009: 18). Der überwiegende Teil des Ma-terials wurde offensichtlich von aufständischen Gruppen, die al-Zawra als Kom-munikationsplattform für den Kampf gegen die Besatzungsmacht benutzten, pro-duziert und bereitgestellt. Der Sendetag wurde über weite Strecken mit Video-schleifen bestritten, in denen amerikanische Soldaten von Scharfschützen oder durch Autobomben getötet werden. Es wurden Stellungnahmen verlesen, Predig-ten übertragen und Amateuraufnahmen von Attentaten gezeigt.

Al-Zawra hat in seiner Rolle als Sprachrohr der Aufständischen allerdings nie wirklich Bedeutung erlangt und musste den Betrieb schließlich einstellen (vgl. ebd.).135 In der Studie von Ibrahim al-Marashi (2007) ist al-Zawra als einziger Sender der Kategorie „Media owned by entities calling for violence“ (ebd.: 80) zugeordnet worden. Im Diskurs zur irakischen Medienentwicklung findet das Projekt insgesamt wenig Beachtung.

Als eine im Irak verbreitete Form der Polarisierung nennt al-Marashi (2007) die Übernahme der Opferperspektive (Victimization) als Ausgangspunkt der Bericht-erstattung:

„The content analysis of the various ethno-sectarian channels did not find that coverage directly demonized the other communities. However, each ethnic and sectarian group use their media to demonstrate that they are the victims in Iraq´s ongoing violence.“ (Ebd.: 88)

Schiitische Sender berichten vorzugsweise über Gewalt gegen schiitische Grup-pen oder Einrichtungen, während sunnitische Gruppen die komplementäre Per-spektive übernehmen und über Angriffe gegen ihre Gemeinde berichten. Es wird

135 Der Satellitenprovider Nilesat hat im Frühjahr 2007 die Ausstrahlung von al-Zawra aus poli-

tischen Gründen eingestellt. Offensichtlich war Nilesat zuvor sowohl von irakischen als auch amerikanischen Behörden unter Druck gesetzt worden (vgl. Al-Rawi 2012: 94). Michan al-Juburi hat mit al-Rai einen neuen Sender mit Hauptsitz in Damaskus eröffnet, der, ähnlich wie zuvor al-Zawra, dem irakischen Widerstand als Kommunikationsplattform dient. Zwischen-zeitlich wurde der Sender von Muammar al-Gaddafi finanziert und als Sprachrohr gegen die libysche Revolutionsbewegung genutzt (vgl. ebd.: 180).

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in den einzelnen Berichten weder falsch noch einseitig berichtet. Allein in der Selektion der Ereignisse spiegelt sich die provokante Identifikation mit der Op-ferrolle. Nach Ansicht von Price et al. (2010) sind es vor allem die irakischen Schiiten, deren kollektive Identität historisch von der Rolle des Opfers geprägt ist und deren Medien, namentlich al-Furat, den Opferdiskurs in der Berichterstattung zu bewaffneten Konflikten aus der historischen Kontinuität heraus in die Gegen-wart verlängern (vgl. ebd.: 236). Aber auch sunnitisch geprägte Sender wie Bag-dad TV porträtieren die sunnitische Gemeinde als Opfer der von den internatio-nalen Besatzungsmächten ausgehenden Gewalt und verzichten vor diesem Hin-tergrund explizit auf eine Verurteilung bewaffneter Gewalt gegen die Besatzer: „Al-Baghdad did not incite violence, but did legitimize nonstate violence.“ (Price et al. 2010: 238)

Die hier beschriebene Form der Parteinahme wird verstärkt durch die zuneh-mende Abschottung sunnitischer von schiitischen Gegenden, was den Zugang für Reporter von der jeweils anderen Seite erschwert, sodass ein politisches Un-gleichgewicht hier noch durch Einschränkungen in der Mobilität der Reporter be-fördert wird. Schon die im Ausweis geführten Namen der Reporter verraten die familiäre Herkunft und ethno-konfessionelle Verwurzelung, was im falschen Viertel sofort tödliche Konsequenzen haben kann (vgl. al-Marashi 2007: 88). So folgen auf die Ghettoisierung der Stadtteile die Fragmentierung der Berichterstat-tung in den Medien und dann die Isolation ethno-konfessioneller Lebenswelten.

Al-Marashis (2007) Studie zur Parteilichkeit der Sender im Irak zeigt allerdings, dass die Sender ihre politische Heimat keinesfalls zu verstecken suchen, sondern diese qua Terminologie für die Zuschauer gezielt sichtbar machen. Für Akteure und Ereignisse mit hoher politischer Aufladung hat sich ein abgestecktes Terrain von Begriffen etabliert, die von den Sendern für die eigene Verortung im Spekt-rum der politischen Positionen benutzt werden. Al-Marashi (2007) hat unter an-derem die Verwendung folgender Begriffsfelder durch irakische Satellitensender untersucht (vgl. für das Folgende ebd.: 74-85):

• Multi National Forces, Occupation Forces, Coalition Forces; • Liberation, Occupation; • Armed Men, Insurgents, Terrorists, Takfiri (those who condemn the unbelievers),

Resistance.

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6.6 Beteiligung an Konfliktentwicklung

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Seine Analyse zeigt, dass arabisch-sunnitische Satellitensender wie Bagdad TV und al-Rafidayn Begriffe wählen, die ihre kritische Haltung gegenüber der Regie-rung und den internationalen Truppen sowie die affirmative Haltung gegenüber den Aufständischen deutlich machen: Occupation Forces, Occupation, Armed Men. Al-Iraqiya wählt das komplementäre Begriffsset: Multi National Forces, Liberation und Insurgents (vgl. ebd.). Die Terminologie hat hier Signalcharakter für den Zu-schauer, der durch die Wortwahl Hinweise auf die politische Einordnung der Sen-der erhält.

Price (2010) bewertet das Eskalationspotenzial der irakischen Medienhäuser aus einer strukturellen Perspektive und argumentiert, dass allein die Faktizität der ethno-konfessionellen Interessenvertretung in der Medienlandschaft die beste-henden Antagonismen in der Gesellschaft auf eine Art vertiefe, die mittelfristig die konflikthafte Teilung des Landes vorantreibe:

„While none of Iraq´s ethno-sectarian parties sought the state´s partition during the most intense periods of the sectarian conflict, their media ultimately served the goal of en-hancing the power of the parties that owned them. The result that emerged was not a national media sphere, but ethno-sectarian ‚spherecules,‘ further developing identities along sectarian lines and setting the country on a course of partition in terms of identity.“ (Ebd.: 236)

Al-Rawi (2012) schließt sich dieser Einschätzung an und zieht eine insgesamt negative Bilanz im Hinblick auf die Beteiligung der irakischen Medien an der Konfliktentwicklung im Irak. Die Medien hätten durch ihre Parteilichkeit zur Ver-tiefung von „schism and hatred“ (ebd.: 95) beigetragen und insgesamt den Zu-sammenhang der irakischen Gesellschaft geschwächt. Al-Rawi (2012) unter-streicht die Bedeutsamkeit ausländischer Akteure insbesondere aus Iran und Saudi-Arabien, die nach Maßgabe ihrer regionalen Machtinteressen ausgesuchte Medienanbieter im Irak fördern und unterstützen würden (vgl. ebd.: 105; Isakhan 2009).

Auch die Möglichkeit, einen Dialog zwischen Konfliktparteien zu moderieren, erscheint im Kontext der politisch polarisierten Medienlandschaft ausgeschlos-sen. Die Sender verfolgen nach Price (2010) keine andere Absicht, als die ökono-mische und politische Machtbasis einzelner Parteien zu konsolidieren (vgl. ebd.: 234).

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6.7 Theoriegeleitete Einordnung und forschungsleitende Annahmen

Um die Bedeutung der Medien für den Demokratisierungsprozess im Irak zu er-messen, werden auf Grundlage der Literaturauswertung im folgenden Kapitel Thesen dazu aufgestellt, ob und in welcher Weise irakische Medien kommunika-tive Basisfunktionen wie politische Kommunikation, Informationsbereitstellung und Partizipation für den demokratischen Prozess erfüllen. Es werden darüber hinaus Thesen über das Verhältnis von Medien- und Konfliktentwicklung formu-liert, die im empirischen Teil der Arbeit überprüft werden sollen.

6.7.1 Informationsfunktion

Basisfunktionen wie die schlichte Bereitstellung von Informationen haben gegen-über meinungsbildenden Funktionen in einem politisch aufgeladenen und polari-sierten Medienumfeld wie dem irakischen das Nachsehen. Sachliche, ungefärbte Berichterstattung über tagesaktuelle Ereignisse wird in der Literatur entsprechend nur aus der Defizitperspektive thematisiert – als das, was fehlt. Für eine Gering-schätzung dieser journalistischen Form spricht auch das wirtschaftliche Scheitern von Nachrichtenagenturen wie Aswat al-Iraq und NINA. Journalistische Basisar-beit wird zwar angestrebt, bleibt aber in Anbetracht der politischen Umgebungs-bedingungen, der handwerklichen Möglichkeiten von Autodidakten und ehema-ligen Propagandisten, der Tradition und der Ausbildungsmöglichkeiten im jour-nalistischen Feld auf niedrigem Niveau – so sehen es die Medienproduzenten selbst. Von diesen Defiziten sind insbesondere journalistische Qualitätsmerkmale wie Richtigkeit, Vielfalt und Vollständigkeit betroffen, die unmittelbar auf Kolli-sionskurs liegen mit parteipolitisch angelegter Berichterstattung. Auch die Aus-wahl von Themen und Ereignissen in den Redaktionen unterliegt nicht primär Relevanzkriterien, sondern eher Einschätzungen über die Nützlichkeit eines The-mas für die Verfolgung parteipolitischer Ziele.

Forschungsleitende Annahme 1: Die Versorgung der Bürger mit tagesaktuellen Informationen zu relevanten Themen ohne politische Einfärbung ist nur einge-schränkt gewährleistet. Die Darstellung von Ereignissen in den Nachrichten so-wie die Auswahl von Themen und Quellen weist parteiliche Züge auf.

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6.7 Theoriegeleitete Einordnung und forschungsleitende Annahmen

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6.7.2 Politische Kommunikation

Vor dem Hintergrund der Strukturanalyse wäre das irakische Mediensystem mit Hallin und Mancini (2004) der Kategorie polar-pluralistischer Systeme zuzuord-nen, als deren zentrales Merkmal ein ausgeprägter politischer Parallelismus auch für den Irak hervorzuheben wäre: Medien und Parteien unterhalten enge und mit-unter spiegelbildlich strukturierte Abhängigkeitsbeziehungen, die Medienstruktu-ren sind durchwachsen von und verstrickt mit parteipolitischen oder ethno-kon-fessionell geprägten Interessengruppen. Welche Auswirkungen haben diese strukturellen Eigenschaften auf die politische Kommunikation im Irak?

Politischer Wettbewerb

Mit der überwiegend instrumentellen Nutzung von Medien durch politische Inte-ressengruppen wäre die irakische Öffentlichkeit einer minimalistischen Demokra-tiekultur zuzuordnen, in der werbende und wettbewerbstypische Kommunikati-onsformen dominieren und in der Medien primär für den Wettbewerb der Par-teien, Positionen und Kandidaten genutzt werden. In der Strukturanalyse wird die politische Instrumentalisierung der Medien sowohl von internationalen Beobach-tern als auch von irakischen Medienproduzenten hervorgehoben und negativ be-wertet.

Auch die Abkehr des IMN vom Konzept einer integrativen Diskursplattform und seine Wandlung zum Kommunikationsinstrument der Regierung, das Scheitern der öffentlich-rechtlichen Idee darin, verweist auf eine Vorherrschaft von mini-malistischen Formen, in denen werbende Kommunikation ausgehend von den po-litischen Eliten auf ein öffentliches Publikum gerichtet ist (vgl. Kap. 2.3.2).

Forschungsleitende Annahme 2: Die das Mediensystem beherrschenden Interes-sengruppen nutzen ihre Kanäle, um die eigenen Akteure und Ziele zu bewerben und die Willensbildung der Bürger in bestimmte Richtungen zu lenken.

In gewisser Weise wird damit die manipulative Kommunikationskultur der auto-ritären Vergangenheit fortgeführt, mit dem entscheidenden Unterschied, dass jetzt die Rezipienten nicht einer einzigen Quelle, sondern einem breiten Spektrum ver-schiedener Manipulationsangebote ausgesetzt sind. Damit eröffnet sich eine Viel-zahl von Nutzungsszenarien mit ganz unterschiedlichen Folgen für die Demokra-tie. Rezipienten können einzelne Informationsangebote um eine Vielzahl anderer

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Quellen ergänzen und dabei ein individuell geschneidertes Portfolio von Informa-tionsquellen zusammenstellen, um sich ein ganz eigenes Bild von der irakischen Realität zu machen. Ob sie dies tun oder eher monothematisch die Sender ihrer ethno-konfessionellen Gemeinde schauen, ist bisher nicht systematisch erforscht worden. Die in Kapitel 6.5 vorgestellten Studien zu Reichweiten einzelner Ange-bote geben aber Anlass zu der Annahme, dass die irakischen Bürger sich im Um-gang mit Parteilichkeit von Medienangeboten tendenziell kompetent verhalten. Sie nutzen unterschiedliche Quellen und es scheint, dass auch in schiitischen Zen-tren wie Basra sunnitisch geprägte Sender nicht nur vereinzelt, sondern auf breiter Front rezipiert werden (und umgekehrt). Für die Frage nach der Demokratie kann diese Beobachtung gar nicht überschätzt werden, denn die gesellschaftliche Wir-kung, mithin ihre (des)integrative Dynamik, entfaltet sich in den Rezeptionsmus-tern der Mediennutzer. Der demokratische Wettbewerb der Parteien ist unter Be-dingungen einer pluralistisch-polarisierten Medienwelt auf Rezipienten angewie-sen, die der politischen Einseitigkeit der Medien mit pluralistischen Nutzungs-mustern begegnen.

Die Frage der Mediennutzung und -bewertung wird im empirischen Teil der vor-liegenden Arbeit nicht untersucht, wäre aber als Ausgangspunkt für weitere For-schungsprojekte aus den genannten Gründen unbedingt zu empfehlen.

Publizität

Die Geschichte des IMN und die zu den Programminhalten vorliegenden Unter-suchungen legen die Vermutung nahe, dass die Erklärung und Rechtfertigung von Regierungspolitik im Sinne der Publizität auf dem Sender al-Iraqiya von werben-den Formen der Kommunikation überlagert und dominiert wird. Es ist vor diesem Hintergrund davon auszugehen, dass die irakischen Bürger auf diesem Sender über Regierungshandeln nur im Rahmen unsachlicher Darstellungen Kenntnis er-halten und dass Rechtfertigungen durch die Journalisten nicht eingefordert wer-den. Diese Einschätzung kann im Prinzip auf alle anderen Sender übertragen wer-den, denn der instrumentelle Einsatz von Medien wird in der Literatur als system-übergreifendes Merkmal diskutiert, als Spezifik, die unabhängige, private und staatliche Anbieter gleichermaßen einschließt. Rechtfertigung wird in dieser Lo-gik immer nur Gesprächspartnern aus dem Lager des politischen Gegners abver-langt werden, nicht aber den zur eigenen Partei gehörenden Akteuren. Es wäre die

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6.7 Theoriegeleitete Einordnung und forschungsleitende Annahmen

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Annahme anzuschließen, dass diese Logik auch affirmative Kontextualisierung von Informationen und Stellungnahmen mit sich bringt.

Forschungsleitende Annahme 3: Publizität wird bis zur Unkenntlichkeit überla-gert von werbenden Kommunikationsformen. Rechtfertigung wird nur den Akteu-ren des jeweils gegnerischen Lagers abverlangt.

Zugleich wird aus der Strukturbetrachtung deutlich, dass irakische Medienange-bote allgemein und al-Iraqiya speziell im pluralistischen Kontext mit Glaubwür-digkeitsproblemen und der daraus erwachsenden Notwendigkeit einer Neuaus-richtung ringen. Für die Regierung wäre es durchaus plausibel, vor diesem Hin-tergrund einen Kurswechsel in Richtung Publizität einzuleiten und werbende For-men in den Hintergrund zu verschieben. Inwieweit solch ein Kurswechsel statt-findet und auf Programmebene bereits seinen Niederschlag findet, wird die In-haltsanalyse der Programme zeigen.

Die Verschränkung der beiden Systeme Politik und Medien

Die Steuerung der Medien durch politische Interessengruppen im Rahmen einer polarisiert-pluralistischen Medienstruktur verweist auf eine gering ausgeprägte Publikumsorientierung oder zumindest auf ein Spannungsverhältnis zwischen po-litischem Auftrag und Reichweiteninteresse, denn auch parteipolitische Sender müssen an Expansion interessiert sein, wenn sie politische Macht erwerben oder stabilisieren wollen. Doch die in Kap. 2.3.2 ausgeführte Unterwerfung der Politik unter die Regeln der Verkäuflichkeit, das Ersetzen politischer Kompetenz durch Medientauglichkeit, die Verschränkung von Medien und Politik in einem gemein-samen Wettbewerb um maximale Reichweiten, die Schlüsselfunktion der Publi-kumsorientierung in diesem Spiel – all dies ist im Irak außer Kraft gesetzt und ersetzt durch eine primäre Orientierung an der politischen Agenda des jeweiligen Betreibers oder Geldgebers. Medienaufmerksamkeit ist den politischen Parteien mittels eigener Kommunikationskanäle ohne Weiteres gewiss und muss nicht er-worben werden. Es gibt damit keinen Grund mehr, das politische Geschehen und die Kommunikation darüber den redaktionellen Anforderungen kommerzieller Medienhäuser entgegen zu biegen. Wie von Crouch (2008), Dörner (2001), Ha-bermas (1971) und anderen im Rahmen kapitalismuskritischer Diskurse gefor-dert, muss Politik nicht interessant, nicht unterhaltsam sein, sie muss weder in-szeniert noch personalisiert werden (vgl. Kap. 2.3.2).

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Die Frage, wie ungebrochen parteipolitische Positionen einen entsprechenden Niederschlag in ihren Mediengeboten finden, wird unter anderem Gegenstand der Inhaltsanalyse sein.

Forschungsleitende Annahme 4: In der Aufbereitung von Themen für Nachrichten und Talkformate spiegelt sich weitgehend ungebrochen die Steuerung der Inhalte durch Parteien.

6.7.3 Partizipation

Das irakische Mediensystem hat sich im Zuge des Regimewechsels und durch Aussetzung aller bisher geltenden Zugangsbeschränkungen auf breiter Front für gesellschaftliche Teilhabe geöffnet – eine Freigabe, die von Beginn an in politisch vielfarbige Produktivität umgesetzt wurde. Geschützt wird die neue Offenheit durch die in der Verfassung verankerte Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sodass hier im Prinzip jedem Bürger, jeder Organisation, jedem Geschäftsmann und jedem Politiker der Weg zur Teilhabe am öffentlichen Diskurs freisteht. Als Zugangsbeschränkung werden – bzw. wurden zumindest in den ersten sechs Jah-ren nach dem Sturz des Regimes – die Verfügbarkeit von Mitteln für die Produk-tion wirksam sowie auf informeller Ebene Gewalt nichtstaatlicher Akteure sowie staatliche Interventionen.

Deliberation

Mit Habermas (1998) wäre aus der neuen Offenheit jetzt die Hoffnung auf einen deliberativen Diskurs anzuschließen, in dem sich die zwanglose Autorität des bes-seren Arguments durchsetzt und sich insgesamt ein Raum öffentlicher Vernunft entfaltet, zumal auch die Unterwerfung von Politik unter die Regeln der Verkäuf-lichkeit im Irak bisher als Problem keine Rolle spielt (vgl. Kap. 2.3.2).

Allerdings sind die im irakischen Mediensektor vorherrschenden parallelistischen Strukturen auf den Austausch von Argumenten zwischen Vertretern unterschied-licher Positionen nicht angelegt. Der Streit mit dem politischen Gegner würde als Form eher im Widerspruch zu diesen Strukturen stehen. Sie sind in diesem Sinne ungeeignet für die Erfüllung von Anforderungen aus einer deliberativen Demo-kratiekonzeption.

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6.7 Theoriegeleitete Einordnung und forschungsleitende Annahmen

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Forschungsleitende Annahme 5: Der argumentativ geführte Streit um Positionen zwischen Vertretern gegnerischer Lager findet im irakischen Rundfunk kaum statt.

Zudem macht die Strukturanalyse deutlich, dass die vermeintliche Freiheit der öffentlichen Kommunikation durch bewaffnete Gruppen unterwandert und ausgehöhlt wird. Durch die Gewaltherrschaft der Vetomächte scheint sich ein Zustand umfassender Unfreiheit in der Öffentlichkeit konsolidiert zu haben, der ausgesuchte und dabei wechselnde Personenkreise und bewaffnete Gruppen von der Möglichkeit journalistischer Kritik ausschließt. Im empirischen Teil der Arbeit wird sich zeigen, ob unter diesen Umständen ein vernünftiger Streit um politische Positionen dennoch geführt werden kann.

Zugleich wäre angesichts der Zuspitzung der Sicherheits- und Versorgungskrise mit Habermas (1998) davon auszugehen, dass sich die Aufmerksamkeit der Me-dien von der Politik ab- und gesellschaftlichen oder bürgernahen Themen zuwen-det und die Verhandlung dieser Themen in den Medien Sache der Zivilgesell-schaft sei (vgl. Kap. 2.2.2 und 2.3). Gefragt wird im empirischen Teil der Arbeit vor diesem Hintergrund danach, in welcher Rolle und in welchem Umfang die Bürger und bürgernahe Gruppen gegenüber den Vertretern politischer Eliten tat-sächlich in Erscheinung treten und welche Rolle die Zivilgesellschaft dabei spielt.

Habermas (1998) hatte die Zivilgesellschaft genau in dieser Funktion, als Schar-nier zwischen privater Erfahrung und ihrer Vergesellschaftung in der Öffentlich-keit, gesehen (vgl. Kap. 2.2.2 und 3.3). Von fast symbolischer Qualität in diesem Zusammenhang ist die von al-Marashi (2007) hervorgehobene Vielzahl vermit-telnder Formate, in denen Bürger mit Politikern ins Gespräch kommen. Die Koexistenz von partizipativen und elitären Demokratieaspekten im irakischen Mediensystem verdichtet sich in diesem Phänomen zu einem Dialog beider For-men. Auch diese Form der Vermittlung zwischen Regierenden und Regierten wird im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit untersucht.

Forschungsleitende Annahme 6: In den irakischen Fernseh- und Radiosendern sind zivilgesellschaftliche Akteure und Anliegen allgegenwärtig. Die drängenden Versorgungsprobleme der irakischen Bürger haben hohen Stellenwert auf der Themenagenda publizistischer Diskurse.

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Vielfalt von Meinungen und Themen

Dem Öffentlichkeitskonzept von Gerhards und Neidhardt (1990) zufolge wären Offenheit und Inklusivität des Mediensystems an der Vielfalt der dort kursieren-den Deutungen, Positionen und Ansichten zu bemessen (vgl. Kap. 2.3.3). Vielfalt ist Ausdruck von Inklusion, Teilhabe und Offenheit sowie Nährboden für den de-mokratischen Streit um politische Ansätze. Für den Irak ist auf Basis der Struk-turanalyse diesbezüglich zu vermuten, dass die neue Vielfalt der Quellen in Kom-bination mit einem ausgeprägten politischen Parallelismus eine hohe Dichte und Präsenz unterschiedlicher politischer Positionen hervorbringt. Es gibt keine Zen-sur und keine institutionalisierten Ausschlussverfahren, alle relevanten Interes-sengruppen sind in der Öffentlichkeit durch eigene Medien vertreten. Die Bemü-hungen der Regierenden, oppositionelle Stimmen einzuhegen, führen einzig zu höherer Popularität dieser Stimmen und damit zu Konsolidierung politischer Viel-falt. Der Drang zur Artikulation ist weiterhin ungebrochen, obwohl eine Vielzahl von informellen Vetomächten sich mit Waffengewalt gegen die Meinungsfreiheit engagiert. Ob die Vielfalt der Quellen tatsächlich die vermutete Meinungsvielfalt nach sich zieht, oder ob es den bewaffneten Gegnern der Meinungsfreiheit ge-lingt, hier Einschränkungen herbeizuführen, wird im empirischen Teil der vorlie-genden Arbeit untersucht. Für eine polarisiert-pluralistische Produktionskultur wäre zu vermuten, dass Vielfalt als externer Pluralismus realisiert wird, als Viel-falt also, die innerhalb des Mediensystems, nicht aber innerhalb der einzelnen Ka-näle zur Entfaltung kommt (vgl. ebd.: 29). Trotz des Integrationsauftrags ist auf Grundlage der Literaturauswertung diese Annahme auch auf den öffentlich-recht-lichen Rundfunk anzuwenden.

Forschungsleitende Annahme 7: Irakische Medien bieten eine große Vielfalt un-terschiedlicher Meinungen zu politischen Streitfragen und eine große Vielfalt an Themen. Vielfalt ist zwischen den Medien zu erwarten, nicht aber innerhalb ein-zelner Medienangebote.

Um dieser These auf den Grund zu gehen, werden in der vorliegenden Arbeit die Auswahl der Themen sowie die Repräsentation politischer Positionen zu den ak-tuellen Konflikten und politischen Themen innerhalb und zwischen Sendern un-tersucht.

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Teilhabe an den Produktionsmitteln

Die Aneignung der Medien durch ein ehemals passives Publikum ist im Irak nach 2003 nicht identisch mit, aber ähnlich zu dem, was die westliche Welt in der Ära Web 2.0 erlebte. Das bis dato auf Rezeption reduzierte Publikum wechselt in die Rolle der Produzenten und Teilhaber mit erheblichen Folgen für die journalisti-sche Profession: Subjektivität und Aktivismus halten Einzug in die Redaktionen, Autodidakten beherrschen das Feld, Regeln der journalistischen Produktion ver-lieren an Bedeutung und die etablierten Berufsjournalisten empören sich. Im Irak sind nicht die neuen, sondern die klassischen Medien Schauplatz dieser Umwäl-zung. Nach Carpentier (2011) ist mit der Teilhabe an Besitz und Entscheidungs-prozessen in Medien eine Stufe politischer Relevanz erklommen, die über die Teilhabe an der Produktion von Inhalten deutlich hinausweist. Inwieweit die An-eignung von Produktionsmitteln durch das ‚ehemalige Publikum’ auf dieser Ebene auch eine entsprechende Priorisierung von gesellschaftlichen Problemen nach sich zieht, ist unter anderem Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Aus der Strukturanalyse kann an dieser Stelle aber festgehalten werden, dass die Aneignung der Produktionsmittel auf formaler Ebene keinen Beschränkungen un-terliegt und das die Liberalisierung des Mediensektors in allen Segmenten der Gesellschaft, insbesondere von ethno-konfessionellen Minderheiten und Parteien, genutzt wurde, um über eigene Medienangebote die Repräsentation der Gemeinde in der Öffentlichkeit zu organisieren.

Aus der Auswertung der Literatur bleibt zunächst festzuhalten, dass die irakische Medienlandschaft von einer vitalen Praxis der Partizipation durchdrungen ist, und zwar in ebenbürtiger Koexistenz mit einer systematischen Instrumentalisierung der Medien durch politische Parteien. Die demokratierelevante Frage danach, in welche Richtung das Mediensystem sich öffnet, ob es eher für Impulse aus der Zivilgesellschaft oder eher für Impulse aus der Politik empfänglich ist, ob also eher elitäre oder eher partizipative Aspekte überwiegen, wäre vorläufig mit dem Hinweis auf eine gleichberechtigte Koexistenz beider Formen zu beantworten und ist darüber hinaus Gegenstand der empirischen Untersuchung.

6.7.4 Medien im Transformationsprozess

Dem Phasenmodell von Rozumilowicz (2002) zufolge wäre die Medienentwick-lung im Irak der zweiten Phase (Secondary Stage) zuzuordnen, die maßgeblich

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von der widersprüchlichen Gleichzeitigkeit neuer und alter Verhaltensmuster ge-prägt ist (vgl. Kap. 3.3.1). Alte Institutionen, Strukturen und Verfahren sind in dieser Phase bereits ersetzt durch neue Regelungen, aber das Erbe der autoritären Kultur bleibt im Handeln und Denken der Medienproduzenten virulent und unter-wandert in dieser zweiten Phase die Entfaltung der Reform. Erneuerung ist durch-drungen und gefährdet vom Fortbestand alter Routinen. Wie die Ausführungen insbesondere zum IMN, aber auch zur Rechtspraxis gezeigt haben, erscheint dies als recht zutreffende Charakterisierung der irakischen Situation, die einerseits do-miniert ist von einem instrumentellen Medienverständnis – Medien dienen der Durchsetzung politischer Parteiinteressen – und anderseits seit dem Regimesturz 2003 formal dem demokratischen Konzept von Professionalität und Unabhängig-keit des Mediensektors in einem dualen System verpflichtet ist. In welcher Art das Spannungsverhältnis neuer und alter Formen den Transformationsprozess tat-sächlich prägt, wird im empirischen Teil der Arbeit diskutiert.

Mobilisierung versus Stabilisierung

Die politische Vielfalt und insbesondere die starke Präsenz oppositioneller Stim-men in der Öffentlichkeit lassen auf Wirkmächtigkeit von Kommunikationsfor-men schließen, die nicht auf Konsolidierung, sondern auf Bewegung, Wandel, Veränderung zielen. Im irakischen Mediensystem, so legt die Strukturanalyse nahe, stellen order erasing forces (vgl. Roudakova 2012) bestehende Machtver-hältnisse effektiv infrage136 – denn die Opposition hat ihren Platz in der Öffent-lichkeit und verschafft sich Gehör (vgl. Kap. 6.3).

Zentrale Ausdrucksform der Mobilisierung ist die Kritik an der Leistung der po-litischen Eliten selbst, die unter den oppositionellen Stimmen in der Medienland-schaft seit Jahren lauter wird – trotz und wegen einer zunehmend repressiven Po-litik der Regierung unter Premierminister Nuri al-Maliki. Das Weiterbestehen und die Unbeirrbarkeit von Sendern wie Bagdad TV, al-Sharkiya und Zeitungen wie al-Mada, Sabah al-Jadeed und al-Alam zeugen von einer dauerhaften, quasi insti-tutionalisierten Regierungskritik, die sich mit dem Sturz des Saddam-Hussein-

136 Roudakova (2012) unterscheidet order maintaining processes von order eroding processes.

Ordnungserhaltende (maintaining) Prozesse kräftigen bestehende Strukturen, während zerset-zende (eroding) Prozesse bestehende Strukturen infrage stellen und stören bzw. verändern (vgl. ebd.: 249).

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Regimes installiert hat und seitdem an Bedeutung gewinnt. Al-Maliki ist um Ein-hegung der Kritik bemüht und bewegt sich dabei oft am Rande der Rechtstaat-lichkeit, was die Popularität der oppositionellen Medien mit jedem Vorstoß noch bestärkt (vgl. Kap. 6.3).

Forschungsleitende Annahme 8: Regierungskritik und ein insgesamt auf Wandel drängender Diskurs über bestehende Zustände sind herausragende Merkmale irakischer Medieninhalte.

Dies bringt der Regierung durchaus auch Vorteile, weil öffentliche Kritik der Frustration der Bürger als Ventil dient und in dieser Wirkweise Regierungsmacht eher stabilisiert denn untergräbt. Möglich erscheint daher, dass alle Beteiligten von diesem scheinbaren Antagonismus profitieren und sich darin eingerichtet ha-ben. Transformationsforscher wie Merkel (2010) und McConnell und Becker (2002) warnen vor der Mobilisierung durch Medien in dieser frühen Phase der Demokratisierung, weil sie die Stabilisierung der noch fragilen Staatstrukturen nach einem Regimesturz gefährdet (vgl. Kap. 3.3.3). Dieser Einwand wäre für den irakischen Fall mit Blick auf die Konfliktentwicklung und das bereits beschä-digte Gewaltmonopol des Staates unbedingt gerechtfertigt. Hafez (2014) präzi-siert, dass Mobilisierung die Integrität des demokratischen Prozesses in der Trans-formation erst dann gefährdet, wenn die politischen Gegner die Existenzberechti-gung der gegnerischen Lager nicht länger akzeptieren. Dies zu überprüfen, ist un-ter anderem Aufgabe der vorliegenden Studie.

Aus demokratietheoretischer Sicht ist in der vorliegenden Studie also einerseits der Frage nachzugehen, ob nicht die Vielzahl der kritischen Stimmen den Konso-lidierungsprozess der Demokratie durch übermäßige Mobilisierung bedroht und ob die Legitimität des politischen Gegners in der Kritik demontiert oder respek-tiert wird. Darüber hinaus wären mit Hafez (2010) die Beziehungen zwischen Medien und Zivilgesellschaft zu untersuchen, um über die Macht der Medien im Prozess der Transformation Erkenntnis zu gewinnen.

Die Strukturanalyse wirft auch die Frage auf, warum Kritik und Vielfalt opposi-tioneller Stimmen unter den teilweise repressiven Umgebungsbedingungen weiter Bestand haben. Warum setzt sich die Regierung nicht durch gegen unliebsame Kritik? Warum erweist sich die Meinungsvielfalt als robust gegen die Interven-tionen ihrer Gegner? Hier wäre zunächst auf die Fragilität des Staates zu verwei-sen, der Sanktionen gegen oppositionelle Sender rein praktisch nicht durchsetzen kann, da bestimmte Regionen von anderen als staatlichen Kräften regiert werden.

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Es sind die Eigenschaften einer typischen Enklavendemokratie, die die Hand-lungsspielräume der Regierung beschränken: Vetomächte (Militär, Milizen, Un-ternehmer, Konzerne) kontrollieren bestimmte Politikbereiche und haben diese dem Zugriff der demokratisch gewählten Repräsentanten entzogen (vgl. Kap. 5.11). Paradoxerweise nährt sich Pluralismus so gesehen auch aus der Macht an-tidemokratischer Kräfte im Irak. Die Belastbarkeit der pluralistischen Strukturen im Irak ist nicht explizit Gegenstand der vorliegenden Untersuchung und sollte in weiterführenden Studien erforscht werden.

Konfliktbeteiligung

In der Literatur wird die Beteiligung der irakischen Medien an der Konfliktent-wicklung fast uneingeschränkt als konfliktverschärfend bewertet (vgl. Kap. 6.6). Die Möglichkeit, in den Medien Raum für Dialog und konstruktiven Streit und damit Alternativen zur bewaffneten Auseinandersetzung zu eröffnen, wird von Price (2010) als im Irak ungenutztes Potenzial beklagt und ansonsten in der Lite-ratur kaum thematisiert. Das Konfliktpotenzial und die im Falle der Spannungs-eskalation tatsächlich konfliktschürende Beteiligung der Medien werden dagegen als wesentliche Wirkrichtung wahrgenommen und problematisiert.

Forschungsleitende Annahme 9: Die Berichterstattung lokaler Medien über Kon-flikte im Irak hat konfliktschürenden Charakter.

Einer möglichen Teilhabe der Medien an Konflikteskalation liegt eine strukturell bedingte Parteilichkeit als Ausgangspunkt zugrunde. Wie al-Marashi (2007) und andere beobachten, ist der Wandel von der strukturellen Parteilichkeit zur Partei-nahme synchronisiert mit der Konfliktentwicklung im politischen Feld: Zunahme politischer Spannungen unter bewaffneten Antagonisten hat die Polarisierung der Berichterstattung zur Folge. Dabei gewinnt ein ganz anderes Szenario Gestalt als von Wolfsfeld (1997) skizziert, der Deutungshoheit bei denjenigen Parteien sieht, die auch den Verlauf der politischen Konflikte kontrollieren (vgl. Kap. 3.3.7). Die Auswertung der Literatur zur irakischen Situation signalisiert: Statt Deutungsho-heit gibt es nur Deutungsvielfalt. Im Umkehrschluss ließe sich aus Wolfsfelds (1997) Argumentation auch die Behauptung ableiten, dass im Falle Iraks die Frage der Konfliktkontrolle im Sommer 2008 eben keineswegs beantwortet ist. Es ist zu diesem Zeitpunkt unklar, welche Konfliktpartei sich in welcher Form zu welchem Zeitpunkt an welcher Stelle durchsetzen wird. Die Konflikte sind so komplex und volatil wie die Berichterstattung reich ist an parteilich geprägten

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Interpretationen. Die von Lynch (2002) geforderte Betrachtung von Konflikten als komplexes Netzwerk kontingenter Konfliktlinien und -parteien hat unter den im Irak herrschenden, polar-pluralistischen Bedingungen gute Chancen auf Um-setzung. Wie schon mit Blick auf Vielfalt bemerkt, ist auch hier die Perspektive der Umsetzung nur für das Mediensystem als Ganzes, nicht aber innerhalb ein-zelner Angebote zu erwarten. Um Aussagen darüber treffen zu können, ob Viel-falt der Medienstrukturen sich auf der Ebene der Medieninhalte spiegelt, wird im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit auch die Qualität der Konfliktbericht-erstattung in verschiedenen TV- und Radioprogrammen untersucht.

Von Seiten des Staates wird das Problem der Konfliktbeteiligung mit juristischen und polizeilichen Mitteln adressiert. Es werden freiheitsbeschränkende Maßnah-men zum (angeblichen) Schutz der nationalen Einheit und Sicherheit umgesetzt. Der Kampf, den die Regierung in dieser Form gegen eskalationsorientierte Medi-enkommunikation führt, wird von den Medienproduzenten als Scheingefecht er-lebt, dessen eigentliches Ziel in der Einhegung von Regierungskritik liegt. Die Behauptung der Konfliktbeteiligung wird von Nuri al-Maliki als Generalvorwand für repressive Maßnahmen gegen oppositionelle Stimmen eingesetzt – so die Kri-tik der Journalisten. Die vom Beteiligungsvorwurf der Regierung ausgehenden Sanktionen gelten unter Medienproduzenten deswegen als illegitim, während gleichzeitig die Einhegung des Eskalationsproblems für notwendig erachtet wird.

Der Erfolg der Regierung bei der Einhegung von Kritik wäre an der Virulenz kri-tischer Stimmen in der Öffentlichkeit zu bemessen und wird entsprechend durch die forschungsleitende Annahme Nr. 6 als Frage bereits adressiert.

Doch abgesehen von dieser Einordnung staatlicher Interventionen ist rechtstaatli-cher Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit im Irak de facto durch die Gewalt-herrschaft extremistischer Gruppen und Milizen eingeschränkt. Mit Merkel (2010) wäre die Situation im Irak als defekte Demokratie zu bezeichnen, in der bewaffnete Vetomächte wichtige Politikbereiche kontrollieren. Diese Gruppen operieren außerhalb jeglicher Rechtstaatlichkeit mit dem erklärten Ziel, den Auf-bau demokratischer Strukturen und Institutionen, zu denen auch eine freie Presse zählt, zu verhindern (vgl. Kap. 5.11). Pressefreiheit gilt aus Sicht extremistischer Milizen als Import der Kriegsmacht Amerika und als Projekt der neuen (Mario-netten-) Regierung. Ihre Aussetzung gehört zu den Zielen des Widerstands wie der Sturz der Regierung. Die Frage, die sich hier anschließt, ist jene nach der Ef-fektivität von Anschlägen, Bedrohungen und Tötungen im Mediensektor: Geben

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Journalisten ihre Arbeit auf und werden Medienhäuser geschlossen? Werden be-stimmte Themen oder Positionen ausgeblendet infolge von Bedrohungen? Aus der Strukturanalyse darf vermutet werden, dass beides nicht zutrifft. In der empi-rischen Untersuchung sollen Antworten auf diese Fragen präzisiert werden.

Forschungsleitende Annahme 10: die Bedrohung der Journalisten führt zur Aus-blendung von diesbezüglich riskanten Themen in der Öffentlichkeit.

Paradoxerweise wird der Medienpluralismus auch von Demokratiedefekten ge-schützt. Premierminister al-Maliki muss bei Interventionen gegen sunnitische Ak-teure immer mit dem unmittelbaren Erstarken der sunnitisch geprägten Wider-standsbewegung und im Zuge dessen mit bewaffneten Aktionen rechnen. Gleich-zeitig ist die irakische Regierung politisch und militärisch von den innenpoliti-schen Konflikten so stark absorbiert, dass für eine systematische Repression op-positioneller Stimmen im Medienfeld die Ressourcen fehlen. Über diesen Umweg nährt sich Medienvielfalt auch aus fragiler Staatlichkeit, von der sie an anderer Stelle bedroht wird.

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7 Methodisches Vorgehen

Um sich dem Verhältnis von Medien und Politik im Irak zu nähern, wurde für die vorliegende Arbeit eine Methodenarchitektur gewählt, die (1) sowohl die Durch-führung und Auswertung von Interviews mit der Auswertung von Programmin-halten irakischer Sender kombiniert als auch (2) quantitative Erhebungen in eine primär qualitative Herangehensweise integriert. Konkret wurden:

• 19 Interviews von ein bis drei Stunden Länge mit irakischen Medienprodu-zenten und anderen Experten auf der Grundlage eines Leitfadens durchge-führt, im Anschluss transkribiert und mit den Instrumenten der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet; durch die Auszählung von Stellungnahmen zu einzelnen Themenfeldern und die Interpretation von Häufungen wurden quantitative Elemente in die Analyse eingebettet.

• Zwölf Stunden Programm von jeweils vier irakischen Fernsehsendern und vier irakischen Radiostationen an jeweils drei Tagen in der letzten August-woche 2008 aufgenommen und publizistische Bestandteile des Programms (Talkformate und Nachrichten) auf der Basis einer Themen- und Ak-teursanalyse entlang der im Theorieteil aufgeworfenen Fragen und Hypo-thesen einer qualitativen Auswertung unterzogen; quantitative Elemente wurden in die Analyse insofern eingebettet, als die Repräsentation be-stimmter Akteure sowie die einem Thema gewidmete Zeit und Menge von Nachrichten quantifiziert wurden und diese Daten als Indikator für subjek-tive Bedeutsamkeit Eingang in die Interpretation fanden.

Zum Verhältnis von Medien, Politik und Konfliktentwicklung im Irak nach 2003 lagen zum Zeitpunkt der Datenerhebung kaum Forschungsarbeiten vor, sodass die Formulierung von Thesen über die Merkmale und Eigenschaften des Gegenstan-des als Forschungsaufgabe in den Vordergrund rückte. Für eine in diesem Sinne offene Exploration eines wenig beforschten Feldes eignen sich qualitative eher als quantitative Methoden, die traditionell auf die Überprüfung deduktiv formu-lierter Hypothesen und die Bemessung vorab definierter Variablen zielen (vgl. Mayring 2008:18-20; Steger 2003: 4ff; Flick 2012: 27). Mayring (2008) benennt Hypothesenbildung und Theoriebildung als klassischen Bereich qualitativer For-schung: „Zum einen beinhaltet er die Aufdeckung der für den jeweiligen Gegen-stand relevanten Einzelfaktoren, zum anderen die Konstruktion von möglichen Zusammenhängen dieser Faktoren.“ (Ebd.: 20)

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019A. Wollenberg, Medien und Demokratie im Irak, Studies in International,Transnational and Global Communications,https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6_7

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7 Methodisches Vorgehen

186

Die Forschungsfrage selbst zielt auf die Untersuchung kollektiver und individu-eller Prozesse von Sinnstiftung und legt damit ebenfalls eine primär qualitative Vorgehensweise nahe: Welche Aufgaben sehen irakische Medienproduzenten für Medien im Transformationsprozess und von welchen Merkmalen ist die irakische Öffentlichkeit in dieser Hinsicht geprägt? Gefragt wird hier nach subjektiven Hal-tungen und Sichtweisen irakischer Medienproduzenten sowie nach Mustern in den Realitätskonstruktionen auf der Ebene medialer Darstellungen. Damit wird Subjektivität auf beiden Ebenen explizit in einen deswegen primär qualitativen Forschungsprozess als Instrument und Gegenstand der Analyse eingebunden (vgl. Flick 2012: 29; Steger 2003: 4).

Als Leitplanken für die Untersuchung wurden aus der demokratietheoretischen Interpretation der Mediensystemanalyse forschungsleitende Annahmen137 formu-liert, die im empirischen Teil der Arbeit geprüft und in der abschließenden Aus-wertung präzisiert, differenziert oder durch neue Annahmen ersetzt wurden (vgl. Kap. 6.7). Über die Formulierung und Überprüfung von forschungsleitenden An-nahmen entstanden im Forschungsprozess auf diese Weise Knotenpunkte der Er-kenntnis, die den Anfang und das Ende von verschiedenen Arbeitsstufen markie-ren: „Ziel der Forschung ist dabei weniger, Bekanntes (etwa vorab formulierte Theorien) zu überprüfen, als Neues zu entdecken und empirisch begründete The-orien zu entwickeln.“ (Flick 2012: 27; vgl. auch Mayring 2008: 20)

Trotz der prinzipiell qualitativen Ausrichtung der Forschungsarbeit erscheint die Beobachtung von Häufigkeiten an bestimmten Stellen als Hinweis auf Bedeut-samkeit sinnvoll. Konkret wurde in der vorliegenden Arbeit gezählt, wie oft be-stimmte Themen in den Interviews von den Gesprächspartnern aufgegriffen wur-den, um die Signifikanz dieser Aspekte innerhalb der Stichprobe im Vergleich zu anderen bewerten zu können. Da der Kontext der Thematisierung jeweils auch gesehen und interpretiert wird, ist die Häufigkeit dabei nur eines von vielen Merk-malen, die in der Interpretation berücksichtigt werden. Auch in der Auswertung von Programminhalten wird das Auftreten von Vertretern bestimmter gesell-schaftlicher Gruppen gezählt, um z.B. zu verstehen, in welchem Umfang das Me-

137 Der eigentlich naheliegende Begriff der Hypothese wird hier vermieden und durch For-

schungsleitende Annahme ersetzt, weil die qualitative Anlage der vorliegenden Forschungs-arbeit nicht auf die Falsifizierung oder Verifizierung von Hypothesen zielt, sondern auf die Präzisierung und Erhärtung von Annahmen.

Page 197: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

7.1 Leitfadengestützte Interviews

187

diensystem sich für diese Gruppen öffnet. Die für die vorliegende Forschung zent-rale Frage nach der Repräsentation von Bürgern und bürgernahen Gruppen im Fernsehen wird beispielsweise immer sowohl qualitativ als auch quantitativ be-trachtet: Wie häufig treten Bürger und bürgernahe Gruppen in Erscheinung? In welchen Rollen treten sie dabei auf, und zu welchen Themen sprechen sie? Wel-che anderen Protagonisten flankieren die Sprechakte der Bürger? Dieselben Fra-gen wurden mit Blick auf andere Akteursgruppen wie Lokalpolitiker, Militär etc. verfolgt (vgl. dazu s. Annex 2).

7.1 Leitfadengestützte Interviews

Für die Studie wurden 16 Mitarbeiter oder Besitzer irakischer Radio- und Fern-sehstationen sowie drei Experten in leitfadengestützten Interviews von 40 bis 120 Minuten Länge darüber befragt, welche Rolle sie ihrem Sender und dem iraki-schen Mediensektor in der politischen Transformation in ihrem Land zuweisen. Die Experten138 wurden nicht als praktizierende Medienproduzenten befragt, son-dern als Beobachter von Interaktionen zwischen Medien und Politik. Es handelt sich um einen Professor der kommunikationswissenschaftlichen Fakultät einer irakischen Universität, einen Zeitungsherausgeber und den Leiter einer Nachrich-tenagentur.

7.1.1 Auswahl der Interviewpartner und Durchführung der Interviews

Bei der Auswahl der Interviewpartner aus der Gruppe der Medienproduzenten standen folgende Kriterien im Mittelpunkt:139

• Die Gesprächspartner sollten im Sender eine Leitungsfunktion innehaben, sodass sowohl von umfassender Kenntnis der politischen Ausrichtung der Organisation als auch von weitgehender Identifikation mit dieser Ausrich-tung ausgegangen werden konnte.

• Die Gruppe der Interviewpartner sollte zu ausgeglichenen Anteilen aus Fernseh- und aus Radiostationen rekrutiert werden, sodass Einstellungen von Mitarbeitern aus beiden Gattungen im Sample inkludiert sind.

138 Methodologisch gesehen, handelt es sich bei allen Interviewpartnern um Experten; um aber

den Unterschied zwischen den beiden unterschiedlichen Gruppen im Sample zu markieren, wird der Begriff des Experten an dieser Stelle alltagssprachlich gebraucht.

139 Liste der Interviewpartner in Annex 1.

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7 Methodisches Vorgehen

188

• Die Gruppe der Interviewpartner sollte Mitarbeiter von staatlichen Sen-dern, Parteisendern sowie privaten, kommerziell orientierten Sendern um-fassen, um sicherzustellen, dass Einstellungen von Mitarbeitern aller im Irak relevanten Medientypen im Sample inkludiert sind.

Es galt also, eine Stichprobe zusammenzustellen, in der alle für die irakische Me-dienlandschaft relevanten Gattungen und Typen durch führende Mitarbeiter re-präsentiert sind, um den bestehenden Reichtum an Varianten möglichst umfas-send in die Erhebung einzubeziehen. Es handelt sich damit um eine Vorab-Fest-legung der Samplestruktur, der Annahmen über die Verteilung von Eigenschaften im zu untersuchenden Gegenstand zugrunde liegen (vgl. Flick 2012: 155). Dabei wird in der vorliegenden Arbeit keine Verallgemeinerung angestrebt, die von der Repräsentation einer Merkmalsgruppe im Sample auf Eigenarten dieser Gruppe schließen lässt. Generalisierte Aussagen über Einstellungen unter den Mitarbei-tern irakischer Staatsender oder parteilicher Sender werden aus der vorliegenden Studie nicht hervorgehen. Vielmehr geht es darum, die Vielfalt der im Irak rele-vanten Deutungsmuster und ihre Bedeutsamkeit unter Einbezug möglichst unter-schiedlicher Akteure herauszuarbeiten.

Das Sample der Gesprächspartner hatte schließlich folgende Struktur:140

Tabelle 7.4: Samplestruktur* Sender/privat Sender/öf-

fentlich Sender/partei-lich

Experten

TV 4 1 4 3

Radio 3 3 4

* Eigene Darstellung

Ein Problem bei der Auswahl der Interviewpartner und bei der Durchführung der Interviews stellte die Verfügbarkeit bzw. Erreichbarkeit irakischer Medienprodu-zenten dar. Im Jahr 2008 wären Recherchen und die Durchführung von Interviews in verschiedenen Teilen des Landes aufgrund der nach wie vor sehr schlechten Sicherheitslage lebensgefährlich, mithin nicht machbar gewesen. Es wurden des-wegen andere Gelegenheiten genutzt oder geschaffen wie z.B. Medienkonferen-zen im benachbarten Ausland, Forschungsaufenthalte im kurdischen Teil Iraks,

140 Drei der Interviewpartner der Stichprobe werden in Tabelle 7.4 doppelt aufgeführt, weil sie sowohl für TV als auch für Radio arbeiten. Zu den Interviewpartnern siehe Annex 1.

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7.1 Leitfadengestützte Interviews

189

Treffen mit Exil-Irakern in der jordanischen Hauptstadt Amman. Auf diese Weise sind in einem Zeitraum von etwa einem Jahr in den Jahren 2007/2008 24 Inter-views geführt worden, von denen 19 für die Analyse ausgewählt wurden. Die Größe der Stichprobe wäre damit auch an der Verschlossenheit des Feldes und an der Exklusivität des Materials zu messen.

Die im Leitfaden abgebildeten Fragenkomplexe korrespondieren mit den in Kap. 2.3 entwickelten Funktionsdimensionen im Verhältnis von Medien und Demo-kratie. Konkret wurden die Gespräche an folgenden Themen ausgerichtet:

• Persönlicher Hintergrund des Gesprächspartners wie Ausbildung und frühere Stationen der Berufslaufbahn,

• Entstehungsgeschichte der Radio- oder Fernsehstationen sowie Eckdaten zum Unternehmen wie Finanzierung, Personalumfang, Wettbewerber,

• Gesellschaftliche Aufgaben und Ziele des Senders im Sinne der Teilhabe am politischen Prozess,

• Beziehungen des Senders zum Geldgeber, zur Regierung und anderen po-litischen Gruppen,

• Programmprofil, -schwerpunkte und Formate,

• Vorstellungen vom Publikum und tatsächliche Interaktionen mit Hörern o-der Zuschauern,

• Journalistischer Umgang mit Konflikt und Gewalt in der Redaktion.

7.1.2 Auswertung der Interviews: Qualitative Inhaltsanalyse

Ausgangspunkt für die Inhaltsanalyse war die Formulierung von folgenden Funk-tionsdimensionen, die auf der Grundlage theoretischer Überlegungen unabhängig vom empirischen Material formuliert wurden (Basiskategorien nach Früh 2015: 147-157):

• Informationsfunktion, • Kritikfunktion, • Politische Kommunikation, • Partizipation, • Konfliktbehandlung, • Mobilisierung/ Transformation.

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7 Methodisches Vorgehen

190

Basiskategorien haben in der Textanalyse die Funktion, das Textmaterial auf re-levante Inhalte dadurch zu reduzieren, dass aus dem Gesamtmaterial Textteile identifiziert und ausgeschlossen werden, die keinen Beitrag zur Beantwortung der Forschungsfrage leisten. Es wurden im vorliegenden Fall entsprechend alle Passa-gen aus dem Material als relevant bewertet, die (1) sich in Bezug zu einer Basis-kategorie setzen ließen oder (2) andere Medienfunktionen thematisierten. Der in-duktive Anteil der Kategorienbildung besteht im zweiten Schritt darin, konkrete Vorstellungen über Medienfunktionen im Transformationsprozess aus dem Ma-terial zu extrahieren, zu strukturieren und von hier den Basiskategorien zuzuord-nen. Die bisher abstrakten Basisfunktionen wurden durch das Textmaterial auf diese Weise mit Leben erfüllt (vgl. Früh 2015).

Der Neu-Ordnung des Textmaterials nach Kategorien folgt die vergleichende In-terpretation der Aussagen und eine entsprechende Ausarbeitung der Kategorien unter Zuhilfenahme von gängigen Interpretationsinstrumenten wie Reduktion, Paraphrasierung und Explikation (vgl. Mayring 2008).

Dieser Prozess wurde bis zur Sättigung eines Kategoriensystems iteriert, in dem im Ergebnis Haupt- von Subkategorien wie folgt unterschieden sind:

Page 201: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

7.1 Leitfadengestützte Interviews

191

Tabelle 7.5: Kategoriensystem für Analyse der Interviews* Hauptkategorie Subkategorien

Der Sender als Anwalt und Sprachrohr der Bürger Partizipation als Vermittlung zwischen Volk und Regierung Subjektivierung und subjektive Entlastung durch öffentliche

Artikulation Der Sender als Partner für die Lösung von Problemen Überwindung ethno-konfessioneller Konflikte Überwindung von Konflikten durch Repräsentation Nationale Einheit versus ethno-konfessionelle Vielfalt Interaktion zwischen Konfliktparteien Desintegration durch Parteisender Medien als Instrument politischer Eliten Gründung eigener Sender als Instrument der Öffentlichkeitsar-

beit für Parteisender Kampagnen gegen Gewalt und Terrorismus Auslassung/ Hervorhebung als Kommunikationsstrategie Diskriminierung von Minderheiten Repräsentation von Minderheiteninteressen Instrumentalisierung unabhängiger Medien und Journalisten Der Sender als Kritiker der Regierung und politischer Eliten Probleme thematisieren Lösungen fordern Investigation und Enthüllung Der Sender als Informationsquelle für den Bürger

* Eigene Darstellung

Im abschließenden Arbeitsschritt wurden die bisherigen Ergebnisse der Inhalts-analyse auf theoretische Überlegungen rückbezogen, die der Kategorienbildung im ersten Schritt bereits Form und Richtung gegeben hatten. Geprüft wurde an dieser Stelle zunächst, welche theoretischen Ansätze im empirischen Material in welcher Form Bestätigung finden und welche dieser Ansätze keine oder negative Resonanz erfahren. Die Darstellung und die Bewertung von Medienfunktionen aus Sicht der irakischen Medienproduzenten werden unter Bezugnahme auf de-mokratietheoretische Aspekte in den Kapiteln 8.1.2, 8.2.2, 8.3.2 und 8.4.3 disku-tiert.

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7 Methodisches Vorgehen

192

7.2 Analyse von publizistischen Inhalten in irakischen Rundfunkprogrammen

Ausgehend von demokratietheoretischen Fragestellungen wurden – zusätzlich zu den Interviews – für die vorliegende Studie publizistische Programme von vier irakischen Fernsehsendern und vier Radiostationen untersucht. Ziel war die Iden-tifikation von Kommunikations- und Darstellungsmustern in der journalistischen Bearbeitung innenpolitischer Themen und die Bewertung dieser Muster nach de-mokratietheoretischen Gesichtspunkten. Maßgebend für die Analyse der Inhalte auf operativer Ebene war die Frage nach der Auswahl von Themen und Akteuren: Welche Personen (als Funktionsträger) sprechen zu welchen Themen wie häufig in welcher Weise? Diese Analyse von Themen und Akteuren diente als Ausgangs-punkt für die Beschreibung und Klassifizierung von Kommunikationsmustern.

7.2.1 Auswahl der Sender

Um zunächst eine möglichst große Variationsbreite von irakischen Darstellungs-formen in den Blick zu bekommen, wurde die Auswahl der Sender daran orien-tiert, möglichst unterschiedliche Typen in der Stichprobe zu versammeln – nach dieser Strategie waren auch die Gesprächspartner für die Interviews bereits aus-gewählt worden. Die typologische Ordnung der Medienlandschaft nach parteili-chen, öffentlichen und Privatmedien war dabei der Auswahl zugrunde gelegt wor-den (vgl. Kap. 6.4). Insgesamt wurden folgende Kriterien bei der Zusammenstel-lung des Samples für die Studie geltend gemacht:

• Die Stichprobe sollte zu angemessenen Anteilen parteiliche, private und öffentliche Sender umfassen.

• Die Stichprobe sollte zu angemessenen Anteilen aus Radio und TV-Sen-dern bestehen.

• Die einzelnen Sender sollten national ausgerichtet sein und eine gewisse Reichweite nicht unterschreiten; dazu wurden Daten aus den Nutzungsstu-dien von Ipsos und IREX herangezogen und nur Sender aus der Gruppe der ersten fünf im Ranking einbezogen (vgl. Kap 6.5).

Folgende Sender wurden in die Analyse einbezogen141:

141 Die Größe der Stichprobe fand ihre natürliche Begrenzung in den forschungsökonomischen

Rahmenbedingungen einer Dissertation. Aufwand und Arbeitsumfang der qualitativen In-haltsanalyse durften das für eine Person in überschaubarer Zeit Machbare nicht übersteigen.

Page 203: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

7.2 Analyse von publizistischen Inhalten in irakischen Rundfunkprogrammen

193

Tabelle 7.6: Sample TV-Sender* Öffentlich Privat Parteilich Radio Radio Bagdad Radio Dijla,

Radio Sumer Radio Bilad

TV Al-Iraqiya Al-Sumeria, Al-Sharkiya

Al-Furat

* Eigene Darstellung

Al-Sumeria ist ein privat-kommerzieller Fernsehsender mit Hauptsitz in Beirut und Alleinstellungsmerkmal im Bereich der Unterhaltungsformate (vgl. Kap. 6.4.3). Al-Sumeria wurde 2004 von libanesischen Geschäftsleuten als irakischer Sender für ein irakisches Publikum gegründet und ist mit leichter Unterhaltung und speziell dem Gesangswettbewerb Iraqi Star gerade unter jungen Leuten sehr populär geworden (vgl. Zayer 2007). Der Sender wird, soweit bekannt, über Wer-bung finanziert und belegt im IREX-TV-Reichweitenranking Platz 2 unter den irakischen Sendern.142 Die Selbstdarstellung von Al-Sumeria ist dominiert von humanistischen Werten wie Mut, Integrität und Harmonie. Neben dem TV-Sen-der betreibt das Unternehmen auch eine Nachrichtenagentur gleichen Namens so-wie einen Radiosender, der ebenfalls Bestanteil der vorliegenden Stichprobe ist.143

Al-Iraqiya ist der Hauptsender des öffentlichen Sendernetzwerkes Iraqi Media Network (IMN), das von der Coalition Provisional Authority (CPA) unter Paul Bremer 2003 gegründet und in den ersten Jahren von den amerikanischen Kon-zernen SAIC und Harris Corporation aufgebaut wurde (vgl. Kap. 6.4.1). Al-Ira-qiya wird trotz des öffentlichen Auftrags in der Literatur als Sprachrohr der Re-gierung dargestellt, mit Tendenz zu regierungsfreundlicher Berichterstattung vor allem in den Bereichen Wirtschaft und Sicherheit.144 Al-Iraqiya belegt im IREX-Ranking Platz 3 unter lokalen Sendern und im Ipsos-Ranking Platz 1.

142 Al-Arabiya belegt faktisch Platz 2 und wird aber in der vorliegenden Arbeit als ausländischer

Sender aus der Rangreihe rausgerechnet. 143 Zu weiteren Details zur inhaltlichen und politischen Ausrichtung von al-Sumeria vgl. Kap.

4.3.3. 144 Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des IMN und dem doppelbödigen Charakter

des Hauptsenders al-Iraqiya als einerseits öffentlich-rechtlicher und andererseits staatlicher Sender wird in der vorliegenden Arbeit in diesem Zusammenhang der Begriff öffentlicher Sender für die Einordnung verwendet. Weitere Details zur Entwicklungsgeschichte und zur inhaltlichen und politischen Ausrichtung des Senders: vgl. Kap. 4.3.1.

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7 Methodisches Vorgehen

194

Al-Sharkiya ist ein privater Sender mit sunnitisch geprägter, antiamerikanischer Agenda und Hauptsitz in Dubai, der von Saad al-Bazzaz im Verbund mit der Zei-tung Azzaman betrieben wird (vgl. Al-Rawi 2012: 179). Saad al-Bazzaz war bis 1992 Chef sowohl der staatlichen Nachrichtenagentur als auch des staatlichen Rundfunks im Irak. Nach einem Zerwürfnis mit Saddam Hussein über die Anne-xion Kuwaits im Jahr 1991 ging er ins Londoner Exil, wo er wenig später die Zeitung Azzaman gründete. Medienberichten zufolge werden beide Medienpro-jekte von der saudischen Königsfamilie zumindest teilfinanziert.145 Der irakischen Regierung ist der Sender wegen sunnitischer Tendenzen ein Dorn im Auge.146 Al-Sharkiya belegt im IREX-Ranking Platz 1 und wird dort auch als Sender mit den höchsten Vertrauenswerten präsentiert.147 Im Ipsos Ranking belegt al-Sharkiya Platz 2 nach al-Iraqiya.

Al-Furat ist der offizielle Sender der schiitisch geprägten Partei Oberster Islami-scher Rat im Irak (SIIC), die sowohl Koalitionspartner der regierenden DAWA Partei ist als auch ihr wichtigster Wettbewerber in den schiitisch dominierten Ge-bieten des irakischen Südens. Der SIIC gilt als religiös-konservative Partei mit schiitisch-islamischer Ausrichtung. Al-Furat ist ein klassischer Parteisender und aufgrund der klaren Ausrichtung auf ein schiitisches Publikum populär in den südlichen Provinzen. Hier belegt Al-Furat Platz 6 im Reichweitenranking von IREX. Im landesweiten Ranking wird Al-Furat, wie auch alle anderen offiziellen Parteisender, nicht unter den ersten zehn genannt, was insgesamt auf einge-schränkte Bedeutsamkeit der Parteisender auf nationaler Ebene verweist.

Radio Bilad gilt als parteilicher Sender mit politischer Nähe zur schiitisch-kon-servativen Fadila-Partei (Partei der Tugend). Aufgebaut wurde Bilad im Jahr 2003 vom Vorsitzenden und Gründer der Fadila-Partei, dem Kleriker Mohammed al-Yacubi. Die Fadila-Partei ist als Abspaltung der Sadr-Bewegung aus einem Zer-würfnis zwischen al-Yacubi und Muqtada al-Sadr hervorgegangen. Entsprechend

145 Siehe z.B: David Pallister in The Guardian vom 26. Januar 2005: „Media mogul accused of

running Saudi-funded propaganda campaign.“ 146 „Al-Sharqiya is sometimes mocked by critics as ‚Al-Baathiya‘ for its alleged sympathies for

Saddam’s outlawed Baath Party, which had helped Iraq’s Sunni minority rule the country“, schreibt die Washington Post anlässlich der Schließung des Senders durch örtliche Behörden am 1.Januar 2007. Die Schließung war veranlasst worden, weil am Tag der Vollstreckung des Todesurteils gegen Saddam Hussein die Fernsehmoderatoren in Trauerkleidung aufgetreten waren und in den Nachrichten ausführlich über pro-baathistische Demonstrationen berichtet wurde.

147 Details zur politischen Ausrichtung von al-Sharkiya vgl. Kap. 4.3.3 und Kap. 4.6.

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7.2 Analyse von publizistischen Inhalten in irakischen Rundfunkprogrammen

195

dieser Einordnung konzentriert sich der Sender mit Hauptsitz in der schiitischen Pilgerstadt Najaf auf religiöse Themen und Programme. Während der Regie-rungszeit von Premierminister Nuri al-Maliki war Radio Bilad exklusiver Kom-munikationspartner des Ministeriums für Arbeit und Soziales, das von einem Mit-glied der schiitischen Sadr-Bewegung geleitet wurde – ein weiterer Indikator für die verwickelten Verhältnisse zwischen Politik und Medien.

Radio Dijla wurde 2004 von dem irakischen Journalisten Ahmed al-Rikabi ge-gründet, der zuvor als Exilant in Schweden und London unter anderem für Radio Free Europe gearbeitet hatte. Im Rahmen der Planungsgruppe Future of Iraq war er bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die Planung von Medienthemen für die Zeit nach dem Sturz des Regimes einbezogen worden. Al-Rikabi war für einige Monate Nachrichtenchef bei al-Iraqiya, bevor er dort aus Frustration über die Fehlentwicklung kündigte, um einen eigenen Radiosender in Bagdad zu gründen. Auch wenn Ahmed al-Rikabi als irakischer Schiit den Sturz des Regimes und die amerikanische Invasion zunächst unterstützt hat, gilt Radio Dijla als eher unpar-teilicher und kommerziell ausgerichteten Sender, der mit Radio al-Nas in Bagdad um Reichweiten konkurriert. Im IREX-Ranking belegt Radio Dijla Platz 6 unter den nationalen Radiosendern (Kap. 6.5).148

Radio Sumer ist die Radioversion des Fernsehsenders al-Sumeria und gehört zur selben Unternehmensgruppe (s.o.). Radio Sumer ist kommerziell ausgerichtet und belegt Platz 7 im IREX-Reichweitenranking der Radiosender.

Radio Bagdad ist der zentrale Radiosender des IMN. Der Sender ist also Teil derselben Struktur und Geschichte wie al-Iraqiya (s.o.).149

Die Programme der genannten Sender wurden in der letzten Augustwoche (25.08.2008-31.08.2008) im Jahr 2008 an jeweils drei Tagen jeweils zwölf Stun-den (11.00 Uhr bis 23.00 Uhr Ortszeit) teilweise parallel aufgenommen.150 Die Auswahl von drei Tagen aus dieser Woche ist technischen Zwängen geschuldet,

148 In den südlichen Provinzen Platz 2. 149 Ausführlich zur Gründungsgeschichte des IMN siehe Kap. 4.3.1. 150 Die Radiosender Radio Bilad und Radio Dijla wurden über das Internet aufgenommen, was

zu Aufnahmefehlern führte. Im Segment der Radiosender sind die Aufnahmefenster aus die-sem Grund teilweise variiert worden. Anders als für das Fernsehen wurde aus diesem Grund auch keine Analyse des Tagesprogramms, mithin Auswertung der Informationsanteile versus Unterhaltung, unternommen.

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7 Methodisches Vorgehen

196

weil eine gleichzeitige Aufnahme von insgesamt sechs Sendern von der verfüg-baren Hard- und Software nicht geleistet werden konnte.151 Die konkrete Wahl der drei Tage aus einer Woche pro Sender erfolgte dann rein zufällig. Auch die Wahl des Zeitfensters – letzte Augustwoche 2008 – ist eine Zufallsentscheidung, da die Inhaltsanalyse auf kein konkretes Ereignis fokussiert. Sendeinhalte wurden wie folgt dokumentiert:

• Die Programmbestandteile eines Sendetages wurden unter Angabe von Be-ginn/Dauer/Ende einer Sendung, Titel, Format, Thema/Handlung protokol-liert.

• Alle Nachrichten aller Nachrichtensendung wurden nach folgenden Kate-gorien zusammenfassend aufgeschlüsselt: Länge der Nachricht, Titel der Nachricht, Position der Nachricht, Inhalt der Nachricht, (Zusammenfas-sung), Direkte Sprecher (Name, Position) und Zusammenfassung der Stel-lungnahme, Indirekte Sprecher (Name, Position) und Zusammenfassung der Stellungnahme.

• Alle Gesprächssequenzen (Fragen/Antworten) aus den analysierten Talks-endungen wurden zusammenfassend übersetzt und mit zusätzlichen Infor-mationen über die Gesprächsteilnehmer (Name, Position, Funktion, Partei) und die Gesprächssituation (Studioaufbau etc.) versehen.

• Für die Call-in-Sendungen im Radio wurden die Stellungnahmen der Hörer und der Moderatoren zusammenfassend übersetzt.

7.2.2 Auswahl von Programminhalten

Aus dem Datensatz von insgesamt 576 Stunden sollten jene Anteile zur Analyse herausgeschält werden, die mit Blick auf die Forschungsfrage am meisten Sub-stanz versprachen. Die Entscheidung für Nachrichten und Talkshows als zu un-tersuchenden Formate wurde gefällt, weil politische Themen hier explizit verar-beitet werden und der Sender manifest zu erkennen gibt, welchen Themen und Akteuren er welche Relevanz und Rolle beimisst.152

Folgende Programmeinheiten wurden in die Inhaltsanalyse einbezogen:

151 Eine Software für die Parallelaufnahmen irakischer Satellitensender wurde für die vorliegende

Studie eigens entwickelt. 152 Reportagen und Dokumentationen wurden aus dem Kernmaterial ausgeschlossen, weil hier

die weitgehende Uneinheitlichkeit des Materials einen methodischen Aufwand bedeutet hätte, der durch den Erkenntnisertrag nicht zu rechtfertigen gewesen wäre.

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7.2 Analyse von publizistischen Inhalten in irakischen Rundfunkprogrammen

197

Tabelle 7.7: Datenmaterial TV-Sender* Fernsehsender Hauptnachrich-

ten153 Talksendungen

Al-Sumeria/Privat 140 min gesamt 195 min gesamt

25.08.2008 19.50 Uhr 50 min

In der Öffentlichkeit (95 min) Warum ich wähle (50 min)

26.08.2008 19.50 Uhr 45 min

Irak Kontrovers (50 min)

28.08.2008 19.50 Uhr 45 min

----

Furat/Partei 160 min gesamt 00 min gesamt154

25.08.2008 20.00 Uhr 50 min

--

27.08.2008 20.00 Uhr 60 min

--

31.08.2008 17.00 Uhr 50 min

--

Al-Iraqiya/Öffentlich 155 min gesamt 326 min gesamt

25.08.2008 20.00 Uhr 50 min

Wirtschaftliche Perspektiven (48min) Worüber die Leute sprechen (50 min)

27.08.2008 20.00 Uhr 50 min

In der Waagschale der Justitia (43 min) Ein besonderes Treffen (50 min) Al-Iraqiya und das Ereignis (45 min)

31.08.2008 20.00 Uhr 55 min

Ein besonderes Treffen (50 min) Diskussionspunkt (40 min)

Al-Sharkiya/Privat 125 min gesamt 157 min gesamt

25.08.2008 22.00 Uhr 45 min

--

26.08.2008 22.00 Uhr 40 min

Der Dialog (40 min)

31.08.2008 22.00 Uhr 40 min

Der Dialog (37 min) Der Dialog (10 min) Der Dialog (40 min) Der Dialog (30 min)

* Eigene Darstellung

153 Angaben zu Uhrzeiten gemäß Ortszeit. 154 Die Aufzeichnung der Talkshows bei al-Furat war aus technischen Gründen beschädigt und

konnte für die Inhaltsanalyse nicht verwendet werden.

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7 Methodisches Vorgehen

198

Die Programmanalyse hat gezeigt, dass Radiosender kaum Diskussionsrunden im Sinne der Talkshow oder des politischen Interviews senden. An die Stelle der Talkshow tritt vielmehr die Call-in-Sendung mit offener Leitung für Zuhörer, die entsprechend als bürgernahes Talkformat in die Inhaltsanalyse einbezogen wurde. Von der Analyse ausgeschlossen wurden Quizsendungen und Musikshows, in de-nen die Hörer sich Musiktitel wünschen, sowie Sendungen zu explizit unpoliti-schen Themen wie Gesundheit oder Schönheit/Romantik. Folgende Programm-teile wurden in die Untersuchung einbezogen:

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7.2 Analyse von publizistischen Inhalten in irakischen Rundfunkprogrammen

199

Tabelle 7.8: Datenmaterial Radiosender* Radiosender Hauptnachrich-

ten155 Call-in-Sendungen (min)

Sumer/Privat 124 min gesamt 117 min gesamt

25.08.2008 19.45 Uhr / 62 min --

26.08.2008 19.45 Uhr / 62 min Lass uns Freunde werden (57 min)

28.08.2008 19.45 Uhr / 62 min Stimmungen (60 min)

Bagdad/Öffentlich 96 min gesamt 317 min gesamt

25.08.2008 21.00 Uhr / 24 Min Die Wahrheit (45 min)156

27.08.2008 21.00 Uhr / 24 min Die Künste (54 min)

28.08.2008 21.00 Uhr / 24 min Der beste Abend (85 min)

31.08.2008 21.00 Uhr / 24 min Service (50 min) Guten Abend Bagdad (83)

Dijla/Privat 150 min gesamt 218 min gesamt

25.08.2008 17.00 Uhr / 43 min Service Hour (40 min) / Majodeh Cafe´(31 min) A-lo-lah (36 min)

27.08.2008 17.30 Uhr / 50 min Service Hour (44 min) Majodeh Cafe´(36 min) A-lo-la (31 min)

28.08.2008 17.00 Uhr / 43 min --

Bilad/Partei Keine Nachrichten157 413 min gesamt

27.08.2008 -- Du und der Faqih (60 min) / Duft (63 min)

28.08.2008 -- An den Türen der Familie Mohammeds (60 min) Dialog im Glauben (55 min) / Horizont der Seele (85 min)

31.08.2008 -- An den Türen der Familie Mohammeds (60 min) Gleichnisse aus dem Koran (30 min)

* Eigene Darstellung

Radio- und Fernsehsender wurden mit unterschiedlicher Intensität in die Inhalts-analyse einbezogen. Die Nachrichten und Talkshows der Fernsehsender wurden als Kernmaterial definiert – die Analyse und Theoriebildung nimmt hier ihren

155 Angaben zu Uhrzeiten gemäß Ortszeit. 156 Voller Titel der Sendung: Die Wahrheit zwischen Mikrofon und Zuhörer. 157 Auf Radio Bilad gibt es im Untersuchungszeitraum keine klassische Nachrichtensendung.

Stattdessen am 27.08.2008 die halbstündige Sendung Politik für jeden, die am 31.08.2008 wiederholt wird und am dritten Untersuchungstag fehlt. Die Sendung umfasst vier Beiträge zu irakischen Themen von vier bis acht Minuten Länge, die handwerklich schlecht gemacht sind.

Page 210: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

7 Methodisches Vorgehen

200

Ausgangspunkt –, während die Radiostationen im zweiten Schritt nur im Hinblick auf Abweichungen von den Ergebnissen der Kernanalyse untersucht und zur Überprüfung und Entwicklung der Theorie herangezogen wurden (vgl. Kap. 8.4). Eine in dieser Weise skalierte Behandlung des Materials folgt dem Konzept des theoretischen Sampling als „schrittweise Festlegung der Samplestruktur im For-schungsprozess [und damit Einbezug von] Personen, Gruppen etc. nach ihrem (zu erwartenden) Gehalt an Neuem für die zu entwickelnde Theorie aufgrund des bis-herigen Standes der Theorieentwicklung in die Untersuchung.“ (Flick 2012: 159) Im Fall der vorliegenden Arbeit ist diese Herangehensweise dahingehend adap-tiert worden, dass aus der Inhaltsanalyse der Fernsehprogramme forschungsrele-vante Beobachtungen abgeleitet und demokratietheoretisch interpretiert wurden, deren Gültigkeit für den Bereich Radio durch die Analyse der Radiosendungen geprüft wurde. Die Identifikation von Unterschieden zwischen Fernsehen und Ra-dio wurden als Impuls für weitere Schritte der Theoriebildung wirksam (vgl. Kap. 9).

7.2.3 Qualitative Inhaltsanalyse von Programminhalten

Die qualitative Inhaltsanalyse der Medieninhalte dient der vergleichenden Unter-suchung von unterschiedlichen Mustern der Darstellung und Deutung von The-men in der irakischen Öffentlichkeit, die sich auf das Verhältnis von Medien und Politik in einem demokratischen Transformationsprozess beziehen. Welche nor-mativen Einstellungen und Erklärungen sind dazu unter irakischen Medienprodu-zenten virulent und bedeutsam? Wie wird die irakische Realität beschrieben und bewertet? Ziel war eine strukturierte Neuordnung des Materials, die den Weg eb-nen würde für die Formulierung von Antworten auf diese Fragen (vgl. Mayring 2008: 22).

Folgende Themen wurden im Erhebungszeitraum in den Nachrichten irakischer Fernseh- und Radiosender behandelt:

Page 211: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

7.2 Analyse von publizistischen Inhalten in irakischen Rundfunkprogrammen

201

Tabelle 7.9: Zentrale Nachrichtenthemen im Irak, 25.-31.8.2008* Zentrale Themen

Verhandlungen zum SOFA-Abkom-men

Es wird in dieser Woche mit Hochdruck über ein Status of Forces Agreement mit der US-amerika-nischen Regierung verhandelt.

Konflikte mit den Sahwa Councils Konflikte zwischen der Zentralregierung und den sogenannten Awakening oder Sahwa Councils (Stammesmilizen) werden anlässlich einer Ver-haftungswelle virulent.

Umstrittene Gebiete (Kanaqin und Kirkuk)

Der schon lange währende Konflikt über die Dis-puted Territories an der Grenze zwischen Iraki-sch-Kurdistan und dem arabischen Teil Iraks wird aktualisiert anlässlich des Einmarsches der irakischen Armee in Kanaqin.

Flüchtlinge /Rückkehrer Infolge eines Regierungserlasses zur Unterstüt-zung von rückkehrenden Flüchtlingen kommt es zu einer Welle von Heimkehrern.

Laufende Berichterstattung (Ressorts)

Sicherheit (Terrorismus) Attentate/Mord- oder Bombenanschlag, Verhaf-tung oder Tötung von Terroristen, Waffen und/Entschärfung von Bomben, Aufbau der Si-cherheitskräfte, Sicherheitslage allgemein

Ausland Ereignisse im Ausland Auslandsbeziehungen Ereignisse zwischen Irak und andere Staaten Versorgung (Lebensmittel und Ge-sundheit)

Versorgung der irakischen Bürger mit Gesund-heit, Wasser, Strom, Lebensmitteln

Wiederaufbau Wiedereröffnung von Institutionen, Plätzen, Or-ten, Bauprojekte und Bauvorhaben

Wirtschaft Nachrichten zur irakischen Wirtschaft (Ölpreise, Deflation/Inflation, Handelsabkommen etc.)

Marginale Themen

Ausschreibungen Projektausschreibungen Ramadan Ankündigungen bzgl. Ramadan Vergangenheitsbewältigung Prozesse gegen Baathisten Staatl. Förderung Neue Förderprogramme der Regierung Gesundheit von Politikern Krankheit, Behandlung und Genesung von Polit-

kern Korruptionsbekämpfung Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung Kultur, Medien, Bildung, Zivilgesell-schaft

Verleihung Filmpreis, Jubiläum Radiosender, Treffen Medienschaffender

Wahlen Vorbereitung der anstehenden Kommunalwahlen * Eigene Darstellung

Page 212: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

7 Methodisches Vorgehen

202

Analog zur Vorgehensweise bei der Analyse der Interviews wurden auch für die Analyse der Medieninhalte theoriegeleitete Basiskategorien gebildet, deren Funk-tion zunächst darin bestand, dem Material eine Struktur zu geben, die eine ver-gleichende Analyse von Darstellungsmustern ermöglicht. Folgende Basiskatego-rien wurden, analog zur Auswertung der Interviews, in der Analyse für die Neu-ordnung des Materials verwendet:

• Informationsfunktion: Zu welchen Themen werden die Bürger in welchem Umfang informiert? Wie ist die Qualität der Informationen zu bewerten?

• Partizipation: In welchen Rollen, zu welchen Themen und in welchem Um-fang treten Bürger und bürgernahe Gruppen in Erscheinung? (Siehe Annex 2 zur Präzisierung von Akteursgruppen).

• Politische Kommunikation: In welchen Rollen, zu welchen Themen und in welchem Umfang treten Regierungspolitiker, andere Politiker und politi-sche Eliten in Erscheinung? (Siehe Annex 2 zur Präzisierung von Akteurs-gruppen).

• Kritik: Wer übt zu welchen Themen Kritik in welchem Umfang? • Konflikt: Welche Konflikte werden in welcher Form und in welchem Um-

fang von den Sendern aufgegriffen?

In der Analyse der Medieninhalte dienten die Basiskategorien in Form der oben-stehenden Fragen als Instrument, um gezielt bestimmte Aspekte aus dem originä-ren Textfluss zu isolieren und in ein neues Ordnungssystem zu überführen. Die deduktiv organisierte Neuordnung des Materials ergibt sich damit aus theoreti-schen Vorannahmen über demokratie- und transformationsrelevante Leistungen von Medien. Der induktive Anteil der Kategorienbildung bestand demgegenüber in der Identifikation von Rollen und Funktionsmustern innerhalb der Basiskate-gorien auf Grundlage einer vergleichenden Analyse.

Aus der vergleichenden Analyse von Aussagen wurden senderübergreifende Dar-stellungsmuster erkennbar, die in Kapitel 8 erläutert werden. Für die Themen-komplexe Partizipation und Konflikt wurden beispielsweise folgende Muster identifiziert:

Page 213: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

7.2 Analyse von publizistischen Inhalten in irakischen Rundfunkprogrammen

203

Tabelle 7.10: Darstellungsmuster in den Themenbereichen Konflikt und Partizipation* Partizipation

Vertreter bürgernaher Gruppen als politische Subjekte Der dankbare Bürger Der Bürger als (geschädigter) Empfänger staatlicher Leistungen Der geschädigte Bürger durch die Brille der Zuständigkeit Der Bürger als Wähler Konflikt

Der Kampf gegen den Terrorismus als dominantes Deutungsmuster Ausschluss von Konfliktthemen in den Nachrichten Ausgewogene Berichterstattung zu innenpolitischen Konflikten als vorwie-

gende Form Einseitige Berichterstattung zu innenpolitischen Konflikten als randständige

Form Offene Parteinahme und PR in den Nachrichten Mut zur Kontroverse Ein- und Ausschluss von Konflikten in der irakischen Talkshow

* Eigene Darstellung

Die genannten Muster werden auf der Basis des gegebenen Materials empirisch vergleichend beschrieben (hier Kap. 8.2 und Kap. 8.3).

Die verschiedenen Muster, in denen Bürger, Politiker, Konflikte und Kritik in Er-scheinung treten, wurden im letzten Schritt der TV-Analyse zu den demokratie-theoretischen Ausführungen in Kap. 2 in Bezug gesetzt und durch die Brille der dort erläuterten Ansätze begutachtet. Die demokratietheoretische Auswertung der TV-Inhalte und Interviews wurde abschließend um einen Radio-TV-Vergleich er-weitert (Kap. 8.4).

Page 214: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Frage nach der Rolle der irakischen Medien im politischen Transformationsprozess im Irak nach dem Regimesturz im Jahr 2003. Gefragt wird nach den Leistungen des Mediensystems für das Fort-kommen der Demokratie im Irak und für den Prozess der politischen Transforma-tion. Gefragt wird des Weiteren nach der Art und Weise, wie in den Medieninhal-ten auf bewaffnete und politische Konflikte Bezug genommen wird.

Im empirischen Teil der Arbeit wurden 19 irakische Medienproduzenten zu ihren Zielen und normativen Vorstellungen befragt und es wurden Medieninhalte von acht irakischen Fernseh- und Radiostationen an jeweils drei Tagen im August 2008 untersucht.158 Anhand der Auswertung von Interviews, Nachrichten und Talkformaten wurde die Funktionalität des Mediensystems in den Bereichen po-litische Kommunikation, Partizipation, Informationsbereitstellung, Konfliktbetei-ligung und Transformation untersucht. Diese Basiskategorien für die Strukturie-rung der empirischen Untersuchung waren im Theoriekapitel dieser Arbeit entwi-ckelt worden (Kap. 2). Maßgeblich für die operative Durchführung der empiri-schen Untersuchung waren Leitfragen nach

• Umfang und Qualität der Informationsbereitstellung, • Themen, Kontexten und Erscheinungsweisen von Politikvertretern in den

Programminhalten, • Bedeutung, Art und Ausmaß der Teilhabe von Bürgern, zivilgesellschaftli-

chen Akteuren und bürgernahen Themen, • dem Themenspektrum innerhalb und zwischen Medienangeboten, • Parteinahme und Differenziertheit in der Darstellung und Diskussion von

Konflikten, • Inklusion und Exklusion von Konfliktakteuren und -themen.

Im vorliegenden Kap. 8 werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung vorgestellt und auf theoretische Überlegungen aus der Demokratie- und Transfor-mationsforschung rückbezogen.

158 Zur Methodik und Vorgehensweise siehe Kap. 5.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019A. Wollenberg, Medien und Demokratie im Irak, Studies in International,Transnational and Global Communications,https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6_8

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

206

8.1 Politische Kommunikation

Im Verständnis einer elitären Demokratiekonzeption sind die Wahl und der öf-fentliche Wettbewerb der zur Wahl stehenden Akteure die zentralen Mechanis-men von Demokratie und damit die politische Kommunikation der Parteien und insbesondere der Regierung in den Massenmedien deren Schlüsselleistung für das Gelingen demokratischer Verfahren. Gerade in den von Joseph Schumpeter und anderen Verfechtern elitärer Ansätze favorisierten Konzept der Trennung von Po-litik und Gesellschaft entscheidet die Qualität des Wettbewerbs maßgeblich über die Qualität der Regierungspolitik (vgl. Kap. 2.2.1).

In der Analyse struktureller Eigenschaften der irakischen Medienlandschaft (vgl. Kap. 6) war der überwiegend instrumentelle Einsatz von Medien durch Parteien und Interessengruppen als Indikator für die Vorherrschaft einer minimalistischen Demokratiekultur gewertet worden, in der werbende und wettbewerbstypische Kommunikationsformen dominieren und in der Medien primär für den Wettbe-werb der Parteien und Kandidaten genutzt werden. Es war in diesem Zusammen-hang die These formuliert worden, dass die herrschenden Parteien ihre Kanäle nutzen, um die eigenen Akteure und Ziele zu bewerben und die Willensbildung der Bürger in bestimmte Richtungen zu lenken (vgl. Kap. 6.7).

Um diese Einschätzungen zu überprüfen, wird im Folgenden das Auftreten der politischen Eliten und die journalistische Kontextualisierung politischer Kommu-nikation in den Nachrichten und Talkshows irakischer Sender untersucht werden (Kap. 8.1.1). Daran anschließend werden die Stellungnahmen der irakischen Me-dienproduzenten zur Frage der politischen Kommunikation zusammengefasst (Kap. 8.1.2); abschließend wird eine demokratietheoretische Einordung der Be-obachtungen vorgenommen (Kap. 8.1.3).

8.1.1 Politischer Wettbewerb, Öffentlichkeitsarbeit und Publizität

Im vorliegenden Kap. 8.1.1 wird der Diskurs der politischen Eliten im irakischen Fernsehen mit Blick auf die oben genannten Aspekte politischer Kommunikation analysiert. Im Mittelpunkt steht die Frage, zu welchen Themen welche Vertreter des politischen Systems in welchem Umfang und in welchen Kontexten in Er-scheinung treten.

Page 216: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

8.1 Politische Kommunikation

207

Repräsentation von politischen Eliten und Regierungsvertretern

Die quantitative Aufschlüsselung der in den Nachrichten direkt oder indirekt zi-tierten Sprecher nach Akteursgruppen offenbart zunächst eine knappe Vorherr-schaft der Bürger und bürgernahen Gruppen gegenüber den Sprechern aus dem politischen System.159 Politische Eliten, Mittelbau und Regierungsvertreter wer-den insgesamt 116 Mal gehört, während Bürger und bürgernahe Gruppen 127 Mal vor die Kamera treten.

Tabelle 8.11: Repräsentation von Akteursgruppen in TV-Nachrichten/Politikvertreter* Akteursgruppen Al-Iraqiya Al-Furat Al-Sharkiya Al-Sumeria Gesamt

Sprecher/Vertreter /Mitglieder der Re-gierung

26 10 (+1)160 4(+1) 7 (+2) 47 (+4)

Parteipolitische Eli-ten

8 1 2 11 (+1) 22 (+1)

Politischer Mittelbau (Parlament)

5 2 5 (+2) 12 24 (+2)

Kommunalpolitik 1 10 6 17

Analysten und Exper-ten

10 12 4 12 38

Medien- und Kultur-schaffende

5 3 1 9

Militär und Polizei 24 8 17 (+1) 13 58 (+1)

Bürgernahe Gruppen/ Zivilgesellschaft

16 10 7 5 38

Bürger 22 22 27 18 89

Gesamt 117 78 (+1) 67 (+4) 84 (+3)

*Eigene Darstellung

159 Erläuterung zu Akteursgruppen siehe Annex 2. 160 Daten in Klammern beziehen sich auf nichtirakische Sprecher aus dieser Akteursgruppe.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

208

Tabelle 8.12: Repräsentation von Akteursgruppen in TV-Talkshows/Politikvertreter* Akteursgruppen Al-Iraqiya Al-Furat Al-Sharkiya Al-Sumeria Gesamt

Sprecher/Vertreter /Mitglieder der Re-gierung

3 3

Parteipolitische Eli-ten

1 1 2 4

Politischer Mittelbau (Parlament)

1 2 2 5

Kommunalpolitik 1 1 1 1 4

Analysten und Exper-ten

5 1 2 3 11

Medien- und Kultur-schaffende

1 1 1 3

Militär und Polizei 1 1 2

Bürgernahe Gruppen/ Zivilgesellschaft

Bürger 10 Anrufer 3 Anrufer 13 Anr.

*Eigene Darstellung

Al-Iraqiya zeigt sich als priorisierter Kommunikationskanal der Regierung, die hier 26 Mal in den Nachrichten zu Wort kommt und darüber hinaus drei von ins-gesamt elf Gesprächsgästen in den Talkshows stellt. Auf keinem anderen Sender kommen Regierungsvertreter oder Regierungssprecher in Talksendungen über-haupt zu Wort, wobei in der vorliegenden Untersuchung ungeklärt bleibt, ob die Gründe für die Abwesenheit von Regierungspersonal beim Sender oder bei der Regierung zu suchen sind. Nuri al-Maliki wird in den Nachrichten bei al-Iraqiya sechsmal direkt und viermal indirekt zitiert und allein am 27.08.2008 sind die ersten drei Positionen (7:30 Minuten) mit Nachrichten über seine Aktivitäten be-setzt.161

161 Siehe dazu auch Abschnitt 1: Das politische Interview bei al-Iraqiya als Exekutive von Regie-

rungskommunikation und Abschnitt 2: Nachrichten als Exekutive von parteipolitischer Öf-fentlichkeitsarbeit bei al-Furat und al-Iraqiya im vorliegenden Kapitel.

Page 218: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

8.1 Politische Kommunikation

209

Der politische Mittelbau und politische Eliten finden nur wenig Aufmerksamkeit im irakischen Mediensystem mit Ausnahme von al-Sumeria: Hier werden Vertre-ter beider Gruppen insgesamt 23 Mal indirekt oder direkt in den Nachrichten zi-tiert und auch Personal für die Talkshows wird aus diesem Segment des politi-schen Systems rekrutiert. Das Interesse für Sprecher aus Parlament, Parteien und Ausschüssen ist aber abgesehen davon in der Gesamtheit der untersuchten Sen-dungen zugunsten anderer Akteursgruppen gering ausgeprägt.

Bemerkenswert ist die hohe Zahl der Vertreter aus Militär und Polizei, die sich 58 Mal zu Sicherheitsfragen und bewaffneten Konflikten äußern. Das Militär kommt damit in den Nachrichten deutlich häufiger zu Wort als Vertreter des po-litischen Systems. Ganz anders dagegen die Präsenz in den Talkshows: Nur al-Furat und al-Sumeria laden jeweils einen General zum Gespräch ein, während in den übrigen 15 Gesprächssendungen das Militär nicht repräsentiert ist.162

Mehr als auf anderen Sendern wird Kommunalpolitik bei al-Furat gewürdigt, dies freilich mit Blick auf Kommunalpolitik in den schiitisch geprägten Regionen im Süden Iraks.163

Im Folgenden wird das Auftreten der politischen Eliten im irakischen Fernsehen mit Blick auf Inhalt, Form und Kontext im Einzelnen diskutiert.

Das politische Interview bei al-Iraqiya als Exekutive von Regierungskommunikation

Die Darstellung und Begründung von Regierungshandeln durch Regierungsver-treter oder Assoziierte erfährt ihre größte Ausdehnung in den Talkformaten auf al-Iraqiya.164 Von der Form her variiert die Kommunikation zwischen Rechen-schaft (über Aktivitäten), Rechtfertigung (von Entscheidungen), Erklärung (von Zielen und Positionen) und nachrangig Bewerbung (von Gruppen oder Anliegen). In teilweise langen Einzelgesprächen werden folgende Personen wie folgt befragt:

(1) Regierungssprecher Ali al-Dabbagh rechtfertigt und erklärt offensiv die Posi-tion von Premierminister Nuri al-Maliki in den Verhandlungen zum SOFA (Al-Iraqiya/ Al-Iraqiya und das Ereignis/27.08.2008). Er begründet ausführlich alle

162 Siehe dazu Abschnitt 6 im vorliegenden Kapitel: Affirmative versus journalistische Kontex-tualisierung.

163 Siehe dazu Abschnitt 2 im vorliegenden Kapitel: Nachrichten als Exekutive von parteipoliti-scher Öffentlichkeitsarbeit bei al-Furat und al-Iraqiya.

164 Übersicht der Talksendungen: s. Kapitel 7.2.2.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

210

Positionen und betont die Kompromisslosigkeit, mit der al-Maliki sich gegen die Amerikaner mit seinen Interessen durchsetzen will und wird. Die wesentliche Mitteilung seines Auftritts besteht darin, dass die irakische Regierung sich von den Amerikanern keine Vorschriften machen lasse, sondern dass die Iraker den Zeitpunkt des Abzugs und andere Vertragsdetails bestimmen (werden).165 Das Gespräch beginnt wie folgt:

F: Was war der wichtigste Punkt der gestrigen Rede des Ministerpräsidenten? Al-Dabbagh: Die irakische Regierung legt Wert darauf, dass nach dem 31.12.2011 sich kein amerikanischer Soldat auf irakischem Boden befindet. Die entsprechenden Vorbe-reitungen dafür müssen rechtzeitig begonnen werden. F: Wie sehen das die Amerikaner? Al-Dabbagh: Die Amerikaner würden die Frage gerne noch etwas länger offen lassen, um dann gemeinsam zu entscheiden. Das kommt für den Irak nicht infrage. F: Verstehe ich Sie richtig, dass die Frage des Abzugs auch teilweise von der dann herr-schenden Sicherheitslage abhängen wird? Al-Dabbagh: Nein. Alle Soldaten werden abgezogen sein. Es sei denn, die irakische Regierung möchte aus Gründen der nationalen Sicherheit einen kleinen Teil der ameri-kanischen Soldaten aus rein technischen Gründen dabehalten, z.B. zu Ausbildungszwe-cken. Und das wird nicht vor 2011 entschieden, und zwar allein von irakischer Seite. F: Kann man denn da die Amerikaner so außen vor lassen? Al-Dabbagh: Ja, das muss so sein. (Wiederholt seinen Standpunkt).166

(2) Hassan al-Sanid, Parlamentsmitglied für die regierende Dawa-Partei, vertei-digt im zweiten politischen Gespräch das Prinzip des politischen Konsenses als Position gegen die Kritik des Moderators, der den Zwang zum Konsens als hin-derlich für den politischen Prozess und als Hemmschuh für die Entscheidungsfä-higkeit des Parlaments sieht (Al-Iraqiya/Diskussionspunkt/31.08.2008). Die Le-gislative werde lahmgelegt, so sein Argument. Al-Sanid argumentiert dagegen: Das Konsensprinzip gewährleistet den Einbezug aller irakischen Minderheiten in politische Entscheidungen. Hier wird von einem ranghohen Parteimitglied eine

165 Zu den unabdingbaren Verhandlungszielen gehören lt. Ali al-Dabbagh: Abzug aller amerika-

nischen Soldaten bis 31.12.2011, keine Immunität für amerikanische Soldaten auf irakischem Boden, Streichung des Paragrafen Nr. 7: „Über Ein- und Ausführung von Ausrüstung und Personen müssen wir die Kontrolle haben. Bis 2011 wird es keine amerikanischen Soldaten, Fahrzeuge etc. in Städten mehr geben. Und auch wenn in einem amerikanischen Lager etwas gebaut werden soll, dann bedarf es der irakischen Zustimmung.“

166 Al-Iraqiya/Al-Iraqiya und das Ereignis/27.08.2008.

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8.1 Politische Kommunikation

211

parteipolitische Position gegen journalistische Kritik in einer insgesamt facetten-reichen Diskussion verteidigt.

(3) In einem fast einstündigen Gespräch im Rahmen des Programms Ein beson-deres Treffen (Al-Iraqiya/31.08.2008) wird der stellvertretende Ministerpräsident Rafi al-Issawi zu Versorgungsdefiziten und politischen Lösungsansätzen befragt. Das Gespräch ist offen und kritisch. Mehrfach erlaubt sich der Moderator, an nicht eingelöste Regierungsversprechen zu erinnern und Korruption als Quelle der Stagnation und anderer Probleme zu benennen. Wie folgende Beispielfragen zei-gen, wirkt die Kritik aber vage und uninformiert:

Frage 7: Die Abwicklung von Verträgen ist bisher sehr bürokratisch. Gibt es gemein-same Pläne, dies zu verbessern? Frage 10: Es wurden große Summen für den Wiederaufbau bereitgestellt. Die bisherigen Projekte spiegeln jedoch nicht solch hohe Summen wider. Was ist mit dem übrigen Geld? Frage 11: Eben haben wir darüber gesprochen, dass die Richtlinien zur Verwendung der Gelder gelockert werden sollen. Schon mit den alten Richtlinien gibt es Korruption. Wie kann man das in Zukunft verhindern?

Inhaltlich kreisen die Erläuterungen von al-Issawi um die Verbesserung von Ko-ordination und Zusammenarbeit zwischen den am Wiederaufbau beteiligten Akt-euren als Lösung der irakischen Versorgungsprobleme. Darin sieht er seine Ver-antwortung und Kompetenz.

(4) In der Talkshow Worüber die Leute sprechen (Al-Iraqiya/25.08.2008) wird das Problem des privaten Stromhandels mit dem Parlamentspräsidenten der Pro-vinz Bagdad Muayyim al-Qassimi diskutiert.167 Auch in diesem Interview werden essenzielle Leistungsdefizite offen angesprochen und Lösungsansätze wie die Be-reitstellung staatlicher Generatoren und die Einrichtung von Kontrollorganen vom Gesprächspartner dargelegt.168

Bei den hier skizzierten Gesprächen handelt es sich um Einzelgespräche, in denen Kritik und gegensätzliche Positionen durchgängig – und zugespitzt im Gespräch mit al-Sanid – vom gastgebenden Moderator ins Gespräch gebracht werden. Viele Fragen sind, trotz kritischer Ausrichtung, allerdings breit und offen gestellt, was

167 Der Mangel an staatlich verfügbarem Strom wird durch einen Schwarzmarkt kompensiert, auf

dem Strom aus privaten Generatoren verkauft wird, was erhebliche Gesundheitsbelastungen, Umweltverschmutzung und andere negative Folgen für die Bürger mit sich bringt.

168 Auswertung der Sendung mit Blick auf Fragen der Partizipation siehe Kap. 8.2.1.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

212

dem Gesprächspartner ein breites und offenes Feld von Antwortmöglichkeiten eröffnet. Auch geben die Journalisten sich schnell mit vagen Erklärungen zufrie-den, wenn Nachfragen zu keiner Präzisierung führen.

Auch wenn die von den Gesprächspartnern formulierten Lösungsansätze nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen vermögen, signalisieren die Gespräche Bereitschaft auf Seiten der Regierung, sich dem Recht auf Rechtfertigung zu stellen. Und auch die Moderatoren übernehmen die Rolle des Bürgeranwalts, der das Recht auf Rechtfertigung einfordert.

Kontroverse Gespräche, in denen verschiedene Positionen von Vertretern unter-schiedlicher Parteien im Sinne des Wettbewerbs diskutiert werden, gibt es bei al-Iraqiya nicht. Die Gesprächsgäste vermeiden die Formulierung von Kritik gegen-über anderen Parteien oder Politikern, auch wenn die Moderatoren bisweilen durch suggestive Fragen zu kritischen Positionen einladen. Im Gespräch mit Ali al-Dabbagh fragt der Moderator beispielsweise: „Wir haben gehört, dass es poli-tische Strömungen gibt, die die Sicherheit des Iraks aufs Spiel setzen wollen, um des eigenen politischen Vorteils willen [...].“169 Diese und andere Vorlagen zur Kritik werden vom Regierungssprecher nicht aufgegriffen.

So wenig, wie der politische Gegner angegriffen wird, so wenig werden die Leis-tungen der eigenen, regierenden Partei glorifiziert. Errungenschaften und Pläne der Regierung werden in der Tendenz sachlich erklärt, es werden keine unrealis-tischen Versprechungen gemacht und die Regierung (bzw. die Regierungspartei) wird nur zurückhaltend beworben.

Als Verteidigung einer politischen Position im Sinne des Wettbewerbs kann streng genommen nur das Gespräch zum Prinzip des politischen Konsenses ein-geordnet werden. Die beiden anderen Gespräche dienen hingegen der Herstellung von Transparenz: Regierungshandeln wird in der Talkshow bei al-Iraqiya erklärt, begründet und verteidigt.

169 Al-Iraqiya/Al-Iraqiya und das Ereignis/27.08.2008.

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8.1 Politische Kommunikation

213

Nachrichten als Exekutive von parteipolitischer Öffentlichkeitsarbeit bei al-Furat und al-Iraqiya

Mehr als die Talkshows werden die Nachrichten bei al-Iraqiya als Format genutzt, um bestimmte Anliegen der Regierung zu bewerben.170 Dies gilt insbesondere für die Rolle der Stämme im Friedensprozess, die Rückführung der Flüchtlinge aus dem Ausland in die Heimat und die Souveränität der irakischen Regierung in den Verhandlungen zum Status of Forces Agreement (SOFA).

Mitglieder der Regierung treten in den untersuchten drei Nachrichtensendungen bei al-Iraqiya 14 Mal direkt vor die Kamera, um die Aktivitäten, Pläne und Posi-tionen der Regierung zu diesen und anderen Themen zu erläutern. Zählt man in-direkte Zitate hinzu, werden Regierungsmitglieder 26 Mal gehört (siehe Tab 8.11). Premierminister Nuri al-Maliki tritt in diesem Segment als privilegierter Sprecher auf: Er spricht sechsmal direkt und wird viermal indirekt zitiert. Am 27.8.2008 sind die ersten drei Positionen (insgesamt 7:30 Minuten) den Stellung-nahmen, Begegnungen und Reden des Premierministers gewidmet. Das ist ein deutlicher Unterschied zu den anderen Sendern mit jeweils sieben bis zehn Sprechakten für die Regierung in allen drei Nachrichtensendungen. Dabei können Nachrichten über Regierungshandeln von Nachrichten unterschieden werden, in denen das von der Regierung für die Medien inszenierte Handeln zum Gegenstand eines Beitrags im staatlichen Fernsehen wird.171 Zu folgenden Themen hat die Berichterstattung bei al-Iraqiya den Charakter einer politischen Kampagne172:

(1) In den sechs Nachrichten von insgesamt 15:30 Minuten Länge zur fakti-schen, geplanten oder angestrebten Rückführung der irakischen Flüchtlinge aus dem benachbarten Ausland in den Irak werden von Regierungsseite außer Nuri al-Maliki der Minister für nationale Sicherheit, der Minister für Migration und

170 Überblick über untersuchte Nachrichtensendungen siehe Kapitel 7.2.2. 171 Für diese Form der „Hofberichterstattung“ finden sich bei al-Iraqiya eine ganze Reihe von

Beispielen: al-Maliki hält eine Rede vor Künstlern und Intellektuellen, al-Maliki trifft Stam-mesführer, al-Maliki trifft Vertreter des Stammes al-Kaab, al-Maliki spricht zum Volk anläss-lich des bald beginnenden Ramadan, Vize-Präsident Tariq al-Hashimi trifft Medienschaffende und Journalisten etc.

172 Als politische Kampagne wird Berichterstattung eingeordnet, wenn (1) auffällig ausgedehnt unter Einbezug vieler prominenter Sprecher über ein Thema berichtet wird, (2) auf anderen Sendern deutlich weniger/kaum berichtet wird, (3) alle Stellungnahmen dieselbe Botschaft vermitteln und (3) inszenierte Ereignisse Gegenstand der Berichterstattung sind und/oder (4) die Berichterstattung appellativen Charakter trägt.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Auswanderung, ein Vertreter der nationalen Versöhnungskommission sowie Ge-neral Qassim Atta direkt oder indirekt gehört. Alle Stellungnahmen in diesem Segment haben appellativen Charakter – die Rückkehr wird beworben – und dre-hen sich zentral um eine signifikante Verbesserung der Sicherheitslage im Irak, die zur Rückkehr einlädt.173 Die ‚Akte der Auswanderer’ solle, so wird al-Maliki zitiert, zum Ende des Jahres geschlossen werden. Die offiziellen Stellungnahmen aus Politik und Militär werden eingerahmt durch eine Vielzahl stark affirmativer Kommentare von Betroffenen, die sich glücklich und dankbar über die Möglich-keit der Rückkehr zeigen.174 Die Berichterstattung zur Rückkehr der irakischen Flüchtlinge aus dem benachbarten Ausland zeigt zusätzlich durch das offensicht-lich intentionale Arrangement von über 15 gleichlautenden Stellungnahmen den Charakter einer politischen Kampagne.

(2) Das zweite Thema, zu dem die Regierung durch entsprechend inszenierte Aktivitäten Berichterstattung forciert, kreist um die Rolle der Stämme in der ira-kischen Gesellschaft. Vier Nachrichten mit einem Umfang von insgesamt 7:31 Minuten widmen sich Veranstaltungen verschiedener Stämme im Süden, an de-nen Regierungsvertreter teilnehmen. Nuri al-Maliki, ein Berater des Innenminis-teriums sowie Vizepräsident Tarik al-Hashimi sprechen in diesem Zusammen-hang ausführlich über die zentrale Rolle der Stämme für die ethno-konfessionelle Versöhnung im Irak und werden eingerahmt durch Stellungnahmen von vier Stammesvertretern (Sheikhs), einem Sozialwissenschaftler, einem Journalisten und einem Schriftsteller. Inhaltlich geht es in allen Äußerungen gleichlautend um die Leistung und Bedeutung der Stämme für die Überwindung ethno-konfessio-neller Konflikte im Irak und die Unterstützung der Regierung für den Zusammen-schluss der Stämme vor diesem Hintergrund. Die Berichterstattung zeigt hier den Charakter einer Ehrung.

(3) Der Wiederaufbau wird bei al-Iraqiya mit zehn Nachrichten und 12:45 Mi-nuten im Vergleich zu anderen Sendern und auch im Vergleich zu herkömmlichen Wirtschaftsnachrichten überaus ausführlich verhandelt.175 Der Anteil von Nach-richten zu geplanten Bauvorhaben ist mit fünf Nachrichten am höchsten. Dazu gehören geplante Bauprojekte in Sadr City, Pläne für den Bau eines Windparks,

173 General Qassim Atta erwähnt in diesem Zusammenhang auch das neue Gesetz 101, das den Schutz des Eigentums von Rückkehrern verbessern soll.

174 Zur affirmativen versus journalistischen Kontextualisierung siehe auch gleichnamiger Ab-schnitt 6 im vorliegenden Kapitel.

175 Für einen Vergleich der Zeitaufwände pro Thema siehe Kapitel 7.2.2.

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8.1 Politische Kommunikation

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die Planung einer neuen Eisenbahnstrecke sowie geplante Bauprojekte in Salah ad-Din.176 Dazu gehört auch eine weitere Nachricht über die Pläne regionaler In-vestmentkommissionen, vermehrt Anreize für ausländische Investoren zu bieten. Drei weitere Nachrichten entfallen auf die Wiederaufnahme oder Ausweitung von Aktivitäten staatlicher Industrie/Firmen.177 Ein Beitrag von drei Minuten (25.8.2008, Position 12) wird der Wiedereröffnung der Straße 60 in Diyala ge-widmet, die Provinz, in der gerade eine umfassende Sicherheitsoperation durch-geführt wird. Hier kommen Angehörige des Sicherheitspersonals und auch Bür-ger zu Wort, die in der Wiedereröffnung der Straße ein Signal für eine insgesamt verbesserte Situation sehen: „Früher war die Straße 60 eine Straße des Todes. Durch das Engagement der Sicherheitskräfte ist sie wieder sicher. Wir laden die geflohenen Familien deswegen ein zurückzukehren!“ sagt Polizeihauptmann Ka-rim Qazim in dem Beitrag.

Die Haltung und Verhandlungsziele der Regierung zum Status of Forces Agree-ment (SOFA) mit der amerikanischen Regierung werden von Seiten der Regie-rung in den Nachrichten bei al-Iraqiya ebenfalls umfassend und in hoher Frequenz kommuniziert. Premierminister Nuri al-Maliki äußert sich an allen drei untersuch-ten Tagen in vier verschiedenen Nachrichten von insgesamt 11:53 Minuten auf den Plätzen eins, zwei und drei zu Details der Vereinbarung mit den Amerikanern, wobei die von ihm gesetzten Bedingungen im Mittelpunkt seiner Erklärungen ste-hen, namentlich die Souveränität des Iraks, die einzuschränken nicht Ergebnis der Verhandlungen sein dürfe.178 Parlamentssprecher Mahmud al-Mashhadani erklärt ergänzend offene Punkte des Abkommens wie Immunität der amerikanischen Soldaten und genaue Zeitplanung für den Abzug der amerikanischen Truppen. Wie al-Maliki betont auch er die Unantastbarkeit der irakischen Souveränität. Flankiert werden diese Stellungnahmen von gleichlautenden Kommentaren durch

176 Bauprojekte in Sadr City (zwei Nachrichten von insgesamt drei Minuten auf Platz 14 und 21

am 25.08.2008 und 31.08.2008), Pläne für den Bau eines Windparks (27.08.2008/ Pos. 18/ 0:45 min), Plan für den Bau einer neuen Eisenbahnstrecke (25.08.2008/ Pos.17/0:22 min) so-wie geplante Bauprojekte in Salah ad-Din (27.08.2008/ Pos. 21/ 0:43 min).

177 Ölraffinerie in Dawra läuft wieder (27.08.2008/Pos. 22/0:45 min), Jungfernflug von Iraqi Airways von Mosul nach Bagdad (25.08.2008/Pos. 16/0:45 min), neue Niederlassungen der staatlichen Autofirma SCAI (27.08.2008/Platz 19/ 2:25 min).

178 Am 25.08.2008 auf den Plätzen eins und zwei mit einem Umfang von 6:20 min; am 27.08.2008 und 31.08.2008 jeweils auf Platz 3 in zwei Nachrichten von 2:30 min und 3 min, die sich sowohl um das SOFA als auch um die Wahlen drehen.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Experten. Weil aber die Berichterstattung nicht auf inszenierten Ereignissen be-ruht, weil sie keinen appellativen Ton anstimmt und weil auch alle anderen Sender umfassend über die Verhandlungen berichten, wird die Berichterstattung nicht der Kampagne, sondern der legitimen Regierungskommunikation zugeordnet.

In den Nachrichten auf al-Iraqiya werden an keiner Stelle jemals oppositionelle oder regierungskritische Stimmen gehört.

Die hohe Dichte der Pseudoereignisse, die Einbettung politischer Kampagnen, die dichte Präsenz der Regierungsmitglieder, die Ehrung der Stämme, der Ausschluss kritischer Stimmen – alle eben skizzierten Beobachtungen – lassen al-Iraqiya als verlängerten Arm der Regierung erscheinen, dessen Funktion darin besteht, Öf-fentlichkeitsarbeit in Öffentlichkeit zu überführen. Dies gilt insbesondere für die Nachrichten, die sich in dieser Hinsicht von den Talksendungen unterscheiden. In den Talksendungen wird – wie der vorherige Abschnitt gezeigt hat – Regierungs-handeln eher erklärt als beworben.

Al-Furat, offizieller Sender der schiitischen Partei Oberster Islamischer Rat im Irak (SIIC), schließt sich hier an und geht noch weiter, indem Berichterstattung über Aktivitäten des SIIC-Parteivorsitzenden Abd al-Aziz al-Hakim sowie über die SIIC-eigene Stiftung Shaheed al-Mihrab (Märtyrer der Gebetsnische) weit über jedes journalistische Maß hinaus gedehnt und mit positiven Kommentaren der Reporter und anderen am Geschehen Beteiligten eingerahmt werden. Als Bei-spiel zeigt Tabelle 8.13 das Protokoll eines Nachrichtenbeitrags vom 25.08.2008 (Pos. 2) von insgesamt 4:33 Minuten über eine Reise des Parteivorsitzenden in den Süden Iraks:

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8.1 Politische Kommunikation

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Tabelle 8.13: Berichterstattung über SIIC bei al-Furat* 25.08.2008

4:33 min /Pos.2

Abd al-Aziz al-Hakim trifft Vertreter seiner Partei SIIC im Zentral-irak und in den südlichen Provinzen

A1 (Sprecher) Der Vorsitzende des SIIC Abd al-Aziz al-Hakim hat verschiedene Vertre-ter der Partei in den südlichen Provinzen und im Zentralirak getroffen. Während dieser Treffen wurde über die Entwicklung der Sicherheitslage und über die politische Lage gesprochen. Es wurde darüber hinaus über den Wiederaufbau und über die Lage der städtischen Versorgung gespro-chen. Abd al-Aziz al-Hakim forderte die Organisation Shaheed al-Mihrab auf, sich stärker in gesellschaftlichen Fragen zu engagieren und den iraki-schen Menschen zu helfen, die aktuelle Krise zu überstehen.

A1 (Sprecher) Hassan al-Sameri, Vertreter von SIIC in Diwaniya, betonte die Notwen-digkeit, sich zur Dezentralisierung zu bekennen und damit den Provinzen zu ihrem verfassungsmäßigen Recht zu verhelfen.

Hassan al-Sa-meri (SIIC in Diwaniya

Wir haben Sayed al-Hakim gebeten, sich für die Durchsetzung der verfas-sungsmäßigen Rechte der Provinzen und Dezentralisierung einzusetzen.

A1 (Sprecher) Hafiz al-Yasseri, Vertreter von SIIC in Babel, betonte die Bedeutung der Organisation Shaheed al-Mihrab und die Notwendigkeit, Anliegen und Ansichten der Organisation den Bürgern noch besser zu kommunizieren.

Hafiz al-Yasseri (SIIC in Babel)

Wir sprachen über die Errungenschaften im Friedensprozess, die aus der Zusammenarbeit des SIIC mit dem Pentagon hervorgegangen sind. Wir hatten außerdem eine Reihe von Sitzungen, in denen besprochen wurde, wie die Rolle von Shaheed al-Mihrab in der gesellschaftlichen Entwick-lung gestärkt werden kann.

A1 (Sprecher) Razan al-Rikabi, Vertreter von SIIC in Baikara, gab einen Überblick über wichtige Fortschritte im Bereich der Bauprojekte, unter anderem den Bau von 1.500 Wohnungen. Im Rahmen der Bauprojekte haben sich ausländi-sche Firmen im Irak niedergelassen.

Razan al-Rikabi (Vertreter von SIIC in Baikara)

Viele Unternehmen werden ihre Arbeit nach dem Ramadan wieder auf-nehmen. Alle städtischen Dienstleistungen stehen unter der Schirmherr-schaft des SIIC und der Shaheed al-Mihrab, die auch mit allen politischen Parteien in unserer Provinz zusammenarbeitet. Alle diese Leistungen er-folgten mit Unterstützung von Sayed al-Hakim. Er hat die Entwicklung in allen unseren Provinzen die ganze Zeit über inspiziert und betreut.

A1 (Sprecher) Abd al-Hassan al-Taim, Vertreter von SIIC in Kerbela, sprach über die Ängste und die Anspannung der Bürger in der irakischen Krise und mit

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Blick auf die Folgen des SOFA-Abkommens. Er verwies auf das Verspre-chen von Abd al-Aziz al-Hakim, dass die nationale Souveränität und die Rechte der irakischen Bürger durch das Abkommen nicht eingeschränkt oder beeinträchtigt würden.

Abd al-Hassan al-Taim

(SIIC in Ker-bela)

Ich habe über die Ängste der Iraker in Bezug auf das SOFA-Abkommen gesprochen und über die Gefahren, die mit diesem Abkommen verbunden sind. Sayed al-Hakim hat versichert, dass das Abkommen nicht verab-schiedet werden wird, wenn das Parlament und die irakischen Bürger da-mit nicht einverstanden sind.

*Beispiel, eigene Darstellung

Uneingeschränktes Zentrum der Berichterstattung sind bei al-Furat alle SIIC-be-zogenen Ereignisse, Aktivitäten von führenden Parteimitgliedern sowie Veran-staltungen der SIIC-nahen Stiftung Shaheed al-Mihrab. Diesen Vorgängen, über die kein anderer Sender berichtet, werden sieben Nachrichten mit einem Zeitum-fang von insgesamt 29:15 Minuten gewidmet.179

Ein thematischer Schwerpunkt bei al-Furat sind die anstehenden Provinzwahlen, die mit insgesamt vier Nachrichten und einem Zeitvolumen von 12:24 Minuten gewürdigt werden.180 Anlass für die Berichterstattung ist in drei von vier Fällen die Durchführung einer Veranstaltung zum Thema. In den jeweils ausführlichen Berichten werden Teilnehmer und Referenten zu Wort gebeten. Alle Stellungnah-men drehen sich um (1) die Bedeutsamkeit der Wahlen, (2) die Bedeutsamkeit der Wahlbeteiligung für den Erfolg der Wahlen, (3) die Bedeutsamkeit und Rolle der Frauen in diesem Wahlgang. Es kommen in den Berichten insgesamt 18 Men-schen, mehrheitlich Konferenzteilnehmer, zu Wort. Allein am 25.08.2008 wird

179 Über folgende Ereignisse wird auf keinem anderen Sender berichtet: Fünf Minuten Bericht-

erstattung zu politischen Gesprächen zwischen Ammar al-Hakim und ‚hochrangigen Gästen’ sowie Stammesvertretern; sieben Minuten Berichterstattung über den Besuch des SIIC-nahen Geistlichen Sayed Sadr al-Din al-Qabanji an der heiligen Grabstätte der beiden Askari-Schreine in Samarra, Übertragung seiner Rede; 4:25 Minuten Berichterstattung über eine Ver-anstaltung der SIIC-nahen Stiftung Shaheed al-Mihrab zu den Wahlen; eine Minute Bericht über eine Zeremonie der Shaheed al-Mihrab zu Ehren begabter Waisenkinder; 4:30 Minuten Bericht über eine Konferenz der Shaheed al-Mihrab unter Teilnahme von Ammar al-Hakim, dessen Rede teilweise übertragen wird; 4:30 Minuten Bericht über Gespräche von Ammar al-Hakim mit SIIC-Vertretern in verschiedenen Provinzen des Südens und Zentralirak über kom-munale Dienstleistungen; 2:50 Minuten Bericht über den Abschluss der islamisch-schiiti-schen Sommerschule der Shaheed al-Mihrab in Basra.

180 Zum Vergleich: al-Iraqiya und al-Sumeria berichten überhaupt nicht zum Thema Wahlen und al-Sharkiya bringt zwei Meldungen von jeweils 20 Sekunden Länge.

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8.1 Politische Kommunikation

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auf den Plätzen drei, vier und fünf mehr als zehn Minuten über Veranstaltungen zur Wahl berichtet.181 Anders als bei al-Iraqiya bringen sich al-Furat-Reporter aktiv wertend in die Be-richterstattung ein. In allen Beiträgen nehmen die Reporter Stellung zum Thema, huldigen der Veranstaltung, über die sie berichten, und betonen ihrerseits die Be-deutsamkeit der Wahlen und der Wahlbeteiligung. Zwei Beispiele dazu:

(1) Reporter Wahab al-Izzi über ein Seminar zur Bedeutung der Wahlen der Wahlkommission in Dhi Qar (25.08.2008/3:11 min/Pos. 5): „Die Wahlbeobach-ter erwarten hohe Wahlbeteiligung für die nächsten Wahlen. Die Rolle der Zivil-gesellschaft ist wichtig für die politische Bildung und für die Wahlbeobachtung. Solche Seminare wie hier in Dhi Qar sind sehr hilfreich für die Bürger, um den Sinn von Wahlen zu verstehen“.

(2) Reporter Falih al-Gawary über ein Seminar der Shaheed al-Mihrab (Mär-tyrer der Gebetsnische) zur Bedeutung der Wahlen in Najaf (15.08.2008/4:25 min/Pos. 3): „Die Vorträge auf der Konferenz drehen sich um die Bedeutsamkeit der Wahlen für die Bürgerrechte und die Zukunft des Irak. Die Organisation Sha-heed al-Mihrab engagiert sich auch für die politische Bildung von Frauen. Die Projekte der Organisation sind erfolgreich und sehr wichtig für die Zukunft des Irak“.

Vor dem Hintergrund einer (1) hohen Frequenz und Ausdehnung der Berichter-stattung bei gleichzeitig ausbleibender Berichterstattung auf allen anderen Sen-dern, (2) der appellativen Ausrichtung der Berichterstattung, (3) der gleichförmig positiven Ausrichtung der Stellungnahmen und (4) der Vorrangstellung von für die Medien inszenierter Ereignisse ist die Berichterstattung bei al-Furat über die anstehenden Provinzwahlen als politische Kampagne einzuordnen.

181 Shaheed al-Mihrab richtet eine Konferenz zur Bedeutung der Wahlbeteiligung aus (Platz 3,

4:25 min, fünf Sprecher); der Verband Irak ist die Zukunft organisiert ein Symposium über die Bedeutsamkeit der Wahlbeteiligung und die Rolle der Frauen in den Wahlen (Platz 4, 2:48 min, sechs Sprecher); die Wahlkommission in der Provinz Dhi Qar veranstaltet ein Se-minar zur Bedeutung der Wahlen (Platz 5, 3:11 min, sechs Sprecher). Es gibt neben der Be-richterstattung über Veranstaltungen am 27.08.2008 auch eine Nachricht von zwei Minuten über die Bestimmung des Termins für die Beendigung der Wählerregistrierung in der Provinz Dhi Qhar. Es kommen zwei Wähler und ein Wahlbeobachter zu Wort, die u.a. für eine schnelle Verabschiedung des Wahlgesetzes plädieren, damit die Wahlen wie geplant auch stattfinden können.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Regierungskritik als Wettbewerbsagenda bei Al-Sharkiya

Die Frage des politischen Wettbewerbs wird zwischen den verschiedenen Sen-dern und insbesondere zwischen al-Iraqiya und al-Sharkiya über das Prinzip der Komplementarität verhandelt. Während bei dem öffentlichen Sender al-Iraqiya, wie oben ausgeführt, Regierungsvertreter umfänglich Gelegenheit zur Kommuni-kation erhalten, werden in die Talkshows bei dem als sunnitisch geltenden Sender al-Sharkiya ausschließlich oppositionelle Akteure zum Gespräch eingeladen und die Positionen der Regierung werden nur als Gegenstand von Kritik aufgegrif-fen.182

Die beiden politischen Interviews mit den oppositionspolitischen Schwergewich-ten Ibrahim al-Jafari und Iyad Allawi183 zeigen exemplarisch, wie explizit al-Sharkiya sich im politischen Wettbewerb gegen die Regierung aufstellt.

(1) Iyad Allawi wird durch suggestive Fragen über das gesamte Gespräch hin-weg dazu aufgefordert, die Leistungen und Entscheidungen der Regierung zu kri-tisieren (Al-Sharkiya/Der Dialog/31.08.2008). Inhaltlich geht es um die aktuellen innenpolitischen Krisen und in fast jeder Frage wird Kritik an der Regierung für den Gesprächspartner vom Moderator vorformuliert, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Frage 1: Der Vorgang, die Verhandlungskompetenzen [im SOFA-Prozess] vom Außen-ministerium weg und zum Ministerpräsidenten hin zu verschieben: Ist das ein Versuch, bestimmten Institutionen die Zuständigkeiten zu entziehen? Ist das nicht ein Versuch, die Macht zu bündeln? Frage 2: Man hat den Eindruck, es gibt momentan diese Stimmung, dieses vorherr-schende Gefühl, die Provinz Kirkuk gehöre zum Irak und nicht zu Kurdistan. Ist auch das ein Versuch, die Macht zu bündeln?

182 Überblick über Talkshows siehe Kapitel 7.2.2. 183 Bis zur Wahl von Ibrahim al-Jafari war Iyad Allawi irakischer Übergangspremierminister in

den Jahren 2004-2005. Aus den Parlamentswahlen 2010 ging Allawis Partei Irakija abermals als Siegerin hervor. Trotzdem gelang es Nuri al-Maliki, sich durch Koalitionsbündnisse mit anderen schiitischen sowie kurdischen Parteien als Premierminister im Amt zu behaupten und Allawi in die Opposition zu verdrängen. Die beiden Kontrahenten gelten seitdem als Intim-feinde. Ibrahim al-Jafari, ehemaliger Sprecher der Dawa-Partei, wurde 2005 zum Premiermi-nister gewählt und regierte das Land bis zur Wahl von al-Maliki 2006. Ibrahim al-Jafari grün-dete im Frühjahr 2008 die oppositionelle Nationale Reformbewegung, die an den Provinzwah-len 2009 mit geringem Erfolg teilnahm.

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8.1 Politische Kommunikation

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Frage 4: Verfolgt die Regierung al-Malikis eine Politik, die in erster Linie für das Land von Vorteil ist? Oder hangelt sie sich von Koalition zu Koalition, um einzelne Probleme zu lösen? Frage 8: Nach sechs Jahren und mit fünf Millionen irakischen Flüchtlingen ist die Politik hier immer noch gehemmt durch das Prinzip des politischen Konsenses. Wichtige Prob-leme werden nicht angegangen, es herrscht Korruption, die Grundversorgung steht nicht – wie sehen Sie die politische Zukunft?

Iyad Allawi fügt sich engagiert in die für ihn vorgesehene Rolle des Kritikers und formuliert zahllose konkrete und weniger konkrete Vorwürfe, die häufig die vom Moderator vorformulierte Kritik aufgreifen und ausführen.184 Zum Beispiel:

Allawi: Der politische Prozess ist unausgewogen, es fehlt an ganz grundsätzlichen Din-gen. Es herrschen Unterdrückung und Verfolgung, es werden unfaire Gesetze gegen unschuldige Leute verabschiedet. Diese Situation wird dem Irak großen Schaden zufü-gen. [...] Ich glaube nicht, dass diese Politik in erster Linie dem Land dient. Beweise gibt es dafür viele. Es gibt keinen Versuch, das Problem der irakischen Flüchtlinge im Ausland anzugehen. Es gibt keine Bestrebungen, Verbesserungen an der Verfassung vorzunehmen. Keine Bestrebungen, die Vetternwirtschaft zu beenden.185

Parteipolitische Positionen werden im ersten Teil des Gesprächs nur ganz un-scharf erkennbar. Im zweiten Teil des Gesprächs äußert Allawi sich dann deutlich zur positiven Rolle der Sahwa Councils im Friedensprozess, die maximal weit von der Position der Regierung entfernt liegt.186 Es folgen Vorschläge für die Aus-gestaltung zukünftiger Beziehungen mit dem Iran und eine positive Stellung-nahme zur Zentralisierung politischer Macht im Irak mit Verweis auf einen ent-sprechenden Strategiewechsel auch in Washington. Abgesehen von diesen weni-gen Standpunkten erfährt der Zuschauer wenig über die politische Agenda des Kandidaten.

(2) Das Gespräch mit Ibrahim al-Jafari wird von Seiten des Moderators ebenfalls unter Einsatz von unverblümt suggestiven Fragen geführt (Al-Sharkiya/Der Dia-log/31.08.2008). Anders als Iyad Allawi antwortet al-Jafari aber gelangweilt und

184 Er hält die Koalition der schiitischen mit den kurdischen Parteien für einen Fehler und wirft

Nuri al-Maliki einen Alleingang im SOFA-Prozess vor; die Beziehungen zwischen Kurdistan und der Zentralregierung sind seiner Meinung nach ‚ungesund’; die Gesetze zur Regulierung der Teilautonomie seien unklar und würden nicht geklärt; die Zentralregierung werde der Ver-antwortung für die Lösung innenpolitischer Konflikte nicht gerecht und ganz generell diene die Politik der Zentralregierung nicht dem Wohl des Landes.

185 Al Sharkiya/Der Dialog/31.08.2008. 186 „Ich sehe die Rolle der Sahwa sehr positiv. Ich warne stark davor, die Sahwa jetzt vom poli-

tischen Leben auszuschließen.“ Al Sharkiya/Der Dialog/31.08.2008.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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unpräzise auf alle Fragen und nutzt die ihm gebotene Möglichkeit, den Premier-minister zu den Themen Vetternwirtschaft, Machtmonopolisierung und Miss-brauch religiöser Symbole im Wahlkampf anzugreifen, nicht. Al-Jafari reagiert auf die präzise gestellten Fragen des Moderators vielmehr mit ausweichenden, vagen Antworten. Er fordert mehr „Vertrauen und Dialog“ und weniger „Emoti-onen“.187 Auch die im Gespräch gegebenen Möglichkeiten, seine eigene Partei zu bewerben, lässt er ungenutzt. An mehreren Stellen nimmt er den Premierminister gegen die Unterstellungen des Moderators wie folgt in Schutz:

F: Denken Sie, dass al-Maliki und Itilaf eine große Rolle bei der Vetternwirtschaft spie-len? Allawi: Das liegt nicht in der Hand des Ministerpräsidenten. Er kann die Vereinbarun-gen der Vetternwirtschaft nicht aufbrechen. Wir müssen zu mehr Bewusstsein in dieser Sache kommen.188

Die Gespräche bei al-Sharkiya sind im Hinblick auf Gesprächsführung und Aus-wahl der Gesprächspartner nicht kontrovers angelegt. Es geht nie darum, Vertre-ter unterschiedlicher Meinungen miteinander ins Gespräch zu bringen, sondern die Positionen der oppositionellen Elite in einem kontrollierten Gesprächsdesign zu explorieren. Dabei behindert die stark ausgeprägte Ausrichtung auf Kritik die Klärung von parteipolitischen Positionen der Gesprächspartner, über die der Zu-schauer nur wenig erfährt.

Der regierungskritische Diskurs wird bei al-Sharkiya in die Nachrichten hinein verlängert. In einem elfminütigen Gespräch erläutert ein Repräsentant der oppo-sitionellen Sadr-Bewegung aus London seine Positionen zu Kirkuk, zu Kuweit und zur aktuellen Niederlegung der Waffen der Mahdi-Armee (26.08.2008/Platz 8). Die Länge des Beitrags wirft die Frage auf, warum die Nachrichten als Rah-men für die Ausstrahlung gewählt wurden, während ein Talkformat angemessener erscheint. Es kann spekuliert werden, dass hier der Wunsch der Redaktion zu-grunde liegt, diese regierungskritischen Stellungnahmen einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen.

187 Al Sharkiya/Der Dialog/31.08.2008. 188 Al-Sharkiya/Der Dialog/31.08.2008.

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8.1 Politische Kommunikation

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Politischer Wettbewerb als Streit der Parteien bei al-Sumeria189

Ganz anders als die bisher skizzierten Fälle versucht der privat-kommerzielle Sen-der al-Sumeria in allen untersuchten Talkshows einen kontroversen Schlagab-tausch zwischen Vertretern unterschiedlicher Meinungslager auszurichten.

(1) Im ersten Arrangement sprechen Asma al-Mussawi von der Sadr-Bewegung und Falih Faisal al-Fayyad als Vertreter der Nationalen Reformbewegung über den aktuellen Strategiewechsel der Sadr-Bewegung (al-Sumeria/In der Öffent-lichkeit/25.08.2008).190 Al-Mussawi attackiert die amerikanische Politik und die Sicherheitsstrategie der internationalen Truppen mit heftiger Kritik. Auch die is-lamischen Parteien werden von ihr als Abtrünnige diskreditiert, die den Islam nur scheinbar vertreten. Der Erfolg der Mahdi-Armee basiere ihrer Ansicht nach auf der Einsicht der Iraker in diese Wahrheiten. Al-Mussawi trägt ihre kontroversen Thesen in populistischem Ton vor und scheut auch vor provokanten Positionen nicht zurück, wie folgende Gesprächsausschnitte illustrieren:

Al-Mussawi: Der Terrorismus und die Verbreitung von Waffen sind mit der Zunahme der Terroranschläge und der Ermordung von vielen irakischen Zivilisten gestiegen. Aber ich betone, dass der Terrorismus und al-Qaida im Irak, die für die Tötung von unzähligen Zivilisten verantwortlich ist, ein Teil der Besatzung des Irak ist und nicht ein Teil des Widerstands gegen die Besatzung. Wir wissen, dass das Saddam-Regime viele irakische Zivilisten ermordet hat. Jeden Tag gab es Dutzende Märtyrer, aber diese jetzige starke Terror-Welle, die die irakischen Zivilisten trifft, ist ein Teil des Besat-zungsvorhabens, das im Irak am 09.04.2003 begonnen hat. Wir glauben, dass der Ter-rorismus durch die Besatzung entstand. Die Besatzung ist wie ein Virus, den man be-kämpfen muss, um ihn loszuwerden. [...] In den letzten fünf Jahren haben wir leider erfahren müssen, dass es viele Parteien gab, die sich islamische Parteien nennen. Sie sind mit der Lage im Irak in einer Art und Weise umgegangen, die nicht nur nicht isla-misch war, sondern auch unmenschlich. Sie haben Gelder unterschlagen und Iraker ge-tötet. Es gibt eine politische Doppelmoral, die jene Parteien gelebt haben. Unser Ziel ist die Eliminierung einer solchen politischen Doppelmoral.191

Al-Fayyad wird als Vertreter der Nationalen Reformbewegung im Gespräch über-wiegend zu den Anliegen und Motiven der Sadr-Bewegung und nur ganz am Rande zu den Positionen seiner eigenen Partei befragt. Die Form der Moderation

189 Das vorliegende Kapitel weist Redundanzen zu Kap. 8.3.1 auf. Eine detaillierte Darstellung der Gespräche ist dort in Abschnitt 7: Mut zur Kontroverse bei al-Sumeria nachzulesen.

190 Die Sadr-Bewegung hatte die Niederlegung der Waffen erklärt und in Aussicht gestellt, dass sie sich fortan als Organisation für Wohlfahrt und kulturelle/soziale Projekte engagieren würde.

191 Al-Sumeria/In der Öffentlichkeit/25.08.2008.

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erweckt insgesamt den Eindruck, als wäre al-Fayyad die Rolle des politischen Gegenspielers und Kritikers zugedacht. Der verweigert sich aber dieser Rollen-zuweisung und gibt sich eher als Verbündeter der Sadr-Bewegung, ohne selbst konkret Position zu politischen Fragen zu beziehen:

F: Was sind die Unterschiede zwischen Ihrer Partei der Nationalen Reformbewegung und der Sadr-Bewegung? Al-Fayyad: Ich ziehe es vor, an dieser Stelle über Gemeinsamkeiten zu sprechen und die negativen Aspekte der Parteien und die Unterschiede zwischen ihnen zu vernachläs-sigen. Wir müssen das Bewusstsein für Partnerschaftlichkeit im Irak stärken.192

Al-Mussawi übergeht konsequent die Fragen und das wiederholte Nachfragen der Moderatorin und nutzt das Gespräch für ausufernde Monologe über selbstge-wählte Themen. Die Frage nach den neuen ‚Methoden’ der Sadr-Bewegung bei der Durchsetzung ihrer Ziele bleibt beispielsweise auch nach der dritten Wieder-holung unbeantwortete bis die Moderatorin schließlich entnervt aufgibt: „Sie ha-ben auf meine Frage nicht geantwortet. Dann nehmen wir jetzt einen Anrufer ent-gegen“.193

Al-Sumeria scheitert hier zwar an der Aufgabe, einen Abgleich von Positionen oder Austausch von Argumenten zu moderieren. Gleichsam ist die Einladung von al-Mussawi als Gesprächsgast in einer populären Talkshow als Anerkennung der Sadr-Bewegung zu bewerten, die sich zum Zeitpunkt der Datenerhebung an-schickt, eine ‚ordentliche Partei’ zu werden. Der Wandel von der Widerstandsbe-wegung zum Mitglied der irakischen Parteienlandschaft manifestiert sich für die Mediennutzer auch in der Repräsentation von Sadr-Mitgliedern in der Öffentlich-keit. Die durch al-Mussawi vertretene Sadr-Bewegung demonstriert allerdings in diesem Gespräch, das sie sich zu keiner Rechenschaft verpflichtet sieht und dis-qualifziert sich damit als demokratische Partei selbst.

(2) In der Talkshow Irak Kontrovers bewirbt General Abdulkarim Khalif stell-vertretend für die Regierung die Erfolge der Sicherheitsoperation Bashair al-Khair in Diyala (al-Sumeria/26.08.2008). Er referiert dazu eine Reihe von Daten über Waffenfunde, Verhaftungen etc. Salim Abdallah, Mitglied des Länderparla-ments in Diyala (sunnitische Tawafuq-Front), kommt aufgrund einer hohen Zahl

192 Al-Sumeria/In der Öffentlichkeit/25.08.2008. 193 Al-Sumeria/In der Öffentlichkeit/25.08.2008.

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ziviler Opfer und zu geringer Bemühungen um Aufklärung solcher Kollateral-schäden zu einer negativen Bewertung der Sicherheitsoperation. Er fordert bes-sere Aufklärung und Kooperation mit den Bürgern in Diyala.

Auch wenn die Kontroverse nur bedingt entbrennt, weil beide Gäste diplomatisch agieren, wird für die Zuschauer in diesem Gespräch und zu diesem Thema ein substanzielles Fundament zur Meinungsbildung und zur informierten Bewertung der Regierungsleistung im Sinne des politischen Wettbewerbs geschaffen.

(3) Die dritte der drei untersuchten Talkshows bei al-Sumeria ist ein Disput über die Leistung der Wahlkommission (al-Sumeria/Warum ich wähle/25.08.2008). Journalist Qazim al-Miqdadi kritisiert die Informationsarbeit der Wahlkommis-sion bzgl. der anstehenden Provinzwahlen als ineffektiv. Die Wähler erhielten seiner Ansicht nach weder von der Wahlkommission noch über die Medien Infor-mationen über die zur Wahl stehenden Kandidaten und Parteien. Sein Gegner in diesem Streit, der Leiter der Wahlkommission Qassim al-Abbudi, verteidigt den Erfolg seiner Informationskampagne und referiert Daten und Fakten zur Unter-mauerung seiner positiven Einschätzung.194 Hier gibt es zwar keinen Streit um Positionen, aber heftige Uneinigkeit über die Performanz einer staatlichen Kör-perschaft.

Affirmative versus journalistische Kontextualisierung

An der Art der Kontextualisierung von Partei- und Regierungskommunikation geben sich unter anderem die politische Autonomie oder auch der journalistische Anspruch eines Senders zu erkennen. Im untersuchten Material können vor allem affirmative von kontrastierenden Formen der Kontextualisierung unterschieden werden.195 Im ersten Fall dient die Einbindung von Stellungnahmen in flankie-rende Kommentare der Verstärkung der Kernbotschaft. Als Protagonist dieser Form tritt der öffentliche Kanal al-Iraqiya in den Vordergrund, nachgeordnet auch der SIIC-Sender al-Furat. Hier bleiben Stellungnahmen von Regierungsvertretern entweder unkommentiert oder sie werden verdichtet durch gleichlautende Kom-mentare, um das Gesagte zu unterstreichen. Die Einrahmung von Ereignissen mit

194 Al-Abbudi: “Two million people have been registered plus 502 new political parties. Our

media campaign was spread on 21 TV channel and 50 newspapers besides the awareness campaign on mobile SMS.” al-Sumeria/Warum ich wähle/25.08.2008.

195 Unterscheidung von zwei Typen der Kontextualisierung, die von der Autorin auf der Basis des Datenmaterials vorgenommen wird.

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ergänzenden Informationen, Kommentaren, Stellungnahmen dient hier der Ver-stärkung einer Kernbotschaft. In den Beiträgen über Regierungshandeln weisen bei al-Iraqiya und nachgeordnet auch bei al-Furat alle Positionen zu einem Thema in dieselbe Richtung und haben gegenseitig affirmativen Charakter. Während diese Art der Einrahmung bei al-Furat eher zufälligen Charakter zu haben scheint, kommt sie bei al-Iraqiya systematisch zum Einsatz, wie die Ausführungen aus Abschnitt drei im vorliegenden Kapitel 8.1.1 gezeigt haben.196

Die journalistische Aufgabe der Kontextualisierung wird auf den verschiedenen TV-Sendern der Stichprobe wie folgt gelöst:

(1) Premierminister Nuri al-Maliki erklärt die Haltung und die Verhandlungs-ziele der Regierung zum SOFA auf dem öffentlichen Sender al-Iraqiya an allen drei untersuchten Tagen auf den Plätzen eins, zwei und drei. Die Kernbotschaft von der Souveränität der Regierung wird von hochrangigen Politikern, Experten und im Einzelgespräch von Regierungssprecher Ali al-Dabbagh vertieft und be-festigt. Auch in den Beiträgen zur Bedeutung der Stämme wird die Botschaft der Regierungsvertreter flankiert von gleichlautenden Stellungnahmen zur zentralen Rolle der Stämme im Friedensprozess von Experten, Stammesvertretern und Kul-turschaffenden. Gleiches gilt für die Berichterstattung zur Rückkehr der Flücht-linge, in der von Generälen, dem Premierminister, den Betroffenen und einfachen Bürgern dieselbe Mitteilung (‚die verbesserte Sicherheitslage erlaubt nun die Rückkehr vieler Flüchtlinge’) in zahllosen Stellungnahmen reproduziert wird.197

(2) Journalistische Formen der Kontextualisierung, die auf Differenzierung abzielen, finden sich demgegenüber bei dem privaten Sender al-Sumeria, wo Re-gierungsaktivitäten oder -stellungnahmen um kritische oder gegenläufige Stel-lungnahmen ergänzt werden. Die Einrahmung wird hier als Kontrast wirksam, sodass insgesamt der Zuschauer über das Regierungshandeln informiert wird – Publizität wird gewährt –, die Darstellung aber an Komplexität gewinnt. Ver-

196 Nachrichten als Exekutive von parteipolitischer Öffentlichkeitsarbeit bei al-Furat und al-Ira-

qiya. 197 In den insgesamt sechs Nachrichten zur faktischen, geplanten oder angestrebten Rückführung

der irakischen Flüchtlinge aus dem benachbarten Ausland in den Irak werden auf al-Iraqiya außer Nuri al-Maliki der Minister für nationale Sicherheit, der Minister für Migration und Auswanderung, ein Vertreter der nationalen Versöhnungskommission sowie General Qassim Atta direkt oder indirekt gehört sowie insgesamt zehn Rückkehrer.

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8.1 Politische Kommunikation

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schiedene Einschätzungen sowie widersprüchliche Informationen werden zuei-nander ins Verhältnis gesetzt. Eindeutigkeit wird im positiven Sinne in Ambigui-tät überführt.

Am deutlichsten wird dies in der Berichterstattung zu innenpolitischen Konflik-ten. Hier zeigt die Analyse der Konfliktberichterstattung in Kap 8.3.1 eine konse-quente Kontextualisierung von Konfliktpositionen mit gegenläufigen Kommen-taren und eine insgesamt an Komplexität orientierte Form der Konfliktdarstel-lung.198 In derselben Stoßrichtung werden ebenfalls alle TV-Debatten bei al-Su-meria am Prinzip der Kontroverse ausgerichtet, und auch in der Berichterstattung zu den SOFA-Verhandlungen wird das in der Regierungskommunikation domi-nante Narrativ von der Souveränität der irakischen Regierung eingerahmt durch kontrastierende Beobachtungen und Kommentare.199

(3) Bei dem sunnitisch geprägten Sender al-Sharkiya sind die Nachrichten vergleichsweise kurz und die einzelnen, meist indirekten, Stellungnahmen blei-ben innerhalb der einzelnen Nachrichten meist unkommentiert. Gleichzeitig wird aber in der Zusammenschau aller Nachrichten ein kontrastreiches Bild erkennbar: Die Stellungnahme von Botschafter Saad al-Hajani zur positiven Sicherheitsent-wicklung wird durch die darauffolgende Nachricht über die negative Einschät-zung der Sicherheitslage durch die UNHCR zurückgenommen; die Meldung zur überraschenden Auflösung der Verhandlungskommission wird in einer Nachricht am nächsten Tag kommentiert (die kurdische Partei KDP lehnt den Austausch der Kommission ab); eine Erklärung von General Zibari zum Status von Diyala wird an ganz anderer Stelle mit dem gegenläufigen Kommentar eines Peshmerga-Kommandanten konfrontiert etc. Die politische Einrahmung erfolgt hier nicht durch die Kombination von Quellen innerhalb eines Beitrags, sondern nachrich-tenübergreifend durch die Kombination von Beiträgen. Die politischen Facetten eines Vorgangs erschließen sich damit vor allem einem beständigen Publikum.

198 Vgl. Kap. 8.3.1 Abschnitt eins: Ausgewogene Berichterstattung zu innenpolitischen Konflik-

ten als vorwiegende Form bei al-Sharkiya und al-Sumeria. 199 Zum einen berichtet al-Sumeria über die Ersetzung aller Mitglieder der Verhandlungskom-

missionen durch neue Mitglieder – ein irritierender Vorgang, der bei al-Iraqiya keine Erwäh-nung findet und von Verhandlungsführer Nuri al-Maliki nicht erklärt wird. Das Recht auf Rechtfertigung wird an dieser Stelle nicht bedient, aber immerhin von al-Sumeria eingefor-dert. Weiter bemängelt ein Abgeordneter der Sadr-Bewegung, dass Verhandlungen nicht ge-führt werden könnten, solange der Irak keine Souveränität besitze.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Die Kommunikation zu Sicherheitsoperationen ist Zuständigkeit des Militärs

Wie die Analyse zur Konfliktberichterstattung in Kapitel 8.3.1 zeigen wird, wird über die innenpolitischen bewaffneten Konflikte auf den verschiedenen Sendern sehr unterschiedlich berichtet: Während die privaten Sender al-Sumeria und al-Sharkiya eher umfassend über die Konflikte der Zentralregierung mit nichtstaat-lichen bewaffneten Gruppen berichten, treten diese Konflikte beim staatlichen Sender al-Iraqiya nur im Narrativ der Sicherheitsoperation in Erscheinung. Eine genaue Betrachtung der Berichterstattung zu innenpolitischen Konflikten mit Fo-kus auf die Frage der Begründung und Erklärung von Regierungshandeln offen-bart eine Verschiebung der Erklärungszuständigkeit von der Regierung in die Kompetenz des Militärs als senderübergreifendes Kommunikationsmuster – hier-für war schon die sehr hohe Zahl von insgesamt 58 (+1) Stellungnahmen von Mi-litärvertretern in den Nachrichten aller Sender ein erster Hinweis.200 Es sind vor allem Generäle, die Rechenschaft über militärische Operationen ablegen, wäh-rend das der Operation zugrunde liegende politische Kalkül senderübergreifend in den Hintergrund verschoben und von politischen Entscheidungsträgern nicht begründet wird. Zu den Sendern im Einzelnen:

(1) In der gesamten Berichterstattung zu innenpolitischen Konflikten201 einer-seits und dem Themenkomplex Sicherheit andererseits werden bei al-Sumeria die kurdische Regierung und Innenminister Jawad Bolani jeweils zweimal kurz indi-rekt zitiert.202 Dabei hat nur eine der vier Stellungnahmen den Charakter von Pub-lizität im Sinne der Rechenschaft oder Rechtfertigung.203 Darüber hinaus zeigt die Regierung – freiwillig oder unfreiwillig – in beiden Themenfeldern keine Präsenz. Stattdessen erklären insgesamt neun Vertreter des amerikanischen und irakischen Militärs (zumeist Generäle) Pläne, Situationen und Aktivitäten im Bereich mili-tärischer Operationen. Die meisten Stellungnahmen drehen sich deskriptiv um

200 Siehe die Tabellen 8.11 und 8.12 zur Repräsentation von Akteursgruppen in den Nachrichten und Talkshows.

201 Das sind: Mahdi-Armee, Sahwa Councils, Kanaqin, Kirkuk. 202 Barzani spricht über den Aufbau der Polizei in Kanaqin; ein Vertreter der kurdischen Regie-

rung kritisiert das Vorgehen der irakischen Armee in Kanaqin (25.08.2008/Platz 4); Bulani nennt die Anzahl der Toten und Verhafteten zu einem Selbstmordattentat (25.08.2008/Platz 2) und rechtfertigt die Versetzung von Polizeichef al-Dulaimi aus al-Anbar nach Bagdad (28.08.2008/Platz 3).

203 Innenminister Jawad Bulani begründet die umstrittene Versetzung des Polizeichefs al-Du-laimi (28.08.2008/Platz 3).

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8.1 Politische Kommunikation

229

konkrete Maßnahmen oder Errungenschaften zur Verbesserung der Sicherheits-lage im Feld. An anderer Stelle werden auch politische Fragen berührt, wenn z.B. der Sprecher der Koalitionstruppen 300 Mio. US-Dollar für den Aufbau der kom-munalen Dienstleistungen in Aussicht stellt, sobald die Sicherheitslage die Arbeit in diese Richtung zulasse, oder wenn General Qassim Atta die Räumung von Häu-sern für die Rückkehrer mit dem Ziel begründet, bewaffneten Konflikten zwi-schen neuen und alten Besitzern vorbeugen zu wollen.

Auch in der Talkshow Irak Kontrovers (al-Sumeria/28.08.2008) wird das Vorge-hen der Armee in Kanaqin von einem General bewertet und erläutert. Seine posi-tiven Einschätzungen zum Erfolg der Sicherheitsoperation Bashair al-Khair wer-den kontrastiert mit gegenläufigen Bewertungen seines Gesprächspartners Salim Abdallah, Mitglied des Provinzrats in Diyala, der hier die Perspektive der be-troffenen Bürger vertritt.

Obwohl al-Sumeria in der Konfliktberichterstattung kritische Distanz zur Regie-rung wahrt und um ausgewogene Darstellungen in diesem Bereich bemüht ist (wie die Auswertung der Konfliktberichterstattung in Kapitel 8.3.3 zeigen wird), verlangt der Sender von den Regierenden keine Erklärungen zur Behandlung, mit-hin Lösung, der innenpolitischen Konflikte. Dieses für die Demokratie elementare Recht auf Rechtfertigung wird nicht eingefordert.

(2) Vergleichbare Muster wiederholen sich bei al-Sharkiya, wo 17 Vertreter von Polizei und Militär verschiedene Aspekte der Sicherheitslage und Fortschritte oder Rückschläge im Kampf gegen den Terrorismus erläutern. Auch die bewaff-neten Konflikte in Kanaqin werden aus Sicht der Generäle erklärt.

(3) Al-Iraqiya berichtet nicht über innenpolitische Konflikte, sodass sich die Frage nicht stellt, wer die Aufgabe der Rechtfertigung übernimmt. Das Themen-feld Sicherheit wird von Generälen und Polizei mit 24 Stellungnahmen dominiert, die hauptsächlich zu Fortschritten in der Operation Bashair al-Khair sprechen. Regierungsvertreter werden im Themenfeld Sicherheit nur an zwei Stellen kurz gehört, äußern sich aber niemals erklärend zur Sache.204

204 Verteidigungsminister Jassim al-Ubaidi reist gemeinsam mit Hadi al-Amiri (Mitglied des par-

lamentarischen Ausschusses) nach Diyala, um dort den Fortschritt der Operation Bashair al- Khair zu evaluieren; Menschenrechtsministerin Wischdan Salim und Innenminister Jawad Bulani nehmen an einer Konferenz zur Kriminaltechnik teil.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Anders als Regierungsvertreter dies könnten, strahlen Generäle, praktisch ‚von der Front’ sprechend, Glaubwürdigkeit und Authentizität aus. Sie übernehmen in dieser Rolle und für diesen Bereich Teile der Öffentlichkeitsarbeit für die Regie-rung. Sicherheit, so wird hier nahegelegt, ist keine politische, sondern eine mili-tärische Aufgabe, die im Kampf entschieden wird. Auch die Planung, Durchfüh-rung und Bewertung von Sicherheitsoperationen scheint den Generälen überlas-sen. Erklärungen siedeln hier nicht länger im Bereich politischer Lösungen, son-dern im Bereich militärischer Erfolge.

Abweichungen von dieser Regel finden sich unter anderem in der Berichterstat-tung bei al-Furat (wo auch die Anzahl der insgesamt acht Sprecher aus dem Be-reich Militär/Polizei signifikant kleiner ist als auf den anderen Sendern): Die Eck-daten zur Räumung eines Lagers der Mujaheddin al-Khalq205 werden von General Abd al-Karim sowie dem Sprecher des Verteidigungsministeriums kurz referiert. Regierungssprecher Ali al-Dabbagh liefert darüber hinaus folgende Rechtferti-gung für das militärische Vorgehen:

Das irakische Kabinett sei sich einig, dass die Mujaheddin al-Khalq als terroristi-sche Gruppe einzustufen sei und dass sie aus dem Irak verschwinden müsse. Viele Abgeordnete gäben den USA die Schuld für die Existenz der Khalq-Organisation im Irak und forderten schon deshalb die Räumung des Lagers.206

Hier werden beide Seiten einer militärischen Operation – die politische Entschei-dung und ihre Umsetzung – in einen Zusammenhang gebracht. Auch die Verhaf-tung einer Terroristin in Baquba wird nicht nur von zwei Vertretern des Militärs, sondern zusätzlich von einem Mitglied des Sicherheitsausschusses im Provinzrat von Diyala kommentiert. 207

205 Mujaheddin Al-Khalq ist eine iranische Miliz, die sich am Sturz des Schah Mohammad Reza

Pahlavi 1979 im Iran beteiligte und sich dann aber mit Ayatollah Khomeini überwarf. Teile der Gruppe sind nach 1979 in den Irak geflohen, wo sie mehrheitlich in Lagern leben.

206 Nachrichten al Furat vom 31.08.2008/2:10 min/Pos. 5. 207 Als Vertreter des Militärs werden General Qassim Atta und der Sprecher der Koalitionstrup-

pen Patrick Driscoll gehört.

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8.1 Politische Kommunikation

231

Beim privaten Sender al-Sumeria kann die Stellungnahme von Innenminister Ja-wad al-Bolani zum Konflikt mit den Sahwa Councils in al-Anbar208 als Rückbin-dung dieser Angelegenheit in die Arena der Politik interpretiert werden: Er be-gründet die Entscheidung der Regierung, den örtlichen Polizeichef nach Bagdad abzuziehen, mit administrativen Überlegungen und stellt sie damit als eine Ent-scheidung dar, die mit dem Konflikt zwischen der Regierung und den Sahwa Councils nichts zu tun habe. Hier, so könnte man sagen, wird ein Ansatz von Ac-countability erkennbar, auch wenn die Begründung eher als Ausrede erscheint – das Recht auf Rechtfertigung wird mit dem Akt der Erklärung durch den Innen-minister zumindest formal anerkannt und im Beitrag in einer Form kontextuali-siert, die die Fragwürdigkeit der Erklärung sichtbar macht.

Wie konsequent trotz dieser Ausnahmen Kommunikation der Regierung zur Rechtfertigung von Regierungshandeln im sicherheitspolitischen Feld fehlt, zeigt ein Blick auf das Gesamt aller Talkshowgäste: In keiner einzigen von insgesamt 15 untersuchten Talkshows werden Vertreter der Regierung zu innenpolitischen Konflikten, Sicherheitsproblemen oder militärischen Operationen befragt. Das irakische Mediensystem wird den Anforderungen der Demokratie an diesem Punkt nicht gerecht.

8.1.2 Politische Kommunikation aus Sicht der irakischen Medienproduzenten

Die Nutzung der Medien als Kommunikationsinstrument politischer Eliten hat für die Interviewpartner als Thema einen hohen Stellenwert. 15 der 19 Inter-viewpartner haben sich 88 Mal dazu geäußert. Es handelt sich damit um die Ka-tegorie mit der höchsten Häufigkeit von Stellungnahmen.

Die Frage, auf die in dieser Kategorie Antworten versammelt werden, ist die nach der Präsentation von Politik und ihren Protagonisten durch Parteien und Politiker in den Medien. Die Interviewpartner diskutieren hier ein Feld von Kommunikati-onsaktivitäten, in dem sich die Regierenden, die Parteien und Politiker über Me-dien gegenüber den Bürgern artikulieren. Dem übergeordnet wird dargestellt, welche Zugänge den Politikern im Mediensystem eröffnet werden und welche Medienzugänge sie selbst schaffen, um ihre Anliegen zu kommunizieren. Über

208 Kurz vor Abzug der Amerikaner aus al-Anbar entbrennt ein Streit zwischen der Zentralregie-

rung in Bagdad und den Sahwa Councils in al-Anbar über die Versetzung des dortigen Poli-zeichefs al-Dulaimi nach Bagdad. Die Sahwa Councils protestieren, die Sicherheitslage ver-schlechtert sich sofort, der Abzug der amerikanischen Truppen wird verschoben.

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welche Kanäle erklären die Regierenden sich den Regierten? Wie nutzen Politiker Medien, um sich zu präsentieren? Welche Ziele verfolgen die Parteien in der Öf-fentlichkeitsarbeit mit welchen Mitteln?

Während in anderen Kategorien affirmative Stellungnahmen überwiegen, ist die Auseinandersetzung der Interviewpartner mit der Frage der politischen Kommu-nikation durch Kritik am Status quo geprägt. Im Zentrum einer Kritik, die insbe-sondere von IMN-Mitarbeitern und Experten formuliert wird, steht die Instrumen-talisierung des IMN durch die irakische Regierung. Kritisiert werden überdies Sender von Parteien und Interessengruppen, die sich an der Diffamierung von Minderheiten und damit an der Eskalation von Konflikten beteiligen. Positiv her-vorgehoben wird demgegenüber die wachsende Zahl von Sendeformaten, in de-nen Politiker im Gespräch mit einfachen irakischen Bürgern ihre Konzepte zur Lösung der irakischen Krise erläutern. Der Zugang zu politischen Eliten für Jour-nalisten wird gemeinhin als einfach bewertet.

Öffentlichkeitsarbeit und politische Werbung auf Parteisendern

In weitgehender Übereinstimmung mit der Literaturauswertung in Kapitel 6 wird auch von den irakischen Medienproduzenten die Gründung eigener Sender, Zei-tungen und Webseiten durch politische Parteien als priorisierte Strategie der Öf-fentlichkeitsarbeit und Werbung in der Politik identifiziert. Den politischen Par-teien dienen die hauseigenen Sender zunächst als Werbeflächen für die Vermark-tung von Führungsfiguren der Partei und deren politischer Arbeit. Dabei wird ins-besondere die Neigung zum Personenkult um hochrangige Regierungspolitiker auf den Sendern des IMN von den Mitarbeitern des IMN als Missstand beklagt.209 Ahmed Salum, Leiter eines lokalen TV-Senders, kritisiert die Selbstinszenierung der wechselnden Regierungschefs in den letzten Jahren auf al-Iraqiya:

209 Wie in Kapitel 6.4.1 ausgeführt, wurde das Iraqi Media Network auf der Basis der CPA Order

66 als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt im Jahre 2004 gegründet. Mit der Übergabe der Souveränität an die Übergangsregierung unter Iyad Allawi 2004 wurde das Netzwerk der Sen-der zügig unter die politische Führung der Regierung gestellt. Zuvor war das Netzwerk von der CPA bereits als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit genutzt worden.

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8.1 Politische Kommunikation

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[… ] [T]hey want to present the government like Tarzan, but of course not the govern-ment itself, but the Prime Minister is Tarzan. [….] Allawi, Jafari and Maliki all convey the same message [on al-Iraqiya]: the Prime Minister is the hero and the rest of the institutions are nothing.210

Ahmed Salum erinnert die Gründungsphase des IMN als Transformation des öf-fentlich-rechtlichen Rundfunks zum Regierungsinstrument und als Rückkehr zur Tradition der Regierungspropaganda. Er markiert die Übergabe der Regierungs-geschäfte an den Übergangsrat unter Iyad Allawi im Juni 2004 als Beginn dieser Transformation:

The network was becoming more and more politicized and controlled by official repre-sentatives and political parties, such as the region's representatives and the Prime Min-ister although the network was established under Bremer's Law No. 66, which states that the network is an independent non-profit establishment financed by the government. This was the case as long as the Americans were in charge. It was very different after-wards. Iyad Allawi as Prime Minister was appearing in the media, newspapers and TV, as much as Saddam Hussein was appearing in his time: 24 hours per day on screen! 211

Die Bindung des IMN an die Regierung wird in der Wahrnehmung vieler Inter-viewpartner über den Einsatz von inkompetenten, aber loyalen Mitarbeitern in Führungspositionen gewährleistet. Bei der Auswahl der Führungskräfte und Chefredakteure wird Wert auf den Ausschluss von Fachkräften gelegt, denn Pro-fessionalität und der damit verbundene Anspruch auf journalistische Qualität und politische Unabhängigkeit stehen der parteipolitischen Instrumentalisierung des IMN im Weg. Diese Personalpolitik wird durch die Interviewpartner insbeson-dere an der Figur des ehemaligen Direktors des IMN Habib al-Sadr212 veranschau-licht, dessen IMN-Karriere von vielen Interviewpartnern mit Zorn und Enttäu-schung verfolgt wird. Die Kombination von politischer Loyalität und Inkompe-tenz bei der Besetzung von Führungsrollen wird in diesem Zusammenhang als politische Führungsstrategie beschrieben:

210 Ahmed Saloum/ Erbil (Irak), Nov. 2008. (Die Medieninhalte wurden im Rahmen der Daten-

erhebung aus dem Arabischen in die deutsche Sprache übersetzt während die Interviews mit den irakischen Medienproduzenten auf englisch (teilweise mit Übersetzung) geführt und ent-sprechend auch in englischer Sprache transkribiert wurden. Daher erscheinen Zitate aus den Interviews und Beispiele aus dem Datenmaterial in zwei unterschiedlichen Sprachen.)

211 Ahmed Saloum/ Erbil (Irak), Nov. 2008. 212 Habib al-Sadr wurde 2004 zum Direktor des IMN ernannt, ohne Erfahrungen oder andere

Qualifizierungen im Bereich der Medienarbeit vorzuweisen. Er war zuvor als Reifenhändler tätig gewesen.

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Habib al-Sadr is interested to keep the following kind of people under his power: Any ignorant person who has no idea about broadcasting but is related to him or closed to him, anyone who can pay, anyone who is related to the government.213

Nicht nur Habib al-Sadr wird also als politischer Opportunist an die Spitze der Unternehmung gesetzt. Auch von der Spitze nach unten verlaufend, werden alle weiteren Managementposten von ihm nach demselben Schema besetzt.

Der gezielte Einsatz von Parteikollegen in Führungsposten wird ergänzt um eine kontinuierliche Telefonverbindung zwischen dem Büro des Premierministers und dem Büro des IMN-Direktors. Über diesen sprichwörtlichen ‚direkten Draht’ werden einerseits Inhalte in Auftrag gegeben und andererseits Programme verhin-dert, sagt Issam Jabr, ehemaliger Programmdirektor eines IMN-Radiosenders.

Die Politik der Regierung wird nicht allein über die Sender des IMN beworben. Auch Medien anderer Regierungsparteien verstehen sich mitunter als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit für die Regierung und orientieren sich in diesem Ver-ständnis an der Ausrichtung des IMN. Zain al-Abdeen Badr, Nachrichtenredak-teur eines religiös geprägten TV-Senders, erklärt ganz unumwunden, als Leiter eines Parteisenders die Regierung zu unterstützen, weil es sich um eine demokra-tisch legitimierte Führung handle, die von den Menschen gewählt und gewollt sei:

As such, the current government is considered a national Iraqi government and [our channel] supports it because it is a legitimate government and not for any other reason. We support the government because we believe that it represents the will of the Iraqi people and their aspirations.214

Abgesehen von den tatsächlichen politischen Bindungen und Tendenzen des Sen-ders wird die politische Unabhängigkeit ihrer journalistischen Arbeit und die Un-abhängigkeit des Senders von fast allen Interviewpartnern engagiert behauptet und verteidigt. In 13 von 16 Interviews215 wurde mindestens einmal der Satz ‚we are independent’ formuliert. Dies ist auch dann der Fall, wenn der Gesprächs-partner bereits an anderer Stelle ausführlich die politischen oder ideologischen Ziele des Senders erläutert hat oder wenn der Sender bekanntermaßen einer Partei angehört. Das allgegenwärtige Selbstverständnis der Unabhängigkeit scheint hier von den realen Verhältnissen und der journalistischen Praxis entkoppelt zu sein.

213 Issam Jabr, ehemaliger Programmdirektor eines IMN-Radiosenders/Beirut (Libanon), Nov.

2008. 214 Zain al-Abdeen Badr/Interview per e-mail, Dez. 2008. 215 Nicht mitgezählt bei den hier erwähnten 16 Interviews sind die drei Experteninterviews, da

Letztere keine Sender vertreten.

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8.1 Politische Kommunikation

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Während Mitarbeiter von Parteimedien mehrheitlich dazu neigen, die Parteilich-keit ihrer Sender zu leugnen oder zu bagatellisieren, spricht Programmchef Mahmud al-Ajili ganz offen über die Funktion des Radiosenders als politisches Instrument.

[The owner of the station] is first and foremost a politician and he is secondly a realist, so he is interested in how to use the media to promote political thought […] – the radio station stands for the values of secularism and nationalism and the whole program is based on spreading these ideals.216

Auslassung und Hervorhebung als Kommunikationsstrategie

Einseitige Berichterstattung durch gezielte Auslassung von Ereignissen in der Be-richterstattung wird von mehreren Interviewpartnern als zentrale Taktik der Part-eisender kritisiert. Ziel sei die Vermittlung oder Durchsetzung einer bestimmten Sichtweise auf die Geschehnisse im Irak, einer bestimmten politischen Perspek-tive. Ausgeblendet werde, was nicht im Einklang mit dieser Sichtweise stehe. Am häufigsten betreffe dies militärische Schwächen oder Niederlagen.

Als Beispiel für eine solche Form selektiver Berichterstattung verweist Ahmed Salum, Leiter eines lokalen IMN-Senders, auf die Kämpfe in Tal Afar Anfang 2006, über die auf den Sendern des IMN nicht berichtet wurde: Irakische und amerikanische Truppen waren in Tal Afar gemeinsam gegen Aufständische ins Feld gezogen und hatten dabei militärische Erfolge erzielt. Das für Tal Afar zu-ständige IMN-Studio in Mosul sei damals (nach Darstellung von Ahmed Saloum) von Anhängern der verbotenen Baath-Partei geleitet worden, die kein Interesse an solcherlei Erfolgsmeldungen gehabt hätten. Deswegen hätten die Kämpfe in Tal Afar Anfang 2006 auf den Sendern des IMN keine Erwähnung gefunden. Das Beispiel zeigt einmal mehr, wie doppelbödig und widersprüchlich die politischen Bindungen zwischen Sendern und Parteien sein können.

Die Auslassungen betreffen in anderen Fällen auch das Problem mangelnder Si-cherheit und Gewalt im Allgemeinen. Die Journalistin Khulud al-Hashimi beklagt im Interview, dass die Grenzen der Themenwahl für sie als Journalistin in Mosul eng gesteckt seien. Sie würde beispielsweise gern darüber berichten, dass viele Menschen neuerdings ihre Telefonnummern und Adressen als Tattoos tragen, da-

216 Mahmud al-Ajili, Programmchef eines parteilichen Radiosenders/ Amman (Jordanien), Nov.

2007.

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mit im Falle ihres Todes Identität und Herkunft geklärt werden können. Die Iden-tifizierung der zahllosen Toten in den Leichenhallen stellt in Mosul ein wachsen-des Problem dar, dem die Menschen mit solch bizarren Lösungen begegnen. Über Themen dieser Art, die auf die insgesamt verheerende Sicherheitslage in der Re-gion verweisen, könne sie als Journalistin nicht arbeiten.217

Vor allem regierungsnahe, aber auch private Sender scheinen Strategien von Aus-lassung auch zu verwenden, um den Eindruck eines nationalen Aufschwungs zu verstärken. Die Auslassungen betreffen in diesem Fall negative Ereignisse und werden komplementär ergänzt um erweiterte Aufmerksamkeit für positive Ent-wicklungen in den Bereichen Versorgung, Sicherheit und Wiederaufbau. Als Le-gitimierung für die Einfärbung der Realität in diese Richtung wird die Stimmung unter den Bürgern ins Feld geführt. Es sei jetzt wichtig, dem Volk durch Hervor-hebung positiver Realitätsausschnitte Mut zu machen. Dem Scheitern der Politik und dem Elend des Krieges müssten positive Medienrealitäten gegenübergestellt werden, um den Menschen Hoffnung zu geben.

We had kind of a message: don´t show the fire but maybe show the fireman that is putting out the fire. Don´t show the people who die but show the people who are helping others to live. Don´t show only the destruction but show as well the people who are building. And this has been our policy since the very beginning. 218

Kritische Journalisten wie Abbass Qassim fühlen sich durch diese Form von Se-lektivität ihrer Aufgabe beraubt, den Ursachen von Problemen auf den Grund zu gehen und Missstände öffentlich anzuprangern. Abbass Qassim berichtet von Vorwürfen, die ihm seitens der Politik gemacht werden, weil er die Menschen durch seine journalistische Arbeit entmutige und traurig mache.219

Instrumentalisierung unabhängiger Medien und Journalisten

Viele Interviewpartner gehen davon aus, dass irakische Medienkonsumenten eine kritische Distanz zur politischen Kommunikation der Parteien und Politiker wah-ren. Dreißig Jahre Diktatur haben erhebliches Misstrauen gegen die Medien ge-nährt, das sich heute insbesondere gegen die Sender des IMN, der schiitischen Regierungsparteien und gegen Parteisender insgesamt richtet. Vor dem Hinter-

217 Journalistin Khulud al-Hashimi/Amman (Jordanien), Juni 2008. 218 Pierre Bassil, Geschäftsführer eines privaten Fernsehsenders/ Beirut (Libanon), Okt. 2008. 219 TV-Produzent und Moderator Abbas Qassim/ Erbil (Irak), April 2008.

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grund der durch Satellitenfernsehen gegebenen Möglichkeiten grenzenloser Aus-wahl verlieren die Menschen Interesse an Sendern, die als Werbefläche der Re-gierung gelten, sagt z.B. Ahmed Saloum, TV-Regionalleiter für das IMN:

[The government’s] influence and meddling into the network’s program made the com-mon picture less credible to the average Iraqi audience. The constant presence of the Prime Minister in our media sections every time the media is turned on causes a lack of interest by the audience.220

Mit dem Desinteresse, mithin der Ablehnung der Zuschauer, verlieren die Kom-munikationswerkzeuge der politischen Eliten ihre Reichweite und politische Wirksamkeit. Die Parteien sind vor diesem Hintergrund, wenn sie gehört werden wollen, darauf angewiesen, ihre Strategien aufzufächern und neue Kanäle zu ak-tivieren. Iyad al-Tamimi beobachtet diesbezüglich einerseits Tendenzen der Par-teien, ‚unparteiliche’ Zeitungen und Sender neu zu gründen, deren Parteizugehö-rigkeit offiziell nicht kommuniziert wird.221 Eine andere, viel genutzte Möglich-keit der Manipulation besteht nach Darstellung von Abbass Qassim darin, freie Journalisten oder Journalisten unabhängiger Medien für die Berichterstattung über bestimmte Ereignisse oder Veranstaltungen zu vergüten. Qassim berichtet von mehr oder weniger subtilen Vergütungspraktiken durch Vertreter politischer Parteien, die für die von den Verlagen und Sendern meist schlecht bezahlten und prekär beschäftigten Journalisten zur wichtigen Einkommensquelle avanciert sind.222

Politische Kommunikation und Dialog mit den Bürgern

Nach Ansicht der Interviewpartner haben in irakischen Medien Formate Konjunk-tur, die als konfrontative Begegnung von Bürgern und Politikern konzipiert sind: Die Bürger tragen Probleme und Kritik vor, zu denen zuständige Politiker Stel-lung beziehen. In der Regel wird den Politikern abverlangt, Lösungsstrategien für ein Problem zu präsentieren oder aber zu erklären, was bisher für die Lösung eines Problems von Seiten des politischen Systems geleistet wurde. Je nach Konzeption treffen sich Politiker und Bürger im Studio oder aber es werden telefonisch Hörer bzw. Zuschauerbeiträge gesammelt und die Politiker auf dem einen oder anderen

220 Ahmed Saloum/ Erbil (Irak), Nov. 2008. 221 Iyad al-Tamimi, Experte und Direktor einer Nachrichtenagentur/ Erbil (Irak) Nov. 2008. 222 TV-Produzent und Moderator Abbas Qassim/ Erbil (Irak) April 2008.

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Weg mit dieser Kritik konfrontiert. Abbass Qassim sieht sich hier als Anwalt der Bürger und als Moderator einer schwierigen Beziehung:

People cannot get to the officials. It is not easy. They are in the green zone, people are in the red zone. It is hard. And people sometimes are not couraged enough, poor people, to face the politician and say something. So the idea was to bring some of the politicians and bring the people and let them talk … In the same show.223

In Qassims Darstellung leisten Medien im klassischen Sinne Vermittlung zwi-schen Regierten und Regierenden und verhelfen Letzteren damit auch zu Öffent-lichkeit. Diese Formate werden von den Interviewpartnern als äußerst populär un-ter Hörern und Zuschauern beschrieben und werden entsprechend prominent im Programm platziert. In acht von zehn Fällen wird die Frage nach der beliebtesten Sendung im Programm beantwortet mit Verweis auf ein partizipatives Format dieser Art.

Iyad al-Tamimi, Leiter einer lokalen Nachrichtenagentur, beschreibt den Zugang zu Politikern als einfach und deren Bereitschaft, ein Studio aufzusuchen, als ten-denziell hoch. Vor dem Hintergrund einer übermäßigen Vielfalt in der Medien-landschaft und der damit einhergehenden Schwierigkeit, sich Gehör zu verschaf-fen, lassen sich Politiker gern ansprechen sowie zu Talkshows und Interviews einladen.224

8.1.3 Theoriegeleitete Einordnung

Habermas (1998) setzt mit seiner Forderung nach dem Wettbewerb der Argu-mente im Sinne der demokratischen Deliberation hohe Maßstäbe für den politi-schen Wettbewerb in den Medien. Die zwanglose Rationalität des besseren Argu-ments soll aus dem politischen Streit in einer Form hervortreten, die es dem Zu-schauer ermöglicht, zu einem reflektierten Urteil im Sinne einer begründeten Überzeugung zu gelangen. Kritiker der Mediendemokratie beklagen demgegen-über eine reale Situation, in der die Politik dem Ziel der Verkaufbarkeit unterwor-fen wird und für Mediennutzer nur noch manipulative Vorführungen inszeniert werden, die zwar den Schein des politischen Handelns wahren, letztendlich aber nur auf die Verführung des Wählers mit den Mitteln der Werbung zielen (vgl. Kap. 2.3.2).

223 Abbass Qassim, TV-Produzent und Moderator/ Erbil (Irak) April 2008. 224 Iyad al-Tamimi, Experte und Direktor einer Nachrichtenagentur/ Erbil (Irak) Nov. 2008.

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8.1 Politische Kommunikation

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Wo steht nach der Analyse der Interviews und Sendungsinhalte politische Kom-munikation im irakischen Fernsehen zwischen der einen und der anderen Reali-tät? Wie ist es um die Qualität des politischen Wettbewerbs bestellt?

Qualität des politischen Wettbewerbs in den TV-Medien

Aus der Inhaltsanalyse sei zunächst festgehalten, dass im irakischen Fernsehen dem politischen Interview ganz klar Vorrang vor der Debatte gegeben wird. Nur drei der insgesamt 15 untersuchten Talkformate sind als Debatte mit mehr als zwei Gesprächspartnern angelegt. Eine eher kontrollierte Gesprächssituation wird also dem riskanten Debattenformat vorgezogen, das Glaubwürdigkeitsvorteile, aber auch das Risiko der Entgleisung birgt (vgl. McNair 2011: 78).

Eine Ausnahme macht al-Sumeria mit dem Versuch, kontroverse Gespräche aus-zurichten und zu moderieren. Alle drei untersuchten Talkshows sind als Streit an-gelegt – ein Vorstoß der aus demokratietheoretischer Sicht Anerkennung finden muss. Zwei dieser Gespräche gelingen auch als Austausch von Argumenten im Sinne der Deliberation: über die Kommunikationsleistungen der Wahlbehörde IHEC streiten deren Direktor und ein irakischer Journalist. Dabei werden ganz unterschiedliche Positionen gegeneinander ins Feld geführt, begründet und ver-teidigt. Über den Erfolg der Militäroffensive in Diyala streiten ein General und ein Lokalpolitiker, die ebenfalls unterschiedliche Ansichten erklären, begründen und verteidigen.225 Beide Gespräche können als gelungene Manifestation des po-litischen Wettbewerbs bewertet werden.

Aus der Gesamtbetrachtung aller Talkformate ist aber (trotz al-Sumeria) der Schluss zu ziehen, dass dem politischen Streit zwischen Vertretern unterschiedli-cher politischer Lager um das bessere Argument in der irakischen Öffentlichkeit bisher geringe Bedeutung beigemessen wird. Diese These findet Bestätigung in den Ausführungen der irakischen Medienproduzenten, die sich darüber einig zei-gen, dass die Vermittlung zwischen Regierung und Regierten als Wiederbelebung einer vertikalen Kommunikationsachse von essenzieller Bedeutung für den Fort-schritt von Demokratie im Irak ist. Der politische Streit als Wahlkampf oder auch Ansatzpunkt für Versöhnung findet dagegen kaum Erwähnung (vgl. Kap. 8.1.2). Versöhnungspotenzial sehen die Interviewpartner im Prinzip der Repräsentation ethno-konfessioneller Vielfalt, die mit Integrationseffekten und der Aufwertung

225 Al-Sumeria/Irak Kontrovers/26.08.2008 und al-Sumeria/Warum ich wähle/25.08.2008.

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von Minderheiten in Verbindung gebracht wird. Der politische Streit steht dage-gen für Desintegration und Spaltung (vgl. Kap. 8.3.2).

Zwei Gründe liegen hier nahe: (1) Die irakische Parteienlandschaft ist ethno-kon-fessionell strukturiert mit Parteien, die Interessen von communities vertreten. Über klientelistische Positionen ohne Anspruch auf Gerechtigkeit oder Gemein-nützigkeit lässt sich aber schwer streiten. (2) Zweitens sind die politischen Kon-flikte assoziiert mit bewaffneten Konflikten und jede Fernsehdebatte, die darauf Bezug nimmt, findet theoretisch Resonanz auf dem Schlachtfeld. Auch hier mag das Vermeidungsverhalten herrühren.

Dass hier Potenzial für Dialog und Versöhnung brachliegt, wird in Kap. 8.3.3 diskutiert. Für die vorliegende Frage nach Erfüllung von demokratischen Basis-funktionen durch Medien im Bereich der politischen Kommunikation rückt das Problem des ausbleibenden Wettbewerbs in den Vordergrund, denn im politi-schen Streit schärfen Protagonisten ihr Profil und ihre Argumente. Die Unter-schiede treten als Wahloptionen aus dem Streit hervor. Eine Demokratie ohne Streit ist auch eine Demokratie ohne signifikante Wahloptionen und damit streng genommen keine Demokratie (vgl. Kap. 2.1). Die Belebung des politischen Streits durch al-Sumeria gewinnt im Rahmen dieser Einordnung als Ausnahme und Ein-zelfall an besonderer Bedeutung.

Im Irak wird also das politische Interview bevorzugt, das sich in der westlichen Welt zu einem konfrontativen und für den Journalisten anspruchsvollen Format entwickelt hat. Die Aufgabe des Journalisten besteht darin, als informierter und fachkompetenter Gesprächspartner Fragen zu relevanten Aspekten zu stellen, stellvertretend Kritik anderer zu formulieren, Rechtfertigungen und Antworten einzufordern (vgl. McNair 2011: 79). Mit Habermas (1998) wäre dieser Anspruch zu variieren und eine deliberative Gesprächsführung zu fordern, in der Argumente geprüft und entwickelt werden (vgl. Kap. 2.3). Die beiden Kontrahenten al-Ira-qiya und al-Sharkiya implementieren diesbezüglich ganz unterschiedliche Strate-gien:

(1) Al-Sharkiya sucht nicht die Konfrontation mit dem Gesprächspartner, sondern strebt nach einer gemeinsam formulierten Kritik am politischen Gegner. Die Ge-sprächspartner begegnen sich als Komplizen, die nicht gegenläufige, sondern gleichlautende Positionen formulieren.

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8.1 Politische Kommunikation

241

Aus der Form des suggestiven Fragens ergibt sich für den Gesprächspartner kaum eine Möglichkeit, eigene Positionen zu entwickeln, und die wenigen Positionen, die formuliert werden, werden vom Journalisten nicht hinterfragt und nicht ge-prüft. In der Bilanz definieren sich politische Akteure im Rahmen dieser Ge-sprächsführung primär durch die Kritik an anderen und erhalten kaum Chancen, politische Lösungsansätze zu erläutern. Auffällig von Seiten der Moderatoren ist die Konzentration auf al-Maliki als Feindbild – seine Machtpolitik, seine Interes-sen, seine Fehler. Das von Dörner (2001) stellvertretend für Habermas idealty-pisch formulierte Ziel, das Publikum möge aufgrund der Debatte zu „reflektierten Überzeugungen und Urteilen […] im Hinblick auf relevante kollektive Probleme“ (ebd.: 138) kommen, wird ganz offensichtlich weder angestrebt noch erreicht.

(2) Die drei großen politischen Interviews bei al-Iraqiya verlaufen nach gänzlich anderem Muster. Der Moderator positioniert sich kritisch gegen die Gesprächs-gäste, die mit informierten Fragen zur Begründung und Verteidigung ihrer Posi-tionen gedrängt werden. Dabei geht es nicht um genuin politische Standpunkte, sondern darum, wie Leistungen und Pläne der Regierung zu bewerten sind. Die Rolle der Gesprächspartner besteht darin, ihre positive Bewertung gegen die Kri-tik des Journalisten zu verteidigen, der diese stellvertretend für die Bürger formu-liert. Hier kommt man dem von McNair (2011) skizzierten Rollenbild des Jour-nalisten im politischen Interview schon näher und auch die von Habermas (1998) geforderte Autorität des besseren Arguments ist in diesem als Streit inszenierten Gespräch zumindest als Möglichkeit angelegt. Anders als bei al-Sharkiya geht es im Gespräch bei al-Iraqiya um Sachthemen und nicht um Personen und persönli-che (Fehl-)Leistungen – auch dies in Übereinstimmung mit der von Habermas (1998) kritisierten Personalisierung von Politik und der von ihm geforderten Rückbesinnung auf Themen und Positionen als zentrale Knotenpunkte des politi-schen Wettbewerbs (vgl. Kap. 2.3.3).

Zugleich gilt die Kontrolle der Regierung über den öffentlichen Sender als um-fassend – das bestätigen die Auswertung der Literatur (vgl. Kap. 6) und die Ana-lyse der Interviews mit irakischen Medienproduzenten (vgl. Kap. 8.1.2) –, sodass die sichtbar kritische Haltung des Journalisten bei al-Iraqiya als Aspekt einer ge-nerell regierungsfreundlichen Agenda des Senders interpretiert werden muss, das heißt als wohlmeinende Kritik, in der sich die Einsicht in die Nutzlosigkeit von Hofberichterstattung unter pluralistischen Bedingungen und eventuell der Beginn

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

242

eines Strategiewechsels spiegelt. Die Kritik gewinnt damit den Status einer poli-tischen Taktik, die sich mit dem unzufriedenen Zuschauer solidarisiert, ohne da-bei die Position des Kritisierten ernsthaft anzugreifen. Wiewohl solche Kritik nicht frei von Beschränkungen ist und obwohl sie erkennbar nicht auf die Sub-stanz der Gesprächspartner zielt, ist sie als tatsächliche und nicht nur scheinbare Öffnung des Senders anzuerkennen, denn die Kritik wird ausgesprochen und die Rechtfertigung wird eingefordert.

Öffentlichkeitsarbeit und Werbung

McNair (2011) beschreibt politische Öffentlichkeitsarbeit als eine komplexe Auf-gabe, die sich zentral um die Steuerung von Informationsströmen und das Ma-nagement von Medienpräsenz politischer Themen und Akteure dreht. Die Auf-gabe der Öffentlichkeitsarbeiter besteht darin, die Zuwendung der Medien dauer-haft zu mobilisieren und gleichzeitig die Kontrolle über Auswahl und Deutung von Themen zu wahren. Die Journalisten distanzieren sich idealtypisch vom Kon-trollbegehren der PR-Experten und hadern dabei mit ihrer faktischen Abhängig-keit von deren Wohlwollen (vgl. Kap. 2.3.2).

Die Interviewpartner lösen dieses Dilemma im Gespräch durch eine theoretische Trennung von journalistischer Praxis und Selbstverständnis. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wird als ethische Grundhaltung des Journalisten idealisiert und für die eigene Praxis auch behauptet – die deutliche Mehrheit der Interviewpartner bezeichnet den eigenen Sender oder die eigene Arbeit als ‚unabhängig’. Gleich-zeitig sind sich alle darüber einig, dass die Identität der irakischen Medienland-schaft vom instrumentellen Verhältnis der Politik zu den Medien geprägt ist und dass es von dieser Prägung keine Ausnahmen gibt.226

Parteilichkeit wird praktiziert und abgelehnt, verteidigt und dabei abgestritten, be-stätigt und dementiert. Hier unterscheidet sich die irakische Situation von der plu-ralistisch-polarisierten Medienkultur, die nach Hallin und Mancini (2004) eine hierarchieübergreifende Übereinstimmung aller Mitarbeiter mit der politischen Agenda der arbeitgebenden Organisation postuliert (vgl. Kap. 3.3.2). Die Aus-wertung der Interviews macht demgegenüber Ambivalenzen sichtbar, von denen

226 Unter Umständen muss dieser Widerspruch auch als Forschungsartefakt gelesen werden: Die

Interviewpartner bewerten das westlich geprägte Konzept Unabhängigkeit positiv, um im Sinne der sozialen Erwünschtheit den Erwartungen der Forscherin zu entsprechen. Gleichzei-tig entspricht ihre journalistische Praxis aber diesem Ideal nicht.

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8.1 Politische Kommunikation

243

nicht eindeutig gesagt werden kann, ob sie eher im Inneren des Individuums oder eher innerhalb von Organisationen und Wertesystemen verlaufen.

Aus der Analyse der politischen Kommunikation im irakischen Fernsehen ent-steht der Eindruck, dass die politischen Parteien in der Öffentlichkeitsarbeit zwar sehr aktiv sind, sich die Medienresonanz auf diese Aktivitäten aber auf die jeweils eigenen Kanäle beschränkt. Unabhängige/private Medienangebote ignorieren die Öffentlichkeitsarbeit der Parteien weitgehend, während parteieigene Kanäle wie al-Furat und al-Iraqiya sie vollständig absorbieren. Im Irak treten die relative Of-fenheit von Parteisendern für die Steuerung durch Parteien und die relative Ver-schlossenheit unabhängiger/privater Kanäle an die Stelle der täglichen Aushand-lung von Themen und Deutungen zwischen Politik und Medien.

Sehr einfach lässt sich diese Logik an der Berichterstattung über Ereignisse able-sen, die von Parteien für die Medien organisiert werden. Die Rede von Premier-minister al-Maliki vor Intellektuellen und Schriftstellern, seine diversen Treffen mit Stammesführern, das Treffen von Vize-Präsident Tariq al-Hashimi mit Medi-enschaffenden – all diese Ereignisse werden ausschließlich von al-Iraqiya aufge-griffen und teilweise umfänglich behandelt. Kein anderer Sender berichtet dar-über. Gesondert hervorzuheben wären an dieser Stelle Themenstrecken, die aus der politischen Steuerung heraus den Charakter von Kampagnen gewinnen, wie im Falle der Berichterstattung zu den Rückkehrern, über den Wiederaufbau und zur Bedeutung der Stämme, aber auch die Berichterstattung über die Bedeutung der Wahlen bei al-Furat. Hier werden (inszenierte) Ereignisse, über die kein an-derer Sender berichtet, zu einer Themenstrecke in den Nachrichten verknüpft, die in Art und Ausmaß den Charakter einer Kampagne hat und die al-Iraqiya und al-Furat als verlängerten Arm ihrer Parteien kennzeichnen.

Die Kampagne ist als Kommunikationsform im Segment der politischen Werbung anzusiedeln. Hier genießt die Partei Autonomie bei der politischen Ausgestaltung der Beiträge, muss aber Einbußen bei der Glaubwürdigkeit in Kauf nehmen, weil der Zuschauer Werbung als Manipulation reflektiert und Distanz nimmt (vgl. Kap. 2.3.2). Der öffentliche Sender al-Iraqiya und der parteiliche Sender al-Furat versuchen also offensichtlich, Werbung mit Glaubwürdigkeit und Authentizität aufzuladen, indem die Nachricht als Form und die Nachrichtensendung als Kon-text gewählt werden. Diese Unterwanderung der journalistischen Berichterstat-tung mit Werbebotschaften wird durch das Betreiben hauseigener Sender ermög-

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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licht, was den scheinbaren Gewinn an Glaubwürdigkeit gleich wieder zurück-nimmt. Ein Glaubwürdigkeitsgewinn durch Einrahmung wird durch Glaubwür-digkeitsverluste auf übergeordneter Ebene neutralisiert. Die Effektivität dieser Form politischer Werbung muss also in Zweifel gezogen werden.

Dasselbe gilt für das Medienmanagement der Parteien, das darauf zielt, die Prä-senz der Partei, ihrer Kandidaten und ihrer Positionen in den Medien auszudeh-nen: al-Furat und al-Iraqiya gewähren anscheinend einschränkungsfrei Kommu-nikationsraum für die Vertreter der Regierung und äquivalent das Führungsper-sonal des SIIC. Wie die Interviews mit den Medienproduzenten zeigen, wird aber gerade dieser Personenkult um politische Führungsfiguren von den Zuschauern als Werbung identifiziert und zurückgewiesen. Aus den Gesprächen mit iraki-schen Medienproduzenten wird ganz generell deutlich, dass die Nachrichten der Parteisender vor diesem Hintergrund – und in Kombination mit einer historisch bedingten Skepsis der irakischen Zuschauer – insgesamt geringe Glaubwürdigkeit genießen. Dies ist nach Ansicht der Interviewpartner auch den Medienanbietern bewusst, die deswegen nach Ausdehnung ihrer Kommunikationsräume über die eigenen Kanäle hinaus streben (vgl. Kap. 8.1.2). Als taktischer Ansatz zur Errei-chung dieses Ziels wird aber nicht die Mediatisierung von Politik gewählt, also die Modifikation von Politik nach Maßgabe ihrer Medientauglichkeit, sondern der weit weniger subtile Einkauf von Medien und Journalisten mit Geld und anderen Vorteilen.

Die Frage danach, ob die politische Kommunikation im Irak von den Formen und Methoden der Werbung bereits durchdrungen ist, lässt sich daher mit einem Hin-weis auf die polar-pluralistische Natur der Medienlandschaft beantworten: Die Parteien professionalisieren ihre Öffentlichkeitsarbeit und investieren beachtliche Ressourcen in die Inszenierung von Medienereignissen. Die Wirksamkeit von Öf-fentlichkeitsarbeit und Werbung bricht sich aber an der Parteilichkeit der Medi-enangebote, die sich für werbeförmige Kommunikationsofferten anderer Parteien taub und blind stellen, und an der nicht kommerziellen Natur der Medienland-schaft ganz generell. Dort, wo Reichweiten von nachrangiger Bedeutung sind, kommt es nicht zu der vielfach beklagten positiven Rückkoppelung zwischen po-litischer Macht und Marktanteilen einzelner Anbieter auf dem Medienmarkt: „Die einen bekommen Medienpräsenz und somit Machtressourcen, die anderen stei-gern ihre Einschaltquoten und über die Marktanteile auch ihre Werbeinnahmen.“

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8.1 Politische Kommunikation

245

(Dörner 2001: 135) Diese reziproke Verstärkung, mithin dysfunktionale Ver-schränkung beider Systeme, kommt unter den Bedingungen des politischen Pa-rallelismus im Irak nicht zur Entfaltung.

Transparenz und Rechtfertigung

Eine Bewertung des Regierungshandelns durch die Bürger setzt (1) Transparenz des Regierungshandelns sowie (2) Rechtfertigung von Entscheidungen durch die Regierenden voraus. Rainer Forst (2007) versteht das Recht auf Rechtfertigungen als Schlüssel für die Unterscheidung demokratischer von willkürlichen Formen der Herrschaft und als legitimen Anspruch in einer auf Gerechtigkeit zielenden Demokratie (vgl. Kap. 2.3.2). Die Frage, die aus kommunikationswissenschaftli-cher Sicht jetzt interessiert, ist weniger, wie (gut/gerecht) Regierungshandeln be-gründet wird, sondern mit welchem Nachdruck die Begründung von den Journa-listen vor allem in den politischen Interviews eingefordert wird. Zweitens wäre mit Beierwaltes (2002) ganz profan danach zu fragen, inwieweit das Regierungs-handeln sich als öffentliches Handeln im Sinne der Publizität vollzieht (vgl. Kap. 2.3.2).

Zunächst wäre diesbezüglich die unterschiedlich ausgeprägte Präsenz von Regie-rungspersonal bei privaten/unabhängigen und staatlich/parteilichen Sendern in Augenschein zu nehmen. Wie aus Tabelle 8.12 ersichtlich wird, erhalten Regie-rungsvertreter nur in den Talkshows des öffentlichen Senders Gelegenheit, Re-gierungshandeln zu erklären. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus der Ana-lyse der Interviews wird hier ein komplementäres Selektionsverhalten vermutet: Weil Regierungschef al-Maliki und andere Regierungsvertreter auf al-Iraqiya be-reits übermäßig viel Kommunikationsraum zur Verfügung haben, entscheiden sich die privaten Sender, deren Präsenz ausgleichend zu reduzieren. Die Verant-wortung, Regierenden Rechtfertigung abzuverlangen, wird in dieser diametral-polarisierten Figur damit den regierungsfreundlichen Sendern überlassen, die die-ser Aufgabe nur innerhalb einer im Kern regierungsunterstützenden Agenda nachgehen können, wie die eingangs skizzierten Beispiele zeigen.

Die privaten/unabhängigen Sender lassen damit eine Chance ungenutzt, stellver-tretend für die Bürger Regierungshandeln zu hinterfragen und zu begründen, so-dass eine wichtige Ausgangsbedingung für die Urteilsfähigkeit der Bürger gar nicht aufgebaut wird. Aus demokratietheoretischer Perspektive wäre vor diesem Hintergrund der Wunsch zu formulieren, Fernsehsender wie al-Sumeria und al-

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

246

Sharkiya würden sich für Personal aus Regierungskreisen öffnen und gleichzeitig Kompetenzen in Richtung des konfrontativen Interviews ausbauen, um das Recht der Bürger auf Rechtfertigung zu bedienen und dabei die eigene Position als kri-tischer, aber kompetenter Akteur im Mediensektor zu festigen.

Die Strukturanalyse (vgl. Kap. 6) vermittelt in diesem Zusammenhang den Ein-druck, dass Regierungsvertreter einer Einladung von al-Sharkiya möglicherweise nicht Folge leisten würden, weil der Sender am Rande der Illegalität operiert und der Auftritt eines Regierungsvertreters unerwünschte Legitimierungsgewinne mit sich bringen könnte. Diesem Verdacht wäre in weiterführenden Untersuchungen nachzugehen.

Auf dem staatlichen Sender al-Iraqiya wird zu ausgesuchten Themenfeldern Transparenz im Sinne der Publizität geschaffen. Der Zuschauer wird informiert über Aktivitäten und Pläne der Regierung im Versorgungssektor, über die Unter-stützung von rückkehrenden Flüchtlingen sowie über die Haltung und Handlun-gen im SOFA-Prozess. Der gesamte Themenkomplex zu innenpolitischen Kon-flikten wird in der Berichterstattung allerdings ausgeklammert, sodass an dieser Stelle die Regierung den Bürgern Erklärungen zu allen Aspekten der Problematik schuldig bleibt (vgl. Kap. 8.1.1). Die irakischen Medienproduzenten signalisieren im Gespräch aber, dass auch diese Taktik unter pluralistischen Bedingungen ins Leere läuft. Zumindest wird (1) die Auslassung von Themen und Ereignissen als Element einer manipulativen Kommunikation von den Gesprächspartnern in aller Deutlichkeit erkannt und kritisiert; (2) die irakischen Zuschauer werden als skep-tisches und kritisches Publikum beschrieben, sodass hier die Annahme ange-schlossen werden kann, dass die Taktik der Auslassung den staatlichen Sender als Informationsquelle in der Wahrnehmung der Mediennutzer disqualifiziert. Auch hier verkehrt sich der Effekt manipulativer Kommunikation unter pluralistischen Umgebungsbedingungen ins Gegenteil der von den Urhebern angestrebten Wir-kung.

8.2 Partizipation

Für die demokratietheoretische Einordnung der journalistischen Praxis im Irak ist die Analyse partizipativer Aspekte von zentraler Bedeutung. Mit Habermas wäre in diesem Zusammenhang nach der Offenheit des Mediensystems für Impulse aus

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8.2 Partizipation

247

der Zivil- und Bürgergesellschaft zu fragen (vgl. Kap. 2.2.2 und Kap. 2.3.3), wäh-rend im systemtheoretisch geprägten Arenamodell von Neidhardt und Gerhards (1990) die Vielfalt der Meinungen, Themen und Positionen als Maßstab für Of-fenheit in den Vordergrund rückt (vgl. Kap. 2.3.3). Darüber hinaus müssen mit Carpentier (2011) auch die Besitzverhältnisse im Mediensektor in die Analyse einbezogen werden, um Aussagen über die Teilhabe an Produktion und Produk-tionsmitteln und damit über strukturelle Aspekte von Partizipation treffen zu kön-nen (vgl. Kap. 2.3.3).

Die Rekonstruktion der Medienentwicklung im Irak seit 2003 (vgl. Kap. 6) machte deutlich, dass die Medienlandschaft im Hinblick auf Besitzverhältnisse eine breite Vielfalt, Offenheit und damit einen partizipativen Charakter ausgebil-det hat. Allein die hohe Anzahl von privaten Medienanbietern und die gleichzei-tige Aussetzung jeglicher Regulierung verweist auf eine starke Ausprägung von Offenheit und Inklusion auf struktureller Ebene. Es wurden aus dieser Beobach-tung die Erwartung einer entsprechenden Präsenz von Bürgern, bürgernahen The-men und Gruppen in den Programminhalten formuliert sowie mit Bezug auf die Interviews die Annahme eines zentralen Stellenwerts partizipativer Aspekte im Selbstverständnis der Medienproduzenten (vgl. Kap. 6.7.3).

Um dies zu überprüfen, wird im vorliegenden Kapitel nach Art und Umfang der Teilhabe von Bürgern und bürgernahen Gruppen227 in den Nachrichten und Talk-shows irakischer Sender gefragt (Kap. 8.2.1) und die Bedeutung von Bürgernähe im Selbstverständnis der irakischen Medienproduzenten aus den Interviews re-konstruiert (Kap. 8.2.2). Abschließend werden Thesen zur demokratietheoreti-schen Einordnung formuliert (Kap. 8.2.3).

8.2.1 Bürger und bürgernahe Gruppen im irakischen Fernsehen

Ungeachtet der unterschiedlichen Formen des Einbezugs von Bürgern und bür-gernahen Gruppen beeindruckt zunächst die außerordentlich dichte Präsenz dieser Akteursgruppe in den Nachrichten irakischer Fernsehsender: Insgesamt 127 Mal wird sie in den Nachrichten mit einem Auftritt gewürdigt.

227 Zur Präzisierung der Kategorien Bürger und bürgernahe Gruppen siehe Annex 2.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

248

Tabelle 8.14: Akteursgruppen in den TV-Nachrichten/ Bürger und bürgernahe Grup-pen* Akteursgruppen Al-Iraqiya Al-Furat Al-Sharkiya Al-Sumeria gesamt Sprecher/Vertreter /Mit-glieder der Regierung

26 10 (+1)228 4(+1) 7 (+2) 47 (+4)

Parteipolitische Eliten 8 1 2 11 (+1) 22 (+1) Politischer Mittelbau (Parlament)

5 2 5 (+2) 12 24 (+2)

Kommunalpolitik 1 10 6 17 Analysten und Experten 10 12 4 12 38 Medien- und Kultur-schaffende

5 3 1 9

Militär und Polizei 24 8 17 (+1) 13 58 (+1) Bürgernahe Gruppen/ Zivilgesellschaft

16 10 7 5 38

Bürger 22 22 27 18 89 Anzahl gesamt 117 78 (+1) 67 (+4) 84 (+3)

*Eigene Darstellung

Bei al-Iraqiya treten Bürger und bürgernahe Gruppen in den drei untersuchten Nachrichtensendungen 38 Mal vor die Kamera. Ihre Rolle besteht darin, positive Aspekte irakischer Realität ganz generell zu beleuchten und speziell auf die ver-besserte Sicherheitslage zu verweisen.

Bei al-Sharkiya sind auf Seiten der Bürger und bürgernaher Gruppen 31 direkte und drei indirekte Sprechakte zu zählen. Dem stehen nur drei direkte Sprechakte auf Seiten der Regierung und politischer Eliten gegenüber. Der Bürger spricht bei al-Sharkiya aus der Perspektive der Betroffenheit zu Versorgungsthemen wie Wasser, Nahrung, Obdach. Seine Hauptrolle ist dabei die des Geschädigten, der aufgebracht über Missstände klagt.

Bürger und bürgernahe Gruppen treten auch bei al-Sumeria mit 23 Sprechakten umfangreich, wenngleich weniger exponiert, in Erscheinung. Während al-Iraqiya und al-Sharkiya sich mit Blick auf die politische Rolle des Bürgers polarisiert aufstellen, verbleibt al-Sumeria als Hybrid in deren Mitte.

228 Daten in Klammern beziehen sich auf nichtirakische Sprecher aus dieser Akteursgruppe.

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8.2 Partizipation

249

Ganz anders das Bild in den Talksendungen. Hier überrascht der senderübergrei-fende Ausschluss von Bürgern und Vertretern der Zivilgesellschaft aus den Ge-sprächsrunden gerade im Kontrast mit der exponierten Bedeutung von Partizipa-tion im Selbstverständnis der irakischen Medienproduzenten229 und mit der um-fangreichen Präsenz der einfachen Bürger in den Nachrichten. Zu keiner einzigen Gesprächsrunde sind einfache Bürger oder Vertreter der Zivilgesellschaft als Gäste eingeladen, in drei von 17 Sendungen können Zuschauer anrufen, was den Gesamteindruck der Exklusion kaum zu relativieren vermag.

Tabelle 8.15: Akteursgruppen in den Talkshows (TV)* Talkshow Al-Iraqiya Al-Furat Al-Sharkiya Al-Sumeria Sprecher/Vertreter /Mit-glieder der Regierung

3 3

Parteipolitische Eliten 1 1 2 4 Politischer Mittelbau (Parlament)

1 2 2 5

Kommunalpolitik 1 1 1 1 4 Analysten und Experten 5 1 2 3 11 Medien- und Kultur-schaffende

1 1 1 3

Militär und Polizei 1 1 2 Bürgernahe Gruppen/ Zivilgesellschaft

Bürger 10 Anru-fer230

3 Anrufer 3 Anru-fer

* Eigene Darstellung

229 Der Funktionsaspekt der Partizipation ist von herausragender Bedeutung für das Selbstver-

ständnis der irakischen Medienproduzenten und nimmt in ihren Darstellungen eine promi-nente Rolle ein. Zehn von 17 Medienproduzenten nehmen mindestens einmal im Verlauf des Gesprächs in Anspruch, Sprachrohr für die Probleme, Meinungen, Kritik, Hoffnungen und Ängste der einfachen Leute zu sein (vgl. Kap. 8.2.2).

230 Bei al-Iraqiya lassen sich die Zuschauer per Telefon in der Talkshow In der Waagschale von Justitia (27.08.2008) zu Rechtsfragen beraten – ein Angebot, das lebhaft in Anspruch genom-men wird. Erläutert werden Bestimmungen zum Wohnort der Ehefrau nach islamischem Recht und das Gesetz zur Verschwendung von öffentlichen Geldern durch Beamte. Sechs Anrufer oder Studiogäste stellen Fragen zu folgenden Themen: Kündigung von Mietern, Scheidung, neue Arbeitsgesetze, Tamyizi-Gesetz.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

250

Im Folgenden werden die verschiedenen Rollen, in denen Bürger und bürgernahe Gruppen auf den verschiedenen Sendern in Erscheinung treten, im Einzelnen dis-kutiert.

Der Bürger als (geschädigter) Empfänger staatlicher Leistungen im Programm der nichtstaatlichen Sender

Der Bürger tritt in den Nachrichten bei al-Sharkiya fast ausnahmslos in der Figur des verzweifelten und wütenden Opfers in Erscheinung. Im Themensegment Flüchtlinge/Rückkehrer werden weinende Frauen mit Kindern gezeigt, die gerade aus dem Exil zurückgekehrt sind und – scheinbar zum ersten Mal – mit dem ver-heerenden Zustand ihrer Häuser konfrontiert werden. Milizen oder andere Zwi-schennutzer haben Mobiliar zerschlagen sowie Fenster und Wände teilweise stark beschädigt. Vier der Frauen lamentieren und klagen vor der Kamera; die Bericht-erstattung ist mit 6:40 Minuten ausgedehnt und durchgehend emotional aufgela-den. Die Betroffenen trauern um ihre zerstörten Wohnungen und ihre Wut richtet sich sowohl gegen die Milizen als auch gegen die Regierung, die den Besitz nicht hat schützen können und von der Entschädigung gefordert wird.231 Zum Thema Lebensmittelknappheit und Wasserversorgung sprechen weitere 14 (!) betroffene Bürger teils sehr aufgebracht. Ihre Wut richtet sich konkret gegen die Regierung, von der sie mit einem Geschenk von einem halben Kilo Linsen zum Ramadan ihrer Ansicht nach beleidigt und verhöhnt worden sind. Die Gespräche werden zum größten Teil auf einem Wochenmarkt in Bagdad geführt.232

Von insgesamt 23 Sprechakten auf Seiten der Bürger und bürgernaher Gruppen entsprechen auch bei al-Sumeria gut zwei Drittel der Figur des zornigen Opfers. Insgesamt 16 Mal beschweren sich Passanten, teilweise sehr wütend, über die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln, über den Verfall der öffentlichen Plätze und über die schlechte Sicherheitslage. Vier streikende Arbeiter einer staatlichen Fabrik beklagen aufgebracht, seit vier Monaten keinen Lohn bekommen zu ha-ben; vier Passanten sprechen ebenfalls wütend über fehlenden Strom in Bagdad.

231 25.08.2008/Pos. 11 sowie 26.08.2008/Pos. 16 und Pos.18. 232 Die Berichterstattung ist auch in diesem Themenfeld Versorgung mit 20:50 Minuten ausge-

dehnt und ausführlich.

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8.2 Partizipation

251

Anders als bei al-Sharkiya wird der Auftritt der Bürger bei al-Sumeria bisweilen eingebettet in einen Kontext kontrastierender Positionen und Akteure.233 Im The-menfeld Versorgung wird das Lamento der Marktbesucher mit Erklärungen und Rechtfertigungen der zuständigen Politiker oder Behörden flankiert234 und auch über die Sicherheitslage in Mosul gibt es einen vierminütigen Bericht, der Stel-lungnahmen von Bürgern, Generälen und Parteivertretern umfasst. Zu Kirkuk werden die Demonstranten des Südens gehört sowie Parlamentarier und politische Eliten in Kirkuk. Auf diese Weise werden die verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen vom Bürger bzw. der Zivilgesellschaft über Politik bis hin zum Militär in einen Vermittlungszusammenhang gebracht.

Auch sind bei al-Sumeria nicht alle Bürgerauftritte der regierungskritischen Seite zuzuordnen. Obgleich negative Kritik überwiegt, gibt es zum Thema Wiederer-öffnung der Museen und Universitäten auch sechs positive Stellungnahmen von Seiten der Bürger. Hier ist im Vergleich zu al-Sharkiya eine Tendenz zu mehr Ausgewogenheit zu erkennen.

Auch al-Furat widmet 11:12 Minuten Nachrichtenzeit (fünf Nachrichten) der hu-manitären Not im Irak und übernimmt dabei die Perspektive der Betroffenen. The-men sind Armut und Obdachlosigkeit, Mangel an Versorgungsdienstleitungen (in Samarra) und steigende Strom- und Lebensmittelpreise. Es kommen elf Be-troffene und Bürger zu Wort, die sich aufgebracht zur Situation äußern.

Al-Iraqiya: Der geschädigte Bürger aus Sicht der Zuständigkeit

Während al-Iraqiya Versorgungsprobleme in den Nachrichten ausblendet, wird das Dilemma der Stromversorgung im Gespräch mit Muayyim al-Qassimi, Parla-mentspräsident der Provinz Bagdad, in der Talksendung Worüber die Leute spre-chen (al-Iraqiya/25.08.2008) differenziert ausgeleuchtet. Thematisiert werden eine Reihe von Versorgungsproblemen im Zusammenhang mit der zunehmenden Anzahl von privaten Stromgeneratoren in Bagdad und einem wachsenden Schwarzmarkt für Strom.

233 Siehe auch Kapitel 8.1.1 zum Gegensatz zwischen affirmativer und journalistischer Kontex-

tualisierung. 234 Konkret wird am 28.08.2008 in einer Nachricht zur schlechten Stromversorgung der General-

direktor der Strombehörde zu den Vorwürfen der Bürger angehört.

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Eingangs wird eine Reportage gezeigt, in der Bürger ihre Ansichten zur Strom-versorgung vortragen. Im ersten Teil des Gesprächs geht es dann um das proble-matische Verhältnis zwischen Betreibern privater Generatoren, Staat und Ver-brauchern: Vor dem Hintergrund mangelnder staatlicher Stromversorgung wer-den die Verbraucher von privaten Stromverkäufern ausgebeutet und betrogen, ohne dass der Staat interveniert – so die Problematik im Kern. Im zweiten Teil geht es um strategische Lösungen: internationale Investoren, Solarenergie, Aus-bau der staatlichen Versorgung etc.

Auch in diesem Gespräch stehen die Bürger in der Rolle der Geschädigten im Mittelpunkt, die nicht ausreichend geschützt und versorgt werden, die leidtragend sind und denen von staatlicher Seite Angebote gemacht werden müssten, wie fol-gende Gesprächssequenz zeigt:

Frage: Steigende Temperaturen, ständige Stromausfälle, Generatoren, die Lärm erzeu-gen und deren Preise ständig steigen – gibt es Lösungen für die gesetzliche Regelung der privaten Generatoren? Al-Qassimi: Das Ölministerium wird in Zukunft mehr Öl für Generatoren zur Verfü-gung stellen. Es muss darüber hinaus staatliche Kontrollen geben und die Besitzer der Generatoren sollten gewissenhaft sein und die Situation nicht ausnutzen. F: Ist die Menge an Öl, die die Betreiber der Generatoren vom Staat geliefert bekommen, tatsächlich nicht ausreichend? Al-Qassimi: Das Öl reicht für 70% dessen, was die Generatoren leisten sollen. Aber die Schwarzmarktpreise sind nicht hoch, also können die Betreiber auch bei den übrigen 30% noch einen Gewinn einfahren. F: Wir haben gehört, dass die staatlichen Kontrollinstanzen teilweise die Betreiber dabei unterstützen, die Bürger auszubeuten. Sind das Einzelfälle? Al-Qassimi: Es kann sein, dass die Behörde manchmal zu langsam oder nachlässig ar-beitet. Sie ist jedoch zu strikterem Vorgehen aufgefordert. Und auch die Bürger sollen in Problemfällen das direkte Gespräch suchen. F: Wenn das Gespräch jedoch keine Einigung bringt, an wen kann der Bürger sich wen-den? Al-Qassimi: Dann gibt es Entschädigung von der Stadtverwaltung und die Möglichkeit, einen Generator in Eigenorganisation zu nutzen.235

235 Al-Iraqiya/Worüber die Leute sprechen/25.08.2008.

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8.2 Partizipation

253

Der Moderator nimmt hier eine tendenziell anwaltliche Haltung ein, fragt nach und bleibt dem Gesprächspartner gegenüber kritisch. Der gesamte Themenkom-plex wird aber aus Sicht der Verantwortlichen und nicht aus Sicht der Betroffenen adressiert. Auch wenn Letztere durch die eingespielte Reportage Gelegenheit zum Kommentar erhalten und auch wenn auf ihre Perspektive im Gespräch immer wie-der Bezug genommen wird, bleibt eine analytische Haltung vorherrschend, die Probleme rationalisiert und Lösungswege aufzeigt.

Der dankbare Bürger bei al-Iraqiya

Bürger und bürgernahe Gruppen sind mit insgesamt 38 direkten Sprechakten in den drei untersuchten Nachrichtenstunden auf al-Iraqiya vertreten (vgl. Tab. 8.15). Damit setzt sich der öffentliche Sender an die Spitze im Wettbewerb um Bürgernähe. 22 der Sprecher sind einfache Bürger, Passanten, Zuschauer eines Fußballspiels, Studenten, rückkehrende Flüchtlinge oder Gäste einer Hochzeit, die sich ohne Ausnahme positiv über die verbesserte Sicherheit und über die dadurch möglich gemachten Dinge äußern. Die Flüchtlinge benennen die verbes-serte Sicherheitslage als Grund für ihre Rückkehr, die Sportfans können wieder Fußballspiele besuchen, die Feierlichkeiten einer Massenhochzeit in al-Anbar können in aller Öffentlichkeit abgehalten werden. Die Menschen treten mit Freude vor die Kamera, sechs Personen bedanken sich namentlich bei Premier-minister Nuri al-Maliki für die Fortschritte im Bereich der öffentlichen Sicherheit.

Es gibt eine Reihe von Vertretern bürgernaher Gruppen, die in derselben Stoß-richtung vergleichbare Rollen übernehmen und in ihrer Funktion als Bürgermeis-ter, Stammesrat, Stiftungsmitglied oder Gouverneur über die Segnungen der ver-besserten Sicherheit sprechen und sich bei der Regierung für Zuwendungen be-danken.

In keinem der 38 Sprechakte von Bürgern und bürgernahen Gruppen wird nicht in irgendeiner Form positiv auf die Regierung, ihre Leistungen, ihre Einrichtun-gen oder die Sicherheitslage Bezug genommen. Das Arrangement der Stellung-nahmen trägt damit deutlich mehr den Charakter einer Kampagne als den journa-listischer Arbeit.

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Vertreter bürgernaher Gruppen als politisches Subjekt

Neben der vorherrschenden Figur des Betroffenen und Geschädigten findet der Bürger nachgeordnet auch als politisches Subjekt einen Platz in den Randzonen der Berichterstattung. Er tritt in dieser Rolle als Teil einer politisch engagierten Gruppe auf, die zu den zentralen Themen und Konflikten Stellung bezieht, oder als Inhaber einer bürgernahen Position (Bürgermeister, Stammesrat o.ä.).

Bei al-Sharkiya wird ein Vertreter der Sahwa Councils in den Nachrichten zu ei-nem Konflikt mit der Zentralregierung am Telefon befragt (25.08.2008/Pos. 9), und der Bürgermeister von Kirkuk äußert sich über den Stand der Verhandlungen im Streit um Kirkuk (al-Sharkiya/25.08.2008/Pos. 2). Neben diesen beiden direk-ten Zitaten wird über zwei Demonstrationen berichtet: In Kanaqin protestieren die Bürger erfolgreich gegen die Präsenz der irakischen Armee, die infolge der Pro-teste den Rückzug antritt (al-Sharkiya/26.08.2008/Pos. 4 und 4a) und in Basra demonstrieren die Menschen gegen die Eingliederung Kirkuks nach Kurdistan (al-Sharkiya/26.08.2008/Pos. 5). Keiner der Demonstranten wird direkt befragt, ihre Forderungen werden aber in den Nachrichten zitiert.

In der Bilanz ist der Bürger als politisches Subjekt in den Nachrichten bei al-Sharkiya aber eine deutlich randständige Figur mit geringer Relevanz im Ver-gleich zum aufgebrachten Bürger in der Rolle des Geschädigten. Diese Rangord-nung wird auch in den politischen Interviews bei al-Sharkiya fortgeführt: Ibrahim al-Jafari erwähnt die Bewohner von Kirkuk, die bei einer Entscheidung über den Verbleib der Stadt nicht übergangen werden können, und Interviewpartner Iyad Allawi verweist auf die Bürger des Südens, die eine Separation ablehnen. Abge-sehen von diesen zwei Bemerkungen wird dem Bürger als politisches Subjekt in den drei großen politischen Interviews auf al-Sharkiya weder von den Moderato-ren, die an keiner Stelle jemals den Bürger ins Spiel bringen, noch von den Ge-sprächspartnern Bedeutung beigemessen.

Eine Ausnahme macht demgegenüber der stellvertretende Gouverneur der Pro-vinz Salah ad-Din Abdallah Jabara, der in der Sendung Der Dialog (al-Sharkiya/ 31.08.2008) die Beteiligung der Bürger und den engen Zusammenhalt zwischen Bürgern, Sicherheitspersonal und Kommunalpolitik als Schlüsselfaktor für die positive Entwicklung in Salahud-Din benennt:

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8.2 Partizipation

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Frage: Die Statistiken zeigen, dass es in Salahud-Din relativ wenig Anschläge und an-dere Formen von Gewalt gibt. Woran liegt das? Jabara: Das ist grundsätzlich auf die Strategie des Wiederaufbaus zurückzuführen, die für Salahud-Din gewählt wurde. In Salahud-Din gibt es eine hohe Beteiligung der Bür-ger und niemand wird diskriminiert. Hier leben Sunniten, Schiiten, Kurden, Araber, Turkmenen. F: Gibt es Auseinandersetzungen zwischen den ansässigen Stämmen und dem Staatsap-parat oder ist es eher eine Zusammenarbeit? Jabara: Im Gegenteil. Die Stämme sind eine große Hilfe in Sachen Sicherheit. Ein an-derer Punkt ist, dass die Parteien heute nicht mehr überall ihre Finger im Spiel haben. Außerdem distanzieren wir uns von Stammesfehden. Und Polizisten und Politiker gelten als Söhne des Landes.236

Salah ad-Din hatte sich, ähnlich wie al-Anbar, als Hochburg des sunnitischen Wi-derstands und als Rückzugsort für al-Qaida einen Namen gemacht. Die Gründung und der Erfolg der Sahwa Councils als sunnitisch-tribale Bürgerbewegung hatten auch in Salahud-Din die entscheidende Öffnung zur nationalen Versöhnung ein-geleitet. Das Gespräch ist aber nur elf Minuten lang237 und relativiert deswegen nur geringfügig die ansonsten dominante Einordnung des Bürgers als Opfer.

In den Nachrichten bei al-Sumeria treten bürgernahe Gruppen immerhin fünf Mal als Advokaten eines politischen Anliegens zur Eingliederung Kirkuks und zum Friedensprozess in Erscheinung.238 Auch in der Talkshow bei al-Sumeria gewinnt die Teilhabe der Bürger am politischen Prozess wie folgt an Bedeutung:

(1) Im Gespräch über die Bewertung der Sicherheitsoperation in Diyala wird die Unterstützung des Militärs durch Bewohner übereinstimmend als zentrale Be-dingung für das Gelingen der Sicherheitsoperation Bashair al-Khair eingestuft (al-Sumeria/Irak Kontrovers/26.08.2008). Das Vertrauen der Bürger sei durch das Verhalten des Militärs beschädigt und der Erfolg der Sicherheitsoperation durch eine in der Folge schwindende Unterstützung der Einwohner gefährdet – so die einvernehmliche Lesart der Gesprächspartner Salim Abdallah und Abdulkareem

236 Al-Sharkiya/Der Dialog/31.08.2008. 237 Die drei großen politischen Interviews bei al-Sharkiya sind jeweils etwa 40 min lang. 238 Am 28.08.2008 sprechen zwei Vertreter verschiedener NGOs über ihre Teilnahme an einer

Friedenskonferenz (Pos. 12); am 26.08.2008 sprechen drei Stammesführer (Sheikhs) aus Najaf über die Eingliederung Kirkuks nach Kurdistan (Pos. 4).

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Khalif.239 Hier werden die Bürger als Akteure gesehen, die auch zwischen den Wahlen den Fortgang von Politik und Konfliktentwicklung durch Ablehnung und Zuspruch (mit)steuern – eine Einordnung, die von beiden Gesprächspartnern mit großer Selbstverständlichkeit vertreten wird, wie folgendes Beispiel zeigt:

Abdallah: Die Lösung liegt nicht darin, dass ich in einem Ort drei Monate militärische Präsenz zeige und das war es. Wichtiger ist, was ich nach dem Abzug mache. Wie führe ich Reformen auf den verschieden Ebenen Sicherheit, Gesellschaft und Wirtschaft durch? Wie betrachten die Einwohner die Sicherheitsapparate? Z.B. in Diyala haben die Einwohner eine Art Willkür von Seiten der Sicherheitsapparate empfunden, da diese nicht mit den Bürgern in Kontakt gewesen sind und nicht deutlich genug erklärt haben, was sie vorhaben. Das wurde von den Bürgern nicht akzeptiert. [...] Khalaf: Wir haben mit den Bürgern geredet und unsere Ziele erklärt, aber die Zahl der Sicherheitsleute ist enorm und nicht alle sind Engel. Es gibt Fehler, aber sie sind an einzelne Personen gebunden. Jeder, der einen Fehler begangen hat, wird zur Rechen-schaft gezogen. Bis jetzt gab es keine richtige Militär-Operation. Was wir in Diyala gemacht haben, war ein paar Verdächtige festzunehmen und die Minenräumung. Wir haben keine Schüsse abgefeuert. [...]

Abdallah: Zum Thema Vertrauen zwischen den Bürgern und dem Sicherheitsapparat: Es wurde ein Amnestiegesetz verabschiedet. 1.000 Personen haben sich gemeldet. Diese Personen haben bis jetzt keine Garantien bekommen, dass sie nicht noch mal verhaftet oder festgenommen werden. […]

Khalaf: Bezüglich des Vertrauens: Wir haben große Schritte durch zahlreiche Besuche bei Bürgern der Stadt gemacht. Wir vermitteln dabei immer die klare Botschaft, dass wir hier für die Sicherheit und den Wiederaufbau sind. Das Ziel der Polizeipräsenz ist es, Sicherheit zu gewährleisten. Als beispielsweise ein Bürger in Diyala entführt wurde, haben wir 3.000 Sicherheitsleute dorthin geschickt, um ihn zu befreien und wir hatten Erfolg.240

(2) Während des hitzig geführten Gesprächs zur Mahdi-Armee (al-Sumeria/In der Öffentlichkeit/25.08.2008) dürfen Zuschauer anrufen. Es wird eingangs eine Reportage eingespielt, in der sich Passanten zur Mahdi-Armee äußern. Damit wird ein Konflikt der Zentralregierung mit einer nichtstaatlichen gewaltbereiten Gruppierung erstmals und auch nur auf diesem Sender zur Angelegenheit der Bür-ger erklärt.

239 Gesprächspartner hier sind Salim Abdullah, Mitglied des Provinzrats in Dyala, (sunnitische

Tawafuq Front) und General Abdulkareem Khalif, militärischer Leiter der Sicherheitsopera-tion in Dyala.

240 Al-Sumeria/ Irak Kontrovers/26.08.2008.

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8.2 Partizipation

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In der Analyse der Repräsentation von Bürgern und bürgernahen Gruppen offen-bart sich al-Sumeria als vergleichsweise starker Fürsprecher eines partizipativen Demokratieansatzes. Auf keinem anderen Sender erfährt der Bürger vergleich-bare Wertschätzung als Anspruchseigner in einem innenpolitischen Konflikt.

Der Bürger als Wähler

Der schiitische Parteisender al-Furat (Oberster Islamischer Rat im Irak) macht als einziger Sender die kommenden Wahlen, insbesondere die Bedeutsamkeit einer hohen Wahlbeteiligung, zu einem wichtigen Thema in den Nachrichten. Anlass für die Berichterstattung ist in drei von vier Fällen die Durchführung einer Ver-anstaltung zum Thema. In den jeweils ausführlichen Berichten von durchschnitt-lich mehr als drei Minuten werden insgesamt 17 Teilnehmer und Referenten zu Wort gebeten, deren Stellungnahmen sich im Kern um (1) die Bedeutsamkeit der Wahlen, (2) die Bedeutsamkeit der Wahlbeteiligung für den Erfolg der Wahlen, (3) die Bedeutsamkeit und Rolle der Frauen in diesem Wahlgang drehen. Die drei Nachrichten zu den Veranstaltungen werden auf den Plätzen 3 bis 5 am selben Tag (25.08.2008) gesendet und wirken aufgrund dieses Arrangements, der Aus-führlichkeit und des Gleichklangs der Positionen wie ein massiver Motivations-aufruf zur Wahlbeteiligung. Alle Stellungnamen weisen inhaltlich in Richtung derselben Botschaft: Das Schicksal Iraks liegt in den Händen der Wähler.

Auf den anderen Sendern werden weder die anstehenden Wahlen noch die Figur des Wählers in den Nachrichten thematisiert, wohl aber in den politischen Ge-sprächen punktuell aufgegriffen:

(1) Das Gespräch mit dem Präsidenten des irakischen Instituts für Entwick-lung und Demokratie auf al-Sharkiya dreht sich um die anstehenden Provinzwah-len (Der Dialog/31.08.2008). Der Gast spricht von der ‚Enttäuschung der Bürger’ über die Vorherrschaft ethno-konfessionell geprägter Koalitionen und nennt den Boykott von Wahlen ein effizientes politisches Instrument, das für den Ausgang der kommenden Wahlen eine Rolle spielen werde. Ähnlich wie bei al-Sumeria wird die Bedeutsamkeit der Provinzwahlen betont, weil hier auch über die Neu-ordnung der Beziehungen zwischen Zentral- und Provinzregierungen entschieden wird.

(2) Der Journalist Qazim al-Miqdadi kritisiert bei al-Sumeria die irakische Wahlkommission für ihre schlechte Informationspolitik und übernimmt dabei die Rolle des Bürgeranwalts: Die Wähler hätten ein Recht auf Informationen und

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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seien in diesem Recht nicht bedient worden. Sein Gegner in diesem Streit, der Leiter der Wahlkommission Independent High Electoral Commission (IHEC) Qassim al-Abbudi, verteidigt den Erfolg seiner Informationskampagne, bleibt aber im Bild des Bürgers als Wähler mit ausgedehnten Informationsrechten: Al-Abbudi: [...] Die Wahlbehörde IHEC versucht für die Medien maximale Transparenz zu schaffen, was die Vorbereitung der Wahlen anbetrifft. Und auch für die Durchfüh-rung erhalten alle Journalisten offizielle Genehmigungen, um über die Vorgänge in den Wahlbüros zu berichten. Journalisten übernehmen im Irak die Aufgabe der Wahlbe-obachtung und werden von uns darin unterstützt. Al-Miqdadi: Die Wahlbehörde macht Werbung für die Wahlen, aber sie informiert die Medien und die Bürger nicht über die wichtigen Angelegenheiten der Wahl. Die Kam-pagne ist nicht das richtige Konzept, um Wähler zu informieren. Deswegen sind die irakischen Wähler nicht gut auf die Wahlen vorbereitet und sie verstehen auch nicht die Wichtigkeit der kommenden Provinzratswahlen. Al-Abbudi: Wir können die Bürger nicht steuern oder kontrollieren. Wir können nur Transparenz schaffen und zwischen den Bürgern und den politischen Parteien vermit-teln. Unsere Aufgabe besteht darin, die Wahlen zu organisieren und durchzuführen. Wir können und dürfen nicht mehr tun als das. Es ist Aufgabe der Medien, die Bürger zu informieren und sie sind frei, dies zu tun.241

(3) Für Ministerpräsident Issawi besteht die Aufgabe der Bürger darin, Politik zu bewerten.242 Er antwortet auf die Frage nach dem weiterhin schlechten Zustand der Krankenhäuser: „Ob die Lage sich bessert, darüber kann nur der Bürger urtei-len“ und an anderer Stelle: „Veränderungen brauchen Zeit. Wir wollen nichts be-schönigen, sonst schaltet der Bürger den Fernseher aus. Das Stromministerium steht vor zahlreichen Schwierigkeiten. Das alles braucht Zeit.“243 Hier wird Be-reitschaft signalisiert, sich dem Urteil der Wähler auszusetzen und Politik öffent-lich zu rechtfertigen. Gleichzeitig kommen leere Floskeln zum Einsatz – ‚alles braucht seine Zeit’ – und auch die Behauptung, nur die Bürger könnten Verbes-serungen beurteilen, ist gegenstandslos, denn Zustände und Fortschritte in der Ge-sundheitsversorgung sind fraglos objektivierbar. Dennoch erklärt der Minister-präsident die Arbeit seines Ministeriums und die Ziele beim Wiederaufbau der Versorgungsinfrastruktur bereitwillig einem Zuschauer, dessen Aufgabe, kom-plementär zur Rechtfertigung, seiner Auffassung nach in der Beurteilung dieser Pläne und Leistungen in der Rolle des Wählers besteht.

241 Al-Sumeria/ Warum ich wähle/25.08.2008. 242 Al-Iraqiya/ Ein besonderes Treffen/31.08.2008. 243 Al-Iraqiya/ Ein besonderes Treffen/31.08.2008.

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8.2 Partizipation

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8.2.2 Partizipation aus Sicht irakischer Medienproduzenten

Der Funktionsaspekt der Partizipation ist von herausragender Bedeutung für das Selbstverständnis der irakischen Medienproduzenten und nimmt in deren Darstel-lungen eine prominente Rolle ein. Zehn von 17 Medienproduzenten nehmen min-destens einmal im Verlauf des Gesprächs in Anspruch, Sprachrohr für die Prob-leme, Meinungen, Kritik, Hoffnungen und Ängste der einfachen Leute zu sein.

Der Sender als Anwalt und Sprachrohr der Bürger

Für die Redakteurin Nour Salman, den Radiodirektor Haidar Hammad und TV-Produzent Abbass Qassim steht die Teilhabe der Zuschauer und Zuhörer im Mit-telpunkt ihrer Motivation als Medienproduzenten – nicht selten verknüpft mit Ambitionen im Bereich der Versöhnung.244

Dabei geht es den Medienproduzenten nicht um Repräsentation, sondern um Prä-senz. Die Bürger vertreten sich selbst, sie rufen an, werden eingeladen, nehmen teil. Medien werden von den Interviewpartnern als Artikulationsraum gesehen, in dem der Bürger gegenüber den politischen Eliten und Andersdenkenden oder für das Publikum Ansichten und Anliegen formuliert. Medien sind Knotenpunkt öf-fentlicher Kritik und Plattform für den Diskurs der Bürger.

Die Bedeutsamkeit von Partizipation ist für die irakischen Medienproduzenten verankert im Narrativ einer mit dem Sturz des Regimes begonnenen Transforma-tion der Öffentlichkeit von der Unterdrückung in die Befreiung. Meinungsfreiheit markiert darin eine neue Ära politischer Partizipation, deren genuiner Ausdruck die öffentliche Repräsentation der Anliegen auf Seiten der verschiedenen ethno-konfessionellen Gemeinden ist:

Many things were in the dark in the past, like the Shia Ashura days, the Christian church, other ethnic groups like Kurdish, Turkomans etc. The network started showing them and tell the Iraqi people that Iraqi society contains of all those people, not only Arabs and not only the Baath Arabs.245

Eine wesentliche Rahmenbedingung für das Gelingen der Artikulation im oben skizzierten Sinne ist für die Redakteurin Nour Salman wie auch für den Radiodi-rektor Haider Hammad die Unparteilichkeit des Senders. Der Sender selbst steht

244 Liste der Interviewpartner: Annex 1. 245 Ahmed Saloum, Leiter eines lokalen IMN-TV Senders/ Erbil (Irak), Nov. 2008.

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für keine politische Richtung, sondern versteht sich als Resonanzraum für mei-nungsbildende Debatten innerhalb des Publikums und mit dem Publikum:

We tried to be neutral about the trial and the execution. We opened the line for the people in order to give them an opportunity to voice their feelings and their emotions about the issue. Different people gave different feelings: some were against it because they believe that Iraq is not better off without Saddam, others lost members of their family in the times of the regime.246

Politische Neutralität oder umgekehrt politische Einfärbung des Programms wird von diesem Standpunkt aus über die Beteiligung des Publikums reguliert. Das politische Profil eines Radiosenders gibt sich beispielsweise darüber zu erkennen, welche Anrufer on air geschaltet werden. Eine ethno-konfessionell einseitige Auswahl von Anrufern markiert die Parteilichkeit des Senders, während eine aus-gewogene Auswahl Unparteilichkeit signalisiert. Das Profil der Publikumsbetei-ligung wird zum Erkennungsmerkmal für die politische Identität des Senders.

Zain al-Abdeen Badr, redaktioneller Mitarbeiter eines schiitisch-religiösen Part-eisenders, favorisiert mittellose, kranke, benachteiligte und vom Krieg geschä-digte Bürger wie Witwen und Versehrte als Teilnehmer im Programm. Hier ist eine humanitär-anwaltschaftliche Haltung maßgebend, über die auch der Sender sein Profil schärft:

Documentaries, news and political programs reflect the voices of peasants, shepherds, the marginalized people and the poor. We voice the concerns of people who are search-ing for medicine and do not find it, those who suffer from unemployment, those who do not have adequate housing, and people who suffer from lack of services. When these people speak, viewers feel that there are people speaking on their behalf.247

Partizipation als Vermittlung zwischen Regierung und Regierten

Die Partizipationsfunktion ist aufs Engste verbunden mit dem Engagement der Sender als Schnittstelle zwischen Politik und Bürgergesellschaft. Die Herstellung von Interaktion zwischen der einen und der anderen Welt ist in der Programmge-staltung partizipationsaffiner Medienproduzenten von zentraler Bedeutung. Ins-besondere Vertreter von Radiosendern beschreiben vielfach Programme, in denen Regierungsvertreter (1) mit den Problemen und Forderungen einfacher Bürger

246 Nour Salman, Redakteurin und Büroleiterin eines privaten Radiosenders/ Amman (Jorda-

nien), März 2008. 247 Zain al-Abdeen Badr, Nachrichtenredakteur eines TV-Senders einer schiitisch-religiös ge-

prägten Partei/ Interview per e-mail, Dez. 2008.

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8.2 Partizipation

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konfrontiert werden und in denen (2) diesen Regierungsvertretern Lösungen und Erklärungen abverlangt werden. Gegenüber und Bezugspunkt der Artikulation ist in dieser Konstellation die Regierung. Dieses Format der Konfrontation oder Be-gegnung, so die Interviewpartner, habe sich in der gerade entstehenden Demokra-tie als standardisiertes Format etabliert und werde von vielen Sendern in verschie-denen Variationen umgesetzt. Dabei werden im Kern zwei Funktionsaspekte mit-einander verklammert: die Selbstbehauptung der Bürger als Lernziel nach Jahr-zehnten der Unterdrückung und die Rechenschaftspflicht der Politiker als Novum gegenüber der bisher unkontrollierten Aneignung und Ausübung von Regierungs-macht. Zusätzlich entsteht ein Raum der Partizipation, in dem die Bürger den Re-gierenden gegenüber Kritik und Forderungen zum Ausdruck bringen und die Re-gierenden diesen Stellungnahmen öffentlich Aufmerksamkeit widmen und damit Bedeutung geben.

We made them listen to the criticism from the people, straight from the people to the level that the ministry of electricity appointed two people to come on a daily basis to [the station] and sit in our studio and take the complaints from the listeners in our so called service hour. So they sit and they write down the complaints and we follow them until they do something about it.248

Haidar Hammad gibt hier auch eine anwaltschaftliche Haltung zu erkennen, in der es nicht allein um Repräsentation bestimmter Anliegen, sondern auch um de-ren Durchsetzung geht. Der Sender wird dabei zum Partner für die Lösung kon-kreter Probleme.

Der Ausgestaltung und Verbreitung dieses Formats liegt offensichtlich die An-nahme einer problematischen Trennung von Bürgern und Politikern zugrunde so-wie die Notwendigkeit der Überwindung dieser Trennung. Die konkreten Prob-leme der einfachen Leute sollen der Politik zur Leitlinie werden, politisches Han-deln soll auf den Bürger ausgerichtet werden. Die Medienschaffenden nutzen ihre Möglichkeiten, um diese neue Orientierungslinie in der Politik durchzusetzen und damit einer Form politischer Partizipation den Weg zu ebnen, die in der systema-tischen Einbindung der Bürger in den politischen Prozess über den Gang zur Wahlurne hinausgeht. Für die in autoritären Verhältnissen sozialisierten Iraker ist die Kritik an Machthabern jedoch ein unbekanntes Terrain, das nicht von heute auf morgen zu erobern ist. Kritik und Offenheit, Selbstbewusstsein und Eloquenz müssen nach Meinung der Interviewpartner in Lernprozessen erarbeitet werden,

248 Haider Hamad, Gründer, Inhaber und Direktor eines privaten Radiosenders/ Amman (Jorda-nien), Nov. 2007.

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für die idealerweise die Medien Verantwortung übernehmen. Anmar Fadil und Haidar Hammad – Besitzer eines privaten Radiosenders und Leiter eines öffent-lichen IMN-Regionalsenders – meinen am Wandel der Beteiligungsformen er-hebliche Fortschritte bei der Artikulationsfähigkeit der Iraker zu erkennen. So-wohl das Interesse für andere als auch der Mut zur Stellungnahme hätten sich erkennbar positiv entwickelt.

Der Sender als Partner für die Lösung von Problemen

Ein Sender, der sich als Sprachrohr für die Nöte, Sorgen und Ängste der einfachen Menschen versteht, übernimmt – wie bereits angeklungen – auch ein Mandat für die Anbahnung von Problemlösungen. Viele Sender erweitern das Angebot der Artikulation in diesem Zusammenhang um konkrete Hilfsprojekte und -maßnah-men. Omar al-Juburi, Sprecher eines religiös geprägten Radiosenders einer sun-nitischen Partei, berichtet beispielsweise von umfassender Unterstützung, die mehreren Waisenhäusern durch den Radiosender zuteil wird. Die Hilfsprojekte werden über Spenden von Zuhörern finanziert und mit thematischen Sendungen verknüpft, in denen Bewohner und Mitarbeiter der Heime über ihre Lebenslagen berichten. Redakteur Ibrahim al-Rashid berichtet von zwei irakischen Kindern, deren sehr teure medizinische Behandlung im europäischen Ausland mithilfe des privaten Senders organisiert und finanziert werden konnte, für den er arbeitet. Haider Hammad schildert den Anruf einer verzweifelten Frau, die on air um Hilfe bittet und nur wenige Stunden später von einer großen Zahl an Hörern Spenden und Zuwendungen erhalten hat. Andere Sender sind bei der Suche nach Arbeit und Unterkunft behilflich.

Hier übernimmt der Sender Aufgaben, die eher zum Tätigkeitsspektrum von Hilfsorganisationen gehören. Dabei sind Akteure mit islamisch-religiöser Aus-richtung und private Anbieter in diesem Feld eher verortet, als die Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Gerade die sunnitisch-religiösen Sender rich-ten sich an ein Publikum, das von Gewalt, Verhaftungen und Enteignungen vor-rangig betroffen ist und das sich selbst nun in der Rolle des Opfers sieht. Hier wird also das Selbstverständnis der Zielgruppe mit entsprechenden Angeboten adressiert.

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8.2 Partizipation

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Subjektivierung und subjektive Entlastung durch öffentliche Artikulation

Die Realisierung der Artikulationsfunktion ist für die Interviewpartner Ausdruck einer neu gewonnenen Meinungsfreiheit, die immer wieder mit den autoritären Verhältnissen vor 2003 kontrastiert wird. Im Innenraum der politischen Transfor-mation wird auch die Möglichkeit nunmehr befreiter Subjektivierungsprozesse entdeckt, das heißt eine aus der Person heraus gesteuerte Entwicklung von sub-jektiven Interessen und Ansichten, die dem Modell einer von außen aufgezwun-genen Haltung gegenübergestellt wird:

After the collapse of the totalitarian regime, you are left with a public that does not think of and for itself and it does not have an awareness of its existence post or beyond that regime. So it is part of the policy of the radio station to give a platform to the people where they can express their opinions and to learn to respect each other.249

Die Medien übernehmen hier die Funktion von Subjektivierungsagenten in einer Gesellschaft, in der Selbstbehauptung und Eigenwilligkeit bisher als Bedrohung für den Systemerhalt gesehen und eher unterdrückt worden waren. Nach Jahr-zehnten der Verleugnung begibt sich der Bürger auf die Suche nach sich selbst. Es geht um seine Emanzipation als politisches Subjekt und darüber hinaus ganz grundlegend um Selbstfindung als Grundlage der Selbstbestimmung. Anmar Fadil sieht sich hier als Coach eines langwierigen und komplexen Lernprozesses:

Over three years, the language has developed. The listeners started to more actively express their views and gained more courage to do so. In the beginning, they were afraid when talking to the governor or a local government official and debating with them. But later they gained more confidence and realized that we deal with them in an honest way. Listeners and viewers alike underwent this transformation and they were aware that they might achieve something through speaking freely.250

Die Überwindung von Angst und der Aufbau von Selbstbewusstsein sind Gegen-stand dieses Lernprozesses, in dem politische und psychologische Transformation miteinander verschränkt sind.

Interessanterweise wird Subjektivierung konzipiert als Prozess, der sowohl von Individuen als auch von ethno-konfessionellen Gruppen realisiert wird. Für Letz-

249 Nour Salman, Redakteurin und Büroleiterin eines privaten Radiosenders/ Amman (Jorda-

nien), März 2008. 250 Anmar Fadil, Direktor eine lokalen IMN-Radio- und TV-Senders/ Amman (Jordanien), Okt.

2007.

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tere wird es auch darum gehen, die kulturellen Unterschiede zwischen den ver-schiedenen Gruppen in Schwingung zu versetzen, um über die Differenz das ei-gene Profil zu schärfen.

Das öffentliche Sprechen über sich selbst adressiert nach Meinung der Inter-viewpartner also nicht nur andere, namentlich die Regierung, die ihren Aufgaben im Irak bisher nicht gerecht wird. Es wirkt auch auf das Subjekt des Sprechens zurück. In den Gesprächen mit den Interviewpartnern kommen neben dem Sub-jektivierungseffekt auch andere Wirkungen wie Erleichterung und Entlastung zur Darstellung. Der Sprecher erleichtert sich im Sprechen über sich, so die Annahme. Er befreit sich von einer Last. TV-Produzent und Moderator Abbass Qassim er-wartet von der öffentlichen Stellungnahme eine fast therapeutische Wirkung. Als Alternative zur bewaffneten Aktion wird sie dabei auch als Beitrag zur Friedens-sicherung erkannt, denn: Wer sich öffentlich beschweren darf, hat auch ein Ventil für Zorn und Enttäuschung gefunden.

Because my feeling is that people, if they don’t find some way to voice their opinion they will be a very good project, or a very good material to be a car bomb or a bomb. This is what I feel. That is why, when I was trying to cover Falluja I was after the people over there. I wanted to listen to them. Even if they condemn everything. Just listen to them. Just let them be on air. At least they dont feel that they are put away or that they are forgotten. 251

Eine Funktion der öffentlichen Artikulation besteht hier darin, andere Wege der Entladung weniger wahrscheinlich zu machen.

Es soll abschließend auf die kommerzielle Dimension der Partizipation verwiesen werden, die von den Gesprächspartnern selbst nur am Rande erwähnt wird. Die Präsenz von Hörern und Zuschauern im Programm ist im Irak, wo statistische Zahlen über die Anzahl der Hörer/Zuschauer bisher nur für wenige Fernsehsender vorliegen, vor allem im Radiobereich Maßstab für die Popularität des Senders. Je mehr Anrufer, desto größer die Popularität – so die schlichte Gleichung, die auch für Werbekunden ausreichen muss. Darüber hinaus gilt: Interaktive Sendungen sind populäre Sendungen. Gefragt nach der beliebtesten Sendung im Programm verweisen fast alle Interviewpartner auf interaktive Formate. Partizipation ist also nicht nur Maßstab für, sondern auch Motor der Popularität. Drittens verdienen die Sender an jedem Anrufer und jeder SMS Geld. Vor dem Hintergrund eines nach

251 TV-Produzent und Moderator Abbas Qassim/ Erbil (Irak), April 2008.

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8.2 Partizipation

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wie vor nicht vitalen Werbemarkts sind die Einkünfte über die Telefongesell-schaften gerade für Radiosender ein existentieller Baustein in der Finanzierung des Unternehmens. Hier greifen politische und ökonomische Motive ineinander.

8.2.3 Theoriegeleitete Einordnung

Das Selbstbild der Medienproduzenten offenbart zunächst eine sehr weit gehende Identifikation mit dem normativen Konzept einer partizipativen Medienpraxis so-wie Engagement für diese Form der Demokratie (vgl. Kap. 2.3.3). Vorherrschend ist die Idee eines offenen Systems, das einem pluralistischen Diskurs toleranter Bürger dient und in dem ein vielfarbiges Spektrum unterschiedlicher Meinungen verhandelt wird. Pluralität der Ansichten, Freiheit der Äußerung und Offenheit der Öffentlichkeit sind zentrale Parameter, die von den Medienproduzenten für die Praxis irakischer Sender als Anspruch geltend gemacht werden. Viele Produ-zenten sehen damit einen gesellschaftlichen Auftrag im Zentrum ihrer Tätigkeit, der sowohl demokratierelevante Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung ein-schließt – die Menschen müssen die Artikulation von Meinungen und den Streit darum erst erlernen – als auch die Vermittlung von Kommunikation zwischen den Bürgern und ihrer Regierung. Hier zeigt sich eine klare Hinwendung zu partizi-pativen Demokratiekonzepten, die noch vertieft wird durch die in Kapitel 8.1.2 formulierte Kritik an der Instrumentalisierung der Medien durch die politischen Eliten.

Die Aufgabe der Vermittlung dominiert gegenüber dem Konzept der qualifizierenden Deliberation

Sucht man den Bezug zur Theorie im Einzelnen, so wäre zunächst der Zusam-menhang zwischen Kompetenz und Partizipation herauszustellen, der sowohl in den Darstellungen der Interviewpartner als auch bei Habermas von besonderer Bedeutung ist (vgl. Kap. 2.2.2). Grundlegend ist hier das Postulat, dass nur in der aktiven Teilnahme am politischen Diskurs jene Kompetenz erworben werden könne, die den Bürger zum Wähler und Souverän qualifiziere. Im Kompetenzer-werb sehen die Interviewpartner ein Mandat und auch bereits Lernerfolge. Die Menschen seien freier und selbstbewusster geworden, ihre Ansichten in der Öf-fentlichkeit auch gegenüber den Eliten zu artikulieren – so der Eindruck auf Seiten der Anbieter entsprechender Artikulationsoptionen wie Haidar Hammad und Ab-bass Qassim.

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Im Unterschied zu Habermas (1998) wird in den Darstellungen der Inter-viewpartner die Position des Einzelnen aber nicht im Streit, im Austausch der Argumente entwickelt, sondern aus der privaten Sphäre hinausgetragen in die Öf-fentlichkeit als fertiger Standpunkt, der nicht verhandelt, sondern vorgetragen wird. Politische Subjektivierung ist in diesem Bild eine private Aufgabe, die an-gestoßen wird durch die Möglichkeit der Artikulation. Für den Kompetenzgewinn wäre demnach das befreite Sprechen, nicht aber der politische Streit bedeutsam. Bei Habermas (1998) ist dahingegen der demokratische Streit als Wettbewerb der Argumente jener Kontext, in dem individuelle Standpunkte zu politischen Fragen Gestalt gewinnen.

Diese Geringschätzung der politischen Debatte als Kontext der Subjektivierung auf Seiten der Interviewpartner korreliert mit einer Vorrangstellung von Versor-gungsproblemen bei der Frage, zu welchen Themen sich das Mediensystem für die Bürgerpartizipation eigentlich öffnet. Die Auseinandersetzung mit politischen Fragen wird nicht ausgeschlossen, hat aber gegenüber individuellen ‚problems und concerns’ einen deutlich nachgeordneten Stellenwert für die Partizipation. Der Bürger ist primär jemand, der sich über die Artikulation von Sorgen und Prob-lemen aus der privaten Lebenswelt in die Öffentlichkeit einbringt und hier die Lösungen vom politischen System einfordert.

Auch Habermas (1998) sieht die Öffentlichkeit als Resonanzraum für gesamtge-sellschaftliche Probleme, die ihren Ursprung in der privaten Sphäre haben. Aller-dings dient im Konzept der partizipativen Demokratie die Zivilgesellschaft als Scharnier für die Verallgemeinerung individueller Anliegen und deren Übertra-gung in die Öffentlichkeit (vgl. Kap. 2.3.3). Weil dieses Scharnier in der iraki-schen Realität ausgelassen wird, bleibt es bei der Artikulation von Einzelansich-ten, die nur durch das Arrangement zu Gruppen ein gewisses Maß an Verallge-meinerung erfahren. Die Verallgemeinerung privater Anliegen wird also in der vorliegenden Untersuchung nicht durch die Zivilgesellschaft, sondern durch die Medien organisiert, die damit zivilgesellschaftliche Funktionen übernehmen.

Auch in der Analyse der Programminhalte drängt sich eine Vorstellung von Par-tizipation in den Vordergrund, die primär nicht als Deliberation, sondern als Ar-tikulation von Problemen Gestalt gewinnt und in dieser Form auf Resonanz im politischen System ausgerichtet ist. Überdeutlich wird diese Orientierung an der übersteigerten Präsenz von Bürgern in den Nachrichten und einer komplementär weitgehenden Ausgrenzung der Bürger aus Talkformaten sowie an einer klaren

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8.2 Partizipation

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Vorrangstellung der Opferrolle gegenüber dem als politisches Subjekt auftreten-den Bürger.

Instrumentalisierung der Bürger als Statisten in politischen Kampagnen

Die Bürger sind ungewöhnlich umfänglich in allen Nachrichten auf allen Sendern als direkte Sprecher präsent. Speerspitze in dieser Hinsicht ist al-Iraqiya mit 38 Sprechakten von Bürgern in nur drei Nachrichtensendungen, dicht gefolgt von al-Sharkiya mit 34 Sprechakten. In den Nachrichten aller Sender wird damit Bürger-nähe signalisiert. Die Mikrofone recken sich der Straße entgegen, die Aufmerk-samkeit ist weit geöffnet für die Befindlichkeiten der Menschen. Demonstrativ übersteigt die Zahl der Sprechakte auf Seiten der Bürger die der politischen Eliten um ein Vielfaches. Die Frage, in welche Richtung das Mediensystem sich öffnet, ist auf Akteursebene in den Nachrichten unzweifelhaft mit einer Abwendung vom politischen System und einer Hinwendung zu den einfachen Menschen zu beant-worten. Diese Bewegung muss – das legen die Interviews nahe – auch als gezielte Umkehr der Verhältnisse vor 2003 gelesen werden. Die Präsenz der Bürger er-scheint als Spiegelung einer demokratischen Transformation im Fernsehen: Es sind nicht länger die Mitteilungen der politischen Eliten, die die Nachrichten be-herrschen, sondern die Sorgen, Anliegen Interessen und Befindlichkeiten der Bür-ger.

Allerdings vollzieht sich diese Öffnung nicht als tatsächlich offene Bewegung, die sich frei von Eigeninteressen und gleichsam interessiert aufmacht, den Zu-stand der Gesellschaft zu erkunden. Vielmehr lässt sich auf allen Sendern eine offenkundig instrumentelle Selektion von Bürgerauftritten beobachten, die der Erfüllung politischer Ziele dient. Im Fall von al-Sharkiya ist dies die Demontage der amtierenden Regierung, im Fall von al-Iraqiya Erhalt und Festigung bestehen-der Regierungsmacht. Vielzahl und Gleichklang der Stellungnahmen verweisen in beiden Fällen auf den Kampagnencharakter einer Berichterstattung, in der die Bürger als Statisten arrangiert werden.

Rozumilowicz (2002) antizipiert in ihrem Transformationsmodell eine solche anti-demokratische Unterwanderung demokratischer Medienreformen unter dem Begriff der „Inappropriate utilization“ (ebd.: 22; vgl. auch Kap. 3.3.1). Die Re-form von institutionellen Strukturen und Gesetzen wird ihrer Beobachtung nach in der zweiten Phase des Transformationsprozesses häufig überformt von etab-lierten Verhaltensroutinen und Einstellungen, die als Erbe einer autoritären Kultur

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

268

Bestand haben und programmatisch mit der demokratischen Natur der Erneue-rung kollidieren. Die Simulation einer partizipativen Offenheit durch die Insze-nierung von Bürgerauftritten in den Nachrichten kann als ein solches Erbe gese-hen werden.252

Der Signalcharakter, der von einer ausgedehnten Bürgerpräsenz in den Nachrich-ten ausgeht, wird zusätzlich zurückgenommen durch einen weitgehenden Aus-schluss der Bürger und bürgernaher Gruppen aus den Gesprächsformaten, die als Labor für den demokratischen Streit prädestiniert dafür wären, den Bürger in den politischen Prozess einzubeziehen. Dies geschieht nur ganz am Rande, durch ge-legentliche Einspieler und Anrufoptionen. Politik bleibt Sache der Eliten und die von den Interviewpartnern vielfach als bedeutsam erwähnte Begegnung der Bür-ger mit Politikern, die Vermittlung, findet in den untersuchten TV-Sendungen in dieser Form nicht statt.

Der Dialog zwischen Bürgern und Politikern wird bei al-Sharkiya vielmehr ersetzt durch den unvermittelten Auftritt des kritischen Bürgers und die Verdichtung kri-tischer Stellungnahmen zu einer kollektiven Klage gegen die Regierung. Die Kampagne tritt an die Stelle des Dialogs, politische Ziele ersetzen journalistische Ethik.

Die von Pintak (2011) und Hanitzsch (2010) formulierte These von der Identifi-kation arabischer Journalisten mit einer aktivistischen Version ihres Berufs findet hier ihren Niederschlag auf der Ebene von Programminhalten. Das erhärtet zu-nächst die These von einer spezifisch arabischen Auslegung journalistischer Ethik, die sich offen zur Parteinahme bekennt und diese Rolle gegenüber der In-formationsfunktion priorisiert (vgl. Kap. 3.3.5). Auch bestätigt die Verdichtung und Generalisierung unzufriedener Stimmen auf den nichtstaatlichen Sendern die von Hafez (2004) beobachtete Übernahme von Aufgaben oppositioneller Parteien durch Medien in der arabischen Welt (vgl. Kap. 3.3.5). Dabei wird aber die Legi-timität der Regierung auf den oppositionellen Sendern nicht in Zweifel gezogen, sondern allein ihre Leistungsfähigkeit bei der Lösung von Problemen. Die Rolle des change agent besteht im vorliegenden Fall also nicht darin, die Bürger gegen eine illegitime Regierung aufzubringen, sondern einen bürgernahen Diskurs über

252 Auch Merkel (2010) problematisiert die zweite Phase der Transformation (hier: Demokrati-

sierung) als Koexistenz alter und neuer Herrschaftssysteme, die den politischen Akteuren viel Handlungsspielraum gewähre, Desorientierung mit sich bringe und gleichsam das Risiko des Rückfalls in autokratische Herrschaftsformen berge (vgl. ebd.: 104-109; vgl. auch Kap. 3.1).

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8.2 Partizipation

269

ihre Fehlleistungen in den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung einzuspei-sen und damit Druck auf die Regierung aufzubauen.

In Anbetracht der stagnierenden Versorgungslage bei gleichzeitiger wirtschaftli-cher Prosperität muss vermutet werden, dass der Druck nie ausreichend groß wurde, um Veränderungen anzustoßen oder auch nur die Probleme der Menschen auf die Regierungsagenda zu bringen. Mit Hafez (2004) muss an dieser Stelle argumentiert werden, dass es eben nicht genügt, auf medialer Ebene Kritik zu verdichten, wenn gleichzeitig keine Verbindung zu Organisationen im Feld be-steht, die Kritik auch in politische Aktion überführen können. Nur aus einer dich-ten Interaktion zwischen Zivilgesellschaft und Medien kann ein Impuls für Ver-änderung der politischen Verhältnisse hervorgehen (vgl. Kap. 3.3.5).

Tatsächlich werden die Organisationen der Zivilgesellschaft, deren genuine Auf-gabe nach Habermas (1998) in der Vermittlung zwischen Individuen und Öffent-lichkeit besteht, senderübergreifend zugunsten einer direkten Präsenz von Bür-gern ausgespart. Eine mit politischen Anliegen aufgeladene Zivilgesellschaft hat im irakischen Fernsehen kaum Präsenz, was angesichts von 6.000 registrierten zivilgesellschaftlichen Organisationen im Jahr 2008 im Irak Fragen aufwirft: Wa-rum ist die intermediäre Sphäre der Zivilgesellschaft im Wahrnehmungshorizont der Medienproduzenten noch nicht angekommen? Gerade die anhaltend schlechte Versorgungslage lässt eine organisierte Form von Protest angemessen erscheinen. Doch die Zivilgesellschaft scheitert bisher am Eintritt in die Öffentlichkeit, ebenso wie umgekehrt den Medienakteuren der Anschluss an die Zivilgesellschaft misslingt.

Die Vorrangstellung einer passiv-kritischen Haltung unter den Bürgern deutet auf eine Hinwendung zu minimalistischen Demokratievorstellungen

Die vielleicht folgenreichste Beobachtung zur Frage der Partizipation ist die der Rollenzuweisung. Der Bürger zeigt sich als Opfer der Umstände, als Betroffener, dessen Zufriedenheit mit den Versorgungsleistungen des Staates steht und fällt. Gerade bei al-Sharkiya und al-Iraqiya ist dies seine ganz vorrangige Erschei-nungsweise. Ob zornig oder dankbar – der Bürger ist hier nicht eingeladen, um politische Fragen zu diskutieren, sondern bewertet als passiver Empfänger von Zuwendungen die Leistungen des Staates positiv oder negativ. Diese Form der Priorisierung wäre mit Crouch (2015) einzuordnen als Teil einer minimalistischen Demokratiekonzeption, die den Bürger als kritischen Beobachter würdigt, seine

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

270

Teilhabe am politischen Leben aber ablehnt. Als ‚negativen Aktivismus’ bezeich-net Crouch (2015) das Lamento derjenigen, die Verantwortung für Zu- und Miss-stände allein bei den Regierenden sehen und sich im Modus der Beschwerde dau-erhaft eingerichtet haben (vgl. ebd. 23; vgl. auch Kap. 2.2.3). Mit dieser Rollen-zuweisung korrespondiert im irakischen Fall auch die Einschränkung der Teil-habe auf Versorgungsthemen, die sowohl aus der Inhaltsanalyse hervorgeht als auch bereits in den Interviews formuliert wurde. Die Diskussion politischer Kon-flikte und Strategien bleibt Sache der Eliten.

Der privat-kommerzielle Sender al-Sumeria unterscheidet sich in dieser Hinsicht durch eine Hinwendung zur Figur des politischen Subjekts in den Talkformaten, die einhergeht mit einer im Vergleich signifikanten Aufwertung des demokrati-schen Streits in den entsprechenden Programmen. Der einzige kommerzielle An-bieter am Markt unterscheidet sich also von den übrigen Sendern durch konzep-tionelle Merkmale, die eher für eine partizipativ-maximalistische Auslegung von Demokratie sprechen. Es ist aufgrund der kommerziellen Natur des Unterneh-mens davon auszugehen, dass diese Ausrichtung des Senders auf einen bestimm-ten Zuschauertyp auf Basis von Marktforschung erfolgt, was wiederum – das le-gen die Reichweitendaten nahe – mit hohen Einschaltquoten belohnt wird. Man darf also schlussfolgern, dass ein erheblicher Teil des irakischen Fernsehpubli-kums sich eher mit der Figur des politischen Subjekts identifiziert als mit der des passiven Beobachters, der Politik den Eliten überlässt. Dies wird aber nur vom kommerziell-privaten Sender al-Sumeria erkannt und genutzt.

Die Forschungsfrage, ob die irakischen Medienproduzenten sich für das Fortkom-men des demokratischen Projekts im Irak engagieren, kann jetzt mit Verweis auf unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie differenziert beantwortet wer-den: Im Gespräch bekennen sich die Medienproduzenten für eine weitreichende Form der Partizipation und damit für eine maximalistische Version von Demo-kratie, in der die Teilhabe der Bürger am politischen Prozess über den öffentlichen Diskurs eine zentrale Rolle spielt (wobei die Teilhabe an politischen Themen für die Interviewpartner von geringer Bedeutung ist). In der Fernsehrealität wird diese Auffassung von Demokratie nur vom privat-kommerziellen Sender al-Su-meria tatsächlich umgesetzt, während sich alle übrigen Sender der Stichprobe für eine minimalistische Demokratieversion engagieren, die dem Bürger die Rolle des Beobachters und Wählers zuweist.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

271

Ausgeprägte Vielfalt steht für ausgeprägte Offenheit unter Ausschluss des sunnitischen Widerstands

Gerhards und Neidhardt (1990) erklären die Vielfalt von Meinungen im öffentli-chen Raum zum Maßstab für die Offenheit des Mediensystems, mithin für dessen partizipativen Charakter (vgl. Kap. 2.3.3). In der vorliegenden Untersuchung wird die Frage der Vielfalt zunächst mit Blick auf die Parteilichkeit/Unparteilichkeit der Sender in der Konfliktberichterstattung untersucht. Zweitens ist die Präsenz kritischer und oppositioneller Stimmen in der Öffentlichkeit Gegenstand der Ana-lyse. Für beide Dimensionen ergeben sich aus der Inhaltsanalyse hohe Werte: Die Vielfalt der Perspektiven in der Konfliktberichterstattung ist zumindest in der Zu-sammenschau aller untersuchten Sender aufgefächert und im Falle der beiden pri-vaten Sender al-Sharkiya und al-Sumeria auch innerhalb der einzelnen Berichte zu innenpolitischen Konflikten (vgl. Kap. 8.4). Kritische Stellungnahmen zur Re-gierung und zu den politischen Eliten finden sich ebenfalls häufig auf den privaten Sendern, während der öffentliche Sender al-Iraqiya Kritik nur in Form des kritisch nachfragenden Moderators, nicht aber durch Vertreter der Opposition erlaubt. Ausgenommen von jedweder Vielfalt auf allen Sendern sind die Akteure des sun-nitischen Widerstands, gegen die sich das ansonsten offene Mediensystem kon-sequent verschließt. Bei der Ausblendung der Widerstandsbewegung sind die Me-dien in einer Form synchronisiert, die als klar umrissene Einschränkung die Gren-zen der Partizipation markiert.253 Hier darf vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen zur Integrationsfunktion von Partizipation (vgl. Kap. 2.3.3) die Vermutung angeschlossen werden, dass die Radikalisierung islamistischer Grup-pen im Irak, einschließlich der Abspaltung des IS von al-Qaida, durchaus im Zu-sammenhang mit der kategorischen Ausblendung dieser Akteursgruppe aus der Öffentlichkeit zu sehen ist.

8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

Weil der irakische Transformationsprozess sich im Kern als bewaffneter Konflikt vollzieht, ist der Zustand der Demokratie im Irak untrennbar mit dem Auf- und Abschwellen von Gewalt verbunden und damit auch mit der Frage, wie Redak-teure und Journalisten darauf Bezug nehmen. In der vorliegenden Arbeit wird

253 Genauer zu Vielfalt und Ausgrenzung siehe Kap. 8.3.3.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

272

deswegen der Versuch unternommen, auf der Grundlage theoretischer Überlegun-gen zur Konfliktberichterstattung Formen der Konfliktdarstellung voneinander zu unterscheiden und diese ins Verhältnis zu normativ-demokratischen Ansprüchen zu setzen. Konkret steht die Frage der journalistischen Parteinahme im Zentrum der Untersuchung sowie daran anschließend die Frage der Differenziertheit, mit der Konflikte auf unterschiedlichen Sendern zur Darstellung kommen (vgl. Kap. 3.3.7). Mit Wolfsfeld (1997) wird die Auswahl der Informationsquellen in der Berichterstattung hier als Indikator für beide Fragestellungen geltend gemacht so-wie mit Lynch (2002) der mehr oder weniger komplexe Einbezug beteiligter Ak-teure und ihrer Positionen (vgl. Kap. 3.3.8). Im Rahmen der Inhaltsanalyse wurde dementsprechend untersucht, welche Konflikte von welchen Sendern thematisiert werden und wer als Sprecher in den Nachrichten und Talkshows zu welchen Fra-gen Stellung nimmt. Mit Price et al. (2010) stellt sich mit Blick auf die Talkshows zusätzlich die Frage, ob das möglicherweise friedensstiftende Potenzial politi-scher Debatten von irakischen Fernsehsendern gesehen und ausgeschöpft wird.

Aus dem Ein- und Ausschluss von Konfliktparteien in der Konfliktberichterstat-tung soll auch auf die Repräsentation ethno-konfessioneller Vielfalt in den iraki-schen Medien geschlossen werden, denn die Konflikte folgen, wie die Rekon-struktion der politischen Entwicklung in Kap. 5 gezeigt hat, dem Muster ethno-konfessioneller Spaltungen in der irakischen Gesellschaft. Auch spiegelt sich in den Mustern der Konfliktberichterstattung ganz generell der Umgang der Sender mit dem Anspruch journalistischer Unparteilichkeit, die ja als Qualitätsmaßstab vom Berufsstand selbst geltend gemacht wird.254

Die Strukturanalyse (vgl. Kap. 6) hatte diesbezüglich eine ausgeprägte Polarisie-rung der Medienlandschaft sichtbar gemacht, was zur Vermutung einer ebenso polarisierten Berichterstattung Anlass gab. Erste Studien zur Frage der Medien-beteiligung an der irakischen Konflikteskalation kommen zu dem Ergebnis, dass die Beteiligung von den politischen Umgebungsbedingungen bestimmt wird: Je angespannter die politische Situation, desto wahrscheinlicher wird eine positive Rückkoppelung zwischen Gewalteskalation und Parteinahme in den Medien (vgl. al-Marashi 2007).

Ausgehend von eigenen Inhaltsanalysen wird diese These untenstehend geprüft (Kap. 8.3.1) und ergänzt um eine Rekonstruktion der unter Medienproduzenten

254 The Professional Code of Conduct for Iraqi Media: siehe Annex 3; zur Auseinandersetzung mit journalistischen Qualitätskriterien siehe Kap. 2.3.1.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

273

relevanten Positionen zur Frage der Konfliktbeteiligung auf der Basis der im Rah-men der Arbeit geführten Interviews (Kap. 8.3.2). Abschließend werden die Er-gebnisse aus der Analyse in einen theoretischen Kontext gestellt und interpretiert (8.3.3).

8.3.1 Konfliktbehandlung im irakischen Fernsehen

Folgende gewaltförmige Konflikte sind im Erhebungszeitraum gemäß politischer Analyse (vgl. Kap. 5) virulent:255

• Konflikt zwischen al-Qaida/irakischer Aufstandsbewegung auf der einen und irakischer Zentralregierung/multinationalen Truppen auf der anderen Seite (vgl. Kap. 5.3),

• Konflikt zwischen (sunnitisch geprägten) Sahwa Councils und irakischer Zentralregierung (vgl. Kap. 5.8),

• Konflikt zwischen (schiitisch geprägter) Mahdi-Armee und irakischer Zentralregierung (vgl. Kap. 5.9),

• Konflikt zwischen (kurdischer) Peshmerga und Soldaten der staatlichen Armee in Kanaqin (vgl. Kap. 5.6).

Ausgewogene Berichterstattung zu innenpolitischen Konflikten als vorwiegende Form bei al-Sharkiya und al-Sumeria

Die gewaltförmigen Konflikte der Zentralregierung mit den Peshmerga, den Sahwa Councils und der Mahdi-Armee werden bei al-Sharkiya mit hoher Priorität behandelt.256 Kein anderer Sender verwendet auf diese Themenfelder vergleich-bar viel Nachrichtenzeit von insgesamt 24,1 Minuten. Al-Sharkiya positioniert sich damit als Gegenspieler zum öffentlichen Sender al-Iraqiya, der bewaffnete Konflikte in den Nachrichten explizit nicht thematisiert.

255 Als gewaltförmig werden hier innenpolitische Konflikte bezeichnet, die entweder mit Waf-

fengewalt aktuell ausgefochten werden (sunnitisch geprägte Widerstandsbewegung und al-Qaida gegen Staat und Regierung, Sahwa Councils und Peshmerga) oder kürzlich noch aus-gefochten wurden (Mahdi Armee).

256 Die Berichterstattung zum Konflikt der Zentralregierung mit der sunnitisch geprägten Auf-standsbewegung und al-Qaida wird in Abschnitt 4 (Der Kampf gegen den Terrorismus als dominantes Deutungsmuster) gesondert diskutiert.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

274

Tabelle 8.16: Konfliktberichterstattung bei al-Sharkiya* Mahdi-Armee Sahwa Councils Kanaqin

26.08.2008/11min/Pos.8

25.08.2008/0:37min/Pos.23

31.08.2008/0:15min/Pos.7

25.08.2008/10min/Pos. 9

26.08.2008/0:30min/Pos.4

26.08.2008/1min/Pos.4a

25.08.2008/0:44 min/Pos.4

*Eigene Darstellung

Auch al-Sumeria berichtet in einem Zeitfenster von insgesamt 9,52 Minuten aus-führlich, wenngleich weniger ausgedehnt, über die genannten Konflikte.

Tabelle 8.17: Konfliktberichterstattung bei al-Sumeria* Mahdi-Armee Sahwa Councils Kanaqin

28.08.2008/0:18 min/Pos. 4 28.08.2008/3:34 min/Pos 2 28.08.2008/3min/Pos. 3

25.08.2008/3 min/Pos. 4

*Eigene Darstellung

In der Analyse der Konfliktbehandlung auf den beiden privaten Sendern fällt zu-nächst eine umfassende Inklusion von Konfliktparteien und ihren Perspektiven als prägendes Merkmal vieler Beiträge ins Auge. Dies trifft insbesondere auf die Berichterstattung über die Sahwa Councils auf beiden Sendern und zusätzlich auf die Berichterstattung über die Konflikte in Kanaqin bei al-Sharkiya zu.

(1) Der Konflikt der Zentralregierung mit den Sahwa Councils ist bei al-Sharkiya am 25.08.2008 Gegenstand eines sehr langen Beitrags von fast zehn Mi-nuten auf Platz 9. Im Mittelpunkt steht die gerade lancierte Offensive der iraki-schen Regierung gegen die Führung der Sahwa Councils in Diyala/Saida und die Verhaftung von sechs Mitgliedern im Zuge der Operation.

Der Konflikt wird als Dreieck behandelt, an dem die Amerikaner, die irakische Regierung und die Sahwa Councils beteiligt sind. Vertreter aller drei Parteien er-läutern ihre Positionen in den Nachrichtenbeiträgen, wobei die irakische Zentral-regierung nicht wie die anderen direkt spricht, sondern Mitarbeiter des Innenmi-nisteriums indirekt und anonym zu den Festnahmen zitiert werden. Der Sprecher des amerikanischen Außenministeriums sowie ein Sprecher der Sahwa Councils werden telefonisch befragt, was als Privileg und Aufwertung zu begreifen ist bei insgesamt nur sechs direkten Sprechakten im gesamten Datensatz zu Nachrichten bei al-Sharkiya überhaupt.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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Tabelle 8.18: Berichterstattung über Sahwa Councils bei al-Sharkiya * 25.08.2008 9:51 min/Pos. 9

Sicherheitskräfte starten Offensive gegen Sahwa Councils in Sayda

A1 Nachrichtenspre-cher

Sicherheitskräfte haben begonnen, gegen die Führung und ge-gen Mitglieder der Sahwa Councils in Irak vorzugehen; in Diyala wurden bereits sechs Führungskräfte der Sahwa-Bewe-gung festgenommen.

A1 Nachrichtenspre-cher

Zitiert anonyme Quellen aus dem Innenministerium wie folgt: Gegen eine große Zahl von Anführern der Sahwa-Bewegung wurden Haftbefehle erlassen; die entsprechenden Verhaftun-gen werden im Rahmen der Offensive jetzt vorgenommen; die irakische Regierung ist fest entschlossen, die Rolle der Sahwa im Irak zu beenden. Etwa 5 % der Kämpfer sollen in die Armee übernommen werden. Irakische Truppen haben Durchsuchun-gen in Sekhi durchgeführt, Sahwa-Mitglieder festgenommen und Waffen konfisziert.

A1 Nachrichtenspre-cher

Zitiert Parlamentsmitglied Ghalal al-Sagheer wörtlich: ‚Die Tage der Sahwa Councils im Irak sind gezählt.’

A2 Michael Plate (Sprecher des US-amerikanischen State Departments)

Telefoninterview: Sahwa Councils spielen eine wichtige Rolle für den Irak auf dem Weg zu mehr Stabilität, denn sie haben gezeigt, dass die Iraker Gewalt und Terrorismus ablehnen. Am Ende aber müssen die Iraker über ihre Zukunft selbst entschei-den. Wir unterstützen den Irak im Kampf gegen den Terroris-mus und deswegen unterstützen wir auch die Sahwa Councils. Wir arbeiten Hand in Hand mit der irakischen Regierung, mit den irakischen Bürgern und den internationalen Truppen für Si-cherheit und Wiederaufbau im Irak.

A3 Samir al-Tamimi (Sprecher des Gene-ral Council der Sahwa im Irak)

Direkte Stellungnahme: Dies ist nicht das erste Mal, dass solche Operationen angekündigt werden. Die Regierung hat zugesagt, die Sahwa-Kämpfer in den Sicherheitsapparat zu integrieren – 50 % dieses Jahr und den Rest nächstes Jahr.

*Beispiel, eigene Darstellung

Die Zurücksetzung der irakischen Regierung durch das indirekte Zitat (versus di-rekter Sprechakt der Antagonisten) könnte als geringfügige Einschränkung einer ansonsten umfassenden Inklusion aller beteiligten Parteien bewertet werden.

(2) Auch die Berichterstattung zu Kanaqin ist bei al-Sharkiya gekennzeichnet vom konsequenten Einbezug aller Konfliktakteure. Es geht um den Rückzug der irakischen Armee aus Kanaqin infolge von Demonstrationen vor Ort und infolge von politischem Druck durch die kurdische PUK. Die Berichterstattung ist verteilt auf neun Nachrichten an allen drei Tagen mit einem Umfang von insgesamt vier Minuten. Als konfliktbeteiligte Akteure werden mit jeweils eigenen Positionen

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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die Peshmerga gehört, die irakische Armee, die beiden Regierungen sowie Bür-ger. Die Auswahl der genannten und sprechenden Akteure spiegelt relative Aus-gewogenheit in Hinblick auf die im Konflikt virulenten Positionen, aber auch im Hinblick auf die vertikale Repräsentation: Bürger und bürgernahe Gruppen sowie Regierungsvertreter, Militär und regierungsnahe Eliten werden als Beteiligte ins Spiel gebracht. Der Anspruch der Integration wird also sowohl in die vertikale als auch in die horizontale Dimension der Berichterstattung ausgedehnt. Alle Seiten kommen zu Wort, alle Perspektiven werden berücksichtigt. Wie bereits in der Be-richterstattung zu den Sahwa Councils gibt es eine geringfügige Hinwendung zu regierungskritischen Positionen der protestierenden Bürger und zur Stellung-nahme des kurdischen Militärs, deren Erläuterungen zusammengenommen die Stellungnahme des irakischen Kommandeurs im Hinblick auf Zeitumfang und Anzahl übertreffen.

(3) Ähnlich wie al-Sharkiya widmet sich der private Sender al-Sumeria an ei-nem einzigen Tag (28.08.2008) mit einer ausführlichen Erörterung von 6:34 Mi-nuten (zwei Nachrichten) dem Konflikt zwischen der Zentralregierung und den Sahwa Councils. Dabei geht es, anders als bei al-Sharkiya, nicht um den Kern-konflikt, sondern um einen Nebenschauplatz: Kurz vor Abzug der Amerikaner aus al-Anbar entbrennt ein Streit zwischen der Zentralregierung in Bagdad und den Sahwa Councils in al-Anbar über die Versetzung des dortigen Polizeichefs al-Dulaimi nach Bagdad. Die Sahwa Councils protestieren, die Sicherheitslage verschlechtert sich sofort, der Abzug der amerikanischen Truppen wird verscho-ben. Auch hier fällt auf, dass Vertreter aller beteiligten Parteien in den Nachrich-ten von al-Sumeria zu Wort kommen: die Amerikaner, die irakische Regierung, das Militär und die Sahwa Councils. Es fällt des Weiteren auf, dass sowohl bür-gernahe Gruppen als auch Regierungsvertreter und politische Eliten unter den Sprechern sind: Militär, Innenminister, Polizist, Sprecher und Vertreter des Pro-vinzrats. Die Prinzipien der horizontalen und vertikalen Ausgewogenheit, Voll-ständigkeit und Unparteilichkeit werden auch in diesem Fall geradezu vorbildlich erfüllt – allein die Bürger treten als Stakeholder nicht in Erscheinung.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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Tabelle 8.19: Berichterstattung über Sahwa Councils bei al-Sumeria * 28.08.2008 3:34 min/Pos. 2

Verschiebung der Übergabe der Sicherheitszuständigkeit an lokale Sicherheitskräfte in al-Anbar

A1 Nachrichtenspre-cher

Die Übergabe der Sicherheitszuständigkeit an lokale Sicher-heitskräfte in al-Anbar wurde verschoben. Der Grund für die Verzögerung ist ein Streit zwischen den Sahwa und der islami-schen Partei des Vize-Präsidenten Al-Hashimi. Die Partei hat den Polizeichef von Anbar Al-Dulaimi ausgetauscht, entgegen der vorigen Vereinbarung.

A2 Reporter S.o., das Innenministerium hat den Polizeichef in den Innen-dienst versetzt. Der Sahwa-Rat beschuldigt die Regierung, die qualifizierten Beamten aus Anbar gezielt abzuziehen.

A3 Hamid Al-Hayes, Vorsitzender des Provinzrates von al-Anbar

Wir fordern vom Innenministerium, dass die Entscheidung rückgängig gemacht und Al-Dulaimi zurück nach Anbar ver-setzt wird.

A4 Mahmud al-Nattah, Sprecher Provinzrat al-Anbar

Es gab eine Massenkündigung bei der lokalen Polizei als Pro-test gegen diese Entscheidung.

A5 Rashid Nayef, Polizist

Die Sicherheitslage ist seitdem schlechter geworden.

A6 Al-Sheikh Jaber Mahmud, Provinzrat

Wir fordern, dass die Polizisten eine feste Anstellung bekom-men.

28.08.2008 3 min/Pos. 3

Innenminister Jawad al-Bulani: Versetzung von Al-Du-laimi ist administrative Entscheidung

A1 Nachrichtenspre-cher

Zitiert Innenminister indirekt: Innenminister hat Anschuldi-gungen zurückgewiesen, hinter der Versetzung stünden politi-sche Motive. Die Entscheidung sei rein administrativ begrün-det.

A2 Reporter Der Innenminister hat Anschuldigungen zurückgewiesen, das die Versetzung politisch motiviert sei. Die Entscheidung sei rein administrativ begründet. Der Abzug der Koalitionstruppen liegt in der Entscheidungsgewalt der Amerikaner.

A3 Innenminister Ja-wad al-Bulani

Direkte Stellungnahme: Hinter der Versetzung stehen keine po-litischen Motive. Es ist eine rein administrative Entscheidung. Wenn die Amerikaner abziehen, brauchen wir die Hilfe des ira-kischen Militärs.

A4 General Frank, internationale Trup-pen

Direkte Stellungnahme: Der US-Präsident soll entscheiden, ob die Truppen aus Anbar abgezogen werden.

*Beispiel, eigene Darstellung

Die Unparteilichkeit der Berichterstattung über die bislang genannten Fälle und das offensichtliche Bemühen um angemessene Repräsentation sind zunächst mit Blick auf den gängigen Vorwurf der Parteilichkeit bemerkenswert, der insbeson-dere al-Sharkiya in der Literatur vielfach entgegengebracht wird. Zweitens muss

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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sowohl Umfänglichkeit als auch Ausgewogenheit der Berichterstattung zu innen-politischen Konflikten im Zusammenhang mit einer komplementären Leerstelle beim öffentlichen Sender al-Iraqiya und dem schiitisch-geprägten Sender al-Furat gesehen werden, die beide zu innenpolitischen Konflikten nicht berichten.257 Die Vermutung drängt sich auf, dass die Nachrichtenredaktionen in der Auswahl ihrer Themen aufeinander Bezug nehmen.

Zusammenfassend ließe sich über die Konfliktberichterstattung bei den beiden privaten Sendern al-Sumeria und al-Sharkiya vorläufig an dieser Stelle festhalten, dass dem journalistischen Anspruch der Unparteilichkeit und Ausgewogenheit in weiten Teilen, insbesondere zum akuten Konflikt mit den Sahwa Councils, Folge geleistet wird. Die Berichterstattung über die zentralen innenpolitischen Konflikte erscheint bei beiden Sendern im Hinblick auf die Inklusion von Sprechern und Akteuren vertikal und horizontal an Integration orientiert. Die dennoch erkennba-ren Defizite sind von Umfang und Art her nicht geeignet, den Gesamteindruck der Unparteilichkeit auszuräumen.

Einseitige Berichterstattung zu innenpolitischen Konflikten als randständige Form bei al-Sumeria und al-Sharkiya

Die oben skizzierte Unparteilichkeit in der Konfliktdarstellung bei al-Sharkiya wird nicht auf alle Themen einschränkungslos ausgedehnt, sondern findet ihre Grenzen in der Berichterstattung zur Transformation der Mahdi-Armee von einer bewaffneten zu einer sozialen Organisation (vgl. Kap. 5.9). Drei Nachrichten von insgesamt 11:52 Minuten werden dem Thema gewidmet. Bestandteil der Bericht-erstattung ist ein sehr langes Interview von elf Minuten am 26.08.2008 (Platz 8) mit einem Statthalter der Sadr-Bewegung in London, Baha al-Aragy, in dessen Zentrum die Frage steht, ob die Waffen der Mahdi-Armee entgegen anders lau-tender Gerüchte tatsächlich ruhten. Al-Aragy dementiert, dass Soldaten der Mahdi-Armee weiterhin an Kämpfen beteiligt seien, und macht Feinde der Sadr-Bewegung verantwortlich für bewaffnete Aktionen, die im Namen der Mahdi-Armee ausgeführt werden.

Das elfminütige Interview ragt aus dem Fluss der Nachrichten wie ein Fremdkör-per. Die Fragen des Journalisten sind weder kritisch noch informiert, es gibt kei-

257 Siehe Abschnitt 3 im vorliegenden Kapitel: Ausblendung von Konfliktthemen in den Nach-

richten bei al-Furat und al-Iraqiya.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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nen begleitenden Bericht, keine Kritik, keine Gegenposition – es wird kein jour-nalistischer Rahmen für das Interview geschaffen. Stattdessen wird der Sadr-Be-wegung eine Plattform für politische Öffentlichkeitsarbeit geboten.

Einseitigkeit findet sich auch bei al-Sumeria in der Berichterstattung über die Lage in Kanaqin, die ausschließlich aus kurdischer Perspektive zur Darstellung kommt. In einem dreiminütigen Bericht (25.08.2008/Pos. 4) wird über die Ver-treibung der Peshmerga aus den Regierungsgebäuden in Kanaqin berichtet. Ne-ben Vertretern der kurdischen Regierung, die unmäßige Gewaltanwendung der irakischen Armee beklagen, werden keine anderen Betroffenen oder Beteiligten gehört.

In Anbetracht einer ansonsten gut austarierten Konfliktberichterstattung, die reich ist an Perspektiven und die weder Komplexität noch Inklusion widersprüchlicher Positionen scheut, erscheinen die hier skizzierten Fälle von Einseitigkeit eher als randständiges Phänomen auf beiden Sendern.

Ausblendung von bewaffneten Konflikten in den Nachrichten bei al-Furat und al-Iraqiya

Das journalistische Gegenstück zur differenzierten Konfliktberichterstattung fin-det sich bei dem öffentlichen Sender al-Iraqiya und dem schiitisch geprägten Par-teisender al-Furat. Die drei zentralen innenpolitischen Konflikte der staatlichen Armee mit „Vetomächten“ (Merkel 2010) werden auf beiden Sendern weder in den Talkshows noch in den Nachrichten aufgegriffen.258

Zu den Konflikten in Kanaqin gibt es bei al-Iraqiya keine Berichterstattung aber drei Nachrichten, die den Fortschritt der staatlichen Armee im Kampf gegen den Terrorismus in Diyala im Rahmen der Sicherheitsoperation Bashair al-Khair auf-greifen.259 Berichtet wird über Erfolge der Sicherheitsoperation aus Sicht des Mi-litärs. Zitiert werden Vertreter der staatlichen und der internationalen Truppen sowie Regierungspolitiker. In den Darstellungen dieser Sprecher geht es um die

258 Gemeint sind hier die gewaltförmigen Konflikte mit den Sahwa Councils, der Mahdi-Armee und den Peshmerga in Kanqin; Berichterstattung zu al-Qaida und der irakischen Aufstands-bewegung findet sich auf beiden Sendern und wird im anschließenden Abschnitt 3 des vorlie-genden Kapitels diskutiert: Der Kampf gegen den Terrorismus als dominantes Deutungsmus-ter.

259 25.08.2008 (Pos. 13/ 3min) Ausstellung konfiszierter Waffen in Diyala; 31.08.2008 (Pos. 10/2:20 min) Pressekonferenz zu den Fortschritten der Operation Bashair al Khair; 31.08.2008 (Pos. 16 /3:14 min.) Mehr Sicherheit in Diyala durch Operation Bashair Khair.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

280

Sicherheit der Bürger und die Wiederherstellung von Normalität in Diyala. Auf das grundlegende Problem der umstrittenen Gebiete und auf die Konflikte mit den Bewohnern in Kanaqin und den kurdischen Peshmerga wird kein Bezug genom-men. Vielmehr wird der politische Konflikt zwischen den kurdischen Peshmerga und der irakischen Zentralregierung dem Kampf gegen den Terrorismus zugeord-net und noch verengt auf das Narrativ Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus. Die kurdischen Peshmerga werden in dieser Übertragung implizit als Terroristen etikettiert.

Obwohl eine Einigung mit den Sahwa Councils und ihre Eingliederung in die staatliche Armee entscheidend für die Sicherheit und Stabilität im gesamten Land ist und obwohl alle privaten Sender und alle Zeitungen darüber ausführlich be-richten, gibt es im Rahmen der Nachrichtensendungen auf beiden Sendern keine Berichterstattung zum Thema.

Die kategorische Nichterwähnung von Konflikten in allen fernsehpublizistischen Formaten muss beim öffentlichen Sender al-Iraqiya mit Blick auf die innenpoliti-sche Relevanz der Ereignisse und auch im Kontrast zur Berichterstattung auf an-deren Sendern als politisch motivierte Ausblendung unliebsamer Themen inter-pretiert werden. Damit wird al-Iraqiya in seiner Funktion als öffentlicher Dienst-leister seiner Aufgabe zur Informationsvermittlung keineswegs gerecht und auch das Recht der Bürger auf Rechtfertigung wird nicht eingelöst.

Gegenüber einem bekennenden Parteisender wie al-Furat werden zwar keine öf-fentlich-rechtlichen Ansprüche gehegt, dennoch muss auch hier die gezielte Nicht-Information der Zuschauer aus normativer Sicht problematisiert werden.

Kampf statt Konflikt: Der Kampf gegen den Terrorismus als dominantes Deutungsmuster

Die Berichterstattung zum Konflikt der Zentralregierung mit den verschiedenen Akteuren des sunnitischen Widerstands und al-Qaida folgt senderübergreifend dem dominanten Narrativ vom Kampf gegen den Terrorismus, indem der sunni-tische Widerstand pauschal als Terrorismus delegitimiert und mit al-Qaida gleich-gesetzt wird. Auch politisch diametral aufgestellte Sender wie der öffentliche al-Iraqiya und der private sunnitisch-geprägte Sender al-Sharkiya sind in diesem Themensegment über ein schematisches Deutungsmuster synchronisiert. Zentrale Merkmale der Gleichschaltung sind (1) der Verzicht auf Kontextinformationen zu

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

281

sogenannten Sicherheitsereignissen, d.h. zu Bombenanschlägen, Attentaten, Fest-nahmen, Waffenfunden, (2) Dominanz von Sprechern aus dem Militär sowie (3) Abwesenheit von Sprechern aus dem Kreis der sunnitischen Widerstandsbewe-gung.

Konkret bringt al-Sharkiya 23 Meldungen über Bombenattentate/Anschläge ei-nerseits und Waffenfunde/Verhaftungen andererseits mit einem Zeitumfang von 10:12 Minuten. Jede Meldung dauert im Durchschnitt etwa 26 Sekunden. Sicher-heitsnegative Ereignisse halten sich hier die Waage mit sicherheitspositiven Er-eignissen.260 Es gibt keine Sprecher und keinen Kontext, nur isolierte Ereignisse und gesichtslose, nicht benannte Täter und Soldaten. Der privat-kommerzielle Sender Al-Sumeria bringt sechs Nachrichten im The-menbereich Sicherheit von insgesamt knapp 15 Minuten und einer durchschnitt-lichen Länge von 2:30 Minuten.261 Anders als bei al-Sharkiya widmet sich al-Sumeria den einzelnen Ereignissen also eher umfänglich, die unkritische Über-nahme des dominanten Terrorismus-Narrativs bleibt aber nachrichtenübergrei-fend erhalten. In dem untenstehenden Beispiel eines Berichts über die Sicherheits-lage in Mosul werden entsprechend keine Konflikte, sondern Sicherheitspläne, die Sicherheitslage und Sicherheitsoperationen thematisiert.

260 Als sicherheitsnegative Ereignisse sollen hier Rückschläge der staatlichen Armee verstanden

werden, sicherheitspositive Ereignisse sind Erfolge der staatlichen Armee gegen ihre Gegner im Feld.

261 Der Themenbereich Sicherheit umfasst Attentate, Verhaftungen von Terroristen, Waf-fenfunde/Ausstellungen von Waffenfunden, allgemeine Nachrichten zur Sicherheitslage, Nachrichten über Terrorismus/Terroristen.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Tabelle 8.20: Berichterstattung über Sicherheit bei al-Sumeria 25.08.2008 2:28 min/Pos.5

Konferenz über Sicherung der Grenzen zu Syrien

A1 Nachrichtenspre-cher

In al-Anbar ist heute eine Konferenz über die verbesserte Si-cherung der Grenzen nach Syrien zu Ende gegangen.

A2 Reporter In al-Anbar ist heute eine Konferenz über die verbesserte Si-cherung der Grenzen nach Syrien zu Ende gegangen. Es sollen neue Maßnahmen ergriffen werden, z.B. durch Erdwälle und Gräben, um die Grenze zu schützen.

A3 General Muhsin al-Kaabi

Die Armee und die Grenzpolizei arbeiten zur Sicherung der Grenze eng zusammen.

A4 General der Koa-litionstruppen John Kelly

Es sollen neue Maßnahmen ergriffen werden, z.B. durch Erd-wälle und Gräben, um die Grenze zu schützen.

A5 Polizeihaupt-mann Tariq Yussif al-Asali

Die Sicherheitslage an der Grenze ist heute viel besser als frü-her.

* Beispiel, eigene Darstellung

Festnahmen gelten entweder Terroristen oder Mitgliedern von al-Qaida; Attentate werden in keinen politischen Kontext gestellt. Am zeitlichen Umfang gemessen wird den positiv konnotierten Beiträgen wie Festnahmen, Waffenfunden, Verbes-serung der Sicherheit etc. beim privat-kommerziellen al-Sumeria genauso viel Zeit eingeräumt wie den negativen Meldungen.

Die „irakische Aufstandsbewegung“ (Steinberg 2006) wird im dominanten Ter-rorismus-Frame pauschalisiert und deren Anhänger oder Mitglieder kollektiv als Terroristen etikettiert, die Sicherheitsprobleme verursachen. Die Akteure bleiben unsichtbar, ihre Anliegen werden niemals thematisiert. Die Berichterstattung kreist um Bombenanschläge/Attentate einerseits und Festnahmen/Waffenfunde andererseits sowie um Verbesserung oder Verschlechterung der Sicherheitslage in einer Stadt oder Provinz. Es wird ausschließlich aus der Perspektive des Staates berichtet und dominant aus der Perspektive des irakischen Militärs. Wer genau hinter den Anschlägen steht, wessen Waffen gefunden wurden und welche Ziele die Attentäter verfolgen, ist nicht Gegenstand der Nachrichten in diesem Segment geschweige denn Ursachen oder Hintergründe zur Entstehung der Aufstandsbe-wegung.

Der öffentliche Sender Al-Iraqiya verengt die Nachrichtenselektion auf Erfolgs-meldungen im Kampf gegen den Terrorismus und berichtet nicht über Anschläge

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

283

oder Attentate.262 Alle zehn Nachrichten (22:43 Minuten) im Themensegment Si-cherheit/Terrorismus sind ausschließlich Fortschritten der Regierung in der Ter-rorismusbekämpfung und Verbesserung der Sicherheitslage gewidmet: Erfolge der Sicherheitsoperationen Bashair al-Khair und Farad al-Qanun in Diyala, Fest-nahmen und Sicherstellung von Waffen, Aufbau der Polizei und neue Strategien der Terrorismusbekämpfung, verbesserte Sicherheitslage in Diyala und Irak all-gemein sowie Rückkehr von Studenten an die Universität aufgrund verbesserter Sicherheitsbedingungen – das sind die Themen in diesem Feld. Bei der Auswahl der Sprecher ist der Sender um eine breite Streuung bemüht. Es sprechen sowohl Vertreter des Militärs und hochrangige Regierungspolitiker als auch Bürger und Gouverneure aus den sicherheitsproblematischen Provinzen Diyala und al-Anbar sowie Mitarbeiter der Polizei. Auch in Nachrichten, die eigentlich anderen The-menfeldern zugeordnet sind, werden insgesamt 22 Mal Stellungnahmen von Bür-gern zur verbesserten Sicherheitslage eingewoben (vgl. Kap. 8.3.1). Die Auswahl der Ereignisse und der Zuschnitt der Nachrichten in diesem Segment zielt recht unverhohlen auf die Vermittlung der zwei Botschaften: (1) Im Kampf gegen den Terrorismus werden täglich Fortschritte gemacht. (2) Die Sicherheit hat sich in einem auch für die Bürger spürbaren Maße verbessert.

Ähnlich wie bei al-Iraqiya stehen auch beim schiitisch-geprägten Parteisender al-Furat Erfolge bei der Bekämpfung von Terrorismus und die Verbesserung der Sicherheitslage im Vordergrund der Berichterstattung zu sogenannten Sicher-heitsthemen, die bei al-Furat mit einem Durchschnitt von 3:86 Minuten jeweils sehr lang sind (15:42 min/5 Nachrichten). Über Anschläge und Anschlagsopfer wird ebenfalls nicht berichtet. Auch politische Konflikte werden nicht themati-siert, obwohl alle Nachrichten in diesem Themenfeld Bezug auf Ereignisse in der Grenzprovinz Diyala nehmen, in der mit Kanaqin auch ein wichtiges Konflikt-zentrum gelegen ist. Im Unterschied zu al-Iraqiya überschreitet al-Furat das Prin-zip der Auslassung noch mit offenen Bewertungen und Stellungnahmen durch eigene Reporter in der Berichterstattung, wie der folgende Abschnitt zeigt.

262 Im Erhebungszeitraum wurden mindestens 63 Anschläge und 158 Tote gezählt (vgl. Kap.

3.8).

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

284

Offene Parteinahme und Öffentlichkeitsarbeit in den Nachrichten bei al-Furat

Zusätzlich zu den sicherheitspositiven Nachrichten gibt es beim schiitisch gepräg-ten Parteisender al-Furat vier Beiträge von jeweils vier bis fünf Minuten, die sich um die erfolgreiche Zerschlagung von al-Qaida, Versöhnung und um die insge-samt verbesserte Sicherheitslage drehen. Al-Furat-Reporter zeigen in diesen län-geren Reportagen eine exponierte Neigung zur persönlichen Stellungnahme. Dar-über hinaus wird das Nachrichtenprogramm genutzt, um den Parteivorsitzenden, die Partei, Parteimitglieder und die hauseigene Stiftung Shaheed al-Mihrab (Mär-tyrer der Gebetsnische) zu bewerben. Konkret wird wie folgt berichtet:

Am 31.08.2008 wird in einem langen Bericht von fünf Minuten (Platz 7) über die Niederschlagung der Terroristen durch die staatlichen Truppen berichtet. Neben einer Reihe von Festnahmen und Waffenfunden werden vor allem die Loyalität der Bürger mit der Armee und die Ablehnung von Terrorismus und al-Qaida unter den Irakern als Grund für die verbesserte Sicherheitslage thematisiert. Dazu kom-men drei Passanten zu Wort, aber es ist vor allem der Reporter selbst, der eupho-risch über die Erfolge der Regierung und die Unterstützung der Bürger folgende Worte an die Zuschauer richtet:

Laut staatlichen Stellen hat die breite Unterstützung der Sicherheitskräfte durch die Be-völkerung zu einem landesweiten Rückgang terroristischer Aktionen um ein Drittel ge-führt. Es wird deutlich: Die Regierung hat den Terror besiegt. [...] Der Irak hat in der Logistik und auf dem Feld gegen al-Qaida gewonnen!263

Diese Form der deutenden und kommentierenden Berichterstattung ist ein typi-sches Merkmal der Nachrichtenproduktion bei al-Furat und unterscheidet die hier durch aktive Stellungnahme gezeigte Parteilichkeit von den im Vergleich subtilen Formen der anderen Sender, die ihre Parteinahme eher durch Selektion von Sprechakten, Sprechern und Ereignissen zu erkennen geben, als durch die offene Stellungnahme ihrer Reporter. Zur vollen Entfaltung kommt der kommentierende Reporter aber erst in der Berichterstattung über verschiedene Veranstaltungen zu den Wahlen, die von den Reportern vor Ort zum Anlass für eine sehr umfangrei-che, sehr positive Bewertung dieser Ereignisse genommen werden.264

263 Al-Furat/31.08.2008/5min (Pos.7). 264 Siehe dazu auch Kap. 8.1.1 Abschnitt 3: Nachrichten als Exekutive parteipolitischer Öffent-

lichkeitsarbeit bei al-Furat und al-Iraqiya.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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Andere Nachrichten zu Konfliktthemen haben im Kern Aktivitäten von Parteiper-sonal zum Gegenstand. Der Parteivorsitzende des SIIC, Abdul Aziz al-Hakim, eröffnet eine Tagung der hauseigenen Stiftung Shaheed al-Mihrab mit einer Rede über die Segnungen der Freiheit und den Kampf gegen den Terrorismus, von der fast vier Minuten ungeschnitten und unkommentiert im Nachrichtenprogramm übertragen werden. Daran anschließend wird sieben Minuten lang die Rede eines SIIC-nahen Geistlichen übertragen, die dieser in Samarra zum Gedenken an die Zerstörung des al-Askari-Schreins im Jahr 2006 hält. Im Mittelpunkt der Rede stehen die historische Rolle der Schiiten in der irakischen Gesellschaft und die Versöhnung zwischen Schiiten und Sunniten.

In der Zusammenschau ist die Berichterstattung bei al-Furat zu ethno-konfessio-nellen Konflikten als äußerst unrealistisch zu bewerten. Sicherheitsnegative Er-eignisse werden aus der Nachrichten ausgeschnitten, die Sicherheitslage wird ak-tiv und unsachlich von den Reportern beschönigt, der Kampf gegen den Terroris-mus wird als beendet erklärt, führendes Parteipersonal wird in den Vordergrund der Nachrichten gerückt, während über die tatsächlich virulenten Konflikte im Land überhaupt nicht berichtet wird. Damit wäre das Nachrichtenprogramm von al-Furat in diesem Themensegment als Instrument politischer Öffentlichkeitsar-beit einzuordnen. Die Funktion des Programms besteht nicht in der Bereitstellung von Informationen, sondern in der Vermittlung von interessensgeleiteter Reali-tätsdeutungen.

Ein- und Ausschluss von Streit in Talkformaten bei al-Sharkiya und al-Iraqyia

Die Konflikte der Zentralregierung mit bewaffneten nicht-staatlichen Gruppen werden in den Talkshows aller Sender nur ganz am Rande und in 11 von 13 Sen-dungen überhaupt nicht thematisiert.265 Damit wird pauschal von der Gemein-schaft der irakischen Fernsehsender die Chance vergeben, das Potenzial des mo-derierten Gesprächs als Alternative zum bewaffneten Kampf für auf Versöhnung zielende Medienarbeit zu nutzen.

Beim sunnitisch-geprägten privaten Sender al-Sharkiya verweist schon die tech-nische Gestaltung der Gespräche auf eine konfliktvermeidende Konzeption: Alle

265 Eine Ausnahme bildet al-Sumeria, wo zwei der drei untersuchten Talkshows explizit Kon-

fliktthemen gewidmet sind (siehe nächster Abschnitt: Mut zur Kontroverse bei al-Sumeria).

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Talkshows sind als Einzelgespräche mit führenden Politikern (Iyad Allawi, Ibra-him al-Jafari) oder Experten (Ghassan al-Atiya) angelegt. In keinem Gespräch kommt es zu Anrufen oder anderen Formen der Partizipation. Meinungsvielfalt ist durch eine stark regierungskritische Ausrichtung und die diesbezüglich homo-gene Auswahl der Gesprächspartner eingeschränkt. Die Auslassung der gewalt-förmigen Konflikte in der Talkshow steht in augenfälligem Kontrast zum gegen-läufigen Konfliktfokus in den Nachrichten des Senders. Kein anderer Sender the-matisiert die bewaffneten Konflikte dort so umfangreich wie al-Sharkiya. Die Frage stellt sich, warum die Thematik in den Nachrichten ausgedehnt, für das Ge-spräch aber ausgeblendet wird, als wäre es wichtig, über bewaffnete Konflikte zu berichten, aber nicht lohnend, darüber zu sprechen.

Wie bei al-Sharkiya werden auch im öffentlichen Sender al-Iraqiya bewaffnete Konflikte in den Gesprächsformaten nicht thematisiert. Es geht in den Gesprächen um Wiederaufbau, Stromversorgung, rechtliche Regelung von Eheproblemen, die Planungen zum Abzug der britischen und der amerikanischen Truppen und um das Prinzip des politischen Konsens in Theorie und Praxis. Gewaltförmige innen-politische Konflikte werden an keiner Stelle aufgegriffen.

Das Format der Talkshow wird also auch bei al-Iraqiya weder genutzt, um innen-politische Konflikte zu diskutieren, noch um Rechtfertigungen zu Regierungspo-sitionen und zur Vorgehensweise des Militärs einzufordern (Accountability). Im Einklang mit der Ausrichtung der Nachrichten werden innenpolitische Konflikte ausgeblendet aus der Realität der TV-Debatte, während gleichzeitig das Debattie-ren selbst mit insgesamt sieben Talk-Sendungen an nur drei Tagen eine klare Wertschätzung erfährt.

Mut zur Kontroverse bei al-Sumeria

Der privat-kommerzielle Sender al-Sumeria stellt als einziger der untersuchten Sender gewaltförmige Konflikte in kontrovers angelegten Gesprächen zur De-batte. Die bewaffnete Auseinandersetzung in Kanaqin/Diyala sowie die umstrit-tene Neuausrichtung der Mahdi-Armee stehen thematisch im Mittelpunkt von zwei der drei Talkshows.266

266 Übersicht über alle Talkshows im Sample siehe Kap. 7.2.2.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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(1) Über die Situation in Kanaqin spricht Salim Abdallah als Mitglied des Län-derparlaments in Diyala mit dem Leiter der Sicherheitsoperationen in Diyala Ab-dulkarim Khalif (al-Sumeria/Irak Kontrovers/26.08.2008). Als Gesprächspartner sind also zwei beteiligte Akteure eingeladen, die nicht aus der Distanz sprechen, sondern die Lage als Betroffene und Beteiligte aus der Perspektive antagonisti-scher Positionen bewerten. Der eine ist als Mitglied der sunnitisch geprägten Ta-wafuq Front in der lokalen Kommunalpolitik verwurzelt, der andere ist als Gene-ral mit Marschbefehl und Truppenstärke aus Bagdad nach Diyala gekommen.

Der Erfolg der Operation in Kanaqin wird von den beiden Gesprächspartnern un-terschiedlich bewertet: Salim Abdallah kritisiert generell die Vorgehensweise des Militärs vor Ort und speziell Kommunikationsmängel im Umgang mit der Bevöl-kerung. Seiner Ansicht nach gäbe es auf Seiten der Bürger Informationsdefizite über Zuständigkeiten im Militär und über die Ziele der Operation. Die Soldaten würden jenseits von Regeln und Gesetzen willkürlich Zivilisten verhaften und tö-ten. Dadurch und durch eine insgesamt fehlende Bürgernähe wäre das Verhältnis zwischen Bürgern und Militärs jetzt zerrüttet. Übergeordnet fordert Abdallah eine De-Militarisierung der Diskussion und eine Analyse der gesellschaftlichen Struk-turen um zu ergründen, wie es zu den aktuellen Konflikten kommen konnte.

Um die Ziele jeder Operation zu erreichen, brauchen wir nicht nur Polizeipräsenz, son-dern wir müssen uns fragen: Warum gibt es Unruhen in dieser Stadt? Warum ist al-Qaida in dieser Stadt aktiv? Was sind die Gründe für die Korruption in der Verwaltung, für Arbeitslosigkeit und Konfessionalismus? Die militärischen Operationen unterschei-den sich daher von Stadt zu Stadt. Die Lösung liegt nicht darin, dass ich in einem Ort drei Monate militärische Präsenz zeige und das war es. Wichtiger ist, was ich nach dem Abzug mache. Wie führe ich Reformen auf den verschieden Ebenen Sicherheit, Gesell-schaft und Wirtschaft durch? Wie betrachten die Einwohner die Sicherheitsapparate?267

Abdallah ist eigentlich der einzige Gesprächspartner im gesamten Datensatz, der die laufenden Militäroperationen und die Frage der Sicherheit in einen Zusam-menhang bringt mit den politischen Hintergründen und Aspekten struktureller Gewalt. Er verweist auf einen politischen Kontext und auf die Notwendigkeit, militärische Aktionen in gesellschaftliche Arbeit einzubetten.

Der Gesprächspartner Abdulkarim Khalif räumt Fehler ein und versichert aber, dass es sich um Einzelfälle und keinesfalls um strukturelle Probleme handelt:

Wir haben mit den Bürgern geredet und unsere Ziele erklärt, aber die Zahl der Sicher-heitsleute ist enorm und nicht alle sind Engel. Es gibt Fehler, aber sie sind an einzelne

267 Al-Sumeria/ Irak Kontrovers/ 26.08.2008.

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Personen gebunden. Jeder, der einen Fehler begangen hat, wird zur Rechenschaft gezo-gen.268

Hier und in vielen weiteren Stellungnahmen versichert Khalif, dass die Soldaten an Gesetze und Rechtstaatlichkeit gebunden sind und dass überdies das Militär auf allen Ebenen um Bürgernähe und Transparenz bemüht ist. Fehler werden un-tersucht und Täter zur Rechenschaft gezogen. Er verteidigt die Integrität der Ope-ration gegen die Vorwürfe des Gesprächspartners mit Argumenten, Zahlen und Beispielen.

Es fällt auf, dass beide Gesprächspartner konsequent aufeinander Bezug nehmen und konzentriert beim Thema bleiben. Es wird auch sehr konkret über die zentra-len Probleme im Feld gesprochen. Insgesamt handelt sich um ein konstruktives und kritisches Gespräch zwischen Vertretern unterschiedlicher politischer Lager, die unterschiedliche Bewertungen zur Lage in Kanaqin begründen und verteidi-gen. Allerdings fehlt ein Mitglied der Peshmerga oder der kurdischen Regierung als Gesprächspartner, denn der zentrale Konflikt spielt sich nicht zwischen iraki-schen Bürgern und staatlicher Armee ab, sondern zwischen der kurdischen Peshmerga und der staatlichen Armee, bzw. kurdischer Regierung und irakischer Zentralregierung.

(2) Das Gespräch zur Lage der Mahdi-Armee (al-Sumeria/In der Öffentlich-keit/25.08.2008) ist nicht als Kontroverse angelegt, sondern als Exploration eines Strategiewechsels, der von der Mahdi-Armee wenige Tagen zuvor verkündet wor-den war. Es sprechen Asma al-Mussawi als Vertreterin der Sadr-Bewegung und Falih Faisal al-Fayyad als Mitglied der neu gegründeten Nationalen Reformbe-wegung. Beide Gesprächspartner sind per Videokonferenz dem Gespräch im Stu-dio zugeschaltet. Al-Mussawi ist mit einem schwarzen Umhang und einer dunk-len Brille kaum zu erkennen. Im Hintergrund ein Bild von Ayatollah Khomeini.

Aus der Art und Weise, wie die Moderatorin al-Fayyad ins Gespräch holt, wird deutlich, dass ihm die Rolle des Sadr-Kritikers und des Politikbeobachters zuge-dacht ist. Er wird immer wieder zu seiner Einschätzung der Bewegung generell, ihrer Ziele und der Entscheidung zur Niederlegung der Waffen gefragt. Hier gibt sich zwar ein kontroverser Zuschnitt des Gesprächs zu erkennen, doch al-Fayyad übernimmt die ihm zugedachte Aufgabe der Kritik nicht, sodass al-Mussawi ohne Gegenspieler die Ziele der Sadr-Bewegung propagieren kann. Ungeachtet der an

268 Al-Sumeria/ Irak Kontrovers/ 26.08.2008.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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sie gestellten Fragen referiert sie aufgebracht fertige Textblöcke über den notwen-digen Kampf gegen die US-amerikanischen Besatzer, die den Terrorismus in den Irak gebracht hätten:

Der Terrorismus und die Verbreitung von Waffen sind mit der Zunahme der Terroran-schläge und der Ermordung von vielen irakischen Zivilisten gestiegen. Aber ich betone, dass der Terrorismus und al Qaida im Irak, die für die Tötung von unzähligen Zivilisten verantwortlich ist, ein Teil der Besatzung des Irak ist und nicht ein Teil des Widerstands gegen die Besatzung. Wir wissen, dass das Saddam-Regime viele irakische Zivilisten ermordet hat. Jeden Tag gab es Dutzende Märtyrer, aber diese jetzige starke Terror-Welle, die die irakischen Zivilisten trifft, ist ein Teil des Besatzungsvorhabens, das im Irak am 09.04.2003 begonnen hat. Wir glauben, dass der Terrorismus durch die Besat-zung entstand. Die Besatzung ist wie ein Virus, den man bekämpfen muss, um ihn los-zuwerden. 269

Al-Mussawi erklärt des Weiteren, dass die Sadr-Bewegung die zivile Staatsfüh-rung, Pluralismus, Säkularismus und säkulare Parteien im Irak bekämpfen wird. Sie verurteilt islamistische Parteien, die korrupt sind (und also nicht islamisch) und solche, die sich auf Koalitionen mit säkulären Parteien einlassen.270

Die Beiträge der Gesprächspartner sind kaum aufeinander bezogen und der Ge-sprächsfluss wird zusätzlich durch Anrufe von Zuschauern unterbrochen. Dadurch, dass al-Fayyad die Rolle des Sadr-Gegners nicht annimmt und gleich-zeitig über die eigene Partei nicht befragt wird, entsteht eigentlich kein Gespräch zwischen den beiden Gästen. In dieser Talkshow kann der Zuschauer einiges über die Sadr-Bewegung erfahren – ein Streit um politische Positionen wird aber kei-nesfalls geführt.

Abschließend kann zur Untersuchung der Talkshow bei al-Sumeria bilanziert werden, dass hier in der Konzeption und Umsetzung der Talksendungen der Mut aufgebracht wird, über die Hintergründe und Ziele bewaffneter Konflikte im Stu-dio zu diskutieren. Der privat-kommerzielle Sender ist also der einzige der unter-suchten Sender, der das Sicherheitsthema in einen politischen Kontext stellt und dabei auch Risiken in Kauf nimmt, wie die Diskussion mit al-Mussawi gezeigt hat.

269 Al-Sumeria/In der Öffentlichkeit/25.08.2008. 270 Siehe für weitere Gesprächsdetails Kap. 8.2.2.

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8.3.2 Medien und Konfliktentwicklung aus Sicht irakischer Medienproduzenten

Strategien zur Überwindung ethno-konfessioneller Konflikte spielen für die Sinn-konstruktionen vieler Interviewpartner eine wichtige Rolle. Zehn von 16 Ge-sprächspartnern identifizieren sich mit einer an Versöhnung orientierten Rolle von Medien teilweise oder umfassend. Zentraler Gegenstand eines faktischen o-der wünschenswerten Engagements ist hier die antagonistische Spannung zwi-schen schiitischen und sunnitischen Muslimen sowie übergeordnet die Zersplitte-rung der Gesellschaft entlang ethno-konfessioneller Grenzlinien. Zugleich ist in den Gesprächen die Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung durch die Kom-munikationspraxis der ethno-konfessionell geprägten Parteisender vielfach Ge-genstand der Kritik. Die Einseitigkeit der Berichterstattung in Kombination mit der Segmentierung ihrer Zielgruppen vertieft die Konflikte und die Gefahr einer Spaltung der irakischen Gesellschaft – so der Vorwurf der Interviewpartner gegen parteilich aufgestellte Sender. In Übereinstimmung mit der Literaturauswertung (vgl. Kap. 6.6) sind viele Interviewpartner der Überzeugung, dass die Parteilich-keit der Sender den Zusammenhalt der Gesellschaft und damit die Einheit der Nation gefährde.

Repräsentation als Integration

Eine angemessene Repräsentation ethno-konfessioneller Minderheiten in den Programmen der Rundfunksender, so zeigen die Gespräche, ist aus Sicht der ira-kischen Medienproduzenten das zentrale Merkmal einer integrativ wirksamen Öf-fentlichkeit. Ahmed Salloum, Leiter eines lokalen IMN-TV Senders, sieht den ethno-konfessionellen Pluralismus in der irakischen Öffentlichkeit als Manifesta-tion der Befreiung:

Many things were in the dark in the past, like the shia Ashura days, the christian church, other ethnics like Kurdish, Turkomans etc. The network started showing them and tell the Iraqi society that Iraqi society contains of all those people, not only Arabs and not only the Baath Arabs.271

Als Gegenmodell und Kontrastbild zur neuen Pluralität wird die langjährige Aus-grenzung ethno-konfessioneller Vielfalt aus der Öffentlichkeit in der Baath-Ära

271 Ahmed Saloum/ Erbil (Irak), Nov. 2008.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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gesehen. Die führenden Eliten waren 30 Jahre lang sunnitischer Provenienz. Fei-ertage, Rituale und Sprachen anderer Minderheiten waren teilweise verboten und traten in der staatlich dominierten Medienöffentlichkeit nicht in Erscheinung.

Durch öffentliche Präsenz wird nach Meinung von Haider Hammad, Direktor ei-nes privaten Radiosenders, einer möglichen Ausgrenzung und Marginalisierung einzelner Gruppen entgegengewirkt, denn mediale Repräsentation heißt für ihn auch, Bestandteil eines gesamtgesellschaftlichen Abbildes zu sein. Vertreter einer Gemeinde als Akteure in den Nachrichten oder Talkshows zu zeigen oder zu zi-tieren, heißt diese Gemeinde und jedes einzelne ihrer Mitglieder in der Gesell-schaft zu verwurzeln: You make them feel that they are really part of the society.272

Das Konzept der Repräsentation wird von den Interviewpartnern zunächst präzi-siert als ethno-konfessionell ausgewogene Besetzung der im Programm auftreten-den Akteure. Dabei steht in den Gesprächen immer wieder der Ausgleich von Schiiten und Sunniten im Vordergrund. Zweitens gilt eine Zuordnung von Pro-grammplätzen zu ethno-konfessionellen Minderheiten, wie von Anmar Fadil im Interview beschrieben, als weitere Form der Repräsentation. Im Programm seines öffentlichen Regionalsenders werden beispielsweise Programmeinheiten von ein bis drei Stunden redaktionell an Vertreter von Minderheiten vergeben. Drittens wird die Produktion und Ausstrahlung von Beiträgen, die sich den Kulturen, Spra-chen und Traditionen von Minderheiten widmen, in diesem Zusammenhang ge-nannt. Auch die Würdigung religiöser Feiertage der im Irak vertretenen Konfes-sionen wird als Integrationsthema behandelt. Dabei ist die Frage der Gewichtung für die politische Einordnung des Mediums von Bedeutung: Eine ausgewogene Berücksichtigung wichtiger Feiertage aller Minderheiten zeichnet den unparteili-chen Sender aus. Eine Priorisierung bestimmter Feiertage gegenüber anderen durch prominente Platzierung und Ausdehnung der Präsentation im Programm signalisiert Parteilichkeit des Senders.

Für Haider Hammad ist Repräsentation der Ausgangspunkt für eine Annäherung der Minderheiten durch die Vermittlung von Wissen über deren Merkmale und Eigenheiten. Kenntnis vom Anderen gewinnen, heißt Vertrauen gewinnen:

272 Haider Hamad, Gründer, Inhaber und Direktor eines privaten Radiosenders/ Amman (Jorda-

nien), Nov. 2007.

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If I know you, if I know how you behave, if I know your nature and your thoughts I would stop misunderstanding you. And if I stop misunderstanding I will probably have a better relation to you. But if I look at your moves, your behavior with suspicion and I come with prejudgments, you will be my enemy. People hate what they do not know. They feel much more comfortable with the things they know.273

Als mediales Erweckungserlebnis beschreibt Haider Hammad seine journalisti-sche Beschäftigung mit den spirituellen Traditionen der Mandäer, die – so habe es ihm seine Mutter erklärt – zu den Sternen beten. Erst durch Recherchen für einen Radiobeitrag habe sich diese Annahme für ihn als haltlose Legende ent-puppt. Diese Art der Aufklärung sollte seiner Ansicht nach von den Medien aus-gebaut werden. Auch Anmar Fadil gestaltet sein Programm bewusst so, dass der Wechsel zwischen ethno-konfessionell orientierten Sendefenstern für den Zuhö-rer nicht vorhersehbar ist, mit dem Ziel, die Wahrscheinlichkeit einer inkongru-enten Situation zu erhöhen:

Every ethnic group is forced to also listen to the other programs because it is a surprise when the program language changes.274

Mediale Repräsentation kann aber auch heißen, Ungerechtigkeit und Gewalt ge-gen eine Minderheit öffentlich zu machen und dies der Spirale von Gewalt und Vergeltung entgegenzusetzen. Produzent und Moderator Abbass Qassim be-schreibt in diesem Zusammenhang seine Gespräche mit Bürgern und Hinterblie-benen aus Falluja während der Kampfhandlungen im Herbst 2006 fast wie thera-peutische Arbeit im Dienste der nationalen Sicherheit: Wer Gelegenheit erhalte, seinem Zorn öffentlich Gehör zu verschaffen, werde weniger geneigt sein, sich mit der Sprache der Gewalt zu artikulieren. Deswegen, so seine Argumentation, habe er vor allem mit Betroffenen und einfachen Bürgern das Gespräch gesucht, deren Gewaltbereitschaft durch die Geschehnisse in Falluja enorm provoziert worden sei.275

Das Modell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird von vielen Gesprächspart-nern als ideal für eine umfassende Repräsentation von Minderheiten und die Re-alisierung der Integrationsfunktion thematisiert:

273 Haider Hamad, Gründer, Inhaber und Direktor eines privaten Radiosenders/ Amman (Jorda-

nien), Nov. 2007. 274 Anmar Fadil, Direktor eines lokalen IMN-Radio- und TV-Senders/ Amman (Jordanien), Okt.

2007. 275 TV-Produzent und Moderator Abbas Qassim/Erbil (Irak), April 2008.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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The nature of the Iraqi society is a multiethnic society, a multicultural society. So the public service model is probably the best model for Iraq. The public service model guar-antees that all groups are having a slot in the program. The people through paying the license [fee] will be the owner of this project or institute. So that place will be owned by the Shiite, the Sunni, the Kurds. Everyone will have an ownership.276

Das IMN als irakische Variante des öffentlich-rechtlichen Modells ist aus Sicht vieler Interviewpartner an dem hier skizzierten Integrationsauftrag gescheitert. In Übereinstimmung mit den Beobachtungen irakischer und internationaler Exper-ten (vgl. Kap. 6) wird das IMN auch unter den Interviewpartnern mehrheitlich als schiitisch dominierte Plattform für Regierungspropaganda wahrgenommen. Gleichzeitig wird die Rück-Transformation des IMN vom öffentlich-rechtlichen zum staatlichen Rundfunk als Verlust gerade im Hinblick auf die Integrations-funktion und die diesbezüglich nicht realisierten Potenziale diskutiert. Protago-nisten der Kritik sind die in der Stichprobe enthaltenen aktuellen und ehemaligen Mitarbeiter des IMN (siehe auch Kap. 8.2.2).

Nationale Einheit versus ethno-konfessionelle Vielfalt

Als positive Gegenrealität zur konflikthaften Spaltung der Gesellschaft wird von verschiedenen Interviewpartnern die nationale Einheit idealisiert. Einheit, im Ge-gensatz zu einem geteilten oder föderalen Irak, steht in diesem Konzept für Ver-söhnung. Einheit steht aber auch für die übergeordnete Bedeutung der irakischen Nation als identitätsstiftende Referenz und für die Idee einer modernen Gesell-schaft, deren Bürger sich von ethno-religiösen Bindungen und damit auch von den Bedingungen einer von Stämmen, Traditionen und religiösen Regeln be-stimmten Lebensgemeinschaft emanzipiert haben. Issam Jabr aktiviert als Mitar-beiter des öffentlichen Rundfunks in diesem Kontext das Konzept der Staatsbür-gerschaft (Citizenship). Die Bezugnahme auf die Rolle des einzelnen Hörers oder Zuschauers als aufgeklärter Bürger einer demokratischen Gesellschaft und die edukative Arbeit auf dieser Ebene ist Bestandteil seiner öffentlich-rechtlichen Mission:

We are accentuating the human over tribal, religious and sectarian belonging. We have a daily show about citizenship. We are asking the Iraqi listener: „What have you done for your nation today?“ Through that we try to nourish citizenship – belonging to the nation – over belonging to different groups and sects. Most of the subject matter of our

276 Haider Hamad, Gründer, Inhaber und Direktor eines privaten Radiosenders/Amman (Jorda-

nien), Nov. 2007.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

294

political shows are about how the Iraqi individual would be able to transcend the situ-ation and basically be face to face with the idea of the nation.277

Die Herauslösung des Einzelnen aus traditionellen Gruppenzusammenhängen und der komplementäre Aufbau einer nationalen Einheit bzw. nationalen Identität werden hier als zwei ineinandergreifende Prozesse konzipiert.

Demgegenüber stehen auf Versöhnung orientierte Konzepte, die explizit nicht auf Homogenisierung zielen, sondern auf eine Vertiefung von Vielfalt und die Unter-stützung einer friedlichen Koexistenz ethno-konfessionell geprägter Gruppen:

As we have four main ethnicities in the city and you have different parties that are of other opinion, our main aim is to make co-existence possible and to work on coexistence. All other aims come on a second level. One of our mottos or slogans in the radio station is coexistence and peace and we believe that our audience is completely poled like that.278

Für Anmar Fadil und andere ist die Wiederbelebung verschiedener Sprachen durch und in Medien ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer kulturell dynamischen und pluralistischen Gesellschaft. Der Gebrauch von Minderheiten-sprachen war unter Ex-Präsident Saddam Hussein unerwünscht und auch weitest-gehend unüblich. Die neue Situation eröffnet demgegenüber die Möglichkeit ei-ner Renaissance von Sprachenvielfalt als Identitäts- und Abgrenzungsmerkmal:

People were deprived of their original languages, especially the Chaldo-Assyrians. In the beginning when we had special programs for the Chaldo-Assyrians and people called, they were embarrassed to speak Assyrian because young people would say: ‘I do not know how to do that properly, that is why I speak Arabic.’ Now this has chan-ged!279

In dem von Anmar Fadil in Kirkuk geführten öffentlichen TV- und Radiosender werden Programme in vier verschiedenen Sprachen ausgestrahlt. Er beschreibt weitergehend die Wiederbelebung der chaldo-assyrischen Gemeinschaft in Kir-kuk nach 2003 und eine sich analog vollziehende Ausdehnung des chaldo-assyri-schen Programms im Sender. Die Sprache wird hier als Mittel der Individualisie-rung und Subjektivierung wirksam.

277 Issam Jabr, ehemaliger Programmdirektor eines IMN-Radiosenders/ Beirut (Libanon), Nov.

2008. 278 Anmar Fadil, Direktor eines lokalen IMN-Senders (TV und Radio)/ Amman (Jordanien), Okt.

2007. 279 Anmar Fadil/ Amman (Jordanien), Okt. 2007.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

295

Am Beispiel der Sprache wird ein paradoxes Zusammenspiel von Vielfalt (Diver-sity) und Einheit (Unity) als gleichermaßen und gleichzeitig bedeutsame Orien-tierungen für die Medienproduzenten sichtbar. Einerseits wird auf Begriffsebene die Unterscheidung ethno-konfessioneller Gruppen als Maßnahme der Konflikt-prävention gemieden. Die Bezeichnung von Schiiten als Schiiten, Sunniten als Sunniten etc. und ganz generell die Verwendung von Adjektiven wie sunnitisch, schiitisch und kurdisch in Zusammenhang mit Namen wird aus einer nationalis-tisch orientierten Perspektive als konfliktfördernd bewertet und von einigen Ge-sprächspartnern wie Issam Jabr und Universitätsprofessor Bassem Shakr zur Ver-meidung empfohlen. Andererseits werden dieselben Bindungen als Quelle einer erstrebenswerten gesellschaftlichen Vielfalt mit integrativer Absicht von Akteu-ren wie Anmar Fadil und anderen durch die Programmgestaltung exponiert und gefördert. Die Ausdifferenzierung ethno-konfessioneller Kulturen, die Betonung ihrer Unterschiedlichkeit in der Öffentlichkeit sind für Anmar Fadil, für Ahmed Saloum und Haider Hammad ein uneingeschränkt positives Szenario, das wohl im Spannungsverhältnis, nicht aber im Widerspruch gesehen wird zum Ruf nach Einheit und Zusammenhalt. Alle drei sind dem Modell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als aktuelle oder ehemalige Mitarbeiter verbunden. Aber auch Ibrahim Rasheed, redaktioneller Mitarbeiter eines privaten Radiosenders, benutzt Unity und Diversity fast wie austauschbare Begriffe, als zwei Facetten einer insgesamt integrierten Gesellschaft.280

Von der Repräsentation zur Interaktion

In Ergänzung zur Repräsentation bringen andere Gesprächspartner die Interaktion zwischen Konfliktparteien als möglicherweise friedensstiftendes Programmfor-mat ins Spiel. Gäste, Fragen, Konzepte einer Sendung werden dabei mit Orientie-rung auf den Integrationsanspruch gestaltet. Ziel ist die Anregung von direkten oder indirekten Interaktionen zwischen Vertretern verschiedener Minderheiten o-der Konfliktparteien. Vom Wagnis der politischen Debatte halten sich die Inter-viewpartner dabei fern. Eher werden indirekte Begegnungen ohne Konfliktpoten-zial sorgsam arrangiert:

280 Ibrahim Rashid/ Amman (Jordanien), April 2008.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

296

Our religious shows is always two priests or clerics or sheikhs: one Sunni and one Shiite in the same show. If you call and ask about a divorce for example – we don´t give only one answer. We give: this is according to the Sunni way and this according to the Shiite way […] I am introducing both groups to each other, without becoming a preacher.281

Haider Hammad geht es hier um die Vertiefung von Wissen der isolierten Grup-pen übereinander durch Darstellung ihrer Traditionen und spirituellen Orientie-rungen mit dem Ziel, gegenseitigen Respekt durch Verstehen zu fördern.

Der Gründer einer privaten TV-Station, Hassan al-Maliki, beschreibt Sendefor-mate aus seinem Programm, die ganz klassisch als kontroverse Diskussion zwi-schen Vertretern politischer Parteien angelegt sind. Insgesamt ist jedoch das eher geringe Interesse an den durch TV- und Radiosender gegebenen Möglichkeiten, politischen Dialog zu gestalten, auffällig. Al-Maliki ist der einzige Inter-viewpartner, der die politische Kontroverse als Aspekt fernsehjournalistischer Ar-beit überhaupt erwähnt. Trotz der enormen Potenziale für ethno-konfessionelle Annäherung hat der moderierte Streit als Alternative zum bewaffneten Konflikt in den Sinnkonstruktionen der anderen Interviewpartner kaum Bedeutung. Statt-dessen wird die indirekte Interaktion favorisiert, die darauf abzielt, eine Minder-heit in den Wahrnehmungshorizont einer anderen einzuspielen, ohne dass es zum Austausch von Standpunkten oder Argumenten kommt. An vielen Stellen wird dazu die Annahme formuliert, dass die vertiefte Kenntnis über die Ansichten einer anderen als der eigenen Minderheit gegenseitigen Respekt zur Folge habe. Haider Hammad bringt diese These auf den Punkt: „Knowing each other better will bring us closer to each other.“282 Hier wird also keine Auseinandersetzung angestrebt, sondern allein Diversifizierung von Weltwahrnehmung und Vertiefung von Wis-sen über sich und die anderen.

Anmar Fadil, Direktor eines lokalen IMN-Radio- und TV-Senders, hat zudem un-konventionelle Formen für sich entdeckt, um ethno-konfessionelle Minderheiten in Kirkuk miteinander ins Gespräch zu bringen: Er veranstaltet Feste, zu denen er gezielt Familien mit unterschiedlichen Wurzeln einlädt, was, wie er beschreibt, in Kirkuk keine Selbstverständlichkeit sei. Umso mehr freue ihn der Erfolg der Stra-tegie und die große Beliebtheit seiner Veranstaltungen. Hier zeigt sich eine fast

281 Haider Hamad, Gründer, Inhaber und Direktor eines privaten Radiosenders/ Amman (Jorda-

nien), Nov. 2007. 282 Haider Hamad, Gründer, Inhaber und Direktor eines privaten Radiosenders/ Amman (Jorda-

nien), Nov. 2007.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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aktivistische Einstellung zur Medienarbeit als ein Baustein in einer auf gesell-schaftliche Entwicklung zielenden politischen Arbeit, die ohne Berührungsängste aus dem Studio heraus ins Feld expandiert.

Desintegration durch Parteisender

Als Negativreferenz zum Thema Integration werden die Parteisender thematisiert, die bisher die Medienlandschaft im Irak dominieren. Parteisender gelten vor allem den Experten und Vertretern des öffentlichen Rundfunks als Quelle zunehmender Desintegration. Parteisender vertiefen die ohnehin bestehenden Gräben durch ein-seitige Repräsentation von jeweils nur einer Minderheit und entsprechender Ori-entierung auf eine ethno-konfessionell homogene Zielgruppe – so die Kritik.

In Übereinstimmung mit den in Kap. 6 ausgeführten Beobachtungen und Ein-schätzungen internationaler und irakischer Experten wird die Zersplitterung der irakischen Medienlandschaft entlang ethno-konfessioneller Bindungen und die systematische Verflechtung der Medienhäuser mit politischen Parteien von den Interviewpartnern als Antrieb einer zunehmenden gesellschaftlichen Segmentie-rung identifiziert. Issam Jabr, ehemaliger Programmdirektor eines IMN-Radio-senders, beklagt Intoleranz gegenüber und Ausgrenzung – mithin Delegitimie-rung – von Minderheiten im Diskurs der parteilichen Sender:

These are just examples (there are too many to list) for radio stations that promote religious and sectarian intolerance rather than promoting nationalism and citizenship and this kind of ideas. These radio stations propagate a denial of the other, a margin-alization of the other that descends into insults. They promote themselves at the expense, the silencing and the marginalization of the other.283

Insgesamt wird aber der problematische Desintegrationseffekt von den Inter-viewpartnern weniger mit den von den Sendern publizierten Inhalten in Zusam-menhang gesehen als vielmehr der Konsolidierung diskreter Publika entlang ethno-konfessioneller Trennlinien. Wenn Sunniten sunnitische Sender schauen, in denen sunnitische Reporter aus sunnitischen Vierteln berichten, hat dies eine erhebliche Reduktion gemeinsamer Realitätsbezüge zur Folge.

Die Gesprächspartner akzentuieren indes unterschiedliche Effekte, die von den parteinehmenden Sendern ausgehen. Die Ausführungen des Experten Tariq Khalil zentrieren um radikale Sender bewaffneter Gruppen, deren wesentliche

283 Issam Jabr, ehemaliger Programmdirektor eines IMN-Radiosenders/ Beirut (Libanon), Nov. 2008.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Aufgabe darin bestehe, ethno-konfessionelle Minderheiten im Konflikt gegenei-nander aufzuhetzen. Er kritisiert insbesondere die politische Kommunikation der Mahdi-Armee über den parteieigenen Radiosender al-Ahed als Beispiel für Me-dieneinsatz, der kein anderes Ziel verfolge, als die schiitische Gemeinde gegen einen konstruierten Feind zu mobilisieren. Die Sender der Mahdi-Armee sind für Tariq Khalil Inbegriff einer auf Gewalteskalation zielenden, faschistischen Par-teipropaganda:

But they [radio station al-Ahed of the Sadr Movement] are fascist, I don't like them. They are not media, I would never defend Muqtada Al-Sadr media or, to be specific, Sunni media, they are not media, it is like a Hutu broadcast. Trying to mobilize people to kill other people. [...][Al Ahed] is not a peaceful radio, it is a provocation – a fascist Shiite provocation.284

Auch andere Gesprächspartner kritisieren die Beteiligung der Medien an der Kon-flikteskalation durch Sender wie al-Ahed und al-Zawra sehr engagiert. Den Be-treibern solcher Plattformen wird Diskriminierung von Minderheiten vorgewor-fen, Verherrlichung und Provokation von Gewalt sowie die Verbreitung von Hass in der irakischen Gesellschaft. Beklagt werden die destruktiven Absichten dieser Sender und zudem der schlechte Ruf, der aus den kriegstreibenden Ideologien Einzelner für die Gesamtheit der irakischen Medienproduktion resultiert.

Die Gesprächspartner machen aber einen Unterschied zwischen Sendern, die ak-tiv Konflikte schüren und solchen, deren ethno-konfessionelle Parteinahme sich über Terminologie, Themenwahl und Strategien der Auslassung zu erkennen gibt. Einseitige Berichterstattung durch Auslassung bestimmter Ereignisse wird von vielen verschiedenen Interviewpartnern als zentrale Taktik der Parteinahme kriti-siert. Ziel sei die Vermittlung oder Durchsetzung einer bestimmten Sichtweise auf die Geschehnisse im Irak. Ereignisse, die dieser Sichtweise zuwiderlaufen, wer-den aktiv aus der Berichterstattung ausgeschnitten und so dem Publikum vorent-halten. Die Auslassungen betreffen in vielen Fällen militärische Schwächen oder Niederlagen. Als Beispiel für eine solche Form der intentionalen Nachrichtense-lektion berichtet Ahmed Saloum über Kämpfe in Tal Afar285 Anfang 2006, über die auf den Sendern des IMN nicht berichtet wurde: Irakische und amerikanische Truppen waren in Tal Afar gemeinsam gegen Aufständische ins Feld gezogen und hatten dabei militärische Erfolge erzielt. Das für Tal Afar zuständige IMN-Studio

284 Experte und Verleger Tarik Khalil/ Erbil (Irak), Okt. 2008. 285 Tal Afar ist eine Stadt im Norden Iraks an der Grenze zu Syrien, vornehmlich von Turkmenen

besiedelt.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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in Mosul sei damals (nach Darstellung von Ahmed Saloum) von Baathisten ge-leitet worden, die kein Interesse an solchen Erfolgsmeldungen gehabt hätten. Des-wegen seien die Ereignisse in Tal Afar auf den Sendern des IMN nicht themati-siert worden.286 Neben der Ausblendung von Ereignissen als kommunikations-technisches Instrument wird an dieser Anekdote einmal mehr die verschachtelte Vielschichtigkeit der irakischen Medienlandschaft sichtbar. In den lokalen Able-gern des staatlich kontrollierten Sendernetzwerks IMN werden redaktionelle Ent-scheidungen von Regierungsgegnern getroffen.

Die Auslassungen betreffen in anderen Fällen auch das Problem mangelnder Si-cherheit und der Gewalt im Allgemeinen. Khulud al-Hashimi beklagt im Inter-view, dass die Grenzen der Themenwahl für sie als Journalistin in Mosul eng ge-steckt seien. Sie würde beispielsweise gern darüber berichten, dass viele Men-schen neuerdings ihre Telefonnummern und Adressen als Tattoos tragen, damit im Falle ihres Todes Identität und Herkunft schnell festgestellt werden können. Die Identifizierung der zahllosen Toten in den Leichenhallen stellt in Mosul ein wachsendes Problem dar, dem die Menschen mit solch bizarren Lösungen begeg-nen. Über Themen, die in dieser Art mit den Sicherheitsproblemen in sunnitischen Provinzen in Verbindung stehen, könne sie als Journalistin nicht arbeiten.

Fast alle Gesprächspartner beschäftigen sich mit den politischen Kommunikati-onseffekten der Parteisender und bemühen sich um Abgrenzung ihrer Arbeit von der Praxis der parteilichen Berichterstattung. Dabei wird der Begriff der Unab-hängigkeit von Vertretern privater, staatlicher und auch parteilicher Sender gleichermaßen genutzt, um den Unterschied zur Parteilichkeit zu markieren (ge-nauer dazu: Kap. 8.2.2).

8.3.3 Theoriegeleitete Einordnung

Repräsentation als Konfliktprävention

Die Überwindung der irakischen Konflikteskalation wird in den Darstellungen der irakischen Interviewpartner auf dem Weg der Repräsentation beschritten. Eine möglichst breit gefächerte Repräsentation ethno-konfessioneller Minderheiten wird als Schlüssel zur Friedenssicherung behandelt, was im Gegenzug auch be-deutet, dass der Verhandlung politischer Positionen diese Bedeutung nicht zu-kommt. Vertiefung und Ausweitung von ethno-konfessioneller Vielfalt, Wissen

286 Ahmed Saloum, Leiter eines lokalen IMN-TV Senders/ Erbil (Irak), Nov. 2008.

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übereinander und Vertrauensarbeit an dieser Front werden als gesellschaftliche Stabilisierungseffekte und als wirksame Krisenprävention bewertet.

Der demokratische Streit um politische Positionen als Fernsehformat, wie von Price et al. (2010) als Maßnahme der Krisenprävention vorgeschlagen, die verbale Auseinandersetzung als Alternative zur Gewalt, wie von Mouffe (2007) empfoh-len, der für Habermas (1998) zentrale Austausch von Argumenten: all dies hat aus Sicht der Interviewpartner keine Relevanz im Prozess der Konfliktbewältigung. Das Mandat der Medienproduzenten besteht aus ihrer Perspektive vielmehr darin, die Repräsentation ethno-konfessioneller Vielfalt aufzufächern und damit Ge-rechtigkeit zu schaffen, anstatt über die Marginalisierung von Minderheiten zu berichten. Sie treten damit heraus aus der Rolle des Beobachters und hinein in die Arbeit an der Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse. Aus der Sicht des Friedensforschers Johann Galtung (1998) beschreiten die Produzenten die High Road des Journalismus, indem sie die Fixierung auf direkte Gewalt aufgeben und stattdessen strukturelle Gewalt als Bezugsrahmen für die Thematisierung der Konflikte wählen (vgl. Kap. 3.3.8). Sie gehen weiter, indem sie nicht nur den Be-zugsrahmen wechseln, sondern auch die Rolle des Beobachters aufgeben, um sich an der Umwälzung politischer Verhältnisse durch gerechte Repräsentation von Minderheiten in der Öffentlichkeit aktiv zu beteiligen.

Inwieweit dieses Ideal einer gerechten Repräsentation im Fernsehen erfüllt wird, kann in der vorliegenden Arbeit nicht abschließend geklärt werden. Dafür wären Informationen zur ethno-konfessionellen Zugehörigkeit aller in den Nachrichten auftretenden Personen notwendig, was dem vorliegenden Datensatz als Informa-tion nicht zu entnehmen ist. Ein Blick auf das Personaltableau in den Talkshows lässt aber eine Dominanz von schiitischen Gästen erkennen sowie einen konse-quenten Ausschluss von Kurden. Nur drei der insgesamt 23 Gäste sind Sunniten, keiner ist Kurde. Der Anspruch auf gerechte Repräsentation wird zumindest auf dieser Ebene also keinesfalls in die Realität umgesetzt. Gerade die Marginalisie-rung der Sunniten auf allen Sendern muss – wenn die Gleichung stimmt – als Spiegel struktureller Gewalt und damit als mögliche Triebfeder bewaffneter Ge-walt bewertet werden. Hier klaffen Anspruch und Fernsehrealität noch weit aus-einander.

Die Geringschätzung des politischen Streits über Konflikte spiegelt sich auch im Design der Talkformate, die mehrheitlich als politische Interviews geführt wer-

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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den. In nur zwei aus insgesamt 13 untersuchten Talksendungen werden die be-waffneten Konflikte überhaupt thematisiert. Al-Sumeria ist der einzige Sender der Stichprobe, der mit Vertretern unterschiedlicher Positionen über die bewaffneten Konflikte der Zentralregierung mit nichtstaatlichen Vetomächten diskutiert. Der einzige privat-kommerzielle Sender des Samples stellt also einen Zusammenhang her zwischen Politik und Gewalt, die erstmals und nur hier in einem gesellschaft-lichen Kontext erscheint. Darin spiegelt sich einerseits ein reflektierter Umgang mit dem Thema und andererseits aber auch ein anderes Bild vom Zuschauer, dem hier kontroverse Diskussionen, Komplexität und Zweifel an der Angemessenheit einfacher Deutungsmuster zugemutet werden.

Politischer Parallelismus hat keinen direkten äquivalenten Niederschlag auf der Ebene der Inhalte

Ein anderes Bild ergibt sich aus der Inhaltsanalyse zur Konfliktberichterstattung, die zum einen den Ausschluss von innenpolitischen Konflikten aus den Nachrich-ten bei dem öffentlichen Sender al-Iraqiya und dem Parteisender al-Furat sichtbar macht und zum anderen relative Ausgewogenheit in der Repräsentation von Kon-fliktparteien auf den beiden privaten Sendern al-Furat und al-Sharkiya. Die Er-wartung einer durchgehend parteilichen Berichterstattung, die sich aus der Unter-wanderung der Medienlandschaft durch politische Interessensgruppen fast zwin-gend ergibt, wird nicht erfüllt. Der in Kapitel 6.3 skizzierte Parallelismus zwi-schen Parteien- und Medienlandschaft als strukturelle Schlüsseleigenschaft der irakischen Situation erzeugt also nicht automatisch eine einseitige Berichterstat-tung auf der Ebene der Inhalte auf allen Sendern. Gerade der als prosunnitisch, antiamerikanisch und regierungskritisch etikettierte Sender al-Sharkiya über-rascht mit ausgewogener Konfliktberichterstattung.

Das Schweigen des öffentlichen Senders zu Konfliktthemen darf hier nicht als neutraler Standpunkt missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine subtile Form der Parteinahme, die nicht nur den Konflikt, sondern auch die Exis-tenz des politischen Gegners im Sinne einer von Hafez (2014) als radikal bezeich-neten Form der Abwertung negiert. Hafez (2014) hatte die aggressive De-Legiti-mierung gegnerischer Parteien in ägyptischen Medien in der kurzen Zeit der Mursi-Regierung als Manifestation einer tief verwurzelten Ablehnung von Plura-lismus in der ägyptischen Gesellschaft bewertet. Im Falle von al-Iraqiya kann

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auch das Verschweigen und Übersehen von politischen Gegnern als radikale De-Legitimierung dieser Akteure interpretiert werden.

Unter Bedingungen einer kontrollierten Öffentlichkeit mag diese Taktik als Aus-löschung oppositioneller Akteure in der Wahrnehmung der Medienrezipienten wirksam werden. Unter Bedingungen einer genuin pluralistischen Medienland-schaft, die durch die Verfügbarkeit unterschiedlicher Interpretationen der politi-schen Realität charakterisiert ist, entlarvt sich – so darf vermutet werden – die Taktik der Ausblendung eher als politisches Instrument und diskreditiert so die Glaubwürdigkeit des Senders. Die autoritären Praktiken der Baath-Ära haben un-ter den neuen, liberalen Umgebungsbedingungen somit völlig andere Auswirkun-gen als im Kontext autoritärer Verhältnisse.

Rozumilowicz (2002) verweist auf die Erwartbarkeit solcher Residuen und be-schreibt unter dem Titel „Inappropriate Utilization“ (ebd.: 22) wie strukturelle Reformen durch die Persistenz alter Verhaltensmuster entkräftet und unterwan-dert werden (vgl. Kap. 3.3.1). Die Gleichzeitigkeit alter und neuer Verhaltens-muster sei geradezu bezeichnend für den Charakter bestimmter Übergangsphasen und dürfe nicht als Misslingen der Transformation gedeutet werden. Vielmehr empfiehlt Rozumilowicz (2002) eine Reihe von Strategien, die auf die Erneue-rung dieser Verhaltensmuster hinwirken (Kap. 3.3.1).

Auswahl und Aufbereitung von Themen erscheint als interaktiver Prozess zwischen al-Iraqiya und al-Sharkiya

Die relative Ausgewogenheit der Berichterstattung über innenpolitische Konflikte in den Nachrichten des sunnitisch geprägten, privaten Senders al-Sharkiya steht im Gegensatz zur kategorischen Einseitigkeit der Berichterstattung zu den The-menfeldern Versorgung und Flüchtlinge/Rückkehrer, die stark zugespitzt gegen die Regierung gearbeitet ist (vgl. Kap. 8.1.2). Es kann von dieser Beobachtung ausgehend die These formuliert werden, dass al-Sharkiya ausführlich und ausge-wogen über Themen berichtet, die auf al-Iraqiya nicht thematisiert werden, und dass al-Sharkiya zugespitzt einseitig über Themen berichtet, die auch von al-Ira-qiya einseitig behandelt werden. Die beiden Sender verhalten sich in der Nach-richtenselektion und Deutung von Ereignissen komplementär-diametral zueinan-der mit dem offenkundigen Ziel, den Grad der Unterschiedlichkeit möglichst groß zu halten. Die redaktionelle Verarbeitung von Politik folgt also weniger journa-

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listischen als vielmehr politischen Kriterien, wobei der Charakter der Parteilich-keit durch die antagonistische Verbundenheit der Sender in einem neuen Licht erscheint. Der politische Wettbewerb wird nicht zwischen Parteien ausgetragen, die Medien für ihre Zwecke instrumentalisieren, sondern zwischen Medien, die einen eigenen Kampf um Deutungshoheit miteinander austragen. Die These vom Sender als politischer Akteur mit Parteifunktionen (Hafez 2004) wird durch diese Beobachtung erhärtet. Die Art, wie die Bürger in den Nachrichten bei al-Sharkiya inszeniert werden, zeigt, dass der Sender sich nicht für ihre Anliegen in der Art einer NGO einsetzt, sondern in der Art einer Partei, die sich nicht an humanitären, sondern an politischen Ziele orientiert. Der Bürger dient dem Redakteur nur als Figur der Betroffenheit, mit der politische Effekte erzielt werden.

Das Reichweitenranking der Fernsehsender zeigt, dass die beiden Antagonisten al-Sharkiya und al-Iraqiya auch die populärsten Sender im Irak sind (vgl. Kap. 6.5). Ob diese Ebenbürtigkeit die Spaltung der Gesellschaft spiegelt oder aber einen kompetenten Medienumgang der Nutzer, kann nur über weitere Nutzungs-forschung untersucht werden.

Quellenvielfalt als Spiegel eingeschränkter Machtfülle auf Seiten der Regierung

Aus der Perspektive von Wolfsfeld (1997) müssen die Ergebnisse der Inhaltsan-alyse dahingehend interpretiert werden, dass die Regierung (Authorities), gegen-läufig zur Darstellung einer sich stetig bessernden Sicherheitslage, keine Kon-trolle über die zentralen innenpolitischen Konflikte besitzt. Wolfsfeld (1997) und Bilke (2008) postulieren beide einen direkten Zusammenhang zwischen Kontrolle über den Konfliktverlauf einerseits und Kontrolle über den Informationsfluss an-dererseits. Die beiden Dimensionen bedingen einander im Rahmen eines kumu-lativen Effekts: Wer den Konflikt beherrscht, beherrscht die mediale Darstellung des Konflikts, die den weiteren Konfliktverlauf maßgeblich beeinflusst usw. (vgl. Kap. 3.3.7). Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser Einschätzung die Wahl der Quellen auf al-Sumaria und al-Sharkiya, so zeigt sich ein offensichtlich kaum beschränkter Zugriff auf alle am Konflikt beteiligten Parteien sowie auf zusätzli-che Stakeholder wie Bürger vor Ort, Provinzratsmitglieder u.a. Es ist den genann-ten Sendern nicht nur möglich, über die Konflikte in der von ihnen gewählten Form zu berichten, es ist auch ein breites Spektrum beteiligter Akteure als Quelle

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zugänglich und bereit zu sprechen. Die Machtfülle der Regierung, deren Deu-tungsmonopol von den Darstellungen gegnerischer Akteure unterwandert wird, erscheint aus diesem Blickwinkel signifikant eingeschränkt.287

Auch der von Wolfsfeld (1997) formulierte Vorwurf gegen Journalisten, sie wür-den reflexhaft auf Signale von Macht und Status reagieren und sich von den Par-teien instrumentalisieren lassen, trifft hier nicht zu (vgl. Kap. 3.3.7). Es wird an der sorgsam unterschiedlichen Auswahl der Sprecher vielmehr deutlich, dass die Redakteure nicht von den Parteien mit Informationszuwendungen bedacht wer-den, sondern dass die Redakteure ihre Gesprächspartner nach politischen und/o-der journalistischen Kriterien selbstbestimmt auswählen. Der von Wolfsfeld (1997) geforderte Ausstieg aus dem Tauschgeschäft zwischen Politik und Medien – Informationsprivilegien gegen Deutungshoheit – scheint vollzogen; die redak-tionelle Unabhängigkeit der Medien gegenüber den Konfliktparteien ist auf den privaten Sendern tendenziell groß.

Damit erhärtet sich auch weiter die These, dass die Bemühungen der Regierung um Eingrenzung journalistischer Handlungsspielräume bisher kaum erfolgreich sei (vgl. Kap. 6.3). Regierungskritische Medienakteure wie al-Sharkiya und al-Sumeria behaupten sich mit hohen Reichweiten am Markt und scheinen kaum eingeschränkt bei der Auswahl und Aufbereitung ihrer Quellen.

Wolfsfelds Typologie (1997) basiert auf der These, dass die Struktur der politi-schen Situation die journalistischen Spielräume und in der Folge die Berichter-stattung determiniert. Eine bestimmte Offenheit bzw. Geschlossenheit des Feldes und eine bestimmte Strukturiertheit des Konflikts bringen einen bestimmten Ty-pus von Berichterstattung hervor (Kap. 3.3.7). Die im Irak vorfindliche Vielfalt von Perspektiven in der Berichterstattung, die ausgeprägte zumindest externe Plu-ralität der Meinungen, stehen allerdings im Widerspruch zu dieser These. In der irakischen Öffentlichkeit werden alle Typen von Berichterstattung praktiziert, so-dass die Annahme formuliert werden kann, dass nicht die Art des Konflikts, son-dern vielmehr das redaktionelle Umfeld hier als maßgebliche Bedingung wirksam werden – eine Forderung, die Wolfsfeld (1997) aus seiner Studie ableitet (vgl. ebd.: 60). Es wäre in weiterführenden Arbeiten der Frage nachzugehen, ob hier

287 Das breite Spektrum der in der Berichterstattung repräsentierten Akteure findet seine Grenzen

bei Vertretern der sunnitisch geprägten Aufstandsbewegung, die niemals als Sprecher in Er-scheinung treten. Siehe dazu den nächsten Abschnitt: Senderübergreifende Deutungshegemo-nie der Authorities in der Berichterstattung zum sunnitisch geprägten Widerstand.

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8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

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ein Zusammenhang zu den besonderen Eigenheiten von Mediensystemen im Kontext fragiler Staatlichkeit besteht (vgl. auch Kap. 4).

Senderübergreifende Deutungshegemonie der Authorities in der Berichterstattung zum sunnitisch geprägten Widerstand

Vor dem Hintergrund der eben skizzierten Quellen- und Deutungsvielfalt er-scheint die Gleichschaltung der Medien in der Berichterstattung über die Sicher-heitslage bzw. Aufstandsbewegung erstaunlich. Aus der Perspektive des Ethical Reporting nach Lynch (2002) wäre hier senderübergreifend Kritik an übermäßi-ger Vereinfachung der Konfliktlage zu formulieren (Cat of Cradle versus Tug of War): Dämonisierung des Gegners als Terrorist, Reduktion der Berichterstattung auf militärische Akteure und Aspekte, ausschließliche Berücksichtigung von Au-thorities als Informationsquelle usw. (vgl. Kap. 3.3.7).

Nach Wolfsfeld (1997) wäre eine entsprechende Einordnung als „Servant for the Public“ (ebd.: 198) für alle Sender gleichermaßen zutreffend, denn Informationen werden ausschließlich von Seiten der staatlichen Truppen oder Regierung bezo-gen, Sprecher der Aufstandsbewegung kommen als Quellen nicht vor und die Be-richterstattung übernimmt senderübergreifend die Perspektive des Militärs, in de-ren Darstellungen die staatlichen Truppen den Konflikt mit einer Abfolge von Sicherheitsoperationen steuern und kontrollieren.

Diese Form der Berichterstattung ist in Wolfsfelds (1997) Typologie als aktive Parteinahme für die Seite der Regierung zu bewerten, auch wenn das Verhältnis zwischen sicherheitspositiven und sicherheitsnegativen Ereignissen zwischen den Sendern variiert und sich damit auch Unterschiede in der Bewertung der Situation zu erkennen geben (vgl. Kap. 3.3.7).

Obwohl auch hier nur offizielle Quellen in Anspruch genommen wurden, hinter-lässt die Vorrangstellung sicherheitsnegativer Ereignisse bei al-Sharkiya aller-dings durchaus regierungskritische Effekte, weil der Eindruck der Unterlegenheit auf Seiten der irakischen Armee überwiegt, die einer vitalen Aufstandsbewegung ohnmächtig gegenübersteht. Wolfsfelds (1997) These von der maßgeblichen Be-deutung der Informationskontrolle für die Steuerung der öffentlichen Meinungs-bildung muss hier dahingehend relativiert werden, dass die Kontrolle über den Informationsfluss die Deutung und Einrahmung von Ereignissen auf den ver-schiedenen Sendern nicht zwingend einschließt.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

306

Feedback Loop II: Ausblendung von Gewalt als Instrument der Befriedung?

Die Berichterstattung über Gewalt und bewaffnete Konflikte erscheint in einem neuen Licht, wenn man mit Lynch (2002) die Anschläge und Attentate in ihrer eigentlichen Natur als Kommunikationshandlungen betrachtet, deren vorrangiges Ziel darin besteht, die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen. Auch Wolfsfeld (1997) beschreibt diese Art von Kommunikation als Strategie von radikalen Randgruppen, die in Ermangelung anderer Mittel über extreme Devianz auf Zu-gang zu einem anderweitig verschlossenen Mediensystem zielt (vgl. Kap. 3.3.7). Man kann an dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob Einbezug der Aufständischen in das Prinzip der Repräsentation einen Niederschlag auf die Intensität der be-waffneten Aktionen hätte, denn die von Wolfsfeld (1997) vorgeschlagene Logik der Devianz als Mittel des Medienzugangs legt diesen Zusammenhang nahe. Würden die Aufständischen Gelegenheit zur Artikulation in den Nachrichten oder Talkshows erhalten, würde die Notwendigkeit von Gewalt auch aus Sicht der Ak-teure entkräftet.

Auch die von Lynch (2002) als Feedback Loop II bezeichnete These eines ursäch-lichen Zusammenhangs zwischen Berichterstattung über Gewalt und realer Aus-übung von Gewalt kalkuliert mit der Macht der Medien, über Mechanismen der positiven Korrelation die Entwicklung der Sicherheitslage mit-steuern zu können: Je weniger Berichterstattung, desto weniger Aktion, so die Feedback-Loop-II-These (vgl. Kap. 3.3.8). Aus der Perspektive des Ethical Reporting wäre konse-quenterweise die von al-Iraqiya praktizierte Leugnung oder Nichtbeachtung ter-roristischer Aktivitäten positiv zu bewerten, während die übergeordnete Bedeu-tung der Informationsfunktion von Massenmedien eine solche Bewertung verbie-tet.

Die Taktik der Ausblendung wird von Wolfsfeld (1997) als journalistische Option nicht untersucht oder kategorisiert. Wolfsfeld (1997) geht vielmehr davon aus, dass alle Konfliktparteien daran interessiert sind, für die eigene Version der Kon-fliktinterpretation maximale Reichweiten zu generieren. Der öffentliche Sender al-Iraqiya kommuniziert aber durch Ausblendung das Nicht-Vorhandensein von Konflikten und bewaffneten Antagonisten. Auch Schweigen kann in diesem Sinne als machtvolles Narrativ Verbreitung finden, fehlt aber in der Typologie von Wolfsfeld (1997), der nur die Steuerung von Informationsströmen, nicht aber die Auslassung von Akteuren und Ereignissen in seine Theoriebildung einbezieht.

Page 316: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

8.3 Konfliktbehandlung im Kontext fragiler Staatlichkeit

307

Die explizite Bezugnahme der Interviewpartner auf die Strategie der Auslassung, ihr ausgeprägter Spürsinn für politisch intendierte Informationslücken, verweist auf eine hohe Wahrscheinlichkeit ähnlich ausgeprägter Sensibilität unter den Zu-schauern. Politisch motivierte Auslassung von Informationen ist als Kommunika-tionsstrategie aus Zeiten autoritärer Herrschaft bekannt und kann jetzt, unter plu-ralisierten Bedingungen, ins Verhältnis gesetzt werden zur Berichterstattung auf anderen Sendern. Auch wenn die Frage nach den gesellschaftlichen Wirkungen manipulativer Kommunikation abschließend nur über eine Untersuchung von Re-zeptionsmustern irakischer Mediennutzer zu beantworten ist, darf an dieser Stelle die Annahme formuliert werden, dass sich die Wirkung politischer Propaganda im Kontext liberalisierter Medienstrukturen in ihr Gegenteil verkehrt und in erster Linie die Glaubwürdigkeit des Senders beschädigt.

Eskalation als Resultat von Interaktionen

Die Frage, inwiefern die irakischen Medien zur Eskalation von Gewalt beitragen, wird von einigen Interviewpartnern mit Verweis auf den Radiosender al-Ahed beantwortet, den Experte Tariq Khalil als faschistisch bezeichnet. In Übereinstim-mung mit den in Kapitel 6.6 rezipierten Autoren wird am Beispiel der Konflik-teskalation in Samarra infolge der Zerstörung des al-Askari-Schreins die Be-obachtung formuliert, dass das eskalative Potenzial der parteilichen Sender nicht eigeninitiativ operiert, sondern über die Zuspitzung der bewaffneten Konflikte mobilisiert wird. Hier wäre der Beitrag der Medien retrospektiv nicht als Auslö-ser, sondern als Verstärker von Gewalt einzuordnen.

Reljic (2004) sieht ebenfalls eine dynamische Beziehung zwischen dem Eskalati-onspotenzial von Medien und politischen Umgebungsbedingungen. Seiner Auf-fassung nach sind es die Ausprägungen autoritärer Strukturen, die als Katalysator wirksam werden: Je eher der Kontext von autoritären Formen geprägt ist, desto wahrscheinlicher wird das Konfliktpotenzial der Medien in Phasen politischer Anspannung tatsächlich umgesetzt (vgl. Kap. 3.3.7). Eine aggressive Zuspitzung der Kommunikation, wie in Samarra 2006 geschehen, wäre aus dieser Perspektive dem Wiedererstarken autoritärer Herrschaftsformen geschuldet. Der Wechselwir-kungszusammenhang wird hier von einer einfachen Interdependenz zwischen Kommunikation und Konflikteskalation zu einem Dreieck aus Herrschaftsform, Konfliktentwicklung und Kommunikation erweitert.

Page 317: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

308

8.4 Umfang und Qualität von Informationen

In Kap. 2.3.1 ist die Bereitstellung von politisch und sozial relevanten Informati-onen als grundlegendste Funktion des Mediensystems für die Existenz- und Ent-wicklungsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft diskutiert worden. Verfüg-barkeit von Informationen, so die Annahme, ist essenzielle Voraussetzung für jede Form politischer Teilhabe. Umfang und Qualität von Informationen müssen deswegen bei der Begutachtung demokratierelevanter Aspekte der Medienent-wicklung im Irak berücksichtigt werden. Als zentrale Qualitätskriterien sind in Kap. 2.3.1 Vielfalt, Vollständigkeit, Relevanz und Richtigkeit genannt worden, die zu ergänzen und zu differenzieren wären durch qualitätsrelevante Aspekte des irakischen Verhaltenskodex für Journalisten.288

Ausgehend von der Strukturanalyse (vgl. Kap. 6) war im Hinblick auf die Infor-mationsfrage die Annahme formuliert worden, dass die Versorgung der Bürger mit Informationen ohne politische Einfärbung nur sehr eingeschränkt gewährleis-tet ist und dass die Darstellung von Ereignissen auf einzelnen Sendern an Per-spektiven eher arm ist als reich (vgl. Kap. 6.7). Im Folgenden wird der Versuch unternommen, aus den Ergebnissen der Inhaltsanalyse Thesen über die Qualität von Informationen im irakischen Fernsehen mit Blick auf die genannten Kriterien zu formulieren. Vorab werden Eckdaten zum Umfang von Nachrichten und In-formationsprogrammen auf den einzelnen Sendern diskutiert und auch die An-sichten der irakischen Interviewpartner werden daran anschließend zusammenge-fasst.

8.4.1 Anteil von Informationsangeboten im Programm der untersuchten Sender

Als Informationsangebote sollen in der vorliegenden Arbeit die fernsehpublizis-tischen Formate Nachrichten, Talkshows und Reportagen/Dokumentarfilme ver-standen werden, aus denen sich der Informationsanteil im Programm der einzel-nen Sender ergibt. Ergänzt werden mit Blick auf die Spezifik der irakischen Pro-gramme Liveübertragungen von Reden und Konferenzen, die z.B. beim öffentli-chen Sender al-Iraqiya eine wichtige Rolle spielen, sowie die Presseschau, die bei allen Sendern ihren Platz im Programm hat. Als Unterhaltungsformate werden

288 The Professional Code of Conduct for the Iraqi Media s. Annex 3.

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8.4 Umfang und Qualität von Informationen

309

demgegenüber Serien, Spieleshows, Musiksendungen, Kindersendungen, Maga-zinsendungen mit Unterhaltungscharakter, Horoskope und Haushalts- und Koch-sendungen eingeordnet.

Die Programmanalyse offenbart eine insgesamt herausragende Bedeutung von fernsehpublizistischen Formaten, namentlich Nachrichten, im Programm iraki-scher Fernsehsender mit Ausnahme von al-Sumeria, wo Unterhaltungsformate priorisiert werden. Der Gesamtanteil an Informationsprogrammen ist bei allen Sendern mit Ausnahme von al-Sumeria mit durchschnittlich etwa 50% sehr hoch und bei dem öffentlichen Sender al-Iraqiya mit 71% am höchsten, wie Tabelle 8.21 zeigt.289

289 Zum Vergleich: Ein von der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten im Herbst 2013

veranlasste Programmanalyse deutscher Sender zeigt, dass der Anteil fernsehpublizistischer Formate bei den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF bei 49% bzw. 49,03% liegt. Bei den privaten Sendern liegt der Anteil deutlich niedriger. SAT 1: 16,9%, RTL: 23,7%, VOX: 11,9%, RTL 2: 14,1%, ProSieben: 7,7%, kabel eins: 20,5%.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

310

Tabelle 8.21: Anteil von Informationen und Nachrichten am Gesamtprogramm (TV) (zu-sätzlich zu Nachrichten) *

Nachrich-ten

(min)

Nachrich-ten

(%)

Informatio-nen*

(min)

Informatio-nen*

(%)

Gesamt

(min)

Gesamt

(%)

al-Iraqiya

25.08.2008 236 min 32,8 % 318 min 44,2 % 554 76,9 %

27.08.2008 210 min 29,2 % 365 min 50,7 % 575 79,7 %

31.08.2008 191 min 26,5 % 216 min 30 % 407 56,5 %

Gesamt 1.536 71 %

al-Sumeria

25.08.2008 91 min 12,6 % 172 min 23,9 % 263 36,5 %

26.08.2008 82 min 11,4 % 70 min 9,7 % 152 21 %

28.08.2008 88 min 12,2 % 74 min 10.3 % 162 22,4 %

Gesamt 577 26,6 %

al-Furat

27.08.2008 160 min 22,2 % 209 min 29 % 369 51,3 %

25.08.2008 138 min 19,2 % 191 min 26,5 % 329 45,7 %

31.08.2008290 111 min 18,5 % 190 min 31,7 % 301 50,2 %

Gesamt 999 49 %

al-Sharkiya

25.08.2008291 104 min 21,7 % 135 min 28,1 % 239 49,8 %

26.08.2008 148 min 20,6 % 183 min 25,4 % 331 46 %

31.08.2008 196 min 27,2 % 189 min 26,3 % 385 53,5 %

Gesamt 955 49,7 %

* Eigene Darstellung

290 Für den 31.08.2008 sind aus technischen Gründen bei al-Furat nur zehn Stunden Programm

für die Analyse verfügbar; der prozentuale Informations- bzw. Unterhaltungsanteil am Ge-samtprogramm wurde entsprechend umgerechnet.

291 Am 25.08.2008 sind von al-Sharkiya aus technischen Gründen nur acht Stunden Programm verfügbar; der Informations- bzw. Unterhaltungsanteil wurde entsprechend hochgerechnet.

Page 320: Medien und Demokratie im Irak: –ffentlichkeit im Kontext von Transformation und bewaffneten

8.4 Umfang und Qualität von Informationen

311

Die Gesamtbetrachtung zeigt neben der hohen Wertschätzung von Informations-programmen eine komplementär ebenfalls ausgeprägte Geringschätzung von Un-terhaltungsprogrammen. Hier fällt der privat-kommerzielle Sender al-Sumeria mit einem hohen Anteil von Musiksendungen, Spieleshows und Serien aus dem Rahmen, wie untenstehend Tabelle 8.22 zeigt:

Tabelle 8.22: Umfang und Anteil von Unterhaltung im Gesamtprogramm (TV)* Sender/Tage Unterhaltung

(min) Unterhaltung (%)

al-Iraqiya

27.08.2008 11 min 1,5 %

31.08.2008 160 min 22,2 %

Gesamt 225 min 10,4 %

al-Furat

25.08.2008 32 min 4,4 %

27.08.2008 44 min 6,1 %

31.08.2008 63 min 8,8 %

Gesamt 139 min 6,4 %

al-Sumeria

25.08.2008 359 min 49,9 %

26.08.2008 428 min 59,4 %

28.08.2008 459 min 63,7%

Gesamt 1.246 min 57,7 %

al-Sharkiya

25.08.2008 65 min 13,5 %

26.08.2008 286 min 39,7 %

31.08.2008 152 min 21,1 %

503 min 26,2 %

*Eigene Darstellung

Aus der Einzelbetrachtung von Programmstrukturen der untersuchten Sender er-geben sich folgende Profileigenschaften:

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

312

Al-Iraqiya (öffentlicher Sender des IMN) hat mit 71% den im Vergleich höchsten Informationsanteil im Programm, der sich maßgeblich aus Talkshows, Nachrich-ten und Liveübertragungen von Ereignissen zusammensetzt. Gesprächsformate werden an drei Tagen auf insgesamt über fünf Stunden ausgedehnt und dabei weitgehend als politische Interviews realisiert, in denen Regierungsvertreter oder Assoziierte Regierungshandeln erklären und rechtfertigen (vgl. Kap. 8.1.1). Be-merkenswert ist der hohe Anteil sowie im Einzelnen die Länge von Liveübertra-gungen: In den drei untersuchten Tagen werden die Zuschauer insgesamt über sieben Stunden lang zu TV-Teilnehmern von real stattfindenden Ereignissen, die teils über Stunden hinweg ohne redaktionelle Dramaturgie unkommentiert über-tragen werden. Fast ein Drittel der Sendezeit für Liveübertragungen wird ver-schiedenen Gerichtsverhandlungen zu Prozessen gegen Mitglieder der Baath-Par-tei und der ehemaligen Regierung gewidmet. Weiterhin wird eine Sicherheitskon-ferenz mit General Qassim Atta als Hauptsprecher übertragen, das Treffen von Premierminister Nuri al-Maliki mit Schriftstellern und Intellektuellen sowie ein Fest zum zweijährigen Bestehen staatlicher Sender und die Ankunft von zurück-kehrenden Flüchtlingen aus Ägypten am Flughafen in Bagdad. Einzig beständiges Unterhaltungselement ist die Serie Vulkan, ein klassisches Familiendrama, das täglich ausgestrahlt wird.

Al-Furat (Sender der schiitisch geprägten Partei SIIC) zeigt mit 49% einen eben-falls sehr hohen Informationsanteil im Programm, der sich mit abnehmendem Zeitumfang aus Nachrichten (999 min), Talkformaten (223 min), Reportagen (191 min), Presseschau (50 min), Liveübertragungen (43 min) ergibt. Der kleine Unterhaltungsanteil von 6,4 % wird maßgeblich durch Kindersendungen bestrit-ten. Herausragend ist bei al-Furat der Anteil religiöser Sendungen, die in der vor-liegenden Arbeit weder dem Unterhaltungs- noch dem Informationssegment zu-gerechnet werden. Insgesamt 6:12 Stunden werden Koranrezitationswettbewerbe, religiöse Lieder, Gebete und Islamunterrichtungen ausgestrahlt, was mit Blick auf die politische Agenda des konservativ-schiitischen SIIC wenig überraschend ist.292

Al-Sumeria (privat-kommerzieller Sender) fällt mit einem vergleichsweise gro-ßen Unterhaltungsanteil von 57,7% und einem komplementär kleinen Anteil von

292 Der TV-Sender al-Furat wird von der schiitisch-konservativ geprägten Partei Oberster Isla-

mischer Rat betrieben; siehe zu den Sendern im Einzelnen: Kap. 7.2.1.

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8.4 Umfang und Qualität von Informationen

313

26,6% Informationsprogramm aus dem Rahmen der bei den anderen Sendern vor-wiegenden Gewichtung. Bei al-Sumeria stehen lange Musiksendungen, Spiele- und Talent-shows, Serien und Komödien im Vordergrund, was den kommerziel-len Charakter des Senders unterstreicht. Der Informationsanteil umfasst neben drei Talkrunden von insgesamt 3:15 Stunden vor allem Sportsendungen. Talk-shows werden, anders als auf den anderen Sendern, als kontroverse Diskussionen realisiert (vgl. Kap. 8.3.1).

Al-Sharkiya (privater, sunnitisch geprägter Sender) ist der einzige Sender, dessen fernsehpublizistische Angebote auch Dokumentationen und Reportagen umfas-sen. In der täglichen Reihe Tagebuch einer Stadt wird der Zuschauer zum Teil-nehmer einer Exkursion ohne Führer, in der die Kamera kommentarlos und scheinbar ohne Ziel Menschen, Orte, Häuser verschiedener Städte erkundet. Mit einem zeitlichen Umfang von insgesamt 152 Minuten werden Hawija (Kirkuk), Basra und die Gärten von al-Kut in dieser Weise vorgestellt. Das Magazin Repor-ter ist eine Sammlung von Reportagen zu Themen aus aller Welt, die etwas will-kürlich kuratiert erscheinen. Ein Beitrag über kostenlose Zeitungen in Spanien steht hier neben einem Beitrag über das Brandenburger Tor und seine Geschichte. Das fernsehpublizistische Portfolio bei al-Sharkiya setzt sich insgesamt zusam-men aus Nachrichten (448 min), Talkshows (212 min), Dokumentationen/Repor-tagen (230 min), Presseschau (53 min) und Sportsendungen (12 min). Bemerkens-wert erscheint die Dichte der Talk-sendungen am 31.08.2008: Hier werden vier Episoden der Talkshow der Der Dialog mit einem Umfang von insgesamt 126 Minuten an einem einzigen Tag gezeigt.

8.4.2 Die Informationsfunktion aus Sicht irakischer Medienproduzenten

Die Bereitstellung von Informationen für die Bürger ist diejenige Aufgabe des Mediensystems, die in den für die vorliegende Arbeit geführten Interviews mit irakischen Medienproduzenten die mit Abstand geringste Würdigung erfährt. Zu-gespitzt formuliert gehört die Informationsfunktion nicht zum Selbstbild der be-fragten Medienproduzenten im Irak. Obwohl, wie gerade ausgeführt, der Infor-mationsanteil im Programm der untersuchten Sender auffällig groß ist, alle Sender ausgedehnte Nachrichtenblöcke im Programm haben und dafür zuständige Abtei-lungen in der Organisation betreiben, wird die damit offenkundig bedeutsame Be-reitstellung von Informationen als eigenständige Verantwortung und gesellschaft-liche Aufgabe in den Gesprächen nur in Ausnahmefällen thematisiert. Zu diesen

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

314

Ausnahmen gehört Zeinab Khayat, Projektleiterin für den Aufbau eines lokalen Radiosenders in Basra, die in der Informationsfunktion die Existenzberechtigung ihres Senders sieht. Dabei betont sie die nach wie vor nicht ausreichende Bereit-stellung lokaler Informationen und fordert in diesem Zusammenhang eine stärker dezentralisierte Informationskultur, also eine Verschiebung der redaktionellen Aufmerksamkeit von Bagdad in die Regionen.293

Zu den Ausnahmen gehört auch Iyad al-Tamimi, der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zwar als Experte befragt wurde, der aber im realen Leben unter anderem eine Nachrichtenagentur geleitet hat und vor diesem Hintergrund der In-formationsfunktion der Medien hohen Stellenwert einräumt. Er geht davon aus, dass die irakischen Medienproduzenten nur ein Ziel haben: „to be informative!“294

Die Auswertung der Interviews legt die Vermutung nahe, dass Iyad al-Tamimi hier einem Irrtum unterliegt, denn in den Darstellungen der übrigen Inter-viewpartner spielt die Informationsfunktion der Medien im Vergleich zu gesell-schaftlichen Aufgaben wie Integration, Partizipation und Vermittlung von Werten kaum eine Rolle.

Nachrichtenprogramme kommen in den Interviews meist dort zur Sprache, wo es um die allgemeine Erläuterung der Programmstrukturen geht. Sie finden Erwäh-nung als standardisierte Programmbausteine, denen standardisierte Routinen zu-grunde liegen und die entsprechend keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Den-noch geben die Medienproduzenten an verschiedenen Stellen Hinweise auf Kri-terien für den Ein- oder Ausschluss von Ereignissen in die bzw. aus den Nach-richtenprogramme(n). Auch der Stellenwert von Qualitätskriterien wie Vielfalt, Relevanz und Vollständigkeit wird mitunter diskutiert. Dabei lassen sich für die Auswahl und Aufbereitung von Informationen in den Nachrichtenredaktionen folgende Tendenzen erkennen:

(1) Insbesondere Mitarbeiter oder Vertreter von lokalen Radiostationen wie An-mar Fadil, Khulud al-Hashimi und Zeinab Khayat artikulieren eine Hinwendung zu lokalen Themen. Diese Ausrichtung wird mit der beschränkten Reichweite der betroffenen Sender begründet sowie mit Abgrenzungsbemühungen zur zentrali-sierten Informationspolitik der Regierung.

293 Zeinab Khayat, Projektleiterin für den Aufbau eines unabhängigen, lokalen Radio- und TV-

Senders/ London (GB), Nov. 2008. 294 Iyad al-Tamimi/ Erbil (Irak), Nov. 2008.

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8.4 Umfang und Qualität von Informationen

315

(2) Es gibt eine Tendenz unter Mitarbeitern privater Sender, aber auch bei Abbass Qassim als Vertreter eines Parteisenders, positive Meldungen gegenüber den überwiegend negativen, von Gewalt dominierten Nachrichten zu bevorzugen. Die irakischen Bürger, so das Argument, hätten mehr als genug Elend und Blutver-gießen zu ertragen. Man müsse den Menschen durch positive Meldungen auch Hoffnung vermitteln. (3) Unter den Mitarbeitern des IMN, aber auch unter Parteisendern, gilt der (in-offizielle) Auftrag, bei der Nachrichtenauswahl Ereignisse zu priorisieren, in de-nen führendes Parteipersonal eine positive Rolle spielt.295 (4) Gezielte Auslassung von Ereignissen in der Berichterstattung, die nicht im Einklang mit der Sichtweise der Partei stehen, wird von verschiedenen Inter-viewpartnern als zentrale Taktik der Parteisender identifiziert und negativ bewer-tet. (5) Die Hinwendung zu Bürgern und bürgernahen Themen als Impulsgeber für Nachrichten wird von der Mehrheit der Gesprächspartner als Anspruch für die redaktionelle Praxis geltend gemacht.

Implizit wird die Informationsfunktion als Anspruch und bisher unerreichtes Fernziel durch die beiden Journalisten Abbass Qassim und Khulud al-Hashimi thematisiert, die sich für die eigene Praxis mehr Möglichkeiten investigativer Ar-beit zum Thema Korruption wünschen. Gegenstand der journalistischen Tätigkeit sollte ihrer Ansicht nach die Bereitstellung von Informationen über Korruption und damit über die Wahrheit hinter den Kulissen sein. Khulud al-Hashimi betont, dass es für die Journalisten einfach sei, die nötigen Informationen zu beschaffen, aber schwierig bis unmöglich, diese zu veröffentlichen. Auch Abbass Qassim ver-weist auf redaktionelle Restriktionen im Sender, für den er arbeitet und in dem es entgegen seinen Hoffnungen nicht möglich sei, investigativen Journalismus zu praktizieren.296

295 Vgl. auch Kap. 8.1.2. 296 TV-Produzent und Moderator Abbas Qassim/ Erbil (Irak), April 2008.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

316

8.4.3 Journalistische Qualität der Informationsangebote

Vor dem Hintergrund dieser Einschätzungen der irakischen Medienproduzenten werden im Folgenden Qualität und Umfang von Informationen auf den untersuch-ten Fernsehsendern mit Blick auf die Qualitätskriterien Vielfalt, Relevanz, Voll-ständigkeit und Richtigkeit diskutiert.

Vielfalt

Vielfalt kann im Journalismus verschiedene Bedeutungen haben: Vielfalt der am Konflikt beteiligten Parteien, Vielfalt der davon Betroffenen oder auch qualitative Unterschiedlichkeit von Blickwinkeln in dem Sinne, dass ein Ereignis aus Sicht von Bürgern, Politikern oder Sachverständigen jeweils anders beurteilt oder wahrgenommen wird (vgl. Kap. 2.3.1). Im vorliegenden Kontext soll der iraki-sche Professional Code of Conduct for the Iraqi Media für die Präzisierung her-angezogen werden, in dem Vielfalt als Teilaspekt von Objektivität rubriziert wird und definiert ist als Einbezug und umfassende Berücksichtigung aller existieren-den Auffassungen zu einer kontroversen Angelegenheit in der Berichterstat-tung.297

We endeavour to give all differing points of view on any matter the right of expression in a professional, fair, and balanced manner, and to respect all differences of opinion and not take one side against another. (Professional Code of Conduct for the Iraqi Media, Objectivity Pkt. 2)298

Auf operativer Ebene muss für eine differenzierte Betrachtung zwischen Mikro-vielfalt sowie interner und externer Vielfalt unterschieden werden. Mikrovielfalt spiegelt Vielfalt von Perspektiven innerhalb eines Berichts, interne Vielfalt meint Vielfalt zwischen Berichten innerhalb von Nachrichtensendungen eines Senders und externe Vielfalt meint die Repräsentation von Parteien und Perspektiven in der Öffentlichkeit insgesamt.299

In der vorliegenden Arbeit wurde die Frage nach Vielfalt und Vollständigkeit mit Blick auf die Berichterstattung zu innenpolitischen Konflikten untersucht (vgl. Kap. 8.3.1). Das Ergebnis der Analyse hat gezeigt, dass innenpolitische Konflikte im Sinne der internen Vielfalt auf den beiden privaten Sendern al-Sharkiya und

297 Für den Code of Conduct siehe Annex 3. 298 Originaltext fehlerhaft und hier nicht korrigiert. 299 Unterscheidung von externer und interner Vielfalt nach Hallin und Mancini (2004: 29). Er-

gänzung von Vielfalt auf Mikroebene (Mikrovielfalt) durch die Autorin.

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8.4 Umfang und Qualität von Informationen

317

al-Sumeria unter relativ umfassender Berücksichtigung aller beteiligten Parteien verhandelt werden.300 Al-Sharkiya zeigt dabei geringe Vielfalt auf der Mikro-ebene der Nachrichten, die durch interne Vielfalt in der Gesamtbetrachtung auf-gewogen wird. Die Analyse zeigt weiterhin, dass der öffentliche Sender al-Iraqiya sowie der schiitisch geprägte Parteisender al-Furat innenpolitische Konflikte in der politischen Berichterstattung ausblenden (vgl. Kap. 8.3.1). Die Parteilichkeit der Sender gibt sich hier nicht an der Einseitigkeit der Darstellung durch Aus-schluss bestimmter Perspektiven zu erkennen, sondern durch Ausblendung des Themenfeldes, sodass die Kritik an der Einseitigkeit im Hinblick auf die Frage nach Qualität an dieser Stelle nicht formuliert werden kann.

Einseitigkeit als Kritik greift für diese beiden Sender erst mit Blick auf die Be-richterstattung zur Entwicklung der Sicherheitslage. Auf al-Iraqiya und al-Furat wird die Perspektive der irakischen Armee eingenommen und mit keinem gegen-läufigen Blickwinkel, weder innerhalb noch zwischen den Beiträgen, kontrastiert. Die Analyse hat überdies gezeigt, dass

(1) die sunnitisch geprägte Widerstandsbewegung an keiner Stelle auf keinem Sender als Beteiligte am Konflikt Repräsentation erfährt. Vom Anspruch der Vielfalt und Ausgewogenheit wird diese Gruppe senderübergreifen ausgeschlos-sen (vgl. Kap. 8.3.1); (2) zu den Themenfeldern Rückkehrer sowie Sicherheit und Versorgung die Per-spektive der Bürger in den Vordergrund gerückt wird und im Rahmen dieser Pri-orisierung bei den Kontrahenten al-Sharkiya und al-Iraqiya der Anspruch auf Vielfalt insgesamt fallen gelassen und explizit einseitig berichtet wird, jeweils mit umgekehrten Vorzeichen: al-Sharkiya benutzt die Bürger als Protagonisten einer Kampagne gegen die Regierung und al-Iraqiya benutzt die Bürger als Protagonis-ten einer Kampagne für die Rückkehr in den Irak (vgl. Kap. 8.2.1); (3) der öffentliche Sender Al-Iraqiya in ausgesuchten Themenfeldern genutzt wird, um bestimmte Anliegen der Regierung zu bewerben. Dies gilt insbesondere für die Rolle der Stämme im Friedensprozess, die Rückführung der Flüchtlinge aus dem Ausland in die Heimat und die Souveränität der irakischen Regierung im SOFA-Prozess. In diesen Themenfeldern wird der Anspruch auf Vielfalt zuguns-ten einer politischen Mission aufgegeben (vgl. Kap. 8.1.1);

300 Dies trifft insbesondere auf die Berichterstattung über den Konflikt der Sahwa Councils mit

der Zentralregierung auf beiden Sendern sowie auf die Berichterstattung über die Konflikte in Kanaqin bei al-Sharkiya zu.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

318

(4) bei al-Iraqiya und nachgeordnet auch bei al-Furat Berichterstattung ganz systematisch von Formen affirmativer Kontextualisierungen geprägt ist: Stellung-nahmen von Regierungsvertretern bleiben entweder unkommentiert oder sie wer-den verdichtet durch gleichlautende Kommentare, um das Gesagte zu unterstrei-chen. Innerhalb eines Beitrags weisen alle Positionen zu einem Thema in dieselbe Richtung und haben gegenseitig affirmativen Charakter. Damit ist affirmative Kontextualisierung als Gegensatz von Vielfalt zu verstehen (vgl. Kap. 8.1.1).

Ganz generell kann zur Frage der Vielfalt festgehalten werden, dass externe Viel-falt durch die politische Polarisierung der Sender in der Öffentlichkeit insgesamt durchaus gegeben ist, während interne Vielfalt in relevantem Umfang nur bei al-Sumeria erkennbar wird. Bei einseitigen Darstellungen überwiegt positive Einsei-tigkeit gegenüber der negativen. Eine Rangreihe der Vielfalt würde den öffentli-chen Sender al-Iraqiya als Schlusslicht sehen und den privat-kommerziellen Sen-der al-Sumeria an erster Stelle, gefolgt von dem privaten Sender al-Sharkiya mit ebenfalls erkennbarem Bemühen um Vielseitigkeit in der Konfliktberichterstat-tung. Der schiitisch geprägte Parteisender Al-Furat stände an dritter Stelle.

Relevanz und Thematisierungsfunktion

In Kap. 2.3.1 ist Relevanz diskutiert worden als Qualitätsmerkmal mit mindestens zwei Ausprägungsdimensionen: Einerseits ist die Betroffenheit der Zielgruppe gemeint und zweitens wurde auch die politische Tragweite eines Ereignisses als Maßstab seiner Relevanz in Stellung gebracht. Wie ist die Auswahl der Themen in den Nachrichtensendungen irakischer Fernsehsender mit Blick auf diese beiden Bedeutungsdimensionen von Relevanz zu bewerten?

In der Analyse der politischen Entwicklung seit 2003 waren in Kap. 5 eine Reihe von Themenfelder als relevant zum Zeitpunkt der Datenerhebung identifiziert worden.

Aus einem Vergleich dieser Liste mit der Übersicht der für die Nachrichten aus-gewählten Themen (vgl. Kap. 7.2.3) ergeben sich verschiedene Diskrepanzen: Ei-nerseits wird über relevante Themen nicht berichtet und andererseits werden irre-levante Themen von einzelnen Sendern aufgegriffen bzw. ausgedehnt behandelt, wie die tabellarische Darstellung deutlich macht:301

301 Themenfelder, die in der politischen Analyse als relevant diskutiert wurden (vgl. Kap. 5) sind

in der Liste fett gedruckt.

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8.4 Umfang und Qualität von Informationen

319

Tabelle 8.23: Zeitaufwand für Themen in TV-Nachrichten pro Sender* Al-Furat Al-Iraqiya Al-Sumeria Al-Sharqiya Min. gesamt

Ausland 13:44 -------------- 33:00 27:00 73:44

Sicherheit 15:45 22:43 15:00 10:21 63:49

Wiederaufbau 21:15 18:25 18:42 0:31 58:53

Versorgung 11:12 9:42 9:20 20:50 51:04

Flüchtlinge -------------- 16:00 2:40 9:40 28:20

Besatzung (SOFA) 2:50 11:53 8:20 3:30 26:33

Umstr. Gebiete 0:45 -------------- 13:48 8:00 22:33

Sahwa Councils -------------- -------------- 6:30 10:00 16:30

Dipl. Beziehungen 4:28 -------------- 6:30 07:10 15:21

Wahlen 12:24 3:43 -------------- 1:00 13:24

Mahdi-Armee -------------- -------------- 0:18 11:52 12:10

Transitional Justice -------------- 8:00 -------------- -------------- 8:00

Rolle der Stämme -------------- 7:31 -------------- ------------- 7:31

Korruption -------------- -------------- 2:00 11:10 13:00

Föderalismus -------------- -------------- -------------- -------------- --------------

* Eigene Darstellung

Bedenklich stimmen die im unteren Bereich der Liste aufgeführten Themenberei-che Korruption, Föderalismus, Wahlen und Mahdi-Armee, die in der politischen Analyse als relevante Themen identifiziert und in der lokalen Berichterstattung aber nur ganz sporadisch thematisiert werden.

Das eigentlich für das Fortkommen Iraks hochrelevante Thema Korruption wird im gesamten Datensatz nur ein einziges Mal in ernstzunehmender Weise aufge-griffen: Am 25.08.2008 findet sich in den Nachrichten bei al-Sharkiya auf Platz 8 ein längeres Interview mit dem Oppositionspolitiker Ali al-Rubayi, der im Kon-text eines Berichts über die schlechte Lebensmittelversorgung die Regierung an-klagt, die Bemühungen um die Behebung der Korruption zu behindern. Al-Roubayi bezeichnet die Regierung als korrupt und inkompetent. Mit Verweis auf die Bürger, die diese Regierung nicht gewählt hätten und die von dieser Regierung nicht vertreten würden, stellt er auch ihre Legitimität in Frage. Ergänzt wird seine

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Stellungnahme um einen Verweis auf einen Bericht von Transparency Internati-onal zur irakischen Versorgungskrise, in dem die Regierung ebenfalls als korrupt dargestellt wird.

Über die Wahlen wird ausschließlich einseitig auf al-Furat berichtet und dort nur in Form einer Kampagne für Wahlbeteiligung. Über das zentrale Thema eines möglicherweise in Zukunft föderalen Iraks wird nicht berichtet und auch in den Talksendungen niemals diskutiert.

Das Prinzip der Auslassung war schon im Kapitel 8.1.2 zur politischen Kommu-nikation von den irakischen Interviewpartnern als Taktik politischer Parteien dis-kutiert und gerade mit Blick auf den staatlichen Sender al-Iraqiya problematisiert worden. Ziel dieser Taktik, so die Interviewpartner, ist die Vermittlung oder Durchsetzung einer bestimmten Sichtweise auf die Geschehnisse im Irak. Ausge-blendet wird, was nicht im Einklang mit dieser Sichtweise steht. Am häufigsten betrifft dies militärische Schwächen oder Niederlagen. Das Profil der oben skiz-zierten Auslassung von Themenfeldern erhärtet diese These.

Insgesamt kann zur Frage der Relevanz festgehalten werden, dass die privaten Sender, namentlich al-Sumeria, ihre Zuschauer über relevante Themen besser in-formieren als staatliche Anbieter und Parteisender, die umfangreich relevante Themen ausblenden und Berichterstattung über nicht relevante Themen ausdeh-nen.

Vollständigkeit und Richtigkeit

Eine Rekonstruktion der in den Nachrichten thematisierten Ereignisse durch ei-gene Recherchen und eine Prüfung von Richtigkeit und Vollständigkeit der Be-richte im Einzelnen können im Kontext der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Ob also die Beiträge in den Nachrichten jeweils vollständig und in allen Details richtig waren, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden. Die Diskussion von Vielfalt und Relevanz hat aber gezeigt, dass die Auslassung als Mittel der politischen Manipulation von Nachrichten bei den Partei- und Staatsendern systematisch zum Einsatz kommt, sodass Kritik an mangelnder Vollständigkeit in diesen Fällen angemessen erscheint. Vergleichbare Hinweise auf mangelnde Richtigkeit sind aber der bisherigen Diskussion zur Qualität von Informationen nicht zu entnehmen. Es gibt jedenfalls keinen Grund anzunehmen, dass Falschmeldungen von irakischen Sendern benutzt werden, um parteikon-forme Realitäten zu konstruieren, oder dass mit diesem Ziel falsche Informationen

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8.4 Umfang und Qualität von Informationen

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in die Darstellung von Ereignissen eingeflochten werden. Während Einseitigkeit und Auslassungen zum Repertoire der parteilichen Berichterstattung gehören, trifft dies für den gezielten Einsatz falscher Informationen aus Sicht der vorlie-genden Untersuchung nicht zu.

8.4.4 Theoriegeleitete Einordnung

Aus der bisherigen Analyse von Umfang und Qualität verfügbarerer Informatio-nen ergibt sich insgesamt das Bild einer Informationslage, in der jedes Thema auf allen Sendern ein ganz eigenes Darstellungsprofil herausbildet mit unterschiedli-chen Ausprägungen von Umfang und Qualität. Dem liegt der Einsatz verschiede-ner Verarbeitungsmuster zugrunde, die sich auf der Basis der Interviews und In-haltsanalysen grob wie folgt kategorisieren lassen:

• Ausblendung: Ein relevantes Ereignis/Thema wird nicht aufgegriffen oder ein wichtiger Akteur wird nicht thematisiert.

• Einblendung: Nicht relevante Ereignisse werden in den Nachrichten aufge-griffen.

• Ausdehnung: Die Berichterstattung über ein Ereignis oder ein Thema wird über die Sachlage hinaus gedehnt.

• Einseitigkeit: Über ein Ereignis oder einen Zustand wird innerhalb einer Nachricht oder innerhalb der Nachrichtensendungen nur aus einer Perspek-tive berichtet, während ergänzende, ggf. gegenläufige Perspektiven, Mei-nungen oder Positionen keine Berücksichtigung finden.

• Vielseitigkeit: Ein Ereignis, ein Thema oder ein Zustand wird innerhalb ei-ner Nachrichtensendung oder innerhalb einer Nachricht von verschiedenen Seiten beleuchtet unter Berücksichtigung verschiedener Positionen, Par-teien und Meinungen.

Aus den Verarbeitungsroutinen in den verschiedenen Sendern ergibt sich dann für jedes Thema eine jeweils spezifische Informationslage in der Öffentlichkeit und für jeden Sender ein jeweils spezifisches Themenprofil, wie oben ausgeführt.

Aus der Analyse der Themenwahl und -ausdehnung wird deutlich, dass Zu-schauer, die mindestens zwei Sender aus unterschiedlichen Segmenten kombinie-ren, eine relativ gute Informationslage in den Themenbereichen Besatzung, Si-cherheit, Versorgung und Wiederaufbau vorfinden. Besonders gut ist sie für Zu-schauer, die Nachrichten der beiden privaten Sender al-Sharkiya und al-Sumeria

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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regelmäßig schauen. Besonders einseitig wird das Weltbild der Zuschauer vom öffentlichen Sender al-Iraqiya geprägt und besonders vielseitig jenes der Zu-schauer vom privaten Sender al-Sumeria. Wer nur al-Sumeria schaut, muss sich mit einem geringen Informationsanteil im Programm arrangieren, kommt aber in den Genuss einer überwiegend umfassenden und vielseitigen Berichterstattung über relevante Themen.

Hoher Informationsanteil als Indikator für geringe Informationsqualität

Aus demokratietheoretischer Sicht wäre formal betrachtet der hohe Anteil von fernsehpublizistischen Formaten im Programm irakischer Fernsehsender zu-nächst positiv zu bewerten, da sich hier eine für den demokratischen Prozess be-deutsame Verfügbarkeit von Informationen in der Öffentlichkeit spiegelt. Iraki-sche Sender bedienen die Informationsfunktion quantitativ umfassend und schaf-fen damit wichtige Grundlagen für die informierte Teilhabe der Bürger an Politik und Gesellschaft. Aber auch die Auseinandersetzung mit Politik als Diskurs wird von den Sendern ernst genommen, wie der hohe Anteil der Talkformate auf fast allen Sendern zeigt. In einem hohen Anteil fernsehpublizistischer Angebote spie-gelt sich auch die demokratisch wünschenswerte Vorstellung eines politisch inte-ressierten, mithin engagierten Zuschauers, der Fernsehen primär nicht zur Unter-haltung, sondern als Informationsquelle nutzt. Eine in dieser Form auf Informa-tion fokussierte Mediennutzung wäre für eine Gesellschaft im Umbruch nicht un-gewöhnlich, da das Leben jedes Einzelnen in der Transformation viel direkter von Politik betroffen ist, als dies im Kontext einer konsolidierten Gesellschaft der Fall ist (vgl. Coronel 2010: 116, vgl. auch Kap. 3.3.4).

Doch die qualitative Betrachtung zeigt, dass ein hoher Informationsanteil im Pro-gramm negativ mit Qualität korreliert: Je höher der Informationsanteil, desto ein-seitiger, lückenhafter und irrelevanter ist die Berichterstattung und desto stärker tritt die politische Einfärbung der Berichterstattung in den Vordergrund. Dies zeigt sich vor allem am staatlichen Sender al-Iraqiya, der einerseits auffällt mit einem sehr hohen Informationsanteil von über 70% und andererseits den größten Anteil an Ausblendungen vorweist sowie die stärkste Ausprägung von Einseitig-keit. Die Ausdehnung der Informationsanteile ist in der vorliegenden Untersu-chung also weniger als Indikator einer verbesserten Informationslage zu lesen als vielmehr als Indikator für den instrumentellen Charakter von Nachrichten im

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8.4 Umfang und Qualität von Informationen

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Sinne der Manipulation öffentlicher Meinungsbildung. Diese These wird weiter-hin erhärtet durch den privaten Sender al-Sumeria, der mit nur 26,7% den kleins-ten Anteil an fernsehpublizistischen Formaten im Programm aufweist, bei der qualitativen Betrachtung aber durch vergleichsweise sehr hohe Werte im Bereich Vielseitigkeit, Relevanz und Vollständigkeit in den Vordergrund tritt.

Umgekehrte Arbeitsteilung zwischen privaten und staatlichen Sendern

Aus den Erkenntnissen des vorliegenden Kapitels erhärtet sich die in Kapitel 8.3.3 bereits formulierte These, dass der kommerzielle Charakter von al-Sumeria im Zusammenhang mit journalistischen Qualitätsvorteilen zu sehen ist. Als einziges Angebot im Sample mit klar kommerzieller Ausrichtung erzielt al-Sumeria die mit Abstand besten Werte im Hinblick auf die Qualitätskriterien Relevanz, Viel-falt und Vollständigkeit. In einer paradoxen Doppelbewegung bewirkt die kom-merzielle Natur des Projektes aber sowohl Qualitätsvorteile als auch geringe In-formationsanteile im Programm – zwei Effekte, die sich auf der Ebene der gesell-schaftlichen Wirkung gegenseitig aufheben oder zumindest schwächen. Al-Su-meria könnte von der Kompetenz her einen relevanten Beitrag zur Informiertheit der Bürger liefern, bleibt aber zugunsten von Unterhaltungsprogrammen hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Beim öffentlichen Sender al-Iraqiya manifestiert sich ein umgekehrter Zusam-menhang: Die negative Bewertung des Informationsangebots im Hinblick auf die genannten Qualitätskriterien geht einher mit einem hohen Anteil an Informations-angeboten im Programm. Während die Ausdehnung fernsehpublizistischer Ange-bote dem öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag entspricht, sind die Qualitätsde-fizite als Nichterfüllung dieses Auftrags zu bewerten.

Rozumilowicz (2002) sieht in einem dualen System Wettbewerbsorientierung und Parteilichkeit als primäre Prägung im Sektor der privaten Anbieter, die auf-grund ihrer kommerziellen Ziele den demokratischen Anspruch der Bürger auf Repräsentation und Information nur eingeschränkt erfüllen. Die Aufgabe des öf-fentlichen Mediensektors besteht unter anderem darin, das strukturelle Ungenü-gen des privaten Sektors durch Orientierung auf Partizipation und Vielfalt auszu-gleichen, um sicherzustellen, dass elementare Kommunikationsleistungen für die Demokratie erbracht werden (vgl. Kap. 3.3.1). Die Erkenntnisse aus dem vorlie-genden Kapitel legen die These nahe, dass im Irak diese Arbeitsteilung zwischen privatem und öffentlichem Sektor grob gesprochen ins Gegenteil verkehrt wird:

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Die Parteilichkeit und andere Fehlleistungen der öffentlichen Sender und der Par-teimedien werden im privat-kommerziellen Sektor kompensiert, der demokrati-sche Basisfunktionen erfüllt, während im öffentlichen Sektor klientelistische An-liegen verfolgt werden.

Ein solches Forschungsergebnis steht im Widerspruch zur Kapitalismuskritik von Dörner (2001), Crouch (2015) und anderen, die gerade in der Dominanz kommer-zieller Medien ein Problem für die Demokratie sehen, weil die Politik sich hier über den Hebel der Medienmacht den Regeln der Verkäuflichkeit unterwerfe (vgl. Kap. 2.3.3). Im Irak ist dieser Effekt nicht zu beobachten. Wie die Auswertung der bestehenden Literatur bereits gezeigt hat, gibt es auf Seiten der Politik keine Notwendigkeit, sich den Regeln der Medien zu unterwerfen, weil Reichweite nicht über unabhängige Medienangebote, sondern über parteinahe/parteieigene o-der staatliche Akteure umgesetzt wird (vgl. Kap. 6.4). Das hat auch die Abwesen-heit von Regierungspersonal in den Talkshows der privaten Anbieter und damit ein Publizitätsdefizit auf diesen Sendern zur Folge (vgl. Kap. 8.1.3). Aus demo-kratietheoretischer Sicht ergibt sich deswegen aus der umgekehrten Arbeitstei-lung zwischen Privatsektor und öffentlichen Medien ein Vakuum dort, wo die Medien in Stellvertretung der Bürger Rechtfertigung von der Regierung für deren Handeln einfordern sollten (vgl. Kap. 8.1.3).

Thematisierungsfunktion

Die eingangs aufgestellte Übersicht über die Verarbeitung von Themen durch die verschiedenen Sender gibt eine schlechte Informationslage zu den Themenfeldern Wahlen, irakische Aufstandsbewegung, Föderalismus und Korruption zu erken-nen sowie eine relativ einseitige und wenig umfassende Informationslage zur Ent-wicklung der Mahdi-Armee und zu den Konflikten in Kanaqin. Aus demokratie-theoretischer Sicht wäre an diese Beobachtung die Vermutung anzuschließen, dass zu den genannten Themenfeldern keine öffentliche Debatte entbrennen kann und damit auch kein Kontext für Meinungsbildungsprozesse hier geschaffen wird. Es verstreicht zudem die Gelegenheit, Diskursknotenpunkte im Sinne der gesell-schaftlichen Kohäsion zu bilden. Aus normativer Sicht haben Massenmedien ge-rade in fragmentierten Gesellschaften die Aufgabe, über Agenda-Setting themen-zentrierte Diskursmomente zu schaffen, in denen Argumente, Deutungen und An-sichten auf ein Ereignis bezogen werden können und die in dieser Form integrativ wirken (vgl. Kap. 3.3.3). Dabei steht und fällt das Integrationspotenzial mit der

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8.4 Umfang und Qualität von Informationen

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Relevanz des Themas für die Menschen und mit der Möglichkeit, verschiedene Meinungslager zu mobilisieren. Aus dieser Sicht wären fast alle der oben genann-ten Themen prädestiniert dafür, im Mittelpunkt einer öffentlichen Debatte zu ste-hen. Stattdessen gibt es dazu keine oder isolierte Teildiskurse.

Dramatisch erscheint diese Sachlage auch mit Blick auf die anstehenden Provinz-wahlen, die nur vom privat-kommerziellen Sender al-Furat und ansonsten von keinem Sender in den Nachrichten thematisiert werden. Über das Agenda-Setting der Medien können Wahlen und Wahlkampfthemen als Meilensteine nationaler Kohäsion wirksam werden. Die irakischen Provinzratswahlen wären eine gute Gelegenheit, um Diskursknotenpunkte zu Wahlkampfthemen und damit auch Knotenpunkte des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu bilden. Diese Gelegen-heit verstreicht ungenutzt. Stattdessen spiegelt sich in der Aussetzung des Themas eine massive Abwertung von Wahlen, die als maßgebliche Manifestation von Volksherrschaft offensichtlich keine Glaubwürdigkeit (mehr) besitzen.302 Gerade al-Iraqiya wäre hier im Rahmen seines öffentlich-rechtlichen Mandats in der Pflicht gewesen, die Bürger über Parteien und Kandidaten sowie über die techni-sche Vorbereitung der Wahlen auf dem Laufenden zu halten. Stattdessen werden Bürger durch ein Informationsvakuum explizit nicht motiviert, sich an der Wahl und damit an der Volksherrschaft zu beteiligen. Diesem Problem wird eine Talk-sendung auf al-Sumeria gewidmet, was erneut für die Bedeutsamkeit dieses Ak-teurs in der irakischen Medienlandschaft spricht.

Die Folgen der Ausblendung für die Demokratie

Berichterstattung über Korruption oder eine journalistische Annäherung an die verschiedenen Akteure der sunnitisch geprägten Aufstandsbewegung sind für die Medienhäuser mit der möglichen Konsequenz von Sanktionen oder der Gefahr von gewalttätigen Übergriffen verbunden – das hat die Auswertung der Literatur in Kapitel 6 gezeigt und auch die Analyse der Interviews legt dies nahe. Die weit-gehende Ausblendung beider Themenfelder in den Nachrichten muss im Zusam-menhang mit dieser Bedrohungslage gesehen werden und hat hier wahrscheinlich ihre Ursachen. Die Beobachtung, dass Sender ausgedehnt über Terrorismus be-richten, aber niemals über die irakische Aufstandsbewegung und kaum jemals

302 Die Wahlbeteiligung bei den Provinzwahlen lag schließlich bei nur 51%, was von Beobach-

tern als Effekt von Glaubwürdigkeitsverlusten der klientelistischen Parteien gewertet wurde (vgl. Kap. 5.7).

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über Korruption, legt die Vermutung nahe, dass die Bedrohung der Pressefreiheit primär von der Politik ausgeht und weniger von nichtstaatlichen Akteuren aus den Reihen des sunnitisch-islamistischen Widerstands.

Als Ausnahme ist ein langer Bericht auf al-Sharkiya über Lebensmittelversorgung am 25.08.2008 zu diskutieren. Oppositionspolitiker Ali al-Roubayi bezichtigt hier die Regierung mit klaren Worten, an der Bekämpfung der Korruption nicht nur zu scheitern, sondern die Aufklärung der Korruption gezielt zu behindern. Al-Roubayi bezeichnet die Regierung als korrupt und stellt ihre Legitimität als Ver-tretung des Volkes insgesamt in Frage. Durch diese Stellungnahme tritt also ein Zusammenhang zwischen Legitimität der Regierung und Korruption in Erschei-nung: dort, wo Korruption thematisiert wird, wird auch die Frage der Legitimität aufgeworfen. Verstärkt wird dieser Zusammenhang durch die Bezugnahme in demselben Beitrag auf einen Bericht von Transparency International, der eben-falls Inkompetenz der Regierung bei der Überwindung der Versorgungskrise be-klagt.

Die Frage nach den gesellschaftlich-politischen Folgen der Ausblendung bzw. Thematisierung von Korruption als Thema in den Medien wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Einerseits ist unumstritten, dass eine kritische, mithin in-vestigative Presse einen wichtigen Beitrag zur Kontrolle der Regierenden und zur Transparenz der Regierungsarbeit leistet. Gute Regierungsführung ist deswegen auf ein in diesem Sinne kritisches Mediensystem angewiesen (vgl. Kap. 3.3.4). Andererseits nährt die Berichterstattung über Amtsmissbrauch Misstrauen in der Bevölkerung gegen die Regierung, was gerade in neu entstehenden Demokratien den Prozess der Konsolidierung gefährden kann. Gerade die logische Anbindung der Legitimitätsfrage an die Korruptionskritik im eben genannten Beispiel zeigt dies eindrücklich. Die Kontrollfunktion der Presse wird in der Transformations-forschung vor diesem Hintergrund nicht uneingeschränkt positiv bewertet. Im Ge-genteil: Eine (zu) kritische Presse wird als Risiko für das Gelingen der Transfor-mation diskutiert (vgl. Kap. 3.3.4). Das Versäumnis einer solchen Einschätzung besteht aber darin, dass die destabilisierenden Effekte von investigativer Bericht-erstattung nicht ins Verhältnis gesetzt werden zu ihrem gesellschaftlichen Mehr-wert, der nach Meinung von Coronel (2010) in der Bilanz überwiegt. Denn abge-sehen vom beschädigten Prestige der Regierung in den Augen der Wähler und der damit einhergehenden Möglichkeit von Vertrauensverlust soll und kann investi-gativer Journalismus die Praxis der Korruption in der Politik effektiv unterbinden

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helfen und damit einen Beitrag zu Gerechtigkeit und Wohlstand leisten. Ein Ab-bau der Korruption mit Folgen für eine verbesserte Versorgung der Bürger mit öffentlichen Dienstleistungen würde das Vertrauen der Menschen in die Regie-rung wahrscheinlich eher stärken als ein ominöses Schweigen über die Fehlleis-tungen der Regierung in diesem Bereich. Für die Frage der Demokratie ist zusätz-lich der Glaubwürdigkeitsgewinn bedeutsam, den die Medien durch investigative Berichterstattung erzielen könnten und der sich – das legen die theoretischen Überlegungen zur demokratischen Funktion von Medien in Transformationspro-zessen nahe – langfristig in eine Stabilisierung demokratischer Verhältnisse zwi-schen Bürgern, Medien und Regierung übersetzt (vgl. Kap. 3.3.4).

Die Ausführungen zur Versorgungslage und zur Wirtschaft im Irak haben gezeigt, wie eklatant die Schere zwischen staatlichem Einkommen durch die Ölwirtschaft und öffentlichen Versorgungsleistungen auseinanderklafft – eine Diskrepanz, die auf der Ebene lokaler Diskurse ohnehin mit dem Problem grassierender Korrup-tion und Inkompetenz der Regierenden erklärt wird (vgl. Kap. 5.10). Es ist schwer vorstellbar, dass die Berichterstattung über Korruption vor diesem Hintergrund das Vertrauen der Menschen in die Regierung erschüttert. Es ist aber durchaus vorstellbar, dass das Vertrauen der Menschen in die irakischen Medien und ihr Vertrauen in die Demokratie als im Vergleich zur Autokratie transparenzstiften-des System gestärkt würde, wenn über Korruption berichtet würde.

Die Ausblendung innenpolitischer Konflikte bei al-Iraqiya und al-Furat kann kaum als Folge von Bedrohung interpretiert werden, zumal diese Themen aus-führlich auf den privaten Sendern verhandelt werden. Die Analyse der Interviews hat vielmehr gezeigt, dass die Ausblendung hier als Dementi zu verstehen ist: Das Schweigen negiert die Existenz von gegnerischen Akteuren und Ereignissen und hat damit fast den Stellenwert einer militärischen Taktik, die den Gegner im Schweigen symbolisch vernichtet (vgl. Kap. 8.3.3). Darüber hinaus wirkt die Aus-blendung auch als Entmündigung der Bürger, die explizit ausgeschlossen werden von der Teilhabe an Themen, die nicht öffentlich verhandelt werden. Die entspre-chenden Themen werden durch die Ausblendung als interne Angelegenheit mar-kiert, an der der Bürger nicht beteiligt wird.

Im Verständnis von Transformationsforschern wie McConnell und Becker (2002) ist dieses Verhalten nachvollziehbar, mithin legitim, da das Ziel der Stabilisierung staatlicher Strukturen und staatlicher Legitimität in dieser Phase gegenüber de-mokratischen Werten priorisiert werden darf (vgl. Kap. 3.3.3). Die Negierung von

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Vetomächten und bewaffneten Regierungsgegnern erscheint im Kontext dieser Priorisierung von Stabilität versus Demokratie völlig einleuchtend. Der kurzfris-tige Stabilitätsgewinn wird aber auf lange Sicht mit Destabilisierungseffekten be-zahlt, weil die Ausgrenzung von Vetomächten und Regierungsgegnern aus der Öffentlichkeit deren Radikalisierung, mithin deren Popularität, begünstigen, wie der Siegeszug des IS im Norden Iraks 2014 gezeigt hat. Über Jahre hinweg waren sunnitische Gruppen in allen Bereichen des politischen und öffentlichen Lebens mit Verweise auf Stabilität und nationale Sicherheit marginalisiert und dementiert worden. Wie die Ereignisse im Sommer 2014 gezeigt haben, hatte diese Margi-nalisierung keinesfalls die Schwächung der sunnitischen Protestbewegungen zur Folge, sondern hat vielmehr den Zulauf zu diesen Bewegungen und die Unterstüt-zung des Widerstands in der Bevölkerung begünstigt. Die in der Transformations-forschung vielfach behauptete Konkurrenz zwischen Demokratie und Stabilität entpuppt sich hier als wenig haltbares Konstrukt. Wahrscheinlich hätte eine früh-zeitige Inklusion aller Konfliktparteien in den öffentlichen Diskurs der staatlichen Entwicklung zu mehr Stabilität verholfen als die Ausgrenzung von Konfliktthe-men und -akteuren dies getan hat.

8.5 Die Rolle der Medien im irakischen Transformationsprozess

Die Analyse der Medieninhalte zur Frage der Transformation erfolgt nicht als di-rekte Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial, sondern konkludent durch die Synthese verschiedener Ergebnisse aus den vorigen Kapitel 8.1-8.4. Der unter-schiedlichen Behandlung liegt zugrunde, dass die Indikatoren für die Analyse transformationsspezifischer Aspekte in allen anderen Themenfeldern bereits be-arbeitet wurden und eine erneute Auswertung des Materials vor allem Redundan-zen hervorbrächte. Deswegen wird auch die vorliegende demokratietheoretische Auswertung zur Rolle der Medien in der Transformation an das Ende der empiri-schen Analyse gestellt.

In Kapitel 3.3.1 war mit Rozumilowicz (2002) das Problem der Gleichzeitigkeit alter und neuer Verhaltensmuster für die Konsolidierungsphase hervorgehoben worden. In den anschließenden Kapiteln 3.3.2-3.3.5 war Mobilisierung als mög-liche Rolle von Medien in der Transformation einer stabilisierenden Funktion in einer theoretischen Diskussion gegenübergestellt worden. Untenstehend werden

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8.5 Die Rolle der Medien im irakischen Transformationsprozess

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auf Basis der Ergebnisse aus der empirischen Untersuchung Beobachtungen und Thesen zu diesen Aspekten formuliert.

8.5.1 Gleichzeitigkeit alter und neuer (Verhaltens-)Muster

Wie in Kapitel 6.7.4 im Nachgang der Strukturanalyse bereits ausgeführt wurde, befindet sich das irakische Mediensystem nach dem Phasenmodell von Rozumi-lowicz (2002) zum Zeitpunkt der Untersuchung in einer Phase der Konsolidie-rung, die ihrem Modell nach durch die Gleichzeitigkeit neuer/demokratischer Strukturen und alter/autoritärer Verhaltensmuster geprägt ist. Alte Institutionen, Strukturen und Verfahren sind in dieser Phase bereits ersetzt durch neue Regelun-gen, aber das Erbe der autoritären Kultur bleibt im Handeln und Denken der Me-dienproduzenten virulent und unterwandert in dieser zweiten Phase die Entfaltung demokratischer Reformen – so war der besondere Charakter dieser Phase mit Ro-zumilowicz (2002) diskutiert worden (vgl. Kap. 3.3.1).

Auf der Ebene von Gesetzen und Strukturen ist die demokratische Erneuerung des Mediensektors durch die amerikanisch geführte Coalition Provisional Autho-rity (CPA) bereits im ersten Jahr nach dem Regimesturz vorangetrieben worden. Das Mediensystem ist seitdem offen und pluralistisch strukturiert, es herrscht ein liberales Pressegesetz und die Freiheit der Presse ist in der Verfassung verankert. Wie schon in Kap. 6.7.4 deutlich wurde, sind aber die alten Verhältnisse und Ver-haltensmuster im Zuge dessen nicht automatisch durch neue ersetzt worden. Die Analyse zur politischen Kommunikation (vgl. Kap. 8.1) bestätigt vielmehr den Eindruck der Gleichzeitigkeit alter und neuer Formen dahingehend, dass die Par-teien und die Regierung Medien auch weiterhin als Kommunikationsinstrumente zur Durchsetzung ihrer Interessen in der Öffentlichkeit wahrnehmen. Gesondert hervorzuheben wären diesbezüglich politische Kampagnen zu ausgesuchten The-men wie Sicherheit, Rückkehr und Wahlen, die auf Parteisendern wie al-Furat, aber auch auf dem öffentlichen Sender al-Iraqiya in der Art eines Trojanischen Pferds in die Nachrichtensendungen eingeschleust werden, mit dem Ziel, die öf-fentliche Meinung zu diesen Themen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Al-Iraqiya und al-Furat versuchen offenbar, propagandistische Kommunikation mit Glaubwürdigkeit und Authentizität aufzuladen, indem die Nachricht als Form und die Nachrichtensendung als Kontext gewählt werden. Dies entspricht in Inhalt und Form einem autoritär geprägten Medienverständnis, in dem Medien als In-strument für die Manipulation der öffentlichen Meinung gesehen werden.

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Für die transformationstheoretische Interpretation dieser Verhaltensmuster ist ge-rade die von Rozumilowicz (2002) postulierte Gleichzeitigkeit alter und neuer Formen bedeutsam, denn der durch die Vernachrichtigung der Kampagne avi-sierte Glaubwürdigkeitsgewinn wird durch die pluralisierten Umgebungsbedin-gungen sogleich zurückgenommen, da die Mediennutzer verschiedene Angebote vergleichen und in diesem Vergleich Unterschiede interpretieren können. Die Einbettung von politischen Kampagnen in die Nachrichtensender wird in einem pluralisierten Kontext für die Mediennutzer als Taktik der Manipulation enttarnt – ein Effekt, der den Medienproduzenten im Kontext autoritärer Umgebungs-strukturen erspart bleibt.

Das Erbe der autoritären Kultur zeigt sich auch in repressiv geprägten Interven-tionen der Regierung im Mediensektor. Die Strukturanalyse hat gezeigt, dass so-wohl die US-amerikanisch geführte CPA in den 14 Monaten ihrer Machtausübung als auch die irakische Regierung nach Machtübernahme mit repressiven und teil-weise rechtswidrigen Mitteln um die Kontrolle oppositioneller Sender wie al-Sharkiya, al-Jazeera und Bagdad TV bemüht waren. Die Maßnahmen zielten da-rauf, die Arbeit regierungskritischer Sender im Irak zu erschweren oder unmög-lich zu machen (vgl. Kap. 6.3). In der Analyse war der Fortbestand von oppositi-onellen Diskursen und regierungskritischen Sendern vor diesem Hintergrund als Hinweis auf die begrenzte Macht der Regierung interpretiert worden. Mit Ro-zumilowicz (2002) wäre hier zusätzlich auf die Gleichzeitigkeit autoritärer und demokratischer Formen der Machtausübung zu verweisen, die als Beschränkung autoritärer Repression wirksam wird.

Als Paradebeispiel für die Unterwanderung demokratischer Reformen durch au-toritär geprägte Verhaltensmuster kann die Entwicklung des öffentlich-rechtli-chen Rundfunks im Irak herangezogen werden. Während die Gesetzesgrundlagen für den Aufbau des Iraqi Media Network am Modell des international als Vorbild geltenden British Broadcasting Corporation (BBC) orientiert ist, wird al-Iraqiya in der irakischen Transformationsrealität von der Regierung manipuliert und für die Verbreitung tendenziöser Darstellungen genutzt (vgl. Kap. 8.1.2). Hier klaffen strukturelle Vorgaben und redaktionelle Verarbeitungsmuster weit auseinander. Doch auch unter den Mitarbeitern schwelen Konflikte über die Bedeutsamkeit des öffentlich-rechtlichen Auftrags und die Frage, ob dieser Auftrag gegenüber den herrschenden Parteien verteidigt werden kann und muss.

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8.5 Die Rolle der Medien im irakischen Transformationsprozess

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8.5.2 Kontrollfunktion und Mobilisierung für den politischen Wandel

Weil Rechtstaatlichkeit und demokratische Regierungskompetenz in postautori-tären Staaten nur gering entwickelt sind und entsprechend Korruption und Amts-missbrauch häufig zur gängigen Praxis in der Politik gehören, sieht Coronel (2010) die Kontrolle der Regierung in der Phase der Konsolidierung als Schlüs-selfunktion für das Mediensystem und für das Gelingen des demokratischen Pro-jekts. Die Watchdog-Funktion der Medien muss ihrer Ansicht nach in dieser Phase in den Vordergrund treten (vgl. Kap. 3.3.4). Im Feld der journalistischen Praxis korrespondiert die Kontrollfunktion der Medien u.a. mit der Methode des investigativen Journalismus, der sich die Aufdeckung von (Amts-)Missbrauch und anderem Fehlverhalten in Politik und Wirtschaft zum Ziel setzt.

Die Inhaltsanalyse von Nachrichten und Talkshows in der vorliegenden Studie zeigt, dass die Berichterstattung zu Korruption explizit ausgeblendet und das Thema senderübergreifend in den Medien gemieden wird. Mit Ausnahme einer einzigen Radio-sendung auf Radio Dijla sowie einem Interview in den Nachrich-ten beim privaten, sunnitisch-geprägten Sender al-Sharkiya findet im gesamten Datenmaterial Korruption allenfalls am Rande von Gesprächen oder Nachrichten Erwähnung. Berichterstattung über Fälle von Korruption oder Aufklärung von Korruption sind nicht Gegenstand der Berichterstattung oder öffentlicher Debat-ten. Die Ausführungen in Kapitel 5.10 haben zugleich gezeigt, dass die Versor-gungsdefizite im Irak auf der Ebene lokaler Diskurse mit dem Problem grassie-render Korruption und Inkompetenz der Regierenden erklärt werden. Auch in den untersuchten TV-Nachrichten wird der Regierung in zahllosen Bürgerauftritten Verantwortung für die Misere zugewiesen. Es ist vor diesem Hintergrund kaum vorstellbar, dass Berichterstattung über Korruption – wenn es sie geben würde – das Vertrauen der Menschen in die Regierung erschüttern würde. Es ist hingegen durchaus plausibel anzunehmen, dass das Vertrauen der Menschen in die iraki-schen Medien und ihr Vertrauen in die Demokratie gestärkt würde, wenn diese Lücke geschlossen und über Korruption berichtet würde. Die grassierende Theo-riebildung durch die Bürger über die Gründe der anhaltenden Versorgungskrise auf der einen Seite und das Schweigen der Medien auf der anderen Seite lassen keinen anderen Schluss zu, als dass das Vertrauen der Bürger sowohl in die Re-gierung als auch in die Medien durch die Ausblendung von Korruption Schaden nimmt.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Die Gespräche mit irakischen Medienproduzenten und auch die Auswertung der Literatur haben des Weiteren gezeigt, dass dem Schweigen der Medien zur Kor-ruption berechtigte Angst vor Gewalt aus den Reihen der Politik zugrunde liegt. Die meisten Parteien beschäftigen bewaffnete Milizen und sind bereit, ihre Machtinteressen mit Gewalt und auch gegen Journalisten zu verteidigen. Die Kontrollfunktion der Medien wird hier durch mangelnde Rechtstaatlichkeit unter-wandert und außer Kraft gesetzt.

Anders als von Coronel (2010) für die Phase der Konsolidierung empfohlen, schlagen sich die irakischen Medien also nicht auf die Seite der Bürger, um aus dieser Perspektive die Korruption zu bekämpfen und die Lösung der irakischen Versorgungskrise im Interesse der Bürger von der Regierung einzufordern. In der Analyse zur Partizipation war vielmehr festgestellt worden, dass die umfassende Einbindung der Bürger in die TV-Nachrichten instrumentellen Charakter hat und der Durchsetzung politischer Ziele angegliedert ist.303 Die Bürger werden als Sta-tisten in der Dramaturgie politischer Kampagnen für oder gegen die Regierung arrangiert. Wirkliche Empathie mit den Nöten der Bürger oder Solidarität im Kampf gegen die Versorgungsmisere liegen hier nicht zugrunde (vgl. Kap. 8.2.1).

Weiterhin war in diesem Zusammenhang die Abwesenheit der Zivilgesellschaft in den Nachrichten und Talkformaten problematisiert worden. Die Aufgabe der Zivilgesellschaft besteht aus demokratietheoretischer Sicht darin, die individuel-len Problemlagen der einzelnen Menschen zu verdichten, als gesellschaftliches Problem in der Öffentlichkeit zu artikulieren und damit auch die Lösung dieser Probleme von den Zuständigen einzufordern. Die Zivilgesellschaft übernimmt in dieser Definition die Rolle der Interessensvertretung der Bürger (vgl. Kap 2.3.3 und 2.2.2). In Kap. 8.2.3 war die These formuliert worden, dass der Fortbestand der irakischen Versorgungskrise u.a. in einem Aufmerksamkeitsdefizit der Me-dien gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen begründet sei. Genau hier fügt sich auch die Ausblendung von Korruption wie ein Puzzleteil in das Bild einer irakischen Medienlandschaft, die gegenüber Machteliten in Politik und

303 38 Mal treten Bürger in den Nachrichten bei al-Iraqiya vor die Kamera, 34 Mal bei al-

Sharkiya. Die Zahl der Sprechakte auf Seiten der Bürger übersteigt die Zahl der Politikvertre-ter um ein Vielfaches. Thematischer Kontext für das Auftreten der Bürger ist bei den privaten Sendern al-Sumeria und al-Sharkiya die Versorgungskrise. Bei al-Iraqiya steht die verbesserte Sicherheitslage im Mittelpunkt (Kap. 8.2.3).

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8.5 Die Rolle der Medien im irakischen Transformationsprozess

333

Wirtschaft weder Kontrollfunktion übernimmt noch Mobilisierung für den politi-schen Wandel betreibt.

Hier muss auch der exogene Charakter der Transformation in den Blick gerückt werden: Der Regimesturz war 2003 nicht von oppositionellen Bewegungen oder Dissidenten, sondern von externen Kräften herbeigeführt worden. Die irakische Transformation wurde entsprechend keineswegs von einer mobilisierten Gesell-schaft getragen, sondern gegen eine überrumpelte und bis dato ausgeschlossene Gesellschaft durchgesetzt. Insofern bietet sich den Medien auch nicht die Option, einer mobilisierten Zivilgesellschaft Zugang zur Öffentlichkeit zu verschaffen o-der den Anschluss an revolutionäre Bewegungen zu suchen. Dafür stehen allein die Akteure der sunnitischen Widerstandsbewegung zur Verfügung, die aber von den Medien pauschal als terroristisch etikettiert und damit als Kommunikations-partner verworfen werden (vgl. Kap. 8.3.3).

Für die Frage der Mobilisierung muss in einer polarisierten Medienstruktur der Umgang der Sender mit politischen Gegnern in die Analyse einbezogen werden. Hafez (2014) macht am Beispiel Ägyptens die Aberkennung der Legitimität geg-nerischer Parteien als Indikator für eine dysfunktionale Form von Pluralismus gel-tend. In der kurzen Zeit der Mursi-Herrschaft hatten sich die politischen Lager für und gegen Mursi die Vernichtung des jeweils anderen Lagers zum Ziel gesetzt – eine Form radikaler Polarisierung, die auch im Mediensektor reproduziert wurde und schließlich den Weg ebnete für die Renaissance autokratischer Herrschaft un-ter Staatspräsident al-Sisi (vgl. ebd.). In dem für Irak untersuchten Datenmaterial unterbleiben derlei Versuche, die Regierung oder oppositionelle Parteien in den Nachrichten oder Talkformaten zu de-legitimieren. Wie die Untersuchung zeigt, ist Regierungskritik auf den privaten Sendern al-Sharkiya und al-Sumeria verbrei-tet. Die für die Demokratie wichtige Kritikfunktion wird also wahrgenommen. Die Legitimität der Regierung wird aber an keiner Stelle infrage gestellt und For-derungen nach einem Regierungssturz werden nicht artikuliert. Exemplarisch kann hier die explizit regierungskritische Ausrichtung aller Talkformate bei al-Sharkiya als Beispiel herangezogen werden: In den beiden politischen Interviews mit den oppositionspolitischen Schwergewichten Ibrahim al-Jafari und Iyad

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Allawi304 werden beide Gesprächspartner durch suggestive Fragen über das ge-samte Gespräch hinweg dazu animiert, die Leistungen und Entscheidungen der Regierung zu kritisieren. Inhaltlich geht es um die aktuellen innenpolitischen Kri-sen und in fast jeder Frage wird Kritik an der Regierung für den Gesprächspartner vom Moderator vorformuliert. Iyad Allawi fügt sich in die Rolle des Regierungs-gegners und diskreditiert die Leistungen der Regierung mit deutlichen Worten. Dabei wird auch die Gemeinwohldienlichkeit des Regierungshandelns in Zweifel gezogen. Die Existenzberechtigung der Regierungspartei und die Legitimität der Regierung werden aber niemals infrage gestellt. Ibrahim al-Jafari verweigert sich gar der ihm zugedachten Rolle des Regierungskritikers und nimmt Premierminis-ter al-Maliki gegen den Moderator in Schutz (vgl. Kap. 8.1.1). Als bedeutsame Ausnahme und Hinweis auf eine Zuspitzung der Kritik ist die Stellungnahme des Oppositionspolitikers Ali al-Roubayi am 25.08.2008 beim privaten Sender al-Sharkiya zu sehen: al-Roubayi bezichtigt die Regierung der Korruption und der Justizbehinderung bei der Aufklärung von Korruption. Er bezeichnet die Regie-rung als inkompetent und stellt, mit Verweis auf die Bürger, die Legitimität der Regierung in Frage.

Die um sich greifende Korruption indiziert in aller Deutlichkeit das Versagen der iraki-schen Regierung. Im Fall der Lebensmitteldiebstähle ist eine stringente Verfolgung der Sache jetzt notwendig. Dies ist von der jetzigen inkompetenten Regierung nicht zu er-warten. Was wir jetzt erleben resultiert aus der Abwesenheit eines funktionierenden Staatswesens. [...] Es bräuchte eine Regierung, die die irakischen Bürger repräsentiert und von diesen wirklich gewählt wurde. Die amtierende Regierung ist Teil der Korrup-tion. Wie soll die Regierung Korruption bekämpfen, wenn sie selbst Teil der Korruption ist? Die Regierung selbst versucht, die existierenden Korruptionsverfahren zu verhin-dern.305

Auch die konsequente Abwesenheit von Regierungsvertretern in den Talksendun-gen der privaten Sender al-Sharkiya und al-Sumeria könnte als gezielte Beschä-digung der Regierung bewertet werden. Indem hier keine Möglichkeit für Regie-rungsvertreter geschaffen wird, Regierungsarbeit zu rechtfertigen, wird auch kein Nährboden für Legitimität dieser Regierung erzeugt – eine Aufgabe, die nach Im-hof (2006) durchaus zum Funktionsspektrum einer funktionierenden Öffentlich-keit gehören würde.

304 Al-Sharkiya/Der Dialog/31.8.2008/: Ibrahim al-Jafari, ehemaliger irakischer Ministerpräsi-

dent, Präsident der Tayar Islah al-Watan (Strömung der nationalen Reform); Al-Sharkiya/Der Dialog/31.8.2008: Iyad Allawi, ehemaliger irakischer Ministerpräsident.

305 25.08.2008/ Al-Sharkiya (Platz 8/11:10 min.).

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8.5 Die Rolle der Medien im irakischen Transformationsprozess

335

In der Bilanz kann aber festgehalten werden, dass im Rahmen der empirischen Untersuchung mit sehr wenigen Ausnahmen keine substanziellen Hinweise da-rauf gefunden wurden, dass Mobilisierung der Bürger für den Wandel im Sinne des Regimesturzes als politische Agenda für irakische Medienproduzenten eine Rolle spielt.

8.5.3 Destabilisierende Medienwirkungen

In Kap. 3.3.2 war die Frage der Mobilisierung auch mit Blick auf eine möglich-erweise konflikteskalative Wirkung von Medien unter polar-pluralistischen Um-gebungsbedingungen diskutiert worden. Es wurde die These aufgegriffen, dass die Instrumentalisierung der Medien durch Konfliktparteien in einem liberalisier-ten Umfeld zur Vertiefung der Konflikte und damit zur weiteren Destabilisierung beiträgt (vgl. Hafez 2014; Stremlau 2013; McConnell und Becker 2002; Putzel und van der Zwaan 2005). Wie können die Ergebnisse aus der empirischen Un-tersuchung insbesondere zur Konfliktberichterstattung (vgl. Kap. 8.4) diesbezüg-lich interpretiert werden?

In der Analyse der Nachrichtensendungen der privaten Sender al-Sumeria und al-Sharkiya ist zunächst eine besondere Ausgewogenheit in der Konfliktberichter-stattung festgestellt worden (vgl. Kap. 8.3.1). Über die im Erhebungszeitraum re-levanten Konflikte der Regierung mit den kurdischen Peshmerga, den Sahwa Councils, der Mahdi-Armee und über die Konflikte in Kirkuk wird ausführlich und unter Einbezug aller relevanten Positionen berichtet. Hervorgehoben wurden in der Auswertung insbesondere Umfänglichkeit und Ausgewogenheit der Be-richterstattung zu den Vorgängen in Kanaqin und den Konflikten mit den Sahwa Councils.

Eine gänzlich andere Form der Bezugnahme wurde bei den Sendern al-Iraqiya und al-Furat herausgearbeitet. Die drei zentralen, innenpolitischen Konflikte der staatlichen Armee mit nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen wurden auf beiden Sendern weder in den Talkshows noch in den Nachrichten thematisiert. Konflikte kommen hier ausschließlich als Sicherheitsprobleme zur Darstellung – ein Deu-tungsmuster, in dem militärische Gegner wie die Peshmerga implizit dem Lager der Terroristen zugeordnet werden.

Die Ausblendung von Konflikten der Zentralregierung mit nichtstaatlichen Akt-euren muss mit Blick auf die besondere Rolle des öffentlichen Senders al-Iraqiya und auf das Eigentumsverhältnis des Senders al-Furat zur Partei SIIC als politisch

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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motivierte Leugnung dieser Konflikte und der darin involvierten Regierungsgeg-ner interpretiert werden. Ausblendung kann vor diesem Hintergrund als Aberken-nung von Existenz (-berechtigung) interpretiert und mit Hafez (2014) als Eskala-tionsstrategie kritisiert werden. Als radikal-pluralistisch bezeichnet Hafez (2014) eine Öffentlichkeit, in der die Medien im Konflikt Partei beziehen und dem poli-tischen Gegner dabei keine Legitimität zugestehen. In Ägypten war der totalitären Gleichschaltung der Medien nach Machtübernahme von al-Sisi eine Radikalisie-rung der pluralistischen Öffentlichkeit vorangegangen. Beide Formen – Gleich-schaltung und radikale Polarisierung – basieren seiner Analyse nach auf derselben Intoleranz gegen die pluralistische Koexistenz unterschiedlicher politischer Lager (vgl. ebd.). Für den irakischen Fall ist eine solche Interpretation aber nicht zutref-fend, weil die Strategie der Ausblendung oder Negierung eben nur von einzelnen und nicht von allen Sendern verfolgt wird. Die pluralistische Verfügbarkeit un-terschiedlicher Interpretationen der politischen Realität in der irakischen Öffent-lichkeit exponiert die Ausblendung eher als politisches Instrument und diskredi-tiert so die Glaubwürdigkeit des Senders (vgl. Kap. 8.1.3).

Diese Einordnung kann allerdings nicht für die Berichterstattung über die sunni-tische Widerstandsbewegung geltend gemacht werden. Hier hat sich das Prinzip der Gleichschaltung in der Form durchgesetzt, dass alle untersuchten Sender das dominante Narrativ vom Kampf gegen den Terrorismus reproduzieren und dabei keinen Unterschied machen zwischen al-Qaida, IS und anderen Akteuren der sun-nitischen Widerstandsbewegung. Auch politisch diametral aufgestellte Sender wie al-Iraqiya und al-Sharkiya sind in diesem Themensegment über ein schema-tisches Deutungsmuster synchronisiert. Zentrales Merkmal der Gleichschaltung ist der Verzicht auf Hintergrundinformationen zu sogenannten Sicherheitsereig-nissen wie Bombenanschläge, Attentate, Festnahmen, Waffenfunde und die sen-derübergreifende Anonymität von Tätern in diesen Fällen.

Im Irak wäre die Frage nach der Mobilisierung von Gewalt durch Medien also mit Hinweis auf die Strategie der Ausblendung zu beantworten, die eine Radikalisie-rung der sunnitischen Aufstandsbewegung befördert hat und aus Sicht dieser In-terpretation zur Destabilisierung der politischen Entwicklung im Irak beigetragen hat.

Populistische Anfeindungen sind im vorliegenden Datensatz nur ein einziges Mal in einer Talksendung von al-Sumeria gefunden worden. Eine Vertreterin der Sadr-

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8.5 Die Rolle der Medien im irakischen Transformationsprozess

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Bewegung darf hier den bewaffneten Kampf der Mahdi-Armee gegen die ameri-kanischen Besatzer propagieren, die unter anderem als „Virus“ bezeichnet wer-den, „den man bekämpfen muss, um ihn loszuwerden“.306 Es wäre aber falsch, aus dieser Beobachtung heraus die These zu formulieren, dass al-Sumeria sich mit Hate-Speech-Strategien in die irakische Konfliktentwicklung einbringt. Die Sen-dung muss vielmehr als demokratisches Bemühen um Inklusion randständiger Parteien verstanden werden, die mit eskalationsrelevanten Risiken verbunden ist. Asma al-Mussawi vertritt mit der Sadr-Bewegung eine Akteursgruppe, die zum Zeitpunkt des Gesprächs versucht, den schwierigen Wandel von einer bewaffne-ten Vetomacht zu einer politischen Partei zu vollziehen. Ihre Teilnahme am Ge-spräch legitimiert die Bewegung als Teil des politischen Systems und wird damit als Triebfeder dieser Transformation wirksam. Der öffentliche Populismus ist aus dieser Perspektive als Kollateralschaden einer ansonsten wünschenswerten Trans-formation mit langfristig stabilisierenden Effekten zu verstehen. Der Sender scheitert zwar an dieser Stelle an der Aufgabe, die aggressive Öffentlichkeitsar-beit der Sadr-Vertreterin durch Kontextualisierung und Moderation abzufedern. Die demokratietheoretische Einordnung von Inklusion als einer in der Tendenz stabilisierenden Taktik bleibt aber von dieser Fehlleistung unberührt.

8.5.4 Engagement für Stabilisierung und Demokratie

Engagement für den demokratischen Prozess im Mediensektor, wie von McConnell und Becker (2002) für die Phase der Konsolidierung idealerweise vor-gesehen, ist von zentraler Bedeutung im Selbstverständnis der irakischen Medi-enproduzenten (vgl. Kap. 8.2.2). Im Mittelpunkt ihrer Darstellungen diesbezüg-lich steht die Vermittlung zwischen Bürgern und Regierung als Knotenpunkt ei-ner demokratischen Annäherung zweier Systeme, die sich jahrzehntelang nur aus der Distanz und unter antagonistischen Vorzeichen beobachtet haben. Insbeson-dere Mitarbeiter oder Leiter von Radiosendern beschreiben vielfach Programme, in denen Regierungsvertreter nicht nur mit den Problemen und Forderungen ein-facher Bürger konfrontiert werden, sondern in denen diesen Regierungsvertretern auch Lösungen und Erklärungen abverlangt werden. Dabei werden im Selbstver-ständnis der Medienproduzenten zwei demokratische Transformationsziele mit-einander verklammert: Zunächst die Selbstbehauptung der Bürger und die Re-chenschaftspflicht der Politiker als Novum gegenüber der bisher willkürlichen

306 Al-Sumeria/In der Öffentlichkeit/25.08.2008.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Aneignung und Ausübung von Regierungsmacht (vgl. Kap. 8.2.2). Drittens ent-steht ein Raum der Partizipation, in dem die Bürger den Regierenden gegenüber Kritik und Forderungen zum Ausdruck bringen und die Regierenden diesen Stel-lungnahmen öffentlich Aufmerksamkeit widmen und damit Bedeutung geben.

Weiterhin bedeutsam im Selbstverständnis der Medienproduzenten ist die Reprä-sentation von Vielfalt als Ausdruck einer demokratischen Öffnung des irakischen Mediensystems. Repräsentation aller ethno-konfessionellen Minderheiten als Kontrastprogramm zur sunnitisch dominierten Öffentlichkeit der Vergangenheit wurde von vielen Interviewpartnern als Schlüssel zu einer integrierten, sicheren und gerechten Gesellschaft betont, in der alle Minderheiten gesehen und gehört werden. Aus demokratietheoretischer Sicht ist diesbezüglich in Kapitel 8.3.2 her-vorgehoben worden, dass die irakischen Gesprächspartner die Repräsentation für den Erfolg des demokratischen Projektes betonen, während der demokratische Streit um politische Positionen eine nur nachgeordnete Rolle spielt.

Aus Sicht der irakischen Medienproduzenten hätte gerade der öffentlich-rechtli-che Rundfunk IMN eine wichtige Funktion für die angemessene Repräsentation von Minderheiten in der irakischen Öffentlichkeit übernehmen sollen. An dieser Aufgabe ist das IMN aber nach Einschätzung der Interviewpartner gescheitert – das ist insbesondere in Kapitel 6.4 aber auch in der bisherigen Auswertung der vorliegenden Empirie (vgl. Kap. 8.1-8.4) deutlich geworden. Die pro-schiitische Parteilichkeit von al-Iraqiya hat die Medienproduzenten desillusioniert und das Interesse der Journalisten, sich für den demokratischen Prozess zu engagieren, entkräftet.

Grundsätzlich kann aber resümiert werden, dass im Selbstverständnis der iraki-schen Medienproduzenten stabilisierende, konsolidierende und demokratieför-dernde Aspekte eine Vorrangstellung haben, während der Wandel der politischen Verhältnisse im Sinne von System- oder Regierungswechsel im Berufsbild von geringer Bedeutung ist.

McConnell und Becker (2002) fordern von den Medien in der Transformation die Umsetzung demokratischer Praxis auch auf der Ebene der Programminhalte. Dazu gehören Aufklärung über demokratische Verfahren und Prinzipien genauso wie die Moderation des demokratischen Streits um politische Positionen. Aus der Untersuchung der Talkformate auf allen Sendern ist diesbezüglich zunächst die Vermeidung von kontroversen Diskussionen in Talkformaten ganz generell her-vorzuheben. Analog zur Geringschätzung des politischen Streits in den Interviews

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8.5 Die Rolle der Medien im irakischen Transformationsprozess

339

und im Selbstverständnis der irakischen Medienproduzenten wird die überwie-gende Mehrheit der Talkformate als politische Interviews mit jeweils einem ein-zigen Gesprächspartner umgesetzt. Politische Gesprächsrunden mit mehr als ei-nem Gast finden sich nur beim privat-kommerziellen Sender al-Sumeria, auf allen anderen Sendern werden Politiker oder Experten zu ihren Ansichten und Positio-nen in exklusiven Einzelgesprächen gefragt, ohne dass ein Gespräch mit Vertre-tern verschiedener Lager angestrebt oder umgesetzt würde. Der für den demokra-tischen Prozess wichtige, argumentative Schlagabtausch zwischen Parteien und politischen Gegnern findet nicht statt.

Als Ausnahme ist diesbezüglich al-Sumeria mit dem Versuch hervorzuheben, kontroverse Gespräche auszurichten und zu moderieren. Im Unterschied zu den übrigen Sendern der Stichprobe sind bei al-Sumeria alle drei untersuchten Talk-shows als Streitgespräch angelegt. Die in zwei Talkshows kontrovers geführte Debatte über Staats- und Regierungsleistungen erscheint geeignet, die Meinungs-bildung der Zuschauer mit Bezug auf die Regierung zu unterstützen, und auch der Vorstoß von al-Sumeria in die Richtung einer kontroversen Debatte kann mit McConnell und Becker (2002) als demokratiefördernde Praxis Anerkennung fin-den. Abgesehen von diesem Einzelfall wäre aber aus der Gesamtbetrachtung aller Talkformate eher der Schluss zu ziehen, dass dem politischen Streit zwischen Vertretern unterschiedlicher politischer Lager um das bessere Argument im iraki-schen Diskurs bisher geringe Bedeutung beigemessen wird.

McConnell und Becker (2002) benennen auch die Anerkennung der Regierung als stabilisierend wirkende Funktion von Medien in der Phase der Konsolidierung. Hier ist zum einen al-Iraqiya hervorzuheben als Sender, dessen Schlüsselfunktion nach Meinung der irakischen Medienproduzenten in der Festigung von Regie-rungsmacht besteht. Die empirische Analyse bestätigt, dass bei al-Iraqiya Vertre-ter der Regierung und der politischen Eliten, namentlich der Premierminister selbst, umfassend Gelegenheit erhalten, Regierungsarbeit und politische Ent-scheidungen zu erklären und zu begründen. Der Umgang der Moderatoren mit den Gesprächspartnern ist aber in vielen Fällen kritisch und reflektiert, die Ge-spräche sind teilweise lang und fordernd, sodass der Zuschauer von al-Iraqiya über das Handeln und die Motive der Regierung informiert wird. Die Anerken-nungswirkung besteht aber vor allem darin, dass der Regierung hier die Möglich-keit gegeben wird, sich zu erklären und sich damit als eine Regierung zu legiti-mieren, die ihrer demokratischen Rechenschaftspflicht nachkommt.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Diese Form der Anerkennung wird der Regierung auf den privaten Sendern nicht zuteil. Bei dem privat-kommerziellen Sender al-Sumeria und dem privaten, sun-nitisch-geprägten Sender al-Sharkiya werden sowohl oppositionelle Politiker als auch Experten in den Talkshows befragt – Regierungsvertreter sind dahingegen nicht unter den Gästen. In der demokratietheoretischen Interpretation wurde diese Selektivität auf das komplementäre Verhältnis zwischen al-Sumeria und al-Sharkiya zurückgeführt: Weil Regierungsvertreter auf al-Iraqiya so umfassend Raum für sich in Anspruch nehmen, wird bei al-Sharkiya dieser Raum reaktiv versagt (vgl. Kapitel 8.1.3). Mit McConnell und Becker (2002) müsste diese Ver-sagung als destabilisierendes Konzept interpretiert werden, weil der Regierung auf den privaten Sendern eine Anerkennung nicht zuteil wird, die der Konsolidie-rung zuträglich wäre (vgl. Kapitel 3.3.3).

In den Kapiteln 2.2.1-2.2.3 waren unterschiedliche demokratietheoretische Strö-mungen – namentlich partizipative versus elitistische Ansätze – vergleichend ge-genübergestellt worden. Die Forschungsfrage, für welche Art von Demokratie die irakischen Medienproduzenten sich engagieren, ist in Kapitel 8.2.3 bereits disku-tiert worden. Hier präsentieren sich die irakischen Interviewpartner mehrheitlich als Agenten einer weitreichenden Form von Partizipation und damit als Fürspre-cher einer maximalistischen Version von Demokratie, in der die Teilhabe der Bür-ger am politischen Prozess über den öffentlichen Diskurs eine zentrale Rolle spielt. Dabei gehört auch die Qualifizierung der Menschen für die Demokratie im Sinne von Meinungsbildung, Toleranz und Sprechfähigkeit zu den Zielen des En-gagements. In der Fernsehrealität – so hat die empirische Analyse von Program-minhalten gezeigt – wird diese Auffassung von Demokratie in Ansätzen nur beim privat-kommerziellen Sender al-Sumeria umgesetzt, während alle übrigen Sender der Stichprobe den Bürger in der Rolle des passiven Rezipienten und Wählers präsentieren, was eher minimalistischen Vorstellungen von Demokratie ent-spricht (vgl. Kap. 8.2.3). In den Nachrichten irakischer Fernsehsender wurde der Bürger als Opfer der Umstände präsentiert, als Betroffener, dessen Zufriedenheit mit den Versorgungsleistungen des Staates steht und fällt. Gerade beim sunnitisch geprägten, privaten Sender al-Sharkiya und dem öffentlichen Sender al-Iraqiya ist dies seine ganz vorrangige Erscheinungsweise. Ob zornig oder dankbar – der Bür-ger ist hier nicht eingeladen, politische Fragen zu diskutieren. Vielmehr bewertet er als passiver Empfänger von Zuwendungen die Leistungen des Staates positiv oder negativ (vgl. Kap. 8.2.3).

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

341

Es kann resümiert werden, dass die Repräsentation von Bürgern und bürgernahen Gruppen in den irakischen Medien – mit Ausnahmen – auf eine Vorrangstellung minimalistischer Form verweist. Dies entspricht gleichsam den Forderungen von McConnell und Becker (2002), die ein Engagement für maximalistische Formen von Demokratie, mithin Mobilisierung der Bürger für Partizipation in der Phase der Konsolidierung, als riskant einordnen und aus dieser Perspektive nicht emp-fehlen.

8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

In der vorliegenden Arbeit sollen Aussagen über demokratierelevante Aspekte von Qualität im irakischen Rundfunk mit Bezug auf die beiden Gattungen Fern-sehen und Radio gleichermaßen getroffen werden. Die Analyse der Radiosendun-gen durchläuft dabei nicht dieselben Schritte wie die Analyse der Fernsehinhalte, sondern erfolgt als Überprüfung der für das Fernsehen formulierten Thesen mit dem Ziel, Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen den Gattungen auf den Grund zu gehen.307 Konkret werden die Ergebnisse aus der Fernsehanalyse als Fragen an das Radiomaterial neu formuliert: Wie umfassend und wie einsei-tig/ausgewogen wird auf den einzelnen Sendern über innenpolitische Konflikte berichtet? In welchen Rollen, welchen Formaten und zu welchen Themen treten die Bürger in Erscheinung? Wer legitimiert an welcher Stelle Regierungshandeln? Werden die Nachrichten für politische Werbung benutzt? Wird über politische Positionen gestritten? Diese und andere in der Fernsehanalyse entstandenen Fra-gen werden als Instrumente für die Untersuchung der Radioinhalte zum Einsatz gebracht. Dabei soll untersucht werden, ob es signifikante Unterschiede gibt in der Art, wie Radio und Fernsehen demokratierelevante Aufgaben adressieren. Insgesamt wurden 20 Talksendungen und neun Nachrichtensendungen auf vier verschiedenen Sendern untersucht.308

8.6.1 Politische Kommunikation

Die Analyse publizistischer Fernsehformate hat signifikante Unterschiede in der redaktionellen Aufbereitung politischer Kommunikation zwischen den untersuch-ten Fernsehsendern sichtbar gemacht. Nachrichten dienen den parteilichen und

307 Zur methodischen Begründung dieser Vorgehensweise siehe Kap. 7.2.3. 308 Für eine Übersicht aller untersuchten Radiosender und Radiosendungen siehe Kap. 7.2.2.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

342

öffentlichen Sendern zur Ausgestaltung und Verbreitung von Kampagnen, Talk-shows werden bei al-Sharkiya für die Mobilisierung von Regierungskritik genutzt und al-Sumeria bemüht sich auf verschiedenen Ebenen um Stimulierung einer kontroversen Debatte zu aktuellen Themen und Konflikten. Der Zugriff der Me-dien auf politische Kommunikation und ihre Protagonisten hat in jedem Sender eine jeweils eigene Prägung (vgl. Kap. 8.1.1).

Im vorliegenden Kapitel 8.6.1 wird der Frage nachgegangen, ob in den untersuch-ten Radiosendungen diese Muster reproduziert werden oder ob ganz eigene For-men der Repräsentation hervorgebracht werden.

Repräsentation von Politikvertretern im Radio

Der prägnanteste Unterschied zwischen Fernsehen und Radio im Bereich der po-litischen Kommunikation ist die Abwesenheit von Politikern in den Talkforma-ten. In einer einzigen von 20 untersuchten Call-in-Sendungen wird mit dem Spre-cher des Handelsministeriums ein Vertreter aus der Politik gehört, und auch dies nur im unmittelbaren Gespräch mit den Anrufern der Service-Hour von Radio Dijla.309 Während also Talkformate im Fernsehen für die Vermittlung von Politik verschiedene Funktionen erfüllen – Regierungskritik bei al-Sharkiya, politischer Streit bei al-Sumeria, Publizität bei al-Iraqiya – sind sie im Radio den Hörern und ihren Themen vorbehalten.

Es muss von daher in der weiteren Analyse der Frage nachgegangen werden, ob Funktionen wie Kritik, Streit und Publizität im Radio in anderen Formaten bedient werden oder ob sie unerfüllt bleiben: Wird über Politik gestritten? Wird Regie-rungshandeln kritisch beobachtet und bewertet? Wird Regierungshandeln erklärt und begründet? Diese Fragen werden in den verschiedenen Abschnitten des vor-liegenden Kapitels diskutiert.

Komplementär zur Abwesenheit der Politiker in den Talkformaten ist in den un-tersuchten Nachrichten eine relative Dichte von Vertretern aus dem politischen System zu beobachten, während Bürger und bürgernahe Gruppen praktisch nicht vorkommen. In der Analyse der Fernsehnachrichten hatte die Aufschlüsselung der direkt oder indirekt zitierten Sprecher nach Akteursgruppen eine knappe Vor-herrschaft der Bürger und bürgernahen Gruppen gegenüber den Sprechern aus

309 Service-Hour/31.08.2008/ Radio Dijla.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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dem politischen System ergeben (vgl. Kap. 8.1.1 und Kap. 8.2.1). In den Radio-nachrichten ist das politische System mit insgesamt 78 (zehn)310 Sprechakten ge-genüber nur 38 Bürgern und Vertretern bürgernaher Gruppen mit großem Abstand besser repräsentiert als die Bürgergesellschaft. Dies ist insbesondere für die bei-den Sender Bagdad (öffentlich) und Dijla (privat) zutreffend, die zusammenge-nommen in den Nachrichten nur sechs Bürger um Stellungnahmen bitten.

310 Die Angaben in Klammern beziehen sich auf Vertreter ausländischer Regierungen in den

Nachrichten.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

344

Tabelle 8.24: Akteursgruppen in den Nachrichten (Radio)311* Akteursgruppe Dijla Bagdad Sumer Anzahl ge-

samt

Sprecher/Vertreter/Mitglie-der der Regierung

12 13 7 (10)312 32 (10)

Parteipolitische Eliten 3 6 4 13

Politischer Mittelbau (Parla-ment)

15 5 13 33

Kommunalpolitik 2 2 6 10

Analysten und Experten 1 2 11 14

Medien- und Kulturschaf-fende

-- 7 -- 7

Militär und Polizei 3 2 13 18

Bürgernahe Gruppen/Zivil-gesellschaft

2 3 13 18

Bürger 3 3 14 (2) 20 (2)

Gesamtanzahl Sprecher 41 43 81 (2)

*Eigene Darstellung

Im Vergleich zwischen Fernsehen und Radio fällt des Weiteren auf, dass der po-litische Mittelbau im Radio eine Aufwertung erfährt, während Experten und Ana-lysten eine Abwertung erfahren und dass die im staatlichen Fernsehen auffallend hohe Dichte von Regierungsvertretern im öffentlichen Radio nicht reproduziert wird.313 Im Radio unterscheidet sich die Anzahl der in den Nachrichten zitierten Regierungsvertreter zwischen den Sendern nur geringfügig.

311 Radio Bilad wird von der Analyse der politischen Kommunikation und auch der Konfliktbe-

richterstattung wegen mangelnder Vergleichbarkeit ausgenommen. Bei Radio Bilad gibt es statt Nachrichten am 27.08.2008 die halbstündige Sendung Politik für jeden, die am 31.08.2008 wiederholt wird und am dritten Untersuchungstag fehlt. Die Sendung umfasst vier Beiträge von vier bis acht Minuten Länge. Eine Analyse und ein Vergleich mit den Nachrich-ten der anderen Radiosender bieten sich nicht an.

312 Die Angaben in Klammern beziehen sich auf Vertreter ausländischer Regierungen und Orga-nisationen.

313 Regierungsvertreter werden in den Nachrichten beim öffentlichen Sender al-Iraqiya 26 Mal zitiert; Vertreter des politischen Mittelbaus werden in den Nachrichten aller Sender insgesamt nur 24 Mal gehört.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

345

Ebenfalls deutlich zurückgesetzt erscheint die Bedeutung von Militär und Polizei in der politischen Kommunikation. Im Fernsehen werden Vertreter dieser Ak-teursgruppe insgesamt 58 Mal gehört, im Radio nur 18 Mal.

Regierungskommunikation im öffentlichen Radio Bagdad

In der Analyse der Fernsehinhalte waren die Nachrichten als Format eingeordnet worden, das von der Regierung für die Platzierung von Themen und Botschaften genutzt wird. Es waren insbesondere drei Themensegmente als Gegenstand poli-tischer Kampagnen auf dem regierungsnahen öffentlichen Sender al-Iraqiya iden-tifiziert worden: die Rückkehr der Flüchtlinge, die Rolle der Stämme für den Frie-densprozess und der Wiederaufbau. Diese Themenfelder sind aufgefallen durch eine starke Häufung und zeitliche Ausdehnung von Nachrichten zu Ereignissen, über die auf anderen Sendern nicht berichtet wird und vor allem durch eine hohe Dichte von affirmativen Stellungnahmen (vgl. Kap. 8.1.1).

In den Radionachrichten des öffentlichen Senders Radio Bagdad – ebenfalls Sen-der des öffentlichen Iraqi Media Network – wird dieses Muster von Öffentlich-keitsarbeit nicht reproduziert.

(1) Zu den Rückkehrern gibt es bei Radio Bagdad am 28.08.2008 zwei Nach-richten auf Platz 8 und 9 von insgesamt drei Minuten. Es sprechen General Qas-sim Atta und der Minister für Migration und Auswanderung über 235 Rückkehrer, die am Flughafen erwartet werden, und über das Ziel, die Akte der Rückkehrer noch in diesem Jahr zu schließen. In den untersuchten Fernsehnachrichten bei al-Iraqiya waren zu diesem Thema sechs Nachrichten von 16:00 Minuten ausge-strahlt worden mit insgesamt 15 Sprechern, die ein kollektives Loblied auf die Sicherheit singen. Neben Premierminister Nuri al-Maliki haben namhafte Regie-rungsvertreter und Betroffene zum Thema gesprochen (vgl. Kap. 8.1.1).

(2) Zur Bedeutung der Stämme für den Friedensprozess gibt es im öffentlichen Radio keine Berichterstattung, während in den Fernsehnachrichten bei al-Iraqiya dieses Themenfeld mit vier Nachrichten von insgesamt 7:31 Minuten und hoch-rangigen Sprechern der Regierung inklusive Premierminister Nuri al-Maliki mit Bedeutsamkeit aufgeladen wird (vgl. Kap. 8.1.1).

(3) Positive Meldungen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau wurden mit zehn Nachrichten von insgesamt 12:45 Minuten Länge als Themenschwerpunkt beim

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

346

staatlichen Sender al-Iraqiya identifiziert (vgl. Kap. 8.1.1). Bei Radio Bagdad wird über dieses Thema nicht berichtet.

Es kann festgehalten werden, dass die Berichterstattung zu den genannten The-menfeldern im öffentlichen Radio, anders als im öffentlichen Fernsehen, keines-wegs den Charakter einer Kampagne hat. Die genannten Unterschiede legen die Vermutung nahe, dass der staatliche Radiosender Bagdad von der Regierung nicht im selben Maße als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit genutzt wird wie der öf-fentliche Fernsehsender al-Iraqiya. Ob hier weniger Interesse aufgrund der gerin-gen Reichweite von Radio oder aber eingeschränkte Möglichkeiten der Kontrolle zugrunde liegen, kann anhand der vorliegenden empirischen Daten nicht beurteilt werden.

Auffällig ist dennoch ein im Verhältnis zu den anderen Radiosendern relativ ho-hes Maß an Aufmerksamkeit für die Aktivitäten und Botschaften von Nuri al-Maliki. Er wird in den Nachrichten von Radio Bagdad insgesamt fünfmal jeweils auf den ersten drei Plätzen indirekt oder direkt zitiert, am 28.08.2008 sind die ersten drei und am 31.08.2008 die ersten zwei Plätze seinen Aktivitäten gewid-met. Andere Regierungsvertreter werden insgesamt neunmal gehört. Wenn man die Auslandsnachrichten aus der folgenden Kalkulation auslässt, so kann man feststellen, dass 16 von 31 Nachrichten den Aktivitäten der Regierung, des Präsi-diums oder des Parlaments gewidmet sind. Das Handeln staatlicher Akteure und Institutionen kommt also umfänglich zur Darstellung.

Da Regierungsvertreter in den Talkformaten keine Gelegenheit erhalten, Regie-rungshandeln zu erklären, bleibt die Frage zu stellen, ob die für staatliche Medien herausragende Funktion der Publizität in die Nachrichten verschoben wird. Wird Regierungspolitik in den Radionachrichten erklärt und begründet?

Im Vordergrund der Berichterstattung zur Regierung steht das Protokoll der Handlungen. Ganz am Rande werden auch Positionen und Begründungen vorge-tragen, z.B. zur Verschiebung einer Abstimmung im Parlament zu verschiedenen Gesetzen, zur Notwendigkeit, die Wahlen in diesem Jahr durchzuführen und zur seiner Ansicht nach notwendigen Aussetzung des Chapter VII der UN Charta, das in Bezug auf den Irak weiterhin Anwendung findet.314 Die Gesamtbetrachtung

314 Premierminister Nuri al-Maliki erklärt am 25.08.2008, dass er von den Vereinten Nationen verlange, dass die Anwendung des Chapter VII der UN-Charta ausgesetzt wird, und begründet diese Forderung damit, dass der Irak heute nicht mehr derselbe sei wie vor dem Sturz des Regimes und dass die Anwendung des Kapitels damit ihre Legitimation verliere. Chapter VII

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

347

macht aber klar, dass Informationen über Regierungsaktivitäten im Vordergrund stehen und Positionen, Erläuterungen sowie Begründungen in dieser Reihenfolge von abnehmender Bedeutung sind. Die Rechtfertigung von Regierungshandeln im Sinne der Begründung und Verteidigung ist das Schlusslicht der Bedeutsam-keit in den Nachrichten.

Eine Betrachtung der Kontexte, in denen staatliches und Regierungshandeln prä-sentiert werden, zeigt überdies, dass – in Übereinstimmung mit der Vorgehens-weise im Fernsehen – zu keinem Thema oder Ereignis jemals gegenläufige Posi-tionen zueinander in Bezug gesetzt werden. Alle Stellungnahmen zu einem Thema oder Ereignis sind ausnahmslos gegenseitig affirmativ und niemals kri-tisch gegenüber der Regierung. Es gibt keine Meldung, keine Nachricht, die sich auf eine Fehlleistung der Regierung, ein durch schlechte Regierungsführung ver-ursachtes Problem oder Kritik gegen die Regierung richten würde. Auch im Rah-men der Meldungen zur Sicherheitslage werden ausschließlich sicherheitspositive Ereignisse wie der Fund von Waffen und die Festnahme von Terroristen sowie die Verhinderung von Attentaten durch die Sicherheitskräfte vorgetragen. Dies entspricht den Tendenzen, die auch in der Analyse der TV-Nachrichten bei al-Iraqiya gefunden wurden.

Anders als im Fernsehen wird aber im Radio vollständig darauf verzichtet, die Bürger als dankbare Zeugen einer sich stetig verbessernden Sicherheitslage in die politische Berichterstattung einzubinden. Diese Beobachtung steht im Einklang mit der oben formulierten These, dass die Radionachrichten nicht für die Gestal-tung und Ausstrahlung von Kampagnen genutzt werden. In der Analyse der Fern-sehnachrichten war der Einsatz der Bürger vor der Kamera als zentrales Stilmittel der politischen Kommunikation im Sinne der Kampagne identifiziert worden. In den Nachrichten des staatlichen Radiosenders treten die Bürger weder als Teil einer Kampagne noch als Meinungsträger zu irgendeinem Thema in Erscheinung (vgl. Tab. 8.26).

Es kann also zusammenfassend festgehalten werden, dass die Nachrichten im staatlichen Radio loyal zur Regierung ausgerichtet sind, dass sie aber nicht für

definiert Bedingungen für und konkrete „Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“. Al-Maliki erklärt des Weiteren die Ziele der Regierung in den SOFA-Verhandlungen mit den Amerikanern, begründet aber dabei nicht die Ziele, sondern seine Kommunikation: Die Regierung wolle Transparenz und Offenheit für die Bürger in die-sem Prozess.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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politische Werbung durch die Regierung genutzt werden. Damit ist ein signifi-kanter Unterschied zu den Fernsehnachrichten markiert, die sich sowohl in der Selektion als auch in der Deutung von Ereignissen loyal zur Regierung verhalten und überdies als Plattform für die Verbreitung von Kampagnen und für politische Werbung genutzt werden (vgl. Kap. 8.1.3).

Regierungsfreundliche Ausrichtung der Nachrichten bei Radio Dijla

Vertreter der Regierung, die Präsidenten und insbesondere Premierminister Nuri al-Maliki sind auch beim privaten Radiosender Radio Dijla privilegierte Sprecher. Ähnlich wie beim öffentlichen Radio sind die ersten Nachrichtenplätze für Akti-vitäten dieser Gruppe reserviert, die insgesamt 15 Mal in den untersuchten Sen-dungen indirekt oder direkt zitiert wird (vgl. Tab. 8.24). Premierminister Nuri al-Maliki wird fünfmal gehört und an jedem Tag auf Platz eins oder zwei direkt zitiert, darunter auch zu politisch wenig relevanten Ereignissen wie der Schaffung eines staatlichen Kulturpreises, zu dem er auf Platz eins der Nachrichten am 28.08.2008 eine Rede hält – ein Thema, das beispielsweise beim privaten Radio Sumer und auch in den Nachrichten der nichtstaatlichen Fernsehsender nicht auf-gegriffen wird. Mit Blick auf die Präsenz der Regierenden positioniert sich Radio Dijla also als regierungsnaher Sender, der viel Raum für die Kommunikation der Regierenden schafft.

Kritik an der Regierung wird in den Nachrichten bei Radio Dijla mit insgesamt vier kritischen Positionen im gesamten Datensatz nur randständig formuliert.315 Die in den Nachrichten privater Fernsehsender raumgreifende Figur des regie-rungskritischen Bürgers hat in den Nachrichten beim privaten Radio Dijla keinen Platz.

Diese Beobachtung muss ins Verhältnis gesetzt werden zur Analyse der Call-in-Programme, die zeigt, dass beim privaten Radio Dijla praktisch alle interaktiven Radiosendungen als Forum für die regierungskritischen Beschwerden unzufrie-dener oder geschädigter Bürger konzipiert sind (vgl. Kap. 8.6.2). Die Call-in-Sen-dung hat also zu den Nachrichten mit Blick auf die Rolle der Bürger ein komple-mentäres Verhältnis, das wiederum die Verhältnisse im privaten Fernsehen – den

315 Als Autoren der Kritik kommen zwei Bürger zu Wort (Brennstoffkrise in Babel), ein Abge-

ordneter der oppositionellen irakischen Liste (zum SOFA-Abkommen), ein Arzt (Medika-mentenengpass in Babel), und es werden Mitglieder einer US-Delegation zitiert, die die Aus-stattung der Polizei in Falluja als unzureichend kritisieren.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

349

Ausschluss der Bürger aus Talkshows und deren dichte Präsenz in den Nachrich-ten – mit umgekehrten Vorzeichen spiegelt.

Neben der geringen Ausprägung von Kritik wird die ausgedehnte und ebenfalls unkritische Berichterstattung über staatliche Aktivitäten im Bereich des wirt-schaftlichen Wiederaufbaus als Indikator für eine tendenziell regierungsfreundli-che Grundhaltung der Nachrichtenredaktion bei Radio Dijla gewertet. Während der öffentliche Sender Radio Bagdad überhaupt nicht über den Wiederaufbau be-richtet, bringt Radio Dijla eine Fülle von insgesamt 15 positiven Meldungen (in nur zwei Nachrichtensendungen)316 über Fortschritte und neuerliche Errungen-schaften in diesem Themenfeld, die mit Blick auf Struktur, Sprecher und Sprache nahelegen, dass Mitteilungen aus der Presseabteilung der Ministerien unkommen-tiert übernommen werden.

Die Nachrichtenlage zum Wiederaufbau steht im Kontrast zur Nachrichtenlage im Bereich der Versorgungsthemen, die als defizitäre Kehrseite der wirtschaftli-chen Entwicklung bei Radio Dijla mit zwei Nachrichten zur Brennstoffkrise in Babel und zum Medikamentenmangel (ebenfalls in Babel) nur ganz randständig aufgegriffen wird.317

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass in den Talkformaten beim privaten Radiosender Dijla die Kritik der Bürger an der Regierung im Zentrum steht, während sich in den Nachrichtensendungen durch Auswahl von Themen und Sprechern eine eher regierungsfreundliche Haltung spiegelt. Hauptmerkmale dieser Haltung sind die geringe Anzahl regierungskritischer Positionen bei gleich-zeitig raumgreifender Präsenz von Regierungskommunikation, ausgedehnt posi-tive Berichterstattung über wirtschaftlichen Wiederaufbau bei gleichzeitig gerin-ger Berücksichtigung von Versorgungsdefiziten und -nöten in der Bevölkerung.

Politischer Wettbewerb in den Nachrichten der privaten Sender

Der umfassenden Präsenz der Regierenden beim privaten Radio Dijla in Kombi-nation mit einer tendenziell regierungsfreundlichen Berichterstattung steht eine

316 Wegen eines Aufnahmefehlers fehlen die Nachrichten zum Wiederaufbau im Protokoll der

Nachrichtensendung vom 27.08.2008. 317 Zum Vergleich: Beim privaten Radio Sumer gibt es im selben Datensatz vier Nachrichten von

insgesamt 9:20 Minuten und elf betroffene Sprecher zur defizitären Versorgungslage und nur drei positive Meldungen über die wirtschaftliche Entwicklung.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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pointierte Einbindung oppositioneller Stimmen in die Berichterstattung gegen-über. Auffällig in diesem Zusammenhang sind zwei lange Interviews von sechs bzw. neun Minuten, die wie ein Fanal für den politischen Wettbewerb aus den Nachrichten herausragen:

• Ein sechsminütiges Gespräch mit einem Gründungsmitglied der neuen Par-tei Nationale Zukunft am 27.08.2008 auf Platz drei.318 Gesprächsthemen sind der Anlass der Gründung und Ziele der Partei.

• Ein über neunminütiges Interview mit Abgeordneten der Kurdischen Alli-anz über die Eingliederung Kirkuks in Kurdistan und die Konflikte zwi-schen der kurdischen Regierung in Erbil und der irakischen Zentralregie-rung in Bagdad am 28.08.2008 (Platz 6). Anlass der Berichterstattung sind Demonstrationen gegen die Eingliederung Kirkuks in Kurdistan.

Die Länge der Gespräche gibt den kurdischen und sunnitischen Akteuren Raum für Artikulation politischer Positionen im Sinne des Wettbewerbs, während das Fehlen gegenläufiger oder weitergehender Positionen anderer Parteien die Inter-views als Parteinahme des Senders für die Gesprächspartner erscheinen lässt. Ver-treter kurdischer und sunnitischer Parteien kommen zusätzlich in drei weiteren Nachrichten mit teilweise kritischen Stellungnahmen zu Wort.319 Setzt man die oben skizzierte Tendenz zu explizit regierungsfreundlicher Berichterstattung in Bezug, so erscheinen diese Positionen als politisches Gegenwicht in der Bericht-erstattung. In der Bilanz erscheinen also regierungsfreundliche und regierungskri-tische Einlassungen im Gleichgewicht.

In den Nachrichten beim privaten Sender Radio Sumer werden insgesamt sieben Mitglieder von oppositionellen Parteien und Bewegungen zu verschiedenen The-men jeweils kurz gehört, darunter Muqtada al-Sadr als Anführer der Sadr-Bewe-gung, der Fraktionsvorsitzende des SIIC Jalal al-Din, ein Abgeordneter der sun-nitischen Tawafuq-Front sowie drei Gründungsmitglieder der neuen Partei Nati-onale Zukunft. Etwa die Hälfte der Sprecher formuliert in den Stellungnahmen

318 Die Partei Nationale Zukunft ist eine Ausgründung aus der sunnitisch geprägten Irakischen

Einheitsfront. 319 27.08.2008/Platz 5/3 min: Mahmoud Othman, Abgeordneter der Kurdischen Allianz kritisiert

die Ersetzung der Verhandlungskommission; zum Stand der SOFA-Verhandlungen kommen am 25.08.2008 auf Platz 3 unter anderem die sunnitische Irakische Einheitsfront, die Irakische Liste (Iyad Allawi) sowie die Irakische Nationalallianz zu Wort; Abdulah al-Jburi, Sprecher der sunnitischen Irakischen Einheitsfront äußert sich am 25.08.2008 zum Verbleib von drei Entführten.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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klare politische Positionen, die als Einsatz im Wettbewerb gewertet werden kön-nen. Im Vergleich zu Radio Dijla ist die Präsenz von Vertretern politischer Par-teien breiter gestreut.

Das im TV-Talkprogramm von al-Sumeria ausgeprägte Anliegen, den politischen Streit zu mobilisieren und zu moderieren, wird bei Radio Sumer keineswegs wei-terverfolgt. Hier treten an die Stelle der politischen Auseinandersetzung fast pro-vokant belanglose Gespräche mit den Hörern über ihre Launen und Einfälle.320

Über den politischen Wettbewerb im Radio kann also vorläufig bilanziert werden, dass auf niedrigem Niveau und im kleinen Rahmen auf den privaten Sendern, vor allem auf Radio Sumer, vereinzelt Raum für die Artikulation von Positionen ge-währt wird und dass in verschiedenen Formaten mehr oder weniger umfänglich Kritik durch Bürger an der Regierung geübt wird. Eine substanzielle Informati-onsbasis über die Anliegen und Ziele irakischer Parteien im Sinne des politischen Wettbewerbs wird aber im Radio für den Hörer nicht geschaffen und ein Streit über politische Positionen wird nicht geführt.

Kritische Distanz zur Regierung bei Radio Sumer

In den Nachrichten bei Radio Sumer werden Regierende nur siebenmal und damit nur etwa halb so oft zitiert wie in den Nachrichten der beiden anderen untersuch-ten Sender Radio Dijla und Radio Bagdad (vgl. Tab. 8.24). Das Präsenzverhältnis ist also hier, wie im Fernsehen, zugunsten der Bürger und bürgernaher Gruppen verschoben, die etwa doppelt so oft zitiert werden wie Regierungsvertreter.321 Auch das in der Analyse der Fernsehnachrichten identifizierte Muster der Dele-gation von Regierungskritik an die Bürger wird in den Nachrichten bei Radio Su-mer reproduziert und Regierungskritik insgesamt vollmundig formuliert. In Er-gänzung zu fünf kritischen Positionen, die durch Politiker und Experten formu-liert werden, äußern sich 16 Bürger negativ zu verschiedenen Versorgungsthemen (Strom, Sicherheit, Armut, Stadtentwicklung, Gehaltszahlungen durch staatliche Betriebe), wobei die Regierung von vielen Sprechern als Verantwortliche konkret benannt und kritisiert wird.

320 Siehe dazu Abschnitt vier in Kapitel 8.6.2: Der private Mensch im Kreis der Familie bei Radio

Sumer. 321 Radio Sumer übernimmt die Nachrichten unverändert aus der Fernsehredaktion von al-Sume-

ria, sodass alle für al-Sumeria in diesem Zusammenhang gewonnenen Kenntnisse ungeprüft auch für das Radio gelten.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Setzt man diese Beobachtung ins Verhältnis zur Konzeption von Call-in-Forma-ten bei Radio Sumer wird auch hier schnell ein komplementärer Zusammenhang sichtbar: Die Not der Bürger, ihre Kritik an Versorgungsdienstleistungen und an der Regierung werden in den Talkformaten bei Radio Sumer nicht thematisiert. Hier sprechen die Anrufer über Vorlieben, Stimmungen und ihre Ansichten zu Ehe und Partnerschaft. Die privaten Sender Radio Sumer und Radio Dijla imple-mentieren also beide eine im Hinblick auf Bürgereinbindung umgekehrt-komple-mentäre Strategie zwischen Talk- und Nachrichtenformat (vgl. Kap. 8.2).

Parteinahme gegen Laizismus bei Radio Bilad

Der schiitisch-religiös geprägte parteinahe Sender Radio Bilad wird von der Ana-lyse der politischen Kommunikation und auch der Konfliktberichterstattung we-gen mangelnder Vergleichbarkeit ausgenommen. Auf Radio Bilad gibt es zu-nächst keinen klassischen Nachrichtenblock, stattdessen am 27.08.2008 die halb-stündige Sendung Politik für jeden, die am 31.08.2008 wiederholt wird und am dritten Untersuchungstag fehlt. Die Sendung umfasst vier Beiträge zu irakischen Themen von vier bis acht Minuten Länge, die handwerklich schlecht gemacht sind. Defizite fallen bei der Strukturierung der Beiträge auf, die häufig ohne roten Faden scheinen und Stellungnahmen von Politikern zu sehr verschiedenen As-pekten eines Themenfeldes sinnlos kombinieren. Journalistische Qualität und Fre-quenz der Sendung repräsentieren also eher die Geringschätzung politischer Kommunikation und generell der Informationsfunktion bei Radio Bilad, sodass hier eine Analyse nicht lohnenswert erscheint.

Wiewohl in den Talksendungen keine politischen Positionen verhandelt werden, geben der Moderator und sein Gesprächspartner in der Talksendung An den Türen der Familie Mohammeds (28.08.2008 und 31.08.2008) zu erkennen, dass eine Durchsetzung islamischer Gesetze mit Geltungsbereich für alle Bürger von bei-den befürwortet wird. Diese Möglichkeit wird nicht verhandelt oder diskutiert, sondern als Einverständnis zwischen Hörern, Studiogästen und Moderator im Ge-spräch vorausgesetzt. Der Moderator gibt zu verstehen, dass er den Verkauf von Alkohol im Irak verurteilt und dessen Verbot begrüßen würde:

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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F: Ich war neulich mit Freunden im Auto unterwegs und wir haben einen Alkoholladen gesehen – Gott bewahre uns. Und da habe ich meine Freunde gefragt: Glaubt ihr, dass der Verkäufer, wenn er krank wird, Gott um Heilung bittet? Warum werden die Läden nicht verboten? Al-Rubaie: Sie sind Händler und diese Händler kennen keinen Gott. Sie treiben die Preise nach oben und das Geld, was sie verdienen, ist nicht halal.322

Sein Gast fordert überdies, dass der Verzehr von Speisen in der Öffentlichkeit während des Ramadans gesetzlich verboten wird. In einem anderen Gespräch wird die Frage aufgeworfen, ob Parteien gegen den Koran verstoßen, wenn sie Wahlversprechen nicht einhalten.323

Radio Bilad gibt sich mit dieser Ablehnung eines laizistischen Staats explizit als parteilicher Sender mit politischer Agenda zu erkennen, der mit seinen Sendungen ausschließlich Zielgruppen anspricht, die diese politische Grundhaltung teilen. Ganz anders als der schiitisch geprägte Parteisender al-Furat positioniert sich Ra-dio Bilad auch durch die Auswahl der Studiogäste und der thematischen Anlage der Talksendungen als religiöser Sender, der sich ausschließlich an gläubige Mus-lime richtet und dabei eine Mission verfolgt, die man als Durchsetzung einer streng islamischen Lebensführung bezeichnen kann.

8.6.2 Partizipation: Hörerbeteiligung im irakischen Radio

In der Analyse publizistischer Fernsehformate waren verschiedene Rollen identi-fiziert worden, die Bürger und bürgernahe Gruppen in der massenmedialen Öf-fentlichkeit in unterschiedlichem Umfang bekleiden: Auf allen nichtstaatlichen TV-Sendern treten Bürger hauptsächlich als zorniges Opfer und Ankläger einer unfähigen Regierung und nur ganz am Rande auch als politisches Subjekt in Er-scheinung. Bei al-Iraqiya tritt der Bürger als dankbarer Nutznießer einer sich bes-sernden Sicherheitslage und einer kompetenten Regierung auf. Insgesamt wurde eine hohe Präsenz von Bürgern und bürgernahen Gruppen in den Nachrichten und ein komplementärer Ausschluss dieser Akteursgruppe aus Talkformaten beobach-tet (vgl. Kap. 8.2.1).

322 Der Rechtsgelehrte Jafar Al-Rubaie in An den Türen der Familie Mohammeds /28.08.2008

und 31.08.2008/Radio Bilad. 323 Siehe: Radio Bilad/ Der Dialog/31.08.2008.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Im vorliegenden Kapitel 8.6.2 wird untersucht, ob und in welcher Weise Bürger im Radio eine andere Repräsentation erfahren als im Fernsehen. Gibt es Unter-schiede in der Erscheinungsweise von Bürgern und bürgernahen Gruppen zwi-schen Fernsehen und Radio? Wie kann ein solcher Unterschied demokratietheo-retisch interpretiert werden?

Die Frage nach dem Unterschied lenkt den Blick auf die in untenstehender Tabelle 8.25 dokumentierte sehr hohe Dichte von Anrufern in Call-in-Programmen auf allen Sendern. Während im Fernsehen den Bürgern und ihren Anliegen kein Zu-gang zu politischen Debatten gewährt wird, werden im Radio alle Talkformate als Sendungen mit offener Leitung realisiert, in denen die inhaltliche Substanz im Dialog mit dem Hörer hervorgebracht wird. Nur drei von 20 untersuchten Talk-programmen werden mit Experten im Studio ohne teilnehmende Hörer bestrit-ten.324

324 Die Gründerin einer NGO spricht beim öffentlichen Sender Radio Bagdad in der Sendung Die

Wahrheit zwischen Mikrofon und Zuhörer (25.08.2008) über die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen und es werden keine Hörer in das Gespräch einbezogen. Der schiitisch-religi-öse Sender Radio Bilad bringt zwei Sendungen, in denen Elemente des Koran von Geistlichen ohne interaktive Elemente erklärt werden.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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Tabelle 8.25: Anzahl der Anrufer in Radio Call-In Programmen* Sendung Länge/

Ausstrahlung Dijla Sumer Bagdad Biladi

A-lo-la 36 min 25.08.2008

9

A-lo-la 31 min 27.08.2008

7

Service-Hour 40 min 25.08.2008

7

Service-Hour 44 min 27.08.2008

6

Service-Hour 50 min 31.08.

7

Majodeh Café 31 min 25.08.2008

6

Majodeh Café 31 min 27.08.2008

9

Die Wahrheit ... 45 min 25.08.2008

--

Lass uns Freund werden 57 min 26.08.2008

8

Stimmungen 60 min 28.08.2008

21

Der Beste Abend 85 min 28.08.2008

15

Die Künste 54 min 27.08.2008

10

Guten Abend Bagdad 83 min 31.08.2008

29

An den Türen der Fami-lie Mohammads

60 min 28.08.2008

12325

Dialog im Glauben 55 min 28.08.2008

0

Du und der Faqih 60 min 27.08.2008

15

Duft 63 min 27.08.2008

4

Gleichnisse aus dem Koran

30 min 31.08.2008

0

Horizont der Seele 30 min 28.08.2008

9

Gesamt Anzahl Anrufer 51 29 54 40

* Eigene Darstellung

325 Sechs pro Sendung, die zweimal ausgestrahlt wurde (28.08.2008 und 31.08.2008).

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Der hohen Zahl von insgesamt 174 Anrufern326 im gesamten Datensatz wäre noch eine ebenfalls signifikante Zahl von SMS-Nachrichten und E-Mails hinzuzurech-nen, die von den Moderatoren in der Sendung zitiert werden.327 Radio zeigt sich damit als Medium mit einer außerordentlich hohen Dichte an Publikumsbeteili-gung.

Die genaue Betrachtung der Sendungen fördert ganz unterschiedliche Rollen für die Anrufer zutage und auch das Gesprächsniveau unterscheidet sich erheblich zwischen Sendern und Sendungen. Untenstehend folgt eine detaillierte Betrach-tung der verschiedenen Erscheinungsformen.

Der Bürger als zorniges Opfer und Ankläger der Regierung

Radio Dijla betreibt mit der Sendung A-lo-la (Ja oder Nein) ein Format, in dem die Zuhörer zur freien Artikulation von Frust und Zorn eingeladen werden. In den beiden untersuchten Episoden geht es um den Zustand der staatlichen Kranken-häuser zum einen und die Erfüllung der durch staatliche Bezugsscheine gewähr-ten Ansprüche zum anderen.328 Dabei werden Qualität und Belastbarkeit der staat-lichen Dienstleistungen vom Moderator in einer Art und Weise zur Diskussion gestellt, die eine positive Stellungnahme kaum zulässt. Schon in der Einleitung zum Gesundheitsthema wird die Verkommenheit der Zustände in den Kranken-häusern deutlich hervorgehoben:

Herzlich willkommen zu unserer Sendung A-lo-la. Es gibt vieles im irakischen Gesund-heitssektor zu kritisieren, aber ganz besonders den Zustand der Krankenhäuser. Es wer-den viele Kunstfehler gemacht, fatale Fehler, die bisher schon viele Menschenleben ge-kostet haben. Aber wir lernen nicht aus unseren Fehlern, um dieses System endlich zu verbessern. Das führt dazu, dass das Vertrauen der Bürger in das Gesundheitssystem und die Ärzte immer geringer wird. In anderen Ländern wird der Bürger mit Respekt behandelt. Wer ins Krankenhaus geht, kann sicher sein, behandelt zu werden. Aber bei uns ist es anders. Die Frage der Sendung heute ist: Bist du zufrieden mit dem Zustand des Gesundheitsservice in den staatlichen Krankenhäusern?329

Auch die Frage nach der Einlösung der Bezugsscheine in der zweiten Episode von A-lo-la wird ähnlich meinungsstark eingeleitet und erscheint deswegen eher

326 Anrufe, die zu Beginn des Gespräches aus technischen Gründen abbrechen, wurden nicht ge-

zählt. 327 SMS und E-Mails wurden in der vorliegenden Untersuchung nicht ausgezählt. 328 25.08.2008 (36 min) und 27.08.2008 (31 min). 329 Zusammenfassende Übersetzung der Einleitung zur Sendung A-lo-la am 27.08.2008.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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rhetorisch, wie auch die ausschließlich negativen Antworten in der Sendung zei-gen. Schon durch den Titel der Sendung – Ja oder Nein – werden die Zuhörer angehalten, ein klares Urteil zu fällen, Diskussionen oder Zwischentöne werden nicht angestrebt.330

Die Beiträge der Zuhörer kreisen – speziell in der Sendung zur Gesundheitsver-sorgung am 27.08.2008 – um Berichte über persönliche Erfahrungen oder Erfah-rungen aus dem Kreis der Verwandten und Freunde. Der Zuhörer bringt sich als privates Subjekt in die Diskussion ein mit fast intimen Geschichten über Krank-heiten, die im Krankenhaus schlimmer wurden, und Verwandte, die wegen fal-scher Behandlung gestorben sind, über absurde Wartezeiten etc. Durch die Archi-tektur der Sendung wird damit eine Brücke geschlagen aus der Privatheit der per-sönlichen Erfahrung über die Öffentlichkeit einer Radiosendung in die Politik, an die sich viele Zuhörer explizit richten. Drei Anrufer verweisen auf die Regierung und die Politiker und das Gesundheitsministerium als die Verantwortlichen für den schlechten Zustand der Gesundheitsversorgung, und auch in der Sendung zu den Bezugsscheinen verweisen fast alle Anrufer konkret auf die Politik als Ursa-che der Missstände und noch konkreter auf den Handelsminister, der die Iraker mit leeren Versprechungen enttäuscht habe und der deswegen als Lügner bezeich-net wird. Bezugsscheine wurden ausgegeben, um die Verfügbarkeit von Nah-rungsmitteln in den Familien insbesondere zum Ramadan zu garantieren. Faktisch aber können diese Bezugsscheine offensichtlich aus Mangel an Waren nicht ein-gelöst werden. Zehn von elf Anrufern bestätigen, ihre Ration gar nicht oder nur zum Teil erhalten zu haben.331

Auch in der Sendung Majodeh Café332 (Radio Dijla/ 25.08.2008 und 27.08.2008) darf der Hörer seinem Zorn Luft machen. Thema sind in beiden untersuchten Epi-soden die hohen Preise und die im Verhältnis viel zu niedrigen Gehälter der An-gestellten im Irak.333 Der Moderator beginnt auch hier die Sendung mit einer kla-ren Kritik an den ständig steigenden Preisen und den daraus für die Bürger ent-stehenden Belastungen:

330 Konkret wird gefragt: „Bist du zufrieden mit dem Zustand der staatlichen Gesundheitsdienst-

leistungen?“ (27.08.2008) und: „Hast du deine Ration Nahrungsmittel erhalten?“ (25.08.2008).

331 Radio Dijla/A-lo-la/ 27.08.2008. 332 Majodeh ist der Name des Moderators, nach dem die Sendung offenbar benannt ist. 333 Gemeint sind hier die Gehälter in staatlichen Unternehmen, die im Irak den Arbeitsmarkt be-

herrschen.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Unser heutiges Thema sind die hohen und weiterhin steigenden Preise. Die irakischen Bürger sind sehr von den hohen Preisen belastet, besonders im Ramadan. Wir nennen Ramadan deshalb das Fest der Händler.334

Majodeh Café unterscheidet sich von A-lo-la durch eine geringere Ernsthaftigkeit, mit der die jeweiligen Themen verfolgt und vertieft werden. Im Grunde sprechen in beiden Episoden zusammen nur die ersten drei Anrufer über das Problem der hohen Lebenshaltungskosten. Es werden konkret Preise mit Gehältern verglichen und zwei der Anrufer verweisen auf die sehr große Zahl von 17 bzw. 18 Famili-enmitgliedern, die sie mit einem einzigen Gehalt ernähren müssten; eine Anrufe-rin schimpft gegen die Regierung. Dann aber schweift die Sendung ab und es geht im Folgenden hauptsächlich um Sprichwörter und Musikwünsche. Zwischen-durch werden Anrufe zu verschiedenen Themen angenommen: Ein junger Mann beschwert sich darüber, dass die Bewohner und Hauseigentümer des Universitäts-viertels in Bagdad bis jetzt ihre Häuser nicht zurückbekommen hätten, und fordert die Räumung der Häuser durch die irakische Armee. Eine andere Anruferin hat als Angestellte eines staatlichen Rüstungsbetriebs seit vier Monaten kein Gehalt bekommen und richtet eine entsprechende Anklage direkt an die Politiker, von denen sie wissen will: „Wovon sollen wir leben?“335

Grundsätzlich weisen in beiden Sendungen 99% aller von den Hörern artikulier-ten Positionen in dieselbe Richtung, was ebenfalls deutlich macht, dass die Sen-dung keine ausgewogene Betrachtung irakischer Probleme oder aber den Aus-tausch verschiedener Meinungen zum Ziel hat. Aufgebaut werden vielmehr eine kollektive Verurteilung der Zustände sowie eine kollektive Anklage gegen die Politik. Der Moderator sieht sich als Anwalt der Zuhörer gegen die Regierung, befürwortet ihre Kritik (‚Da stimme ich dir zu.’) und verweist an verschiedenen Stellen auf die Verantwortung der Politiker (‚Das solltest du mal einem Politiker sagen!’).336 Gerade in der Sendung A-lo-la werden die Regierenden von den An-rufern mit Vorwürfen des Versagens überhäuft. 15 von 16 Anrufern in den beiden untersuchten Sendungen beantworten die vom Moderator gestellte Frage mit Nein und begründen ihre negative Bewertung dann ausführlich.

334 Zusammenfassende Übersetzung der Einleitung zur Sendung Radio Dijla/Majodeh Cafe/

25.08.2008. 335 Radio Dijla/Majodeh Cafe/ 25.08.2008. 336 Vgl. Radio Dijla/Majodeh Cafe /25.08.2008 und 27.08.2008.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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Kritik an der Regierung wird aber auch beim öffentlichen Sender Radio Bagdad mit den Hörern verhandelt. Am 31.08.2008 ist der Sprecher des Handelsministe-riums Mohammed Hanun zu Gast in der Service-Hour, wo er sich den Fragen und Beschwerden der Hörer stellt. Es geht um die Verfügbarkeit der durch Bezugs-scheine garantierten Waren, die offensichtlich Probleme bereitet. Im Kern ent-spinnt sich ein interessantes Gespräch zwischen den Anrufern und dem Sprecher über Korruption und Möglichkeiten ihrer Überwindung. Die Anrufer berichten über korrupte Verteiler und der Studiogast verlangt Namen der Betrüger sowie die Nutzung der entsprechenden Hotline zur Meldung dieser Verteiler. Die Anru-fer halten dagegen, dass sie vor den Folgen der Denunziation nicht geschützt seien und deswegen keine Namen nennen könnten. Der Studiogast besteht aber darauf, dass eine Lösung der Korruption nur durch Initiative der Bürger einen Anfang nehmen könne. Er weist die Verantwortung sowohl für die Warendefizite als auch für die Lösung der Korruption sowie jegliche Kritik am Handelsministerium von sich und schiebt die Verantwortung auf die Bürger, die diese mit Verweis auf die Gefährdung von Leib und Leben ihrerseits ablehnen.

A: Hallo, ich bin Abu Ammar. Es gibt eine administrative Korruption. Der Dienstleister, der die Güter zwischen dem Lager und dem Verteilungszentrum transportiert, nimmt die Ware mit der guten Qualität. Die verkauft er dann auf dem Markt. Die Ware mit der schlechten Qualität kommt ins Verteilungszentrum. Hanun: Auch der Transportunternehmer oder der Fahrer mögen korrupt sein. Wir arbei-ten an diesem Schwachpunkt. Wir haben damals 300.000 Tonnen Mehl von sehr hoher Qualität gekauft und manche korrupte Transportunternehmer haben dieses Mehl an Sü-ßigkeitenläden verkauft. Würden Sie mir den Namen des Fahrers geben? A: Ich kann Ihnen keine Namen nennen, denn Sie können mich nicht vor ihm beschützen [...]. A: Hallo, ich bin Abu Ghayth. Herr Hanun beschuldigt die Verteilerläden. Aber meiner Meinung nach steckt das Problem viel tiefer, nämlich im Handelsministerium selbst. Hanun: Wir sagen, dass die Verteiler Schuld haben, denn das sind die, die den direkten Kontakt mit den Bürgern haben. Deshalb bekommen wir viele Beschwerden über die Verteiler. Wir wissen, dass es gute und schlechte gibt. A: Seit 8 Monaten bezahle ich im Voraus für das Milchpulver für Babys. Und das Geld geht nicht an die Verteiler, sondern an das Ministerium. Hanun: Wir haben einen Gesetzentwurf verabschiedet, der verbietet, dass der Verteiler Geld im Voraus nehmen darf, wenn nicht absehbar ist, wann die Bürger die Ware erhal-ten. A: Die Leute, die beim Ministerium arbeiten, fordern Geld vom Verteiler.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Hanun: Okay, ich werde das weiterleiten und die notwendigen Maßnahmen in die Wege leiten.337

Alle beteiligten Gesprächspartner sind mit Ernsthaftigkeit bei der Sache, obwohl hier keine Lösungen angestrebt werden, sondern nur die Anatomie eines Problems von verschiedenen Seiten beleuchtet wird.338

Ähnlich wie al-Iraqiya im Gespräch mit Muayyim al-Qassimi, Parlamentspräsi-dent der Provinz Bagdad, zum Problem der Stromversorgung,339 schafft Radio Bagdad hier als öffentlicher Sender Öffentlichkeit für die Kritik der Bürger an der Versorgungsleistung der Regierung. Dabei wird durch die Architektur der Sen-dung eine Brücke geschlagen zwischen der Privatwelt der Einzelnen über die Öf-fentlichkeit der Radiosendung in die Politik, die klar als Adressat aller Vorwürfe in Erscheinung tritt.

Der Bürger als Funktionsträger, Anspruchseigner und Rechtssubjekt

Auch die Service-Hour von Radio Dijla (25.08.2008 und 27.08.2008) ist eine Call-in-Sendung, die sich als Plattform für die Sorgen und Nöte der Hörer präsen-tiert. Doch die Anrufer sprechen hier nicht aus der Perspektive des betroffenen Opfers sondern aus der Perspektive eines Funktionsträgers in einer regelbasierten Organisation, auf deren Strukturen man sich im Falle einer Benachteiligung oder einer Fehlleistung beziehen kann. Konkret fragen Studenten nach ihren Rechten und gesetzlichen Regelungen, Beamte beschweren sich über Nachteile eines neuen Rentengesetzes, Angestellte eines Staatsbetriebs beklagen gekürzte oder ausstehende Gehälter und es gibt mehrere Anrufer, die sich um Stellen bei Mini-sterien beworben haben und entweder nicht genommen wurden oder keine Ant-wort erhalten haben. Die Rolle des Moderators besteht darin, den Anrufer zu be-raten und/oder aber die Verfolgung eines Anliegens in Aussicht zu stellen.

Anders als in den erwähnten Sendungen A-lo-la und Majodeh Café steht in der Service-Hour keinesfalls die Beschwerde im Vordergrund, sondern ein Regel-bruch und das Angebot des Senders, diesem Regelbruch mit dem Anspruch der Korrektur nachzugehen. Jedes Gespräch geht mit dem Versprechen zu Ende: Wir kümmern uns darum! Während das zornige Opfer der Umstände sich in der Be-

337 Radio Bagdad/Service-Hour/ 31.08.2008. 338 Radio Bagdad/Service-Hour/ 31.08.2008. 339 Al-Iraqiya/Worüber die Leute sprechen/ 25.08.2008.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

361

schwerde auf unerfüllte Bedürfnisse bezieht, bezieht sich der Anrufer in der Ser-vice-Hour als Funktionsträger in einer Organisation auf deren Regeln und sein Recht auf Einhaltung der Regeln. Von der Möglichkeit der Korrektur wird dabei ganz selbstverständlich ausgegangen. Der Sender/Moderator bestätigt den Anru-fer in dieser Haltung durch faktische Hilfe bei der Durchsetzung seiner Forderun-gen, die diesen Forderungen gleichsam Legitimität verleiht.

Auch der einleitende Nachrichtenteil, in dem offenbar Pressemitteilungen aus den Ministerien vorgetragen werden, vermittelt den Eindruck eines gut funktionieren-den Staatsapparates. Probleme werden im Zustand versierter Bearbeitung präsen-tiert, wie folgendes Beispiel zeigt:

• Das Bildungsministerium meldet, dass 35% der Iraker nicht lesen und schreiben können. Die Regierung hat deswegen 45 Mio. Dollar zur Bekämpfung des Anal-phabetismus bereitgestellt.

• Das Bildungsministerium meldet, dass künftig Englisch an allen irakischen Schulen unterrichtet wird.

• Das Ölministerium meldet, dass wegen eines technischen Defekts in der Raffi-nerie Al-Dawra in Bagdad rund zwei Mio. Liter Benzin fehlen. Diese Menge wird nun aus den Benzindepots geliefert.

• Das Ölministerium verhandelt mit Shell über Verträge mit kurzer Laufzeit zur Ölförderung.

• Das Gesundheitsministerium wird den Beschluss zum Verbot des Handels mit nichtlizenzierten Medikamenten Anfang nächsten Monats beginnen umzusetzen.

• Der Stadtrat Bagdad meldet: Die Restauration des Kadhimiyah-Sees ist zu 70% fertiggestellt. Das Projekt hat 173 Mio. Dollar gekostet.340

Augenfällig ist in der Service-Hour die sozialistisch anmutende Vorstellung eini-ger Anrufer, dass gute Noten den Anspruch auf eine Stelle im Ministerium mit sich bringen. Mehrere Anrufer berichten, dass sie trotz guter Noten als Bewerber abgelehnt wurden oder aber bisher nicht die versprochene baldige Antwort be-kommen haben, und der Moderator verspricht, sich auch dieser Sache anzuneh-men, als wäre dem Anrufer tatsächlich Unrecht geschehen. Insgesamt fällt die Nähe der Bürger zum Staatsapparat ins Auge. Viele arbeiten für staatliche Be-triebe oder Ministerien, viele bewerben sich dort, andere beschweren sich bei den Ministerien oder werden dort direkt vorstellig, um den Minister zu sprechen, wie eine Anruferin berichtet.341 Die Ministerien erscheinen in den Erzählungen der

340 Einleitung zur Service-Hour /Radio Dijla /25.08.2008. 341 Anruferin Dunya Moussawi in der Service-Hour am 27.08.2008: „[...] Ich bin dann zum Bil-

dungsministerium gegangen und wollte den Minister sprechen. Es geht um die Einstellung

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

362

Menschen wie bürgernahe, offene Institutionen mit direkter Relevanz für den All-tag der Menschen.

Die Lehren des Islam bei Radio Bilad

Die Talksendungen beim schiitisch-religiös geprägten und parteinahen Sender Radio Bilad sind ausnahmslos den Lehren des Islam und der Frage ihrer Ausle-gung gewidmet: Wie ist der Text zu verstehen und wie verhalte ich mich richtig als streng gläubiger Moslem? Die Grundkonstellation in drei von fünf untersuch-ten Sendungen basiert auf der Präsenz eines Gelehrten oder Predigers im Studio, der islamische Texte und Regeln erklärt oder Fragen der Hörer beantwortet, die ihrerseits Auslegungsfragen des Moderators beantworten oder ihre Interpretation islamischer Texte erläutern. Es geht den Hörern darum, das Regelwerk, nach dem sie leben, zu verstehen, um ihr Verhalten mit diesen Regeln in Übereinstimmung bringen zu können.

Es kommen in den untersuchten Talkshows zwei unterschiedliche Beziehungs-modelle zum Einsatz, über die Hörer, Moderator und Experten in verschiedenen Rollen miteinander ins Gespräch gebracht werden:

(1) Die drei Sendungen An den Türen der Familie Mohammeds (28.08.2008 und 31.08.2008), Dialog im Glauben (28.08.2008) und Gleichnisse aus dem Ko-ran (31.08.2008) sind als Unterricht konzipiert, in dem ein Gelehrter/Geistlicher die Bedeutung islamischer Texte erklärt und die Rolle der Schüler/Hörer darin besteht, den Sinn des Textes zu verstehen. Es wird nach dem Hintergrund für das Fasten gefragt (‚Warum hat Gott das Fasten angeordnet?’)342, es wird die Bedeu-tung von Versen und historischen Hintergründen eruiert (‚Was bedeutet das?’) und es werden die Eigenschaften und Handlungsmotive Gottes untersucht (‚Gibt es Dinge, die außerhalb der Allmacht Gottes liegen?’)343. In den Gesprächen wer-den verschiedene Aspekte des Islam erklärt und um Verständnis der Details ge-rungen, wobei deutlich wird, dass der Text vom Gelehrten interpretiert wird, dass also die Bedeutung nicht gegeben ist, sondern erarbeitet wird. In der Sendung Dialog im Glauben (28.08.2008) erklärt der Rechtsgelehrte Mohammed al-Kaabi die Eigenschaften Gottes in der Eingangssequenz beispielsweise wie folgt:

von neuen Mitarbeitern. Meine Noten sind überdurchschnittlich gut und ich bekomme trotz-dem keinen Job“.

342 Radio Bilad/An der Türen der Familie Mohammeds/ 28. und 31.08.2008. 343 Radio Bilad/Dialog im Glauben / 28.08.2008.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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F: Eine Eigenschaft Gottes ist die Allmacht. Gibt es Dinge, die außerhalb der Allmacht Gottes liegen? Al-Kaabi: Die Allmacht Gottes ist nicht mit allem verbunden. Es gibt die machbaren Dinge (mumkinat) und es gibt die nicht machbaren. Die nicht machbaren Dinge sind aber kein Zeichen eines Mangels der Allmacht Gottes. Ein Beispiel: Wenn man einen Schneider beauftragt ein Kleid zu nähen, wird er es wohl können, aber wenn das Kleid aus Stein gemacht sein soll, dann ist es nicht der Fehler des Schneiders, wenn das nicht geht. Gott kann alles machen, aber die Fähigkeit Gottes ist mit den machbaren Dingen verbunden. Zum Beispiel: Kann Gott jemanden nach seinem Ebenbild erschaffen? Das gehört zu den unmöglichen Dingen. Sie liegen außerhalb des Möglichen. F: Welche Erzählungen gibt es im Islam, die die Allmacht Gottes beschreiben? Al-Kaabi: Die Erzählung von Zain Ibn Abdallah ist ein gutes Beispiel. Er hat gesagt: Kann Gott die Welt in eine Eierschale stecken, ohne die Welt klein und das Ei groß zu machen? Das Problem hier ist nicht bei der Allmacht Gottes. Gott kann nie die Eigen-schaft der Schwäche oder des Unvermögens haben. Das Problem liegt hier bei der Idee und der Frage als solcher. F: Warum macht Gott keine schlechten Dinge? Al-Kaabi: Gegenfrage: Kann ein Vater seinen Sohn töten? Nein, weil er ihn liebt. Die Frage ist hier nicht die Frage der Machbarkeit, sondern es ist eine Frage der Liebe. Gott hat die Macht, einen Ungläubigen in den Himmel zu lassen, aber das widerspräche sei-ner Idee von Gerechtigkeit und seinen Lehren.344

Die genannten Sendungen kreisen um eine streckenweise intellektuelle Auseinan-dersetzung mit dem Koran, in der die Anrufer und Zuhörer in der Rolle des Schü-lers nach Erkenntnis über die Bedeutung der Texte streben.

(2) Die Sendung Du und der Faqih (Radio Bilad/27.08.2008) ist als Belehrung konzipiert, in der die Hörer über das richtige Verhalten in einem frommen Leben aufgeklärt werden. Die Gespräche folgen einem gänzlich stereotypen Muster, in dem die Anrufer von einem Gelehrten ein Urteil über eine Verhaltensoption er-bitten: Soll ich den Hijab tragen für den Onkel meines Mannes? Ist ein dünner Schal als Kopftuch halal oder nicht? Sind Nylonstrumpfhosen halal? Gilt es als Fastenbrechen, wenn eine Frau ihre Haare im Ramadan mit Henna färbt? Ist es in Ordnung, beim Fasten die Zähne zu putzen? Ist die zusätzliche Niederwerfung während des Betens Pflicht?345 Bei all diesen Fragen (und Antworten) geht es nicht darum, den Sinn einer Regel, sondern die der Regel inhärente Verhaltens-vorgabe zu erkennen, um sich ihr fügen zu können. Die Anrufer streben in dieser

344 Radio Bilad/Dialog im Glauben/28.08.2008. 345 Radio Bilad/Du und der Faqih /27.08.2008.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Rolle nach Gehorsam, während die Bedeutung der Regeln keine Rolle spielt. An-ders als in der zuerst genannten Form geben die Antworten des Gelehrten keine Handlungs- oder Interpretationsspielräume zu erkennen. Sie sind eindeutig und unterscheiden ohne Zweifel das Richtige (halal) vom Falschen (haram). Die Hal-tung der massenhaft anrufenden Zuhörer346 ist die der willentlichen Unterwerfung.

Alle Talksendungen richten sich an ein religiöses Publikum, das nach einer stren-gen Auslegung islamischer Regeln lebt und dessen Alltag vom Glauben durch-drungen ist. Viele Fragen sind sehr intim und betreffen körperliche Vorgänge wie Verletzungen, Blutungen, Krankheiten, Schwangerschaft, Zähneputzen, Klei-dung, Essen und Trinken.

Der private Mensch im Kreis der Familie bei Radio Sumer

In der Sendung Stimmungen (28.08.2008) beim privaten Radiosender Radio Su-mer treten die Anrufer als explizit private Menschen in Erscheinung, deren Leben an keiner Stelle mit Politik, Religion oder anderen Regelsystemen in Verbindung steht und deren Emotionen ausschließlich durch Geschehnisse im Familien- und Freundeskreis geprägt werden.

Die Sendung kreist, wie schon der Titel suggeriert, um Emotionen: Jeder Anrufer soll etwas über seine aktuelle Gefühlslage und die Gründe für gute oder schlechte Laune sagen (‚Wie ist deine Stimmung heute?’). 15 Anrufer geben an, sehr gute Laune zu haben und viele von ihnen benennen die Sendung selbst bzw. den Mo-derator als Grund für die gute Laune. Ein Anrufer beschwert sich über die schlechte Laune eines anderen Anrufers mit der Begründung, dass das Leben schlimm genug sei, ‚besonders der ewige Stau auf der Straße’, da müsse man fröhlich und optimistisch bleiben: „Ich rufe die Anrufer dazu auf, eine bessere Stimmung zu haben“, sagt er und der Moderator pflichtet ihm bei.347 Nur fünf von 25 Anrufern geben an, eher schlechte Laune zu haben. In Stimmungen geht es also auch darum, gute Laune zu verbreiten, als deren Ursache Besuche, Geburtstage, Hochzeiten und Geschenke genannt werden, Anlässe also, die wie vorformatierte Schablonen freudiger Ereignisse erscheinen. Aber auch die Gründe für schlechte Stimmung verweisen auf eher stereotypisierte Gefühlswelten: Einer hat eine Grippe, beim anderen ist der Nachbar gestorben und eine Anruferin hat Streit mit ihrer Freundin. Ein einziger Anrufer bezieht sich in seinem Beitrag auf seinen

346 Es werden in der einstündigen Sendung 15 Anrufe und zwei E-Mails verhandelt. 347 Radio Sumer/Stimmungen /28.08.2008.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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Beruf. Politik oder Versorgungsumstände scheinen im Leben der Anrufer keine Rolle zu spielen.348

Im Kern wird vermittelt, dass nur der Mensch, der sich mit der über die Familie hinausgehenden Umwelt nicht beschäftigt, ein froher Mensch sein kann. Die Ab-wendung von Politik und Gesellschaft und der Rückzug in die Familie wird als Weg zum Glück aufgezeigt.

Radio Bagdad geht in der Sendung Guten Abend Bagdad (28.08.2008) noch einen Schritt weiter auf diesem Weg von der Privatheit in die Belanglosigkeit. Auf die Frage: ‚Was würdest du schreiben, wenn du einen Stift hättest und ein Blatt Pa-pier?’, antworten zehn Anrufer: ‚Alles Gute zum Ramadan!’, und drei weitere erklären, sie würden aufschreiben, was sie heute erlebt haben. Danach wird die Quizfrage nach der Hauptstadt von Dänemark von zehn Anrufern richtig beant-wortet.349

Die Verhandlung traditioneller Rollen- und Verhaltensmuster als sender-übergreifend zentrales Thema

Auch die Sendung Lass uns Freunde werden (Radio Sumer/26.08.2008) ent-springt einer in Privatheit und Intimität verwurzelten Konzeption. In der Anmo-deration wird gleich klargestellt: „Wer unser Freund werden will, muss alles über sich erzählen.“350 Im weiteren Verlauf geht es dann um Liebe, Heirat und die Part-nerschaft zwischen Mann und Frau. Die vornehmlich mit Frauen über die Aufga-ben der Ehe- und Hausfrau geführten Gespräche werden aber, anders als in der Sendung Stimmungen, in Beziehung zur Frage traditioneller Rollenbilder gesetzt und berühren dadurch einen gesellschaftspolitischen Kontext.

In drei Fällen will der Moderator von der Anruferin zunächst wissen, wie hoch ihre Mitgift war (was in allen Fällen präzise beantwortet wird, inklusive Angaben darüber, was für den Fall der Scheidung vereinbart wurde), fast alle Anruferinnen (und Anrufer) werden nach den Eigenschaften des Traumpartners gefragt und in fast allen Gesprächen mit den vorwiegend weiblichen Anruferinnen geht es da-rum, ob man selbst die traditionelle Rolle der Hausfrau erfüllt oder nicht. Die Anruferinnen erklären, ob sie gut kochen können, ob sie eine gute Hausfrau sind

348 Radio Sumer/Stimmungen /28.08.2008. 349 Radio Bagdad/Guten Abend Bagdad /28.08.2008. 350 Radio Sumer/Lass uns Freunde werden /26.08.2008.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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oder wie sie sich verhalten (würden), wenn die Schwiegermutter unverschämte Forderungen stellt:

Moderator: Kannst du etwas über dich erzählen? Anrufer: Mein Name ist Nour al-Huda Moderator: Wie viel war deine Morgengabe? Anrufer: Fünf Millionen IQD als Vorauszahlung und fünf Millionen im Fall der Schei-dung. Das Geld spielt aber keine Rolle. Am wichtigsten ist der Charakter der Person, mit der ich mein Leben verbringe. Moderator: Stell dir vor, du hast geheiratet und am zweiten Tag sagt deine Schwieger-mutter, dass du nun aufstehen und den Haushalt machen sollst. Was sagst du? Anrufer: So ist unser Leben, so wurden wir erzogen. Das sind unsere Sitten. Ich muss aufstehen und arbeiten. Moderator: Die Überraschungsfrage: Was geht nur, wenn man draufschlägt? Anrufer: Ein Esel? Moderator: Leider falsch. Anrufer: Hallo, ich bin Hamsa. Moderator: Hallo Hamsa, wenn ich mir dich vorstelle, denke ich an eine ungeduldige Person, die zu Hause sitzt und sich das Essen bringen lässt. Stimmt das? Anrufer: Nein, ich bin das Gegenteil. Ich koche gerne und arbeite viel im Haushalt. Moderator: Findest du es gut, jung, unter 18, zu heiraten? Anrufer: Nein, ich bin dagegen. Das Mädchen sollte über 20 Jahre alt, mit dem Studium fertig sein und wissen, was es will. Ich glaube an die Heirat aus Liebe, nicht an die traditionelle Ehe. Moderator: Die Überraschungsfrage: Was geht nur, wenn man draufschlägt? Anrufer: Ich weiß nicht.351

Die Frage, ob sie eher „aus Liebe“ oder „traditionell“ heiraten würden, beantwor-ten alle vier in der Sendung dazu Befragten mit „aus Liebe“.352

Auch beim öffentlichen Radio Bagdad werden tradierte Sitten im Bereich der Verheiratung weiblicher Familienmitglieder in der Sendung Der Beste Abend (28.08.2008) zur Diskussion gestellt. In der im Rahmen der Arbeit untersuchten Episode wird gefragt, ob die Zuhörer es für richtig und angebracht halten, dass

351 Radio Sumer/Lass uns Freunde werden/26.08.2008. 352 Radio Sumer/Lass uns Freunde werden/26.08.2008.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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die älteste Tochter, wie es die Tradition verlangt, als erste aller Töchter verheiratet wird.

Alle Anrufer sind ausnahmslos der Meinung, dass es sich um eine überholte Sitte handelt, die in der Praxis entweder längst anders gehandhabt wird oder aber, im Falle der Beibehaltung, die Familien in der erfolgreichen Verheiratung ihrer Töchter behindert. Einige Anrufer berichten, dass alle Schwestern noch unverhei-ratet seien, weil der Vater sich an die Tradition gehalten habe. Die meisten be-richten davon, dass der Zwang zur Priorisierung der Ältesten in den Familien nicht mehr praktiziert werde, weil die Einhaltung dieser Regel allen Beteiligten nur Nachteile verschafft habe. Um die Debatte zu stimulieren, übernimmt der Mo-derator die Rolle des Sittenverteidigers. Die Zuhörer argumentieren aber überzeu-gend mit Erfahrungen und Logik gegen die Sitte und zeigen sich dabei reflektiert, umsichtig und vernünftig im Umgang mit der Erneuerung von Traditionen. Un-angefochten bleibt dabei das Recht des Vaters, über Ehemann und Hochzeit der Tochter zu bestimmen. Zur Diskussion steht aber, nach welchen Regeln dieses Recht ausgeübt wird.353

Der öffentliche Sender Radio Bagdad bietet in dieser Sendung eine veritable Platt-form für die deliberative Verhandlung tradierter Rollenmuster unter Bürgern, die sich in der Verantwortung sehen sowohl für die Erhaltung als auch für die Ver-werfung von Traditionen. Bemerkenswert ist hier die Selbstverständlichkeit, mit der Traditionen durch Aushandlungsprozesse gestaltbar erscheinen. Ihre Erneue-rung, so scheint es, liegt im Kompetenz- und Verantwortungsbereich der Fami-lien, deren Lebenswelt von der Politik getrennt wird, als würde staatliches Han-deln in diese Sphäre nicht hineinreichen.

Bei Radio Bagdad wird der Lauf der sozialen Dinge in einem deliberativen Dis-kurs verhandelt, in dem mit Argumenten um Durchsetzung gerungen wird.354 Bei Radio Sumer dahingegen erscheint der Umgang mit Traditionen als willkürliche Praxis ohne Begründungszusammenhang. Rollenbilder werden nicht diskutiert o-der reflektiert, es wird an keiner Stelle für oder gegen eine Form argumentiert, noch werden Begründungen ins Feld geführt, sondern ihre Handhabung wird

353 Radio Bagdad/Der Beste Abend /28.08.2008. 354 Ernsthaftigkeit ist aber kein durchgängiges Merkmal der Sendungen beim staatlichen Sender

Radio Bagdad, wie die Analyse der Sendung Guten Abend Bagdad gezeigt hat (siehe Absatz Der private Mensch im Kreis seiner Familie bei Radio Sumer im vorliegenden Kapitel).

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anekdotisch abgefragt. Unterschiedliche Lebensformen bleiben unbegründet ne-beneinander stehen. Die Ernsthaftigkeit des Themas wird dabei aufgeweicht durch Quizfragen, Musikwünsche, lustige Gedankenspiele und Verzicht auf jeg-liche Nachfragen. Das Gespräch soll unterhaltsam, nicht ernst sein, es will nicht in die Tiefe gehen. Radio Sumer richtet sich mit diesem Konzept an Menschen, die keinen Zusammenhang sehen oder herstellen wollen zwischen ihrem Privat-leben und dessen gesellschaftspolitischem Kontext. Das Private bleibt vom Poli-tischen getrennt und von dessen Effekten unberührt.

Das Nebeneinander dieser beiden Erscheinungsweisen im Radio verweist mög-licherweise auf ein gespiegeltes Nebeneinander entsprechender Lebensformen in der Gesellschaft, die von den beiden Radiostationen unterschiedlich bewertet und deswegen unterschiedlich adressiert werden.

Eine relativ komplexe Auseinandersetzung mit der Doppelbelastung von Frauen durch Berufstätigkeit und Familie findet sich in der Talksendung Duft beim schi-itischen-religiösen Radio Bilad (27.08.2008). Das Problem wird hier sowohl mit Bezug auf traditionelle Rollenvorstellungen als auch mit Bezug auf die im Islam gegebenen Rechte und Pflichten der Frau diskutiert. Im Verlaufe der Sendung wird deutlich, dass die beiden Bezugssysteme Tradition und Islam die Frau in der Frage der Berufstätigkeit vor widersprüchliche Anforderungen stellen und dass die Auflösung der Widersprüche den Betroffenen überlassen wird.

Konkret betont der Studiogast Udul Abd al-Wahed, dass der Koran Bildung als Pflicht und Berufstätigkeit als Recht der Frau sehe, dass aber Traditionen sich diesem Recht innerhalb der Familien in den Weg stellen. Die Expertin befürwor-tet mit Referenz auf den Koran ganz klar die Berufstätigkeit der Frau, präzisiert aber ihrerseits, dass die erfolgreiche oder gute Frau eine Balance finden müsse zwischen Kindererziehung, Haushalt, Umgang mit dem Ehemann und Berufstä-tigkeit:

F: Welche Möglichkeiten hat der Islam der Frau im Bereich der Berufstätigkeit eröffnet? Al-Wahed: Der Islam hat den Frauen das Recht auf Bildung gegeben. Bildung gilt im Islam als Farida (Pflicht). Die Mädchen sollen sich bilden, um ihren Wissensdurst zu stillen und das Wissen für die Gesellschaft einzusetzen. Bestes Beispiel ist Sayyida Za-inab. Sie hat die Frauen in Kufa islamische Jurisprudenz gelehrt. Es gibt in diesem Be-reich leider nicht so viele berühmte Namen in der islamischen Welt, weil wir Bräuche und Traditionen haben, die dem entgegenstehen. F: Gibt es bestimmte Fähigkeiten, die Frauen helfen, berufstätig zu sein?

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Al-Wahed: Im Irak gibt es bekannte Frauen, deren Fähigkeiten man kennt und schätzt, wie zum Beispiel bei Ärztinnen. Diese Fähigkeiten haben auch mit der Erziehung zu tun, wie die Familie diese Frauen erzogen hat. Beispielsweise gibt es Familien, die den Mädchen Selbstbewusstsein mitgeben und es fördern. [...] F: Wie weit haben es die Frauen im Beruf und in der Gesellschaft heute gebracht? Al-Wahed: Es gibt, wie bei den Männern auch, erfolgreiche Frauen und welche, die nicht erfolgreich waren. Aber wir sprechen über gute Frauen, also Frauen, denen die Balance zwischen Kindererziehung, Haushalt, dem Umgang mit ihrem Ehemann und der Arbeit gelingt.355

Für das Verhalten der Frau im beruflichen Umfeld referiert sie an anderer Stelle konkrete Vorschriften – kein Augenkontakt mit Männern, züchtige Kleidung, kein Parfum etc. Die Frage, wie Gleichzeitigkeit und Ebenbürtigkeit sich wider-sprechender Anforderungen zwischen Beruf, Haushalt, Familie und Kindererzie-hung im Alltag bewältigt werden können, wird im Gespräch offengelassen – mit Ausnahme einer Gesprächssequenz zur Möglichkeit der Kinderversorgung durch Kindergärten, die eine gesellschaftliche Dimension der Problematik zumindest kurz ins Spiel bringt. Für die Gratwanderung zwischen Religion und Tradition wird die Frau aber mit Eigenverantwortung und Handlungsspielräumen ausgestat-tet und ansonsten auf sich allein gestellt. Der Moderator öffnet folgerichtig die Leitung für Anrufer mit der Frage: ‚Meistert die Frau ihre Rolle in Beruf und Familie gut?’

Drei von vier anrufenden Frauen stellen sich auf die Seite der Tradition und beto-nen, dass die familiären und häuslichen Pflichten im Zweifel Vorrang haben soll-ten oder dass die Berufstätigkeit der Frau zugunsten der Kinder grundsätzlich ab-zulehnen sei.

Vertreter der Zivilgesellschaft und Bürger in der Rolle als politisches Subjekt beim öffentlichen Sender Radio Bagdad

In der Sendung Die Wahrheit zwischen Mikrofon und Hörer (Radio Bag-dad/25.08.2008) spricht Azhar Abdul Karim al-Shakhli, ehemalige Ministerin für Frauen und derzeit Direktorin einer NGO, über die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen im politischen Prozess, über die Haltung der Wähler zu den an-stehenden Provinzwahlen und die Notwendigkeit von Frauenförderung und die

355 Radio Bilad/Duft /27.08.2008.

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Veränderung der Frauenrolle. Eine Vertreterin der Zivilgesellschaft diskutiert also als Repräsentantin einer engagierten Bürgergesellschaft politisch relevante Fragen und thematisiert dabei auch gleich die Funktion der Zivilgesellschaft als Anwältin der Bürger gegen die Regierung und als Agentin gesellschaftlicher Auf-klärung im politischen Gefüge.

F: Wie können NGOs den Bürgern helfen, um die kommenden Wahlen zu einem Erfolg zu führen und die Bürger ihren passenden Repräsentanten wählen zu lassen? Al-Shakhli: Die Nichtregierungsorganisationen sind ein neues Phänomen im Irak. Unter dem ehemaligen Regime gab es nur staatliche Institutionen wie z. B. die Vereinigung der Frauen des Iraks. Jetzt sind die NGOs unabhängig, haben aber eine begrenzte Rolle. Sie können dennoch viel tun. Denn zu ihren Tätigkeiten gehört die Aufklärung. Sie sind eine Art Vermittlung zwischen den Bürgern und der Regierung. Sie können Druck auf die Regierung ausüben. Doch solche NGOs können nicht frei arbeiten, wenn sie keine politische und wirtschaftliche Stabilität haben. Die NGOs bekommen manchmal eine finanzielle Förderung unter bestimmten Bedingungen von internationalen Organisatio-nen. F: Die NGOs führen auch Workshops und Trainings durch, z.B. die Ausbildungsorga-nisation Munazamat Mihaniyat. Al-Shakhli: Mit aller Bescheidenheit möchte ich sagen: Ich bin die Geschäftsführerin dieser NGO. Sie ist neu gegründet worden und fokussiert sich auf die Frauen. Wir ver-suchen den Frauen zu helfen, die Probleme, die sie tagtäglich in ihrem Arbeitsumfeld haben, zu bewältigen. Ebenfalls beschäftigen wir uns mit dem Thema Ungleichbehand-lung in der Arbeitswelt. Beispielsweise gibt es an Universitäten viele Dozentinnen, aber keine einzige Dekanin. Warum? Wir wollen das ändern.356

Damit wird im positiven Sinne umgesetzt, was aus normativer Sicht von einer partizipativen Medienkultur zu erwarten ist: Politik verwurzelt sich in der Gesell-schaft und umgekehrt, denn als ehemalige Ministerin operiert al-Shakhli auch und vor allem an der Schnittstelle zur Politik – ein Umstand, den man auch als Kritik an der Glaubwürdigkeit des Gastes oder an der Glaubwürdigkeit der irakischen Zivilgesellschaft formulieren könnte.

Der staatliche Sender Bagdad ist allerdings der einzige von allen untersuchten Radiosendern, der den Bürger als politisches Subjekt und Teilnehmer in den öf-fentlichen Diskurs über Politik in dieser Form einbezieht. Zugleich wird durch die konkrete Person al-Shakhli hier auch klargemacht, dass die Brücken zwischen Politik und Gesellschaft von der Politik aus gebaut werden (ganz im Gegensatz

356 Radio Bagdad/Die Wahrheit zwischen Mikrofon und Hörer /25.08.2008.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

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zum privaten Sender Radio Dijla, der die Brücken aus der Privatsphäre der Anru-fer heraus in die Politik baut). Die intermediäre Sphäre der Zivilgesellschaft hat beim öffentlichen Sender Radio Bagdad ihren Ausgangspunkt in der Politik.

Auch in der Sendung Künste (27.08.2008/Radio Bagdad) wird der Hörer und po-tenzielle Anrufer in der Rolle des politischen Subjekts adressiert. Gefragt wird danach, warum viele irakische Fernsehsender dazu neigen, ausschließlich nega-tive Aspekte der irakischen Realität zu beleuchten und positive Entwicklungen in der Berichterstattung auszusparen. Das Thema wird wie folgt eingeleitet:

Ein paar irakische Satellitensender haben Programme, die den Irak und die Bürger durch Verfälschung der Fakten schlecht darstellen und die die positiven Dinge bewusst ver-schweigen. Der irakische Zuschauer ist klug und erkennt das Ziel dieser Art von Pro-grammen. Deshalb vermeiden die meisten solche Sendungen. Unsere Frage hat ver-schiedene Aspekte. Erstens: Warum versuchen diese Satellitensender die Seele der Liebe und der Versöhnung zwischen den Irakern zu zerstören? Zweitens: Ist es nicht besser, dass Sender das Bild des Iraks verbessern und nicht schlecht darstellen? Warum machen diese Sender keine Programme, die das Positive zeigen? Und letztens: Warum geben sich manche irakische Schauspieler und Künstler für solche Sendungen her, die ihre Karriere beschädigen?357

Die Fragen sind in zugespitzter Form suggestiv gestellt und wirken daher wie der Aufruf zur Beschwerde gegen Sender dieser Art, dem zumindest ein Anrufer (von Dreien) dann auch Folge leistet. Moderator und Anrufer richten in diesem Ge-spräch ihre gemeinsame Kritik an der Negativorientierung vor allem gegen Dreh-buchautoren und Regisseure, die als Verantwortliche identifiziert werden.358 Hier wird eine potenziell interessante Kontroverse durch die propagandistische Inten-tion des Moderators im Keim erstickt, der weder an der Meinung der Hörer noch an einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit dem Thema interessiert scheint. Die Fragestellung und Anlage der Sendung hätte für ein reflektiertes und politisch interessiertes Publikum aber Potenzial gehabt.

357 Erläuterung des Diskussionsthemas und Einleitung zur Sendung Künste/27.08.2008/Radio

Bagdad. 358 Der zweite Anruf zum Thema ist kritisch ausgerichtet, bricht aber aus technischen Gründen

ab: „Hallo ich bin Asheq al-Kalb aus Najaf. Diese Satellitensender versuchen den Zustand des Iraks zu reflektieren und wenn wir ehrlich sind, ist der derzeitige Zustand auch kritisch zu sehen ...“ Der dritte Anrufer richtet einen Appell an irakische Schauspieler, in ihre Heimat zurückzukehren, um sich am Aufbau zu beteiligen (Radio Bagdad/Künste/27.08.2008).

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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Geringe Präsenz von Bürgern und bürgernahen Gruppen in den Nachrichten

Im Vergleich zu der Anzahl von Bürgerauftritten in irakischen Fernsehnachrich-ten fällt die Präsenz von Bürgern und bürgernahen Gruppen in den Radionach-richten gering aus. In den drei untersuchten Nachrichtensendungen beim privaten Radio Dijla kommen nur in einem einzigen Beitrag drei Bürger zu Wort, die sich über fehlendes Benzin in Babel beschweren und dabei unter anderem auch die Regierung als Verantwortliche kritisieren.359 Als bürgernaher Akteur wird an nur einer Stelle der Bürgermeister von Bagdad zu einem Wohnungsbauprojekt zi-tiert.360 Ähnlich auffällig ist die geringe Präsenz von Bürgern auf dem öffentlichen Sender Bagdad: Zwei Witwen von Märtyrern des ehemaligen Regimes bedanken sich für die Arbeit einer Stiftung, die sich für die Hinterbliebenen von Regimeop-fern engagiert, und der Sohn eines Märtyrers spricht über seine Teilnahme an ei-ner Verlosung von Pilgerfahrten.361 Mit 18 Auftritten fällt auch die Repräsentation bürgernaher Gruppen relativ niedrig aus (Tab. 8.26).362

359 28.08.2008/Platz 10/ 3 min. 360 28.08.2008/Platz 7/ 2:10 min. 361 25.08.2008 /Platz 7/ 3 min. 362 Zum Vergleich: in den TV-Nachrichten treten Bürger 89 Mal vor die Kamera und bürgernahe

Gruppen 38 Mal (vgl. Tab. 8.15).

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

373

Tabelle 8.26: Akteursgruppen in den Radio-Nachrichten/ Bürger und bürgernahe Grup-pen* Nachrichten363 Dijla Bagdad Sumer Anzahl ge-

samt

Sprecher/Vertreter/Mitglieder der Regierung

12 13 7 (10) 32 (10)

Parteipolitische Eliten 3 6 4 13

Politischer Mittelbau (Parla-ment)

15 5 13 33

Kommunalpolitik 2 2 6 10

Analysten und Experten 1 2 11 14

Medien- und Kulturschaf-fende

-- 7 -- 7

Militär und Polizei 3 2 13 18

Bürgernahe Gruppen/Zivilge-sellschaft

2 3 13 18

Bürger 3 3 14(2) 20 (2)

Anzahl gesamt 41 43 47(8) 165 (12)

*Eigene Darstellung

Für den öffentlichen Sender Bagdad und den privaten Sender Dijla kann also die Beobachtung festgehalten werden, dass die Präsenz von Bürgern und bürgernahen Gruppen in den Talkformaten mit insgesamt 105 Anrufern sehr hoch ist, während die Präsenz von Bürgern und bürgernahen Gruppen in den Nachrichten mit ins-gesamt elf Auftritten sehr klein ist. Das Verhältnis der Teilhabe von Bürgern im Programm ist damit außerdem diametral umgekehrt zur Verteilung der Teilhabe im Fernsehen.

Von dieser Beobachtung auszuschließen ist der private Sender Radio Sumer, der die Nachrichten vom Fernsehsender al-Sumeria unverändert übernimmt und da-mit als einziger Sender das in den Fernsehnachrichten aller Sender hohe Niveau der Bürgerpräsenz auch im Radio aufrechterhält. Analog zu den Fernsehnachrich-ten äußern sich die Bürger negativ, teils aufgebracht über die Stromversorgung, über Kinderarbeit und über die schlechte Sicherheitslage. Bürgerbeteiligung ist,

363 Im Programm von Radio Bilad gibt es keine Nachrichten.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

374

wie im Fernsehen, auf Versorgungsthemen reduziert und richtet sich kritisch ge-gen die Regierenden, die aus Sicht der Bürger an der Aufgabe der Versorgung scheitern (vgl. Kap. 8.2.1). Diese Beobachtung muss im Verhältnis gesehen wer-den zum explizit unpolitischen Auftreten der Anrufer in den Talkformaten bei Radio Sumer, in denen jede Form von Ernsthaftigkeit oder politischer Bedeut-samkeit gezielt vermieden wird und stattdessen seichte Quizfragen und Gefühle im Zentrum stehen.364 Die Beteiligung der Bürger bei Radio Sumer ist gekenn-zeichnet von politischer Belanglosigkeit, während die Einlassungen der Bürger in den Nachrichten im Kern den Charakter von Beschwerde und Kritik an der Leis-tung der Regierung haben.

Bei Radio Sumer gleichen sich damit die Muster der Bürgerbeteiligung in Radio und Fernsehen, während bei Radio Dijla und Radio Bagdad diese Muster inver-tiert sind.

8.6.3 Konfliktberichterstattung

In der Analyse der Konfliktberichterstattung im Fernsehen waren unterschiedli-che Herangehensweisen zwischen den Sendern sichtbar geworden (vgl. Kap. 8.3). Aufgefallen war die Strategie der Ausblendung innenpolitischer Konflikte auf dem öffentlichen Sender al-Iraqiya und dem schiitisch geprägten Parteisender al-Furat und eine komplementär ausgedehnte Berichterstattung über innenpolitische Konflikte beim sunnitisch geprägten privaten Sender al-Sharkiya. Hier wurden politische Motive auf beiden Seiten vermutet. Ebenfalls auffallend war eine sen-derübergreifende Einigkeit darüber, dass die sunnitische Aufstandsbewegung nur als terroristische Gefahr in Erscheinung treten soll und niemals zu ihren politi-schen Zielen und Positionen gehört wird. Zu diesem Narrativ gehört auch, dass zwischen einzelnen Gruppierungen der Aufstandsbewegung und al-Qaida explizit keine Unterschiede gemacht werden. Als weiteres Ergebnis war eine relativ aus-gewogene Berichterstattung auf den privaten Sendern al-Sumeria und al-Sharkiya beobachtet worden sowie eine senderübergreifende Delegation von Deutungsho-heit im Bereich der innenpolitischen Konflikte an das Militär. Als einziger Sender im Sample wurde beim privat-kommerziellen Sender al-Sumeria der Versuch un-ternommen, innenpolitische Konflikte zwischen Vertretern unterschiedlicher La-ger in Talkformaten zu diskutieren (vgl. Kap. 8.3.1).

364 Siehe dazu den Abschnitt Der private Mensch im Kreis seiner Familie bei Radio Sumer im vorliegenden Kapitel.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

375

Untenstehend werden diese Beobachtungen als Instrument für die Analyse der Konfliktberichterstattung auf irakischen Radiosendern zum Einsatz gebracht. Da-bei waren im Zeitraum der Datenerhebung folgende innenpolitische Konflikte vi-rulent:365

• Konflikt zwischen al-Qaida/irakischer Aufstandsbewegung auf der einen und irakischer Zentralregierung/multinationalen Truppen auf der anderen Seite (vgl. Kap. 5.3);

• Konflikt zwischen (sunnitisch geprägten) Sahwa Councils und irakischer Zentralregierung (vgl. Kap. 5.8);

• Konflikt zwischen (schiitisch geprägter) Mahdi-Armee und irakischer Zentralregierung (vgl. Kap. 5.9);

• Konflikt zwischen (kurdischer) Peshmerga und Soldaten der staatlichen Armee in Kanaqin (vgl. Kap. 5.6).

Ausblendung innenpolitischer Konflikte bei Radio Dijla und Radio Bagdad

Der private Sender Radio Dijla konzentriert sich in der Konfliktberichterstattung auf den Konflikt der irakischen Zentralregierung mit der kurdischen Regierung über den Verbleib der umstrittenen Gebiete. Die Kämpfe in Kanaqin sind Be-standteil dieses Themenfeldes aber auch der Verbleib von Kirkuk.366 Konkret wird bei Radio Dijla über das Thema wie folgt berichtet:

• Vizepräsident Tariq al-Hashimi trifft sich mit Massud Barzani, Präsident der Autonomen Region Kurdistan, zu Gesprächen über die Situation in Diyala. In den Gesprächen wurde auch die Frage der Legitimität irakischer Truppen in Kanaqin und die Beziehung zwischen der Region Kurdistan und Bagdad besprochen.367

365 Innenpolitische Konflikte gemäß der Kontextanalyse in Kapitel 5. Als gewaltförmig werden

hier innenpolitische Konflikte bezeichnet, die entweder mit Waffengewalt aktuell ausgefoch-ten werden (irakische Widerstandsbewegung und al-Qaida gegen Staat und Regierung, Sahwa Councils und Peshmerga) oder kürzlich noch ausgefochten wurden (Mahdi-Armee).

366 Der Konflikt zwischen der Zentralregierung in Bagdad mit der kurdischen Lokalregierung in Erbil über die Eingliederung von Kirkuk in die Autonome Region Kurdistan wird in der vor-liegenden Arbeit nicht der Gruppe der gewaltförmigen Konflikte zugeordnet (vgl. Kap. 5.6). Weil aber Kirkuk zu den umstrittenen Gebieten gehört und bei Radio Dijla im Zusammenhang mit den Kämpfen um die ebenfalls umstrittene Stadt Kanaqin diskutiert wird, findet die Be-richterstattung zu Kirkuk hier Erwähnung.

367 28.08.2008/Platz 3/0:38 min.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

376

• Bericht über Demonstrationen von Stammesmitgliedern in Najaf gegen eine mögliche Eingliederung Kirkuks in die Region Kurdistan. Es werden zwei Abgeordnete der Kurdischen Allianz zu den Demonstrationen befragt, zur Eingliederung Kirkuks, zu den Konflikten in Kanaqin sowie zur Bezie-hung zwischen der kurdischen Regierung und der irakischen Zentralregie-rung.368

Auffallend ist das neunminütige Interview mit zwei Abgeordneten der Kurdi-schen Allianz, die zunächst die Demonstrationen in Najaf kommentieren, aber von dort aus in ein Gespräch über die grundlegenden Konflikte zwischen den bei-den Regierungen in Erbil und Bagdad einsteigen. Es werden keine anderen Posi-tionen als die der Kurden zu diesem Streit gehört. Von der Gesprächsführung her und angesichts der Auswahl der Interviewpartner erscheint die Berichterstattung als Parteinahme für die kurdische Seite im Streit um Grenzgebiete, zumal Vertre-ter der irakischen Zentralregierung an keiner Stelle zu Wort kommen.369

Radio Dijla berichtet weder über die Transformation der Mahdi-Armee noch über den aktuellen Konflikt der Zentralregierung mit den Sahwa Councils und rückt damit politisch in die Nähe des öffentlichen Radiosenders Bagdad, der ebenfalls – equivalent zum öffentlichen Fernsehsender al-Iraqiya – über die oben skizzier-ten innenpolitischen Konflikte nicht berichtet.370 Anders als Dijla berichtet Radio Bagdad allerdings auch nicht über die Spannungen zwischen Erbil und Bagdad oder die Konflikte um den Verbleib von Kirkuk.

Weitgehend ausgewogene und umfassende Konfliktberichterstattung bei Ra-dio Sumer

Radio Sumer übernimmt die Nachrichten vollständig und unverändert aus dem Fernsehen. Insofern kann an dieser Stelle nur wiederholt werden, was bereits in Kapitel 8.3.1 über Konfliktberichterstattung beim privat-kommerziellen Sender al-Sumeria gesagt wurde: Es wird über alle innenpolitischen Konflikte mehr oder

368 28.08.2008/Platz 6/9 min. 369 28.08.2008/Platz 6/9 min. 370 Als Ausnahme ist hier ein kurzer Bericht am 25.08.2008 (1 min) zu erwähnen, über die um-

strittene Eingliederung der Sahwa Councils in die staatliche Armee, die von einem Abgeord-neten der SIIC mit Verweis auf die problematische Nähe der Sahwa Councils zu al-Qaida erläutert wird. Das staatliche Fernsehen hatte an diesem Tag über dieses für die Regierung unliebsame Thema nicht berichtet, sodass hier der Eindruck entsteht, das im Radio den Nach-richtenredakteuren mehr Handlungsspielräume gewährt werden.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

377

weniger ausführlich berichtet und dabei dem journalistischen Leitbild der Unpar-teilichkeit und Ausgewogenheit in weiten Teilen der Berichterstattung Folge ge-leistet. Insbesondere die Berichterstattung zum Konflikt der Sahwa Councils mit der Zentralregierung in al-Anbar ist von einem hohen Maß an vertikaler und ho-rizontaler Inklusion von Sprechern geprägt, zu denen in diesem Fall sowohl Ver-treter des amerikanischen State Departments, der irakischen Regierung, des iraki-schen Militärs als auch Vertreter der Sahwa Councils zählen.

Einseitigkeit findet sich bei Radio Sumer in der Berichterstattung über die Lage in Kanaqin, die ausschließlich aus kurdischer Perspektive zur Darstellung kommt. In einem dreiminütigen Bericht werden zur Vertreibung der Peshmerga aus den Regierungsgebäuden in Kanaqin nur Vertreter der kurdischen Regierung gehört, die unmäßige Gewaltanwendung der irakischen Armee beklagen.371

Auffallend kurz fällt die Berichterstattung zum eigentlich bedeutsamen Strategie-wechsel der Mahdi-Armee aus: am 28.08.2008 erklärt Muqtada al-Sadr in nur 18 Sekunden (Platz 4) die Transformation der Sadr-Bewegung von einer militäri-schen zu einer sozialen Organisation. Die Stellungnahme wird weder durch Kom-mentare, Kritik noch durch journalistische Hintergrundinformationen eingerahmt.

Kampf gegen den Terrorismus

Die Berichterstattung zur Sicherheitslage im Irak ist auf dem öffentlichen Sender Radio Bagdad beherrscht von Nachrichten über Festnahmen: Mindestens 80 Ter-roristen wurden laut Nachrichtenlage an den drei untersuchten Tagen festgenom-men, ihre Waffen konfisziert und ihre Sprengsätze entschärft. Weitere Terroristen wurden verurteilt.372

371 25.08.2008/Platz 4/3 min. 372 Sicherheitsblock am 25.08.2008 (Platz 4/4:20 min): Sicherheitskräfte in Bagdad haben 36

Terroristen festgenommen und 14 Sprengsätze entschärft. Die MNF nahm neun Terroristen von al-Qaida in Bagdad und Kirkuk fest. Die Polizei nahm eine terroristische Gruppe, die auf Familienterrorismus spezialisiert ist, in der Provinz Basra fest. Ein jordanisches Gericht ver-urteilt drei Terroristen zu fünf Jahren Gefängnis, die versucht hatten, über Syrien in den Irak einzudringen. Sicherheitsblock am 31.08.2008 (Platz 12/1:20 min): Irakische Sicherheitskräfte und ameri-kanische Militärs entdecken Waffenlager in Iskandariya und nehmen 25 Terroristen im Rah-men der Operation Bashair al-Khair fest. Sicherheitsblock am 28.08.2008 (Platz 8/3:30 min): Die Sicherheitskräfte in der Provinz Diyala haben 25 Terroristen im Rahmen der Operation Bashair al-Khair festgenommen. Es wurden Waffen entdeckt und beschlagnahmt. Es wurden zehn gesuchte Terroristen im Norden

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

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An zwei verschiedenen Tagen wird über die Übergabe der Sicherheitsverantwor-tung von den multinationalen Kräften an die irakische Armee in al-Anbar berich-tet, ohne die Konflikte mit den Sahwa Councils in diesem Zusammenhang und konfliktbedingte Verzögerungen zu erwähnen.373 Über Anschläge und deren Op-fer wird nicht berichtet. Im Mittelpunkt der Nachrichten zur Sicherheitslage ste-hen damit positive Ereignisse, die den Erfolg der Sicherheitsoperation Bashair al-Khair dokumentieren.374

Anders als im öffentlichen Fernsehen wird der Kampf gegen den Terrorismus im Radio aber nicht durch Vertreter von Militär oder Polizei, sondern insgesamt we-nig und gegebenenfalls nur von Vertretern des politischen Systems kommen-tiert:375 Muhammad al-Askari, Medienberater des Verteidigungsministeriums, kommentiert Erfolge der Operation Bashair al-Khair und der im Innenministe-rium für Stammesangelegenheiten zuständige Generaldirektor Murad Abdallah betont die Unterstützung der Operation Bashair al-Khair durch die Stämme.376 Nur an einer einzigen Stelle äußert sich ein namentlich nicht genannter ‚Polizeispre-cher’ zur Festnahme von Terroristen in Iskandariya.377 Im Vergleich zum staatli-chen Fernsehen, wo sicherheitsrelevante Ereignisse von insgesamt 24 Angehöri-gen des Militärs kommentiert worden waren, gibt sich eine Abwertung der The-matik durch eine deutlich geringere Anzahl von Sprechern und Nachrichten sowie eine Verschiebung der Deutungshoheit in die Politik zu erkennen.

Beim privaten Sender Radio Dijla wird der Konflikt mit der sunnitischen Wider-standsbewegung, wie auf allen anderen Sendern auch, nicht als politisches, son-dern als militärisches Problem behandelt. Die politischen Anliegen sowie die un-terschiedlichen Akteure der Bewegung treten nicht in Erscheinung, Vertreter von

von Bagdad festgenommen. In Kirkuk wurden Waffen beschlagnahmt und Sprengkörper de-montiert.

373 Nachrichten von Radio Bagdad am 28.08.2008 (Platz 7/0:30 min) sowie am 31.08.2008 (Platz 11/1:30 min); Radio Sumer berichtet an beiden Tagen ausführlich über die Konflikte in al-Anbar während Radio Bagdad nur über die Erfolge der Operation Bashair al-Khair in diesem Zusammenhang berichtet.

374 28.08.2008 (Platz 8/3:30 min), 31.08.2008 (Platz 11/1:30 min), 31.08.2008 (Platz 12/1:20 min).

375 In den Nachrichten des öffentlichen TV-Senders al-Iraqiya waren Sicherheitsthemen von 24 Angehörigen des Militärs kommentiert worden, während im Radio diese Akteursgruppe mit insgesamt nur zwei Auftritten fast keine Rolle spielt.

376 31.08.2008/Platz 11/1:30 min und 28.08.2008/Platz 8/3:30 min. 377 31.08.2008/Platz 12/1:20 min.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

379

Militär und Polizei dominieren als Sprecher das Thema. Insgesamt wird das gän-gige Narrativ vom Kampf gegen den Terrorismus in dieser Weise bei Radio Dijla reproduziert. Anders als bei Radio Bagdad werden im Nachrichtenblock zur Si-cherheitslage aber neben Festnahmen und Waffenfunden auch sicherheitsnegative Ereignisse wie Attentate und deren Opfer in die Berichterstattung einbezogen.

In der Berichterstattung zum Konflikt der Zentralregierung mit der irakischen Aufstandsbewegung schließt sich auch der private Sender Radio Sumer dem do-minanten Narrativ vom Kampf gegen den Terrorismus ganz weitgehend an.378 Ins-gesamt dominieren sicherheitspositive Meldungen das Bild: Festnahmen, Daten zur verbesserten Sicherheitslage in al-Anbar, Fortschritte bei der Verbesserung der Sicherheitslage. Als Ausnahme ist ein längerer Bericht über die schlechte Si-cherheitslage in Mosul zu erwähnen, der sich insgesamt abhebt vom Einerlei der Sicherheitsmeldungen, weil (1) Bürger als Betroffene in die Berichterstattung ein-bezogen werden, und (2) in einem Kommentar von Seiten eines Abgeordneten der SIIC erstmals Unterschiede zwischen Anhängern der Baath-Partei, al-Qaida und den Sahwa Councils artikuliert werden.379

8.6.4 Theoriegeleitete Einordnung

Publizität und Wettbewerb

Durch den Ausschluss von Politikern aus den Talkshows und die komplementäre Beherrschung interaktiver Formate durch die Hörer werden eine ganze Reihe von Funktionen im Bereich der politischen Kommunikation im Radio nur auf nied-rigstem Niveau adressiert. Zu diesen im Radio fast irrelevanten Funktionsdimen-sionen gehören der Streit um politische Positionen (Wettbewerb), die Erläuterung und Legitimierung von Regierungshandeln (Publizität) sowie qualifizierte Kritik an diesem Handeln durch die Opposition.380 Diese Varianten politischer Kommu-nikation werden in den Talkformaten zugunsten einer Forumsfunktion aufgege-ben, die dem Diskurs der Bürger vorbehalten ist. Die bis hierher geführte Analyse der Radioprogramme zeigt also eine im demokratietheoretischen Sinne wün-

378 Vgl. Kap. 8.3.1 zur Konfliktberichterstattung im irakischen Fernsehen: Abschnitt Kampf statt

Konflikt: Der Kampf gegen den Terrorismus als dominantes Deutungsmuster. Nachrichten bei Radio Sumer sind identisch mit Nachrichten im Fernsehsender al-Sumeria.

379 25.08.2008/Platz 3/4min. 380 Zur Basisfunktion von Medien im Bereich der politischen Kommunikation vgl. Kap. 2.3.2.

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schenswerte Öffnung der Programme für die Bürger, die aber im Falle der unter-suchten Sender andere Basisfunktionen nicht ergänzt, sondern ersetzt. Der Dis-kurs der Bürger tritt an die Stelle von Publizität und Wettbewerb.381

Es werden im Rahmen dieser Ausrichtung dem Hörer in seiner Rolle als Wähler entscheidende Informationen für die Bewertung von Regierungspolitik und die Einordnung von Parteiprogrammen vorenthalten. Der Souverän wird, anders for-muliert, mit den für die Erfüllung seiner Aufgabe und auch für die Teilhabe am politischen Diskurs notwendigen Wissensgrundlagen in dieser Hinsicht nicht aus-gestattet.

Was bereits in der Analyse der Fernsehinhalte beklagt worden war, gilt für den Radiosektor vor diesem Hintergrund in zugespitzter Form: Das Recht der Bürger auf Rechtfertigung von Regierungshandeln wird von den Journalisten nicht ein-gelöst.382 Als signifikante Abweichung von dieser Arbeitsteilungsthese wäre die Service-Hour bei Radio-Bagdad zu nennen, die zur allgemeinen Versorgungsnot-lage einen Vertreter der Politik mit den Hörern ins Gespräch bringt und damit beide Kommunikationsdimensionen miteinander verschränkt. Er verteidigt, er-klärt und begründet Entscheidungen und Strategien der Regierung im Bereich der Versorgung und kommt damit der Kommunikationspflicht einer demokratischen Regierung nach. Im Unterschied zum Fernsehen wird die Rechtfertigung in der Umsetzung durch die Hörer eingefordert und nur nachrangig durch den Modera-tor. Der Kontakt zwischen Politik und Bürgern wird dabei im Radio nicht vermit-telt, sondern ganz direkt und konkret hergestellt. Die Analyse der Gesprächsse-quenzen in diesem Format offenbart eine im Vergleich zu allen anderen Call-in-Sendungen signifikante Aufwertung des Arguments: Die Hörer begründen jetzt, warum sie die Verteiler nicht anzeigen und der Politiker erläutert die Ursachen bestimmter Fehlleistungen. Es werden völlig unterschiedliche Auffassungen von Verantwortung im Kampf gegen Korruption in diesem Gespräch gegeneinander ins Feld geführt und jeweils mit Argumenten untermauert.383

381 Die Bereitstellung von Informationen, der politische Wettbewerb, Agenda-Setting und die

Publizität als Rechtfertigung und Begründung von Regierungshandeln waren neben der wich-tigen Partizipationsfunktion in Kap. 2.3 als Basisfunktionen von Massenmedien für die De-mokratie benannt worden.

382 Vgl. Kap. 2.3.2 zum Anspruch der Bürger auf Rechtfertigung nach Forst (2007) und Beier-waltes (2002).

383 Siehe: Radio Bagdad/Service-Hour/31.08.2008.

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

381

Mit Habermas (1998) kann an dieser Stelle die These formuliert werden, dass die Verschränkung der Systeme Privatheit – Öffentlichkeit – Politik nicht nur die Mo-bilität von Themen zwischen den Systemen befördert und damit die Integrität de-mokratischer Verhältnisse entweder repräsentiert oder stabilisiert. Sie hat zusätz-lich Auswirkungen auf die Qualität der Diskurse im Sinne eines deliberativen Modells von Demokratie, in der Entscheidungen und Handlungen von der Macht des besseren Arguments geleitet sind (vgl. Kap. 2.3.3 und 2.2.2). Diese These wurde mit Blick auf eine einzige Sendung formuliert und wäre freilich in weiter-führenden Forschungsvorhaben zu prüfen.

Trotz dieser Ausnahme trifft die in der Strukturanalyse aufscheinende „Vorherr-schaft von minimalistischen Formen, in denen Kommunikation ausgehend von den politischen Eliten auf ein öffentliches Publikum gerichtet ist“ (Kap. 6.7) für den Radiosektor auf jeden Fall nicht zu. Vielmehr kann nach der Analyse beider Gattungen formuliert werden, dass das Fernsehen minimalistische Funktionen wie den politischen Wettbewerb und Publizität in den Vordergrund rückt, wäh-rend im Radio partizipative Funktionen priorisiert werden. Die in Kapitel 6.7 vor-läufig formulierte These von der Gleichzeitigkeit, mithin Ebenbürtigkeit einer partizipativen Praxis neben der Instrumentalisierung der Medien durch die Politik kann jetzt präzisiert werden als getrennte Koexistenz beider Formen in den beiden Gattungen Fernsehen und Radio.

Unabhängigkeit und Parteilichkeit

Die im Fernsehsektor offenkundig verbreitete Nutzung von Nachrichten als Tro-janisches Pferd für die Ausstrahlung politischer Werbung durch die Parteien auf parteieigenen Sendern war in der Analyse von Radioinhalten in dieser Form nicht nachzuweisen. Gerade der öffentliche Radiosender Bagdad bleibt zwar im Kern der Regierungslinie treu, wagt aber Ausnahmen und lässt sich nicht für politische Werbung im Gewand der Nachrichten instrumentalisieren. Ob hier aufgrund der relativ niedrigen Reichweite von Radio geringeres Kontrollinteresse zugrunde liegt oder aber die Verteidigung redaktioneller Freiheit erfolgreicher als bei al-Iraqiya gelingt, kann anhand der vorliegenden Daten nicht geklärt werden. Fest-zuhalten bleibt, dass der öffentliche Radiosender sein öffentlich-rechtliches Man-dat mit Blick auf den zentralen Anspruch der Unabhängigkeit besser erfüllt als

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382

der Fernsehsender und damit hier größere Übereinstimmung zwischen normativer Vorgabe und Realität zu beobachten ist.384

Der private Radiosender Dijla lässt sich kaum eindeutig einem politischen Lager zuordnen. Der Sender präsentiert sich auffallend regierungsfreundlich in den Nachrichten, geht aber auf harten Konfrontationskurs in den Talkformaten. Kein anderer Sender im gesamten Sample gewährt auch nur annähernd so viel Raum für die Kritik der Bürger an der Regierung und kein anderer Sender verwertet Pressemitteilungen der Ministerien so umfangreich und unberührt wie Radio Dijla. Hier wird auf vielleicht kluge Weise Loyalität mit Kritik kombiniert. Gera-dezu symbolisch für diese widersprüchliche Doppelbewegung wirkt der Zusam-menhang von Einleitung und Inhalt in der Sendung Majodeh Café: Zu Beginn werden Pressemitteilungen von Ministerien verlesen, als wäre Radio Dijla der verlängerte Kommunikationsarm der Regierung; in der Sendung selbst wird dann heftige Kritik gegen diese Regierung durch die Bürger formuliert.

Der schiitisch geprägte Sender Radio Bilad gibt sich ganz offen als missionari-scher Parteisender zu erkennen, dessen Ziel in der Verbreitung und Vertiefung der islamischen Lehre besteht. Es wird keine Anstrengung unternommen, diese Mission unter dem Mantel der Unabhängigkeit oder dem einer Informationsfunk-tion zu verbergen. Hier sticht der Unterschied zum schiitisch geprägten parteili-chen TV-Sender al-Furat ins Auge.

Es darf auf Basis dieser Beobachtungen die Vermutung formuliert werden, dass politische Kommunikation im Radio im Vergleich zum Fernsehen weniger mani-pulativ ist und damit Radio als Mediengattung in der Wahrnehmung des Publi-kums die größere Glaubwürdigkeit besitzt. Die geringen Reichweiten für Radio (vgl. Kap. 6.5) müssen dann dahingehend gedeutet werden, dass Glaubwürdigkeit nicht zwingend Popularität mit sich bringt. Einmal mehr verweist dieses Untersu-chungsergebnis auf die Notwendigkeit, sich in weiteren Forschungsprojekten mit den Motiven und Nutzungsmustern der Mediennutzer auseinanderzusetzen.

Radio als Akteur der Zivilgesellschaft

Die Untersuchung der irakischen Radiosender zeigt eine dichte Präsenz von Hö-rern im Programm und verweist damit auf ein hohes Maß an Partizipation. In einer

384 Zur Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags durch al-Iraqiya siehe Kap. 6.4.1. Zu nor-mativen Vorgaben im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vgl. Kap. 2.3.4.

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Vielzahl interaktiver Formate bestimmen die Hörer die Inhalte des Programms. Anders als im Fernsehen werden die Anrufer hier nicht als Statisten politischer Kampagnen arrangiert, sondern als Menschen mit individuellen Anliegen und Meinungen gehört. Von diesem Diskurs weitgehend ausgeschlossen bleiben aber, wie im Fernsehen, die Zivilgesellschaft sowie bürgernahe Gruppen.

Nach Habermas (1989) übernimmt die Zivilgesellschaft an der Schnittstelle zur Politik in der Öffentlichkeit die Funktion der Verallgemeinerung: Eine Anhäu-fung privater Probleme wird kondensiert und in der Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen in den Status eines gesellschaftlichen Problems überführt, um dann in dieser Form von den Medien aufgegriffen zu werden (vgl. ebd.: 435ff.). In der Öffentlichkeitstheorie von Neidhardt und Gerhards (1990) ist die Verallge-meinerung individueller Probleme Sache der Versammlungsöffentlichkeit, deren Aktivitäten idealerweise von den Massenmedien beobachtet und thematisiert wer-den (vgl. Kap. 2.3.3).

In den bei Radio Dijla untersuchten Talksendungen wird Verallgemeinerung be-wirkt, indem eine Vielzahl gleichlautender Anrufe zu einem Problembündel ge-schnürt wird, das der Politik vom Sender in anwaltlicher Haltung aufgedrängt wird. Der Sender schlüpft damit in die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisatio-nen und übernimmt deren Aufgaben. Mit Neidhardt und Gerhards (1990) könnte man auch sagen, dass der Sender Versammlungen von Hörern zu bestimmten Themen organisiert, anstatt darüber zu berichten.

Diese Beobachtung wirft die Frage auf, ob der Demokratie ein Problem entsteht, wenn der komplizierte Anschluss der Versammlungsöffentlichkeit/Zivilgesell-schaft an die massenmediale Öffentlichkeit ersetzt wird durch aktivistische Me-dienanbieter. Werden die entsprechenden Themen mehr oder weniger erfolgreich auf die Agenda der politischen Entscheider transportiert?

Durch die Auslassung der Zivilgesellschaft einerseits und die direkte Ansprache der Politik andererseits scheinen die drei Sphären Politik – Medien – Bürger bei Radio Dijla enger ineinanderzugreifen, als dies im Fernsehsektor zu beobachten war:

(1) Im Fernsehen wird die Stellungnahme eines Bürgers in einem Beitrag ar-rangiert, dessen Inhalt und Botschaft in der Kontrolle des Autors, und nicht in der des Bürgers liegen. Der Bürger bleibt in diesem Verhältnis als Autor einer Bot-

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schaft vom Fernsehen ausgeschlossen. In den untersuchten Radiosendungen hin-gegen wandert die Urheberschaft vom Sender zum Hörer, denn hier ist der Anru-fer auch Autor seines eigenen Beitrags (eine Autorenschaft, die bei der Formulie-rung von Themen und Fragen ihre Grenzen findet). Durch diese Aufwertung des Anrufers als Autor seiner Stellungnahmen gewinnt der Bürger mit seinen Proble-men eine Präsenz in der Öffentlichkeit, die er im Fernsehen nicht besitzt. Dieser Effekt wird verstärkt durch den Authentizitätsgewinn, den die Call-In-Sendung gegenüber der redaktionell kontrollierten Nachrichtensendung vermittelt. McNair (2011) hatte in seiner Analyse verschiedener Wahlkampfinstrumente die (Au-thentizitäts-) Vorteile von Talksendungen gegenüber der Berichterstattung nach-gewiesen (vgl. ebd.: 123-130). Die Talkshow birgt seiner Analyse nach das Risiko von irreversiblen Fehlern, verleiht aber jedem Gespräch und seinen Teilnehmern im Gegenzug die Aura der Wahrhaftigkeit (vgl. Kap. 2.3.2).

(2) Radio Dijla fokussiert in den drei untersuchten Call-in-Formaten explizit auf die Politik als Adressaten der Botschaft. Durchgängig werden vom Moderator oder den Anrufern Politiker als Verantwortliche und Zuständige ins Spiel ge-bracht und damit als diejenigen, an die sich die Sendung richtet. Die Schnittstelle zur Politik verdichtet sich zusätzlich dort, wo Mitarbeiter des Senders sich tat-sächlich für die Lösung der aufgebrachten Probleme einsetzen und wo Politiker ins Studio kommen, um mit den Anrufern deren Anliegen zu diskutieren. Der Übertrag der Themen in die Politik wird damit nicht nur potenziell, sondern auch real hergestellt. Erleichtert wird der Themenübertrag zwischen den Sphären zu-sätzlich dadurch, dass die Anrufer sich als Funktionsträger innerhalb staatlicher Strukturen präsentieren. Der Anschluss an die Politik ist dann nur noch ein kleiner Schritt.

Aus der Sicht von Habermas (1998) wäre die hier skizzierte Durchlässigkeit der Systeme für Themen und damit die Mobilität der Themen zwischen den Systemen Privatheit – Öffentlichkeit – Politik als Indikator für die Integrität demokratischer Verhältnisse zu bewerten (vgl. Kap. 2.2.2).

Als Kehrseite dieses Verdichtungseffektes ist ein Funktionsverlust auf Seiten der Medien zu beklagen. Wie Wolfsfeld (1997) in seiner Analyse zeigt, benutzen po-litische und zivilgesellschaftliche Bewegungen die Medien als Verstärker, denn Berichterstattung über ein Anliegen oder einen Akteur der Zivilgesellschaft wird als Legitimierung des Anliegens/Akteurs auf der Grundlage einer Prüfung wirk-sam (Gatekeeping). Dieser Legitimierungs- und Verstärkungseffekt kann aber

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nicht eintreten, wenn der Sender als Legitimierungsinstanz nicht auftritt, weil er selbst die Rolle des zivilgesellschaftlichen Akteurs übernimmt. Für den Fall des Fernsehens war bereits kritisiert worden, dass der für die Durchsetzung politischer Projekte entscheidende Schulterschluss zwischen Medien und Zivilgesellschaft fehlt (vgl. Kap. 8.2.3). Aufgrund der Ergebnisse aus der Analyse der Radiopro-gramme wäre zu ergänzen, dass die relative Erfolglosigkeit der Medien bei der Bekämpfung von Korruption und Versorgungsnotständen ggf. auch dieser Aus-setzung von Legitimierungsmechanismen geschuldet ist.

Der staatliche Radiosender Bagdad widersteht dem Rollenwechsel und lädt statt-dessen die Gründerin und Direktorin einer NGO zum Studiogespräch. Ganz im Sinne der Staatsnähe wird für diesen Legitimierungsgewinn durch Öffentlichkeit eine explizit staatsnahe NGO ausgewählt, die von einer ehemaligen Ministerin gegründet wurde und geführt wird. Aber immerhin wird eine Vertreterin der Zi-vilgesellschaft eingeladen, ihre Anliegen zu erläutern, und damit überhaupt der Zivilgesellschaft Zugang zur massenmedialen Öffentlichkeit gewährt.

Aus demokratietheoretischer Sicht wäre aus den oben genannten Gründen die Par-tizipation der Hörer in den Radio-Talkshows trotzdem als höherwertige Form der Teilhabe einzuordnen als die im Fernsehen verbreitete Einblendung von Bürgerzi-taten in den Nachrichten, die eben weder einen Anschluss an die Zivilgesellschaft darstellt noch den Charakter einer zivilgesellschaftlichen Intervention oder Ver-sammlung aufweist.

Partizipation im Spiegel verschiedener Ordnungssysteme

Die verschiedenen Radiosender der Stichprobe bringen im Gespräch mit dem Hö-rer unterschiedliche Referenzsysteme wie Staat, Religion, Tradition oder Familie als gesprächsstrukturierenden Kontext ins Spiel. Dadurch werden auch unter-schiedliche Vorstellungen darüber vermittelt, wie das Private mit Politik und Ge-sellschaft in Verbindung steht und mit welchen Möglichkeiten der Teilhabe an der Gestaltung von Lebensbedingungen das Individuum ausgestattet wird. Nach Mouffe (2007) durchdringt die Politik die Gesellschaft bis in die letzten Winkel privater Beziehungen so, wie umgekehrt die Politik durchdrungen ist von den Ef-fekten sozialer und privater Verhaltensmuster. Das Politische und die Politik ent-wickeln sich in gegenseitiger Verstrickung und unmittelbarer Abhängigkeit von-einander, was auch die Ansatzpunkte der politischen Partizipation (zurück-) ver-

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ortet in den Alltag der Menschen (vgl. Kap. 2.2.2). Vertreter einer minimalisti-schen Demokratieauffassung sehen Gesellschaft und Politik hingegen als ge-trennte Sphären und Politik als in sich geschlossenen und institutionell organisier-ten Raum (vgl. Kap. 2.2.1).

Von den in der vorliegenden Arbeit untersuchten Radiostationen wird der Zusam-menhang zwischen Politik und Alltag wie folgt modelliert:

(1) Die Privatsphäre als Grenze/privater Sender Radio Sumer: Der Mensch wird als privates Wesen präsentiert, das über die Familie hinaus mit keinem institutio-nellem Kontext in Verbindung steht. Das Befinden des Einzelnen wird durch zu-fällige oder biografische Ereignisse im familiären Umfeld bestimmt. Der Rück-zug in diese Privatheit und eine Haltung der Ergebenheit gegenüber dem schick-salhaften Lauf der Dinge ist hier Schlüssel zur Zufriedenheit. (2) Ordnungsmacht Staat/privater Sender Radio Dijla: Staatlich organisierte Ver-sorgungsbedingungen bestimmen das Befinden der Menschen, aber es führt keine Wirkmacht in die andere Richtung. Der Staat allein schafft Strukturen, Regeln, Versorgung und er gewinnt damit allgegenwärtige Präsenz im Alltag der Bürger. Die Möglichkeit der Teilhabe an der Gestaltung dieser Umgebungsbedingungen wird in Ansätzen am Rande auch thematisiert. Im Kern aber werden die Regelun-gen für gut befunden und allein der Regelbruch als Problem thematisiert. (3) Ordnungsmacht Tradition/öffentlicher Sender Radio Bagdad: Gesellschaftli-che Traditionen determinieren Verhaltensspielräume des Einzelnen im Kontext der Familie, sind aber gleichzeitig offen für Erneuerung. Traditionen werden kri-tisiert und als frei gestaltbare und aus der Familie heraus reformierbare Regel-werke diskutiert. Die Verbindung zur staatlichen Gesetzgebung oder zur Religion wird nicht hergestellt. (4) Ordnungsmacht Religion/parteinaher, schiitisch geprägter Sender Radio Bi-lad: Die Regeln für das Verhalten der Menschen im familiären und beruflichen Alltag und ihr soziales Miteinander sind durch den Islam gegeben und unverän-derbar. Die Haltung des Menschen zum Regelwerk ist die der willentlichen Un-terwerfung, wobei den Pflichten keine Rechte gegenüberstehen. Handlungsspiel-räume entstehen in der Interpretation der Texte und im Abgleich islamischer Ge-setze mit den Regeln der Tradition.

In der Vielschichtigkeit der Referenzsysteme spiegelt sich die Vielfalt einer Ge-sellschaft im Umbruch. Verschiedene Ordnungssysteme, die verschiedene Stufen

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8.6 Forschungsergebnisse aus der Analyse der Radioinhalte

387

der Modernisierung und Demokratisierung repräsentieren, existieren nebeneinan-der. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass die Unter-schiede keineswegs der Logik ethno-konfessioneller Konflikte folgen, sondern durch Bezugnahme auf unterschiedliche Ordnungsmächte markiert sind. Aus die-ser Perspektive wäre der These von der ethno-konfessionellen Segmentierung der Medienlandschaft entlang primär ethno-konfessioneller Trennlinien unbedingt zu widersprechen (vgl. Kap. 6.4). Vielmehr scheint die These plausibel, das die Ziel-gruppen sich durch Orientierung an unterschiedlichen Wertesysteme unterschei-den.

Bei Radio Bilad werden Kollisionen zwischen den Ordnungssystemen an zwei Stellen diskutiert:

(1) Die staatlichen Gesetze stehen im Widerspruch zur islamischen Ordnung, was am Beispiel von Alkohol und öffentlichem Essen während des Ramadan thema-tisiert wird.

(2) Die Tradition steht im Widerspruch zur islamischen Ordnung mit Blick auf die Berufstätigkeit der Frau. Im Falle der Frauenfrage wird die Auflösung des Widerspruchs ganz undogmatisch den Betroffenen überlassen. In anderen Fällen wird der Widerspruch mit der Forderung nach Scharia konformen Gesetzen auf-gelöst. Es werden aber weder die Legitimität der staatlichen Ordnung noch die der Tradition infrage gestellt.385

Bedeutsam für das Verständnis der politischen Transformation im Irak erscheint überdies das in der Service-Hour bei Dijla aufscheinende Grundvertrauen der Bürger und der Moderatoren in die Integrität des Staates und in die grundlegende Funktionstüchtigkeit des staatlichen Regelwerks. Die von Radio Dijla angespro-chene Zielgruppe hält dem Staat als primärem Referenzsystem die Treue. Dafür spricht auch die Unmittelbarkeit, mit der staatliche Strukturen in dieser Ziel-gruppe den Alltag der Menschen zu prägen scheinen und das implizite Einver-ständnis der Bürger mit diesen Strukturen. Kritik gilt allein dem Regelbruch und nicht der Regel. Die in Kapitel 3.3.4 formulierte Einordnung von Kritik als Indi-kator für eine auf Veränderung zielende Kommunikation erfordert mit Blick auf die von Radio Dijla avisierte Zielgruppe der Staatsbürger eine doppelt angelegte

385 Siehe dazu Kapitel 8.6.2, Abschnitt Die Verhandlung traditioneller Rollen- und Verhaltens-

muster als senderübergreifend zentrales Thema.

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8 Untersuchungsergebnisse aus der Analyse von Fernsehinhalten und Interviews

388

Antwort: Die härtesten Kritiker der Regierung bilden auch das härteste Funda-ment für die Konsolidierung von Staatlichkeit.

Aus der Perspektive eines partizipativen Demokratieansatzes erscheint aber das scheinbar geringe Interesse der Bürger an der Einflussnahme auf eine mögliche Erneuerung staatlicher Regeln enttäuschend. Teilhabe am Prozess der Struk-turentwicklung wird kaum eingefordert.

Ausschluss innenpolitischer Konflikte aus Talkformaten

In keiner einzigen der 20 untersuchten Talksendungen werden die innenpoliti-schen Konflikte thematisiert, die den Irak seit Jahren erschüttern. Auch Terroris-mus, die schlechte Sicherheitslage oder bewaffnete Gewalt werden ebenso wenig thematisiert wie Wahlen oder der politische Wettbewerb der Parteien. Im Aus-schluss politischer Konflikte aus bürgernahen Programmformaten spiegelt sich senderübergreifend eine elitistische Vorstellung von einer Demokratie, in der die Bearbeitung von Konflikten dem politischen System vorbehalten bleibt.

Dabei wäre mit Blick auf die oben skizzierte Analyse der Zielgruppen eine Teil-habe der Bürger zu empfehlen, da ethno-konfessioneller Klientelismus in der Bür-gergesellschaft weit weniger ausgeprägt scheint als unter politischen Konfliktpar-teien. Diese Beobachtung deckt sich mit dem Diskurs der Experten über den Po-litikverdruss der irakischen Bürger und dessen Wurzeln in der klientelistischen Politik irakischer Parteien (vgl. Kap. 5.8). Mehr Partizipation von Bürgern zu konfliktrelevanten Themen in den Medien könnte zur Überwindung ethno-kon-fessioneller Spaltungen in der Politik einen Beitrag leisten.

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

Gegenstand der vorliegenden Studie ist die Rolle der Medien im irakischen Trans-formationsprozess mit einem Fokus auf demokratierelevanten Leistungen in den Bereichen politische Kommunikation, Partizipation und Informationsversorgung. Untersucht wurde darüber hinaus der Zusammenhang zwischen Konflikt- und Medienentwicklung in den Jahren nach dem Regimesturz 2003-2008.

Im Rahmen der Forschungsarbeit wurden irakische Medienproduzenten befragt und Programminhalte irakischer Fernseh- und Radiosender analysiert (vgl. Kap. 8). In Vorbereitung zur Feldforschung war die Literatur zur Medienentwicklung im Irak ausgewertet und eine Strukturanalyse erstellt worden (vgl. Kap. 6). Der empirische Arbeitsteil wurde eingerahmt von der Diskussion demokratietheoreti-scher Modelle und einer darauf aufbauenden Systematik zur Funktion von Medien in einer Demokratie (vgl. Kap. 2). Ergänzend dazu wurden – mit Blick auf die irakische Lage – theoretische Ansätze zur Konzeption von Öffentlichkeit in einem von bewaffneten Konflikten geprägten Transformationsprozess diskutiert (vgl. Kap. 3).

Im vorliegenden Kapitel 9 werden die wesentlichen Ergebnisse aus der Analyse der Inhalte und Interviews mit Bezug auf die theoretischen Ansätze aus der De-mokratie- und Transformationsforschung zusammengefasst.

9.1 Informationsfunktion

Die Bereitstellung von Informationen zu sozial und politisch relevanten Themen gehört unumstritten zu den Schlüsselfunktionen von Medien in einer demokrati-schen Gesellschaft (vgl. Kap. 2.3.1). Inwieweit die Medien im Irak dieser Auf-gabe nachkommen, wurde in der vorliegenden Arbeit an der Qualität und dem Umfang der Informationsanteile im Programm bemessen sowie an der Auswahl von Themen für die Nachrichten und Talkshows. Dabei zeigte sich zunächst ein negatives Korrelationsverhältnis zwischen Qualität und Quantität von Informati-onen: Je höher der Informationsanteil irakischer TV-Sender, desto einseitiger, lü-ckenhafter und irrelevanter ist die Berichterstattung und desto stärker tritt die po-litische Einfärbung der Berichterstattung in den Vordergrund. Eine starke Aus-prägung dieses Zusammenhangs findet sich beim öffentlichen Sender al-Iraqiya, der einen sehr hohen Informationsanteil von über 70% aufweist und dabei umfas-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019A. Wollenberg, Medien und Demokratie im Irak, Studies in International,Transnational and Global Communications,https://doi.org/10.1007/978-3-658-23719-6_9

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

390

send relevante Themenfelder ausblendet und in der qualitativen Betrachtung zu-dem durch Einseitigkeit und Parteilichkeit auffällt. Ein hoher Anteil von publizis-tischen Formaten im Programm ist in der vorliegenden Untersuchung also weni-ger als Indikator einer verbesserten Informationslage zu verstehen als vielmehr als Indikator für den instrumentellen Charakter von Nachrichten im Sinne der Ma-nipulation öffentlicher Meinungsbildung. Auch die Ergebnisse aus der Inhaltsan-alyse des privaten Senders al-Sumeria bestätigen diese These: Ein vergleichs-weise kleiner Informationsanteil von 26,7% geht hier einher mit hohen Werten im Bereich Vielseitigkeit, Relevanz und Vollständigkeit.

Die Analyse der Themenauswahl lässt politisch motivierte Ausblendungen erken-nen, die teils nur von einzelnen Sendern oder Sendergruppen betrieben werden, im Falle der Korruption aber das gesamte Mediensystem betreffen. Korruption wird senderübergreifend, mit wenigen Ausnahmen, weder in den Nachrichten noch in den Talkshows thematisiert. Zugleich gilt Korruption als Quelle aller im Irak virulenten Versorgungsprobleme und als Vertrauensblockade zwischen der Regierung und den Bürgern. Der einzig längere Fernsehbericht zum Thema Kor-ruption macht darüber hinaus deutlich: Korruption ist mit der Frage der Legitimi-tät der Regierung verbunden. Wer Korruption auf die Tagesordnung setzt, zieht auch die Legitimität der Regierung in Zweifel (vgl. Kap. 8.4.4).386

Der besondere Stellenwert von Korruption als maßgebliche Ursache für die Dau-erhaftigkeit der irakischen Versorgungskrise und als maßgebliche Quelle von Zweifeln an der Legitimität der Regierung verleiht hier der Ausblendung beson-deres Gewicht. Denn das Misstrauen, das der korrupten politischen Elite von den Bürgern entgegengebracht wird, überträgt sich dadurch auf das Mediensystem, das in seinem Schweigen als Komplize korrupter Machteliten erscheint.

Ebenfalls von Ausblendung oder Geringschätzung betroffen sind die anstehenden Provinzratswahlen als Thema sowie bei dem schiitisch geprägten Parteisender al-Furat und dem öffentlichen Sender al-Iraqiya die Konflikte zwischen bewaffneten Vetomächten und der Regierung. Anders als im Falle der Korruption wird die

386 Am 25.08.2008 bringt al-Sharkiya im Rahmen der abendlichen Nachrichtensendung einen

längeren Bericht auf Platz 8 zur Versorgungsnotlage in der Bevölkerung zu Beginn des Ra-madans. Oppositionspolitiker Ali Al-Roubayi bezeichnet die Regierung selbst als inkompe-tent und korrupt und stellt ihre Legitimität als Vertretung des Volkes insgesamt in Frage (s. Kap. 8.4.4 Abschnitt: Die Folgen der Ausblendung für die Demokratie). Zweite Ausnahme: in der Service-Hour beim öffentlichen Radiosender Bagdad vom 31.08.2008 wird Korruption bei der Verteilung der Nahrungsmittelbezugsscheine in einer Talksendung thematisiert.

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9.1 Informationsfunktion

391

Ausblendungsstrategie im Falle der Konfliktberichterstattung aber nicht sender-übergreifend, sondern von einzelnen Sendern als Teil ihrer jeweiligen politischen Agenda verfolgt. Dies hat dann eher Folgen für die Glaubwürdigkeit dieser Sen-der, deren selektive Blindheit unter pluralistischen Bedingungen als parteipoli-tisch motivierte Fehlleistung sofort exponiert wird – vorausgesetzt ein Großteil des Publikums nutzt verschiedene Informationsquellen.

Ausgehend von den Ergebnissen aus der Themen- und Informationsanalyse einer-seits und der Analyse von Reichweiten sowie der Auswertung der Interviews an-dererseits387 muss die Frage gestellt werden, ob nicht die irakischen Mediennutzer dem irakischen Mediensystem als Ganzem und den parteilichen und öffentlichen Sendern im Besonderen Misstrauen entgegenbringen und ob dieses Misstrauen die Leistungsfähigkeit des Mediensektors als Informationssystem beeinträchtigt. Wie schon an anderer Stelle formuliert, wäre weiterführende Forschung zur Me-dienkompetenz und Medienrezeption im Irak notwendig, um das Problem man-gelnder Glaubwürdigkeit und die Folgen für die Demokratie zu bewerten.

Die forschungsleitende Annahme 1388 wäre zunächst also dahingehend zu präzi-sieren, dass Einschränkungen der Informationsfunktion durch weitreichende Aus-blendung von Themenfeldern auf den parteilichen und öffentlichen Sendern er-kennbar sind. Die privaten Sender reproduzieren diese Ausblendungen nicht, so dass die Öffentlichkeit als Ganzes nicht betroffen ist. Von dieser These auszuneh-men ist Korruption als Thema, über das in der Öffentlichkeit insgesamt kaum berichtet wird. Die Qualität der Informationen gemäß der Kriterien Vollständig-keit, Richtigkeit, Relevanz, und Vielfalt ist auf den privaten Sendern besser als im Programm der öffentlichen und parteilichen Anbieter. Parteiliche Einfärbung der Informationen ist auf dem öffentlichen Radiosender geringer ausgeprägt als auf dem öffentlichen TV-Sender.

In Kap. 2.3.1 war auch die Richtigkeit von Informationen als Qualitätskriterium aufgestellt worden. In der vorliegenden Untersuchung ist der Wahrheitsgehalt der einzelnen Meldungen im Einzelnen zwar nicht überprüft worden, im Abgleich der

387 Auf der Grundlage von Reichweitenmessungen irakischer Sender war in der vorliegenden

Arbeit vermutet worden, dass die irakischen Mediennutzer wahrscheinlich dazu tendieren, nicht nur ein Medienangebot, sondern verschiedene zu nutzen.

388 Forschungsleitende Annahme 1: Die Versorgung der Bürger mit tagesaktuellen Informationen zu relevanten Themen ohne politische Einfärbung ist nur eingeschränkt gewährleistet. Die Darstellung von Ereignissen in den Nachrichten sowie die Auswahl von Themen und Quellen weist parteiliche Züge auf (Kap. 6.7.1).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

392

untersuchten Nachrichtensendungen wären Falschmeldungen aber aufgefallen. Insgesamt sind in der Analyse keinerlei Hinweise dafür gefunden worden, das irakische Fernseh- oder Radiosender versuchen, die öffentliche Meinung durch die Verbreitung von falschen Informationen zu beeinflussen.

9.2 Politische Kommunikation

Aus demokratietheoretischer Sicht muss den Vertretern des politischen Systems und insbesondere der Regierung in den Medien Gelegenheit gegeben werden, Re-gierungshandeln und Standpunkte politischer Parteien öffentlich zu erklären und zu begründen (vgl. Kap. 2.3.2). Als „zentrales Charakteristikum des demokrati-schen Verfassungsstaates“ bezeichnet Beierwaltes (2002) die Verpflichtung, sich regelmäßig vor dem Volk für sein Handeln zu verantworten. Aufgabe der Medien sei es, die Erfüllung dieser Pflicht auch einzufordern. Mit Forst (2011) war dem-entsprechend der Stellenwert der Rechtfertigung als Schlüsselfunktion im Ver-hältnis der Regierung zu den Wählern hervorgehoben worden (vgl. Kap. 2.3.2). Für die politischen Eliten bietet sich hier auch Gelegenheit, politische Positionen zu bewerben. Habermas (1998) kritisiert entsprechend die Personalisierung von Sachfragen, die unterhaltsame Aufbereitung von Informationen und die Vermei-dung von Länge und Tiefe in publizistischen Formaten als Unterwerfung der Po-litik unter die im Mediensektor postulierten Publikumsinteressen.

9.2.1 Publizität

Die Diskurs- und Informationslage zur Arbeit der Regierung wurde in der Unter-suchung ambivalent bewertet. Auf dem öffentlichen Sender al-Iraqiya werden die Zuschauer im Rahmen der politischen Interviews durchaus umfassend über die Tätigkeiten der Regierung und nachgeordnet auch über Begründungszusammen-hänge für politische Entscheidungen informiert. Es wurde stellvertretend für die Bürger Kritik formuliert und es wurden Rechtfertigungen eingefordert (vgl. Kap. 8.1.1). Hier erliegen auch die im Rahmen der Arbeit befragten irakischen Medi-enproduzenten mit einer durchgängig negativen Einschätzung von Publizität auf den öffentlichen Sendern ihren Vorurteilen (vgl. Kap. 8.1.2). Eine kritische Hal-tung von Moderatoren und Journalisten in den Talkformaten beim öffentlichen al-Iraqiya muss aber freilich mit Blick auf die offenkundige Regierungsnähe des Senders als Aspekt einer generell regierungsfreundlichen Agenda interpretiert

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9.2 Politische Kommunikation

393

werden. In der Kritik solidarisiert sich der Sender mit dem unzufriedenen Zu-schauer, ohne dabei die Position des Kritisierten ernsthaft anzugreifen. Das Recht auf Rechtfertigung findet bei der Auskunftsbereitschaft des Gesprächspartners seine Grenzen. Wer eine genuin kritische Auseinandersetzung mit der Arbeit der Regierung sucht, findet sie beim privaten Sender al-Sharkiya. Hier werden oppo-sitionelle Politiker in der Rolle des Kritikers zur Arbeit und Leistung der Regie-rung befragt und Regierungskritik im Gespräch forciert. Regierungsvertreter selbst kommen allerdings nicht zu Wort (vgl. Kap. 8.1.1).

Die Auswahl der Gesprächsgäste in den Talkformaten gibt zwischen privaten und staatlichen Sendern insgesamt ein komplementäres Selektionsverhalten zu erken-nen: Weil Regierungsvertreter auf al-Iraqiya bereits übermäßig viel Kommunika-tionsraum zur Verfügung haben, entscheiden sich die privaten Sender deren Prä-senz ausgleichend zu reduzieren. Die Verantwortung, Regierenden Rechtferti-gung abzuverlangen, wird in dieser diametral-polarisierten Figur damit den öf-fentlichen Sendern überlassen, die dieser Aufgabe nur innerhalb einer im Kern regierungsfreundlichen Agenda nachgehen können.

Unabhängige und kritische Sender lassen damit eine Chance ungenutzt, stellver-tretend für die Bürger Regierungshandeln zu hinterfragen und Rechtfertigungen einzufordern, sodass hier die von Forst (2011) geforderte Würdigung der Wähler als Rechtfertigungswesen nicht erfolgt und darüber hinaus wichtige Grundlagen für die Bewertung des Regierungshandelns nicht geschaffen werden. Die Abwe-senheit von politischen Begründungen für militärische Operationen ist in dieser Hinsicht besonders hervorzuheben. Im Sicherheitssektor wird die Kommunika-tion senderübergreifend ans Militär delegiert und damit die politische Dimension des Geschehens ausgeblendet (vgl. Kap. 8.1.1).

Die forschungsleitende Annahme 3389 wäre also dahingehend zu aktualisieren, das die Rechtfertigung von Regierungspolitik in den Talkfomaten des öffentlichen Senders eingefordert wird und die Gesprächspartner dieser Anforderung weitge-hend nachkommen und eben nicht – wie angenommen – Fernsehauftritte für die Verbreitung von Werbung oder Propaganda nutzen. Publizität findet aber ihre Grenzen bei der strukturell bedingten Loyalität der Journalisten mit ihren Ge-

389 Forschungsleitende Annahme 3: Publizität wird bis zur Unkenntlichkeit überlagert von wer-

benden Kommunikationsformen. Rechtfertigung wird nur den Akteuren des jeweils gegneri-schen Lagers abverlangt (Kap. 6.7.2).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

394

sprächspartnern. Regierungskritische Sender wie al-Sharkiya übernehmen an die-ser Stelle keine weiterführende Kritikfunktion, sodass der von den Medien ausge-hende Rechtfertigungsdruck insgesamt kraftlos bleibt.

Im Radio liegt die Sache anders: Durch den senderübergreifenden Ausschluss von Politikern aus Talkformaten und die komplementäre Beherrschung interaktiver Formate durch die Hörer wird die Erläuterung und Begründung von Regierungs-handeln hier weder eingefordert noch realisiert. Der Radiohörer wird über die Hintergründe für politisches Handeln auf Regierungsebene zugunsten der Fo-rumsfunktion gänzlich im Dunkeln gelassen. Eine Wissensgrundlage für die Teil-habe am politischen Diskurs wird hier nicht im Ansatz geschaffen (vgl. Kap. 8.5.1).

Ein Vergleich der beiden Gattungen Radio und Fernsehen zeigt, dass irakisches Fernsehen minimalistische Funktionen wie den politischen Wettbewerb und Pub-lizität in den Vordergrund rückt, während im Radio partizipative Funktionen in offenen Talkformaten priorisiert werden. Die in Kap. 6.7.3 formulierte These von der Gleichzeitigkeit, mithin Ebenbürtigkeit, einer partizipativen Praxis und der Beherrschung von Teilen der Öffentlichkeit durch die Politik kann jetzt präzisiert werden als getrennte Koexistenz beider Formen in den beiden Gattungen Fernse-hen und Radio.390

Als Synthese tritt die Service-Hour beim öffentlichen Radiosender Bagdad vom 31.08.2008 in Erscheinung, die zur allgemeinen Versorgungsnotlage einen Ver-treter der Politik mit den Hörern ins Gespräch bringt und hier beide Kommunika-tionsdimensionen miteinander verschränkt (vgl. Kap. 8.5.1). Dieses Ideal eines zwischen Regierung und Regierenden vermittelnden Formats war von den Medi-enproduzenten im Gespräch vielfach betont worden (vgl. Kap. 8.1.2), findet sich aber tatsächlich im gesamten Datensatz in Form der genannten Sendung nur ein einziges Mal. Die Analyse der Gesprächssequenzen offenbart eine im Vergleich

390 In Kap. 6.7.3 war formuliert worden: „Aus der Auswertung der Literatur bleibt zunächst fest-

zuhalten, dass die irakische Medienlandschaft von einer vitalen Praxis der Partizipation durch-drungen ist, und zwar in ebenbürtiger Koexistenz mit einer systematischen Instrumentalisie-rung der Medien durch politische Parteien. Die demokratierelevante Frage danach, in welche Richtung das Mediensystem sich öffnet, ob es eher für Impulse aus der Zivilgesellschaft oder eher für Impulse aus der Politik empfänglich ist, ob also eher elitäre oder eher partizipative Aspekte überwiegen, wäre vorläufig mit dem Hinweis auf eine gleichberechtigte Koexistenz beider Formen zu beantworten und ist darüber hinaus Gegenstand der empirischen Untersu-chung.“

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9.2 Politische Kommunikation

395

zu allen anderen Call-in-Sendungen signifikant erhöhtes Diskursniveau: Die Hö-rer begründen hier, warum sie korrupte Verteiler nicht anzeigen und der Politiker erläutert die Ursachen staatlicher Fehlleistungen.391 Es werden unterschiedliche Auffassungen von Verantwortung im Kampf gegen Korruption in diesem Ge-spräch gegeneinander ins Feld geführt und jeweils mit Argumenten untermauert.

Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass die Verschränkung der Sys-teme Privatheit – Öffentlichkeit – Politik nicht nur die Mobilität von Themen zwi-schen den Systemen und damit die Integrität demokratischer Verhältnisse beför-dert. Sie hat zusätzlich Auswirkungen auf die Qualität der Diskurse im Sinne ei-nes deliberativem Modells von Demokratie, in dem Entscheidungen und Hand-lungen von der Macht des besseren Arguments geleitet sind (vgl. Kap. 2.3.3 und 2.2.2). Der Geltungsbereich dieses Zusammenhangs wäre in weiteren Untersu-chungen zu überprüfen. Möglicherweise spielt auch die Wahl des Themas hier die entscheidende Rolle, denn Korruption war identifiziert worden als Thema, das die Grenzen der Offenheit von Öffentlichkeit im Sinne eines Defizits markiert. Auch in der Überwindung dieser Einschränkung von Offenheit könnte die Ursache für die Aufwertung des Arguments zugunsten einer deliberativen Öffentlichkeit lie-gen.

9.2.2 Verflechtungen zwischen Politik und Medien

In der vorliegenden Arbeit ist die Mediatisierung von Politik nicht systematisch untersucht worden. Aus den Ergebnissen der Inhaltsanalyse lässt sich aber den-noch die in Kap. 6.7.5 formulierte These erhärten, dass politischer Parallelismus im irakischen Mediensektor für eine Nicht-Beachtung von Publikumspräferenzen zugunsten einer Orientierung an politischen Parteilinien wirksam wird. Exempla-risch lässt sich dies an der Auswahl von Gesprächspartnern für Talkformate beim privaten, sunnitisch geprägten al-Sharkiya und dem öffentlichen Sender al-Iraqiya ablesen: Während Regierungsvertreter auf dem öffentlichen Sender umfassend Gelegenheit erhalten, Regierungspolitik im politischen Interview zu erklären, ist diese Klientel von den Talkformaten bei al-Sharkiya gänzlich ausgeschlossen.

391 Es geht um die Verfügbarkeit der durch Bezugsscheine garantierten Waren für die Bürger.

Korrupte Verteiler verkaufen die Waren, anstatt sie den rechtmäßigen Empfängern auszuhän-digen – so der Vorwurf der Hörer. Der Sprecher des Ministeriums verlangt Namen und die Nutzung der entsprechenden Hotline zur Meldung dieser Verteiler. Die Anrufer halten dage-gen, dass sie vor den Folgen der Denunziation nicht geschützt wären und deswegen keine Namen nennen werden.

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

396

Auch die Berichterstattung über inszenierte Pseudo-Ereignisse folgt diesem Prin-zip parteipolitischer Selektivität. Über die von einer Partei für die Medien orga-nisierten Ereignisse berichten nur die zu dieser Partei gehörenden Sender. In der Selektion der Themen für Nachrichten und Talkformate wird bei den parteilichen und öffentlichen TV-Sendern die Steuerung durch Parteien also durchaus sicht-bar. In den Inhalten der privaten Sender gibt sich eher die Ablehnung einer sol-chen Steuerung zu erkennen.392 Mit der Offenheit von Parteisendern für die Steu-erung durch Parteien und mit der komplementären Verschlossenheit unabhängi-ger/privater Kanäle gegen manipulative Kommunikationsofferten aus der Politik erübrigt sich die Notwendigkeit, Politik an den vermeintlichen Rezeptionsvorlie-ben eines Publikums auszurichten. Mediatisierung von Politik findet unter diesen Umständen (vermutlich) kaum statt. Die Verschränkung, mithin Verschmelzung, beider Systeme ist dennoch offenkundig und folgt aber einer anderen Logik.

9.2.3 Politischer Wettbewerb

Politische Parteien und die Regierung sind mit politischer Werbung und verschie-denen Formen manipulativer Kommunikation im Datensatz prominent vertreten. Aufgefallen ist hier im Besonderen die Instrumentalisierung der Nachrichten beim schiitisch geprägten Parteisender al-Furat und dem öffentlichen Sender al-Iraqiya für die Verbreitung politischer Kampagnen für bestimmte Themen und Positionen.393 Bei al-Furat standen die Provinzratswahlen im Mittelpunkt einer Kampagne, bei al-Iraqiya waren es die Stämme, die Sicherheit und der Wieder-aufbau. Mehr noch als Talkformate wurden Nachrichtensendungen als Trojani-sches Pferd für die Öffentlichkeitsarbeit und Werbung der politischen Parteien zu diesen Themen genutzt (vgl. Kap. 8.1.1). Das mindert die Qualität der öffentli-chen Diskurse auf ganz eigene Art, weil manipulative und informative Formen von Kommunikation absichtlich miteinander verflochten sind. Allerdings ist nach der Analyse der Interviews davon auszugehen, dass manipulative Kommunikati-

392 Forschungsleitende Annahme 4: In der Aufbereitung von Themen für Nachrichten und

Talkformate spiegelt sich weitgehend ungebrochen die Steuerung der Inhalte durch Parteien (Kap. 4.7.1).

393 Als politische Kampagne wird Berichterstattung eingeordnet, wenn (1) auffällig ausgedehnt unter Einbezug vieler prominenter Sprecher über ein Thema berichtet wird, (2) auf anderen Sendern deutlich weniger/kaum berichtet wird, (3) alle Stellungnahmen dieselbe Botschaft vermitteln und (3) inszenierte Ereignisse Gegenstand der Berichterstattung sind und/oder (4) die Berichterstattung appellativen Charakter trägt.

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9.2 Politische Kommunikation

397

onsangebote unter pluralistischen Bedingungen vom Zuschauer als solche reflek-tiert werden und dass vor allem die Glaubwürdigkeit des Senders und insbeson-dere die der Nachrichten daran Schaden nimmt. Die vom Kommunikator ange-strebte Wirkung verkehrt sich somit in ihr Gegenteil.

Die Unterwanderung der Nachrichten durch verschiedene Formen politischer Werbung konnte im öffentlichen Radiosender Bagdad und auch im schiitisch, re-ligiös geprägten Parteisender Radio Bilad nicht gefunden werden. Die Nachrich-tenredaktion vom öffentlichen Radio Bagdad bleibt prinzipiell einer regierungs-freundlichen Linie treu, wird aber, anders als der staatliche Fernsehsender, nicht für die Verbreitung politischer Werbung instrumentalisiert. Radio Bilad betreibt ein durch und durch religiöses Programm, das aber nicht benutzt wird, um Perso-nal der dem Sender nahestehenden Fadila-Partei zu bewerben oder parteistrategi-sche Themen zu lancieren, zumal auch eine reguläre Nachrichtensendung nicht Teil des Programms ist (vgl. Kap. 8.5.1). Die Radiosender der Stichprobe erschei-nen in der politischen Kommunikation insgesamt offener und weniger manipula-tiv als Fernsehsender. Es ist deswegen anzunehmen, dass Radio als Gattung ge-ringere Reichweite und zugleich größere Glaubwürdigkeit besitzt als Fernsehen.

Die forschungsleitende Annahme 2394 ist also dahingehend zu präzisieren, dass die Nachrichten der parteilichen Sender in der Tat von werbenden Kommunikati-onsformen, namentlich der politischen Kampagne, durchdrungen sind. Für die privaten TV-Sender, für alle TV-Talksendungen und für das Radiosegment ins-gesamt ist diese These aber nicht bestätigt worden.

Eine zentrale Figur des politischen Wettbewerbs ist der öffentlich geführte Streit um politische Positionen zwischen Vertretern gegnerischer Lager. Aus der Ge-samtbetrachtung aller TV-Talkformate wurde in Kapitel 8.1.3 der Schluss gezo-gen, dass diese Form des Wettbewerbs hier bisher keine Rolle spielt. Die Aus-wertung der Programminhalte irakischer Radiosender zeigt, dass diese These auch auf den Radiobereich übertragen werden kann. Eine Ausnahme macht der private Fernsehsender al-Sumeria, bei dem alle drei untersuchten Talkshows als Streit über politische Fragen angelegt sind – ein Vorstoß der aus demokratietheoreti-scher Sicht als solcher Anerkennung finden muss. Zwei dieser Gespräche gelin-gen darüber hinaus als Austausch von Argumenten im Sinne der Deliberation.

394 Forschungsleitende Annahme 2: Die das Mediensystem beherrschenden Interessengruppen

nutzen ihre Kanäle, um die eigenen Akteure und Ziele zu bewerben und die Willensbildung der Bürger in bestimmte Richtungen zu lenken (Kap. 6.7.2).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

398

9.3 Partizipation

Medienrelevante Aspekte von politischer Partizipation waren mit Fokus auf die Theorie der deliberativen Demokratie von Habermas (1998), aber auch mit Blick auf das Arenamodell von Neidhardt und Gerhards (1990) in Kapitel 2.3.3 disku-tiert worden. Während mit Habermas (1998) die Frage nach dem Stellenwert von bürgernahen Themen und Akteuren in der Öffentlichkeit in den Mittelpunkt der Untersuchung rückt, wurde mit Neidhardt und Gerhards (1990) nach der Vielfalt der in der Öffentlichkeit kursierenden Themen und Meinungen gefragt und nach dem Anschluss der Medien an die Versammlungsöffentlichkeiten der Bürgerge-sellschaft. Anders als Habermas (1998) machen Neidhardt und Gerhards (1990) Vielfalt als Indikator für Offenheit geltend.

Beide Ansätze erlauben es gleichermaßen, Partizipation an der Offenheit des Me-diensystems für die Zivilgesellschaft und an der Mobilität der entsprechenden Themen zwischen Gesellschaft, Mediensystem und Politik zu bemessen. Auch die Ressourcenabhängigkeit des Medienzugangs wurde aus der Perspektive bei-der Ansätze als demokratisches Problem bewertet (vgl. Kap. 2.3.3). Mit Carpen-tier (2011) wurde die Teilhabe an Produktionsmitteln als struktureller Aspekt von Partizipation zusätzlich eingeführt.

9.3.1 Zivilgesellschaft und Mobilität von Themen

Die vielleicht folgenreichste Beobachtung für die Frage der Partizipation ist in der vorliegenden Arbeit die ausgedehnte Präsenz von Bürgern in TV-Nachrichten und Radio-Talkformaten und die demgegenüber augenfällige Abwesenheit von Orga-nisationen der Zivilgesellschaft als einer zwischen Staat und Bürgern vermit-telnde Sphäre. Eine sehr große Zahl von insgesamt 283 Bürgerauftritten steht hier einer vergleichsweise kleinen Zahl von nur 57 Stellungnahmen durch Vereine und gemeinnützige Organisationen gegenüber395 (vgl. Kap. 8.2.1 und Kap. 8.5.2). An-ders als von Habermas (1998) postuliert, werden die für die Bürger drängenden Themen nicht von Vertretern der Zivilgesellschaft aufgegriffen, gebündelt und in

395 Bürger treten 89 Mal in den untersuchten TV-Nachrichtensendungen als Sprecher in Erschei-

nung, während insgesamt nur 38 bürgernahe Gruppen vor die Kamera treten oder zitiert wer-den. In den untersuchten Radio-Nachrichtenformaten stehen 20 Bürgerauftritte 18 Vertretern der Zivilgesellschaft gegenüber. 174 Anrufer in den Call-In-Sendungen der untersuchten Ra-diosender stehen einem Studiogast gegenüber, der eine NGO vertritt.

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9.3 Partizipation

399

die öffentliche Debatte eingeführt. Im Irak erfolgt die Verallgemeinerung indivi-dueller Anliegen vielmehr in den Medien selbst. Aufgefallen sind hier Radio Dijla und al-Sharkiya, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten große Mengen individueller Stellungnahmen von Bürgern zu einer kollektiven Kritik an der Regierung ver-dichten (vgl. Kap. 8.2.3 und Kap. 8.5.4).

Dabei bewirkt die irakische Krise, wie von Habermas (1998) postuliert, eine Ver-schiebung von Medienaufmerksamkeit zugunsten gesellschaftlich relevanter The-men und zugunsten von Bürgerpräsenz. Das Problem der Versorgungsdefizite ist eines der ganz wenigen Themen, die von allen Sendern gleichermaßen priorisiert werden, und auch die für das Thema aufgewandte Zeit wird nur vom ebenfalls bürgerrelevanten Sicherheitsthema noch übertroffen.396 Nur organisierte Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements finden insgesamt keinen Zugang zur Öf-fentlichkeit.

Im Fernsehen erfolgt die Verdichtung und Generalisierung von bürgernahen Problemen vorwiegend in Gestalt von Themenstrecken in den Nachrichten, in de-nen die Bürger wie Statisten mit Positionen für oder gegen die Regierung arran-giert werden. Sie werden von den Sendern dabei eher benutzt als gehört. Ähnlich wie ein hoher Anteil an publizistischen Programmen negativ mit der Qualität der Informationen korreliert, ist eine hohe Zahl von in den Nachrichten auftretenden Bürgern als Indikator für ein hohes Maß an Instrumentalisierung dieser Auftritte zu werten (vgl. Kap. 8.2.3).

Im Radio liegt die Sache wieder anders: Hier bleibt der Anrufer Autor und Subjekt seiner Stellungnahme und gewinnt mit seinen Anliegen Präsenz in der Öffentlich-keit, die er im Fernsehen nicht besitzt. Ähnlich wie im Fernsehen wird die Kritik der Bürger gebündelt und der Politik zur Lösung angetragen. Aufgefallen war hier insbesondere der private Sender Radio Dijla mit einer ganzen Reihe von Sendun-gen, die das Publikum zur freien Artikulation von Frust und Zorn einladen. In der Authentizität des Bürgerauftritts, der Verallgemeinerung durch Bündelung und der engen Bezugnahme auf Politik als Adressaten wird hier eine hohe Durchläs-sigkeit der Systeme und der Mobilität der Themen zwischen den Systemen Bür-gergesellschaft – Medien – Politik erzeugt (vgl. Kap. 8.5.2). Dies ist aus Sicht der Partizipationsbefürworter als demokratischer Gewinn zu bewerten.

396 Siehe Tabelle 8.23 in Kap. 8.4.3 für eine Aufschlüsselung der Themen nach Zeitaufwand pro

Sender.

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

400

Gleichzeitig kann ein Sender, der selbst die Rolle des zivilgesellschaftlichen Ak-teurs übernimmt, nicht als Verstärker für andere Akteure dieser Sphäre wirksam werden. Der Sender gibt seine Funktion als Legitimierungs- und Verstärkungs-instanz auf, was im fragilen Zusammenspiel zwischen Gesellschaft – Medien – Politik wiederum als Funktionsverlust zu beklagen ist.

Die Frage stellt sich, wie wirkungsvoll Themen im Rahmen solcher Strategien in die Politik vermittelt werden. Wie stark können Medien Druck machen, wenn sie nicht mit der Dynamik einer mobilisierten Zivilgesellschaft in Verbindung stehen und von dieser gleichsam getragen werden? Das Agenda-Setting im politischen System war nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Die Beharrlich-keit, mit der Probleme wie Stromversorgung, Infrastruktur, Arbeitslosigkeit, Ar-mut und Gesundheitsversorgung im Irak trotz wirtschaftlicher Prosperität und trotz weitreichender Thematisierung in den Medien nicht gelöst werden, indiziert aber eine geringe Macht der Medien, die mit dem fehlenden Einbezug der Zivil-gesellschaft in Zusammenhang zu sehen ist. Mit Hafez (2008) war hierzu die These formuliert worden, dass politischer Wandel von den Medien nur in enger Verbindung mit Organisationen oder Bewegungen der Zivilgesellschaft vorange-trieben werden kann (vgl. Kap. 3.3.5).

Zusammenfassend kann zur Frage der Vermittlung die forschungsleitende An-nahme 6 wie folgt revidiert werden:397 In den Programmen irakischer Fernseh- und Radiosender sind Bürger allgegenwärtig, während zivilgesellschaftliche Ak-teure weitgehend fehlen. Die Durchlässigkeit des Mediensystems für thematische Impulse aus der Bürgergesellschaft und auch die Präsenz bürgernaher Themen ist hoch ist. Weil aber der Bezug zu Organisationen der Zivilgesellschaft fehlt, wird der von den Medien aufgebaute Druck wahrscheinlich nicht als Agenda-Setting in der Politik wirksam.

9.3.2 Vielfalt von Themen und Meinungen

Wenn man die Partizipationsoffenheit eines Mediensystems aus systemtheoreti-scher Sicht an der Bandbreite der insgesamt vermittelten Themen und Meinungen bemisst, dann ist vor dem Hintergrund der vorliegenden Forschungsergebnisse

397 Forschungsleitende Annahme 6: In den irakischen Fernseh- und Radiosendern sind zivilge-

sellschaftliche Akteure und Anliegen allgegenwärtig. Die drängenden Probleme der iraki-schen Gesellschaft haben hohen Stellenwert auf der Themenagenda publizistischer Debatten (Kap. 6.7.3).

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9.3 Partizipation

401

der irakische Mediensektor als relativ partizipativ und offen einzuordnen. Die Un-tersuchung der Konfliktberichterstattung hat gezeigt, dass aus der politischen Po-larisierung der Sender ein breites Spektrum an politischen Meinungen und Posi-tionen zu den in den Medien aufgebrachten Konfliktthemen hervorgeht (vgl. Kap. 8.3.3). Diese grundlegende Einordnung wird auch nicht durch die in der Inhalts-analyse festgestellte Einseitigkeit innerhalb der untersuchten Sender außer Kraft gesetzt. Für die Frage der Offenheit war mit Hallin und Mancini (2004) externe von interner Pluralität unterschieden und externe Pluralität als Maßstab geltend gemacht worden.398 Im irakischen Mediensystem sind, mit Ausnahme der sunni-tischen Widerstandsbewegung, alle Positionen und alle politischen Lager zu rele-vanten Konflikten vertreten. Das hat gemäß Vlasic (2004) auch positive Auswir-kungen auf die Kohäsion der Gesellschaft: „Indem das Individuum sich bzw. seine Einstellungen, seine Meinungen oder ganz generell seine Lebenshaltung in den Medienangeboten wiederfindet, kann es sich selbst als Teil dieser Gesell-schaft wahrnehmen.“ (Ebd.: 74)

Die Vielfalt von Themen ist in der vorliegenden Arbeit auch mit Blick auf Rele-vanz untersucht worden: Werden die aktuell relevanten Ereignisse und Prozesse in den Nachrichten irakischer Sender aufgegriffen? (Vgl. Kap. 8.4.2) Hier zeigt die Analyse, dass mit Ausnahme der Themen Korruption und Föderalismus alle relevanten Themen in der Öffentlichkeit von mindestens einem Sender aufgegrif-fen werden. Aus der politischen Bandbreite der Akteure und deren jeweils unter-schiedlichen Politikzielen ergibt sich eine breite Streuung von Themen, wobei in der Analyse auch thematische Knotenpunkte wie die SOFA-Verhandlungen oder die Versorgungskrise erkennbar wurden, die der öffentlichen Debatte Struktur ge-ben. Die Knotenpunkte sind aber eher schwach ausgeprägt und die Darstellungen im Einzelnen uneinheitlich.

Die Forschungsleitende Annahme 7 kann also partiell bestätigt werden:399 Iraki-sche Medien bieten eine große Vielfalt unterschiedlicher Meinungen zu politi-schen Streitfragen und eine große Vielfalt an Themen. Die parteilichen Angebote inklusive des öffentlichen Senders zeigen in der Konfliktberichterstattung gering

398 Interne Vielfalt meint Vielfalt zwischen und innerhalb von Berichten in den Nachrichtensen-

dungen eines Senders und externe Vielfalt meint die Repräsentation von Parteien und Per-spektiven in der Öffentlichkeit insgesamt (vgl. Hallin und Mancini 2004: 29).

399 Forschungsleitende Annahme 7: Irakische Medien bieten eine große Vielfalt unterschiedlicher Meinungen zu politischen Streitfragen und eine große Vielfalt an Themen. Vielfalt ist zwi-schen den Medien zu erwarten, nicht aber innerhalb einzelner Medienangebote (Kap. 6.7.3).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

402

ausgeprägte interne Vielfalt. Die privaten Sender bemühen sich dahingegen in-nerhalb ihrer Programme und innerhalb der Nachrichten um den Einbezug mög-lichst vieler Perspektiven und Meinungen in die Berichterstattung.

Die Offenheit der Öffentlichkeit ist aber keinesfalls grenzenlos. Ausgenommen vom Prinzip der Inklusion, Repräsentation und Vielfalt sind in der vorliegenden Untersuchung sunnitisch geprägte Protestbewegungen, denen kein Zugang zur Öffentlichkeit gewährt wird (vgl. Kap. 8.3.3). Im Ausschluss dieser Akteurs-gruppe von der Möglichkeit auf öffentliche Artikulation eigener Standpunkte sind die untersuchten Medienangebote synchronisiert. Im Schulterschluss mit der Re-gierung im Kampf gegen den Terrorismus bilden sie eine geschlossene Front ge-gen alle Gruppen aus dem Spektrum dieser Bewegung.400 Ob hier eine Schweige-spirale in Gang gesetzt wurde oder aber die autoritäre Interventionspolitik der Re-gierung Früchte trägt, kann anhand der vorliegenden Datenlage nicht abschlie-ßend geklärt werden. Es darf aber an dieser Stelle der Hinweis nicht fehlen, dass der erste Schließungsbescheid gegen al-Sharkiya verhängt wurde, weil der Sender über Demonstrationen von Anhängern der sunnitischen Baath-Partei berichtete, und auch viele der darauffolgenden Sanktionen hatten Bezug zu Berichterstattung in diesem Bereich (vgl. Kap. 6.3). Es ist deswegen plausibel anzunehmen, dass die Nicht-Thematisierung sunnitischer Proteste zumindest teilweise staatlichen Interventionen geschuldet ist. Problematisch erscheint die Gleichschaltung mit Blick auf die Marginalisierung sunnitischer Parteien im Rahmen einer klientelis-tischen Machtpolitik der Regierung unter Premierminister Nuri al-Maliki. Die Ra-dikalisierung sunnitisch-islamistischer Gruppen und der Aufstieg des Islamischen Staates (IS) 2013/2014 müssen in diesem Zusammenhang auch als Konsequenz einer umfassenden Verleugnung sunnitischer Positionen in Politik und Öffent-lichkeit interpretiert werden.

Es muss hier einschränkend daran erinnert werden, dass die Sahwa Councils einst-mals aus der sunnitisch geprägten Aufstandsbewegung entstanden sind und diese Wurzeln nicht unbedeutend sind für das Verständnis der aktuellen Konflikte im Sommer 2008, mithin die Weigerung von staatlichen Akteuren die vereinbarte Übernahme der Kämpfer in die staatliche Armee auch umzusetzen (vgl. Kap. 5.8).

400 Es gibt im Irak kleine sunnitisch geprägte TV- und Radiosender, die wegen geringer Reich-

weite nicht Bestandteil der Stichprobe waren. Vor dem Hintergrund der vorliegenden For-schungsergebnisse wäre eine Untersuchung der Repräsentation sunnitischer Positionen auf diesen Sendern als weiterführendes Forschungsvorhaben zu empfehlen.

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9.3 Partizipation

403

In Gestalt der Sahwa Councils ragt die sunnitisch geprägte Aufstandsbewegung als deren Wurzel wie ein Schatten in die öffentliche Debatte hinein. An der De-Legitimierung dieser Bewegung durch den Ausschluss aus der Öffentlichkeit än-dert dieser Schatten zwar wenig. Es ist dennoch wichtig zu erkennen, dass Ver-änderungsprozesse innerhalb der sunnitisch geprägten Aufstandsbewegung von den Medien beobachtet werden und dass der Ein- und Ausschluss von Akteuren aus dem sunnitischen Lager als dynamischer Prozess erscheint, der selbst Verän-derungen unterliegt.

Dies scheint aber insbesondere für den öffentlichen Sender al-Iraqiya nicht zuzu-treffen, der auch über die Konflikte der Zentralregierung mit den Sahwa Councils konsequent nicht berichtet. Das Prinzip der Leugnung wird bei al-Iraqiya auch auf die Konflikte mit den kurdischen Peshmerga und die Existenz der Mahdi-Ar-mee erweitert. Über innenpolitische Konflikte wird grundsätzlich geschwiegen oder alternativ als Sicherheitsproblem berichtet (vgl. Kap. 8.3.1). Der Effekt der Marginalisierung tritt aber hier nicht ein, weil die Repräsentation nichtstaatlicher Konfliktparteien in der Öffentlichkeit über die anderen Sender gewährleistet wird.

Weitgehend ausgenommen von der Offenheit der Öffentlichkeit ist senderüber-greifend auch das Thema Korruption als Gegenstand von Berichterstattung und/o-der Diskussion. In den Interviews mit irakischen Medienproduzenten war die Be-deutsamkeit des Themas immer wieder betont worden (vgl. Kap. 8.2.2) und auch die politische Analyse verweist auf hohe Relevanz der Korruptionsbekämpfung für das Fortkommen Iraks in jeder Hinsicht (vgl. Kap. 5.10). Berichterstattung über Korruption provoziert aber Gefahr für Leib und Leben der Autoren und wird deswegen gemieden. Die forschungsleitende Annahme 10 kann also für den For-schungszeitraum wie folgt konkretisiert werden: Die Bedrohung der Journalisten führt zur Ausblendung von Korruption als Thema in der Öffentlichkeit.401 Bedroht fühlen sich die Journalisten eher von Parteien und deren Milizen als von extre-mistischen Gruppen (vgl. dazu auch Kap. 6.3.2).

Die Partizipationsoffenheit der irakischen Öffentlichkeit weist also Einschrän-kungen auf, die als strukturelle Defizite einer fragilen Staatlichkeit (damit einher-gehend: fehlender Rechtstaatlichkeit) und dem Fortbestand einer autoritär-klien-telistischen Kultur geschuldet scheinen. Aus partizipationstheoretischer Sicht

401 Forschungsleitende Annahme 10: Die Bedrohung der Journalisten führt zur Ausblendung von

diesbezüglich riskanten Themen in der Öffentlichkeit (Kap. 6.7.4).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

404

wäre aus dieser Beobachtung heraus mit negativen Konsequenzen für den Zusam-menhalt der Gesellschaft zu rechnen. Die Radikalisierung der sunnitisch gepräg-ten Protestbewegung unter Führung des IS in den Jahren 2013 und 2014 scheint diese These zu erhärten. Anzunehmen bleibt darüber hinaus, dass das Vertrauen der Bürger in Medien und Politik durch Ausblendung von Korruption und ver-wandten Themen signifikant beschädigt wird – ein Vertrauensschwund, mit dem auch die Stabilität demokratischer Verhältnisse erodiert. Zur Frage der Glaubwür-digkeit wären weitere Forschungsvorhaben anzuschließen.

Der Fortbestand von Pluralität im Mediensektor verweist auf eine eingeschränkte Machtfülle der Regierung, die sich in wechselnder Besetzung seit dem Regi-mesturz 2003 um Einhegung von Vielfalt und Marginalisierung regierungskriti-scher Stimmen bemüht. Die teils autoritär geführten Interventionen gegen regie-rungskritische Sender wie Bagdadiya und al-Sharkiya haben die Popularität dieser Akteure und insgesamt den Zulauf zu oppositionellen Bewegungen aber eher be-fördert als geschwächt (vgl. Kap. 6.3). Repressive Maßnahmen werden von den betroffenen Sendern als Warnung zur Kenntnis genommen, haben aber auf die genuine Pluralität der Medienlandschaft bisher keine Auswirkungen. Oppositio-nelle Sender sind ebenso stark vertreten wie das regierungsfreundliche Lager.402 Im Rahmen der Inhaltsanalyse war insbesondere die Freiheit der Darstellung und Quellenwahl in der Konfliktberichterstattung aufgefallen: Es ist den privaten Sen-dern nicht nur möglich, über die Konflikte in der von ihnen gewählten Form zu berichten, es ist auch ein breites Spektrum beteiligter Akteure als Quellen zugäng-lich und bereit zu sprechen (vgl. Kap. 8.3.1). Wolfsfeld (1997) hatte zum Verhält-nis von Informationskontrolle und politischer Macht die These formuliert, dass diejenigen, die den Konflikt beherrschen, auch den Fluss der Informationen be-herrschen (vgl. Kap. 3.3.7). Die politische Macht der Regierung, deren Deutungs-monopol von den Darstellungen gegnerischer Akteure unterwandert wird, er-scheint auch aus diesem Blickwinkel signifikant eingeschränkt.

9.3.3 Themen und Rollen für Bürger in den Medien

Für das Modell der deliberativen Demokratie haben das „diskursive Niveau der öffentlichen Debatte“ (Habermas 1998: 369) und die aktive Teilhabe der Bürger

402 Von dieser Diagnose auszunehmen ist der panarabische Sender al-Jazeera, der insbesondere

von den Amerikanern im Irak mit Sanktionen bedrängt wurde und laut IREX-Reichweitener-hebung keine Popularität im Irak genießt (vgl. Kap. 6.5).

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9.3 Partizipation

405

am öffentlichen Diskurs einen zentralen Stellenwert. Erst in der Diskursteilhabe qualifizieren sich die Bürger zu demokratiefähigen Mitgliedern der Gesellschaft, so die These (vgl. Kap. 2.2.2). Aus Sicht einer elitären Demokratiekonzeption gilt die Einmischung der Bürger in den politischen Prozess dahingegen als Störung. Das Engagement der Wähler sollte zugunsten von Regierungseffizienz über den Gang zur Urne bestenfalls nicht hinausgehen (vgl. Kap. 2.2.1). Vor dem Hinter-grund dieser Einordnung und einer daran anschließenden Unterscheidung mini-malistischer von maximalistischen Demokratieauffassungen (vgl. Kap. 2.2.3) wurde in der vorliegenden Arbeit der Ein- und Ausschluss der Bürger und bür-gernaher Gruppen in themenspezifischen Debatten untersucht. Dabei soll mit Car-pentier (2011) unterschieden werden zwischen einem aktiven Engagement von Bürgern und bürgernahen Gruppen durch Teilnahme an Talkformaten als Anrufer oder Studiogast und passiver Teilnahme als Zuschauer oder Zuhörer (vgl. ebd. 66-68).

Senderübergreifend wurden innenpolitische Konflikte in der empirischen Unter-suchung als Themenfeld identifiziert, von dem Bürger und bürgernahe Gruppen als aktive Diskursteilnehmer ausgeschlossen werden.403 Das betrifft ausnahmslos alle Radiosender der Stichprobe: hier sind die Talkformate vollkommen offen für die Teilhabe der Hörer und vollkommen verschlossen für das Themenfeld der po-litischen Konflikte. Das betrifft – mit Ausnahme von al-Sumeria – auch das Fern-sehsegment, in dem sowohl die Stellungnahmen der Bürger und bürgernaher Gruppen in den Nachrichten als auch deren Teilnahme an Talkformaten niemals in Bezug zu innenpolitischen Konflikten stehen. Die Bürger sind zwar von Gewalt täglich betroffen. Vom Diskurs über die zugrundeliegenden Konflikte werden sie aber explizit ausgeschlossen (vgl. Kap. 8.2.3).

Die aktive Teilhabe der Bürger und bürgernaher Gruppen als Sprecher im TV-Sektor wird auf die Artikulation von Standpunkten zu Versorgungsthemen be-schränkt. Hier sind insbesondere in den TV-Nachrichten zahllose Einlassungen

403 Die im Untersuchungszeitraum relevanten innenpolitischen Konflikte waren: Konflikt zwi-

schen al-Qaida/irakischen Aufstandsbewegung auf der einen und irakischer Zentralregie-rung/multinationalen Truppen auf der anderen Seite (vgl. Kap. 5.3); Konflikt zwischen (sun-nitischen) Sahwa Councils und irakischer Zentralregierung (vgl. Kap. 5.8); Konflikt zwischen (schiitischer) Mahdi-Armee und irakischer Zentralregierung (vgl. Kap. 5.9); Konflikt zwi-schen (kurdischer) Peshmerga und Soldaten der staatlichen Armee in Kanaqin (vgl. Kap. 5.6); Konflikt zwischen irakischer Zentralregierung und kurdischer Regierung zum Verbleib von Kirkuk (vgl. Kap. 5.6).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

406

von Zuschauern zu Themen wie Stromversorgung, Sicherheit und Nahrungsmit-telknappheit identifiziert worden. Ein Engagement der Bürger oder bürgernaher Gruppen in kontroversen Diskussionen zu politischen Themen ist dagegen kaum zu erkennen. Insgesamt fällt der Ausschluss von Bürgern und bürgernaher Grup-pen aus allen diskursiven Formaten im Fernsehen auf. Diese These korrespondiert mit der Beobachtung, dass der Bürger im Fernsehen vorwiegend in der Rolle des passiv-kritischen Empfängers staatlicher Leistungen gezeigt wird, der die Arbeit der Regierung bewertet und kritisiert, der aber selbst mit dieser Performanz nur als Empfänger in Verbindung steht (vgl. Kap. 8.2.3).

Auf der Ebene der Repräsentation als niedrigstufige Form der Partizipation zeigt sich ein Einschluss der Bürger in die Debatte um innenpolitische Konflikte bei den privaten Sendern al-Sharkiya, al-Sumeria, Radio Dijla und Radio Sumer. Mit anderen Worten: auf den genannten Sendern werden Bürger in den Debatten über innenpolitische Konflikte als beteiligte oder betroffene Akteure erwähnt, damit wird ein Zusammenhang zwischen beiden Ebenen hergestellt. Ausschluss durch Nicht-Erwähnung von bewaffneten Konflikten betreiben die Parteisender al-Fu-rat, Radio Bilad und der öffentliche Sender al-Iraqiya. Die öffentlichen und par-teilichen Sender geben damit eine den Bürger ausschließende Haltung zu erken-nen. Bewaffnete Konflikte werden vom Alltag der Menschen, ihrer Betroffenheit und ihrer faktischen Relevanz für die Konfliktentwicklung abgespalten und als rein militärische Angelegenheit abstrahiert (vgl. Kap. 8.2.3).

Im Radiosegment beteiligen sich die Hörer aller untersuchten Sender an einer kri-tischen Auseinandersetzung über die Leistungsfähigkeit verschiedener Ordnungs-systeme wie Staat, Religion, Tradition oder Familie. Angemessenheit und Ent-wicklungsfähigkeit dieser Systeme werden offen oder latent in den Radiosendun-gen zur Diskussion gestellt. Aufgefallen sind hier insbesondere differenzierte Ge-spräche zum Konflikt zwischen Religion und Tradition bei Radio Bilad und eben-falls differenzierte Gespräche zum Wandel tradierter Regeln in der Familie bei Radio Bagdad. In teilweise anspruchsvollen Gesprächen wurden Argumente, Meinungen und Erfahrungen gegeneinander ins Feld geführt (vgl. Kap. 8.5.2). Während politische Konflikte der Politik überlassen werden, ist hier eine enga-gierte Debatte über den Wandel und die Wandlungsfähigkeit der Gesellschaft zu erkennen. Die Frage der Modernisierung ist im Radiosegment eine Sache der Bür-ger.

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9.4 Die Rolle der Medien in der Transformation

407

Im Fernsehsegment fällt der privat-kommerzielle TV-Sender al-Sumeria auf durch eine Hinwendung zur Figur des politischen Subjekts in den Talkformaten, die einhergeht mit einer im Vergleich signifikanten Aufwertung des demokrati-schen Streits in den entsprechenden Programmen.404 Der Zusammenhang zwi-schen dem kommerziellen Profil des Senders und seiner Vorreiterrolle bei der Erfüllung demokratischer Erwartungen wurde in Kap. 9.5.3 vertieft.

9.4 Die Rolle der Medien in der Transformation

Im konservativen Lager der Transformationsforschung wird mitunter die Forde-rung aufgestellt, Massenmedien mögen sich in der Phase der Konsolidierung dem Ziel der Stabilisierung anschließen und von Regierungskritik und mobilisierenden Formen von Kommunikation vorläufig Abstand nehmen (vgl. Kap. 3.3.3). Die Aufgabe der Medien gerade im Kontext fragiler Staatlichkeit sollte darin beste-hen, die Regierung in der Konsolidierung von Strukturen und Autorität zu unter-stützen. Eine pluralistische, kritische und/oder mobilisierte Presse gefährde die Neuordnung der Verhältnisse. Mit Hafez (2008) war dagegen argumentiert wor-den, dass Massenmedien im Transformationsprozess die Rolle der Opposition übernehmen dürfen und müssen, wenn die etablierten, ressourcenstarken Parteien aus einer Position der Macht heraus den demokratischen Wandel bremsen oder gefährden. Sie können dabei aber die Funktion von Parteien und zivilgesellschaft-lichen Organisationen nicht ersetzen (vgl. Kap. 3.3.5).

9.4.1 Mobilisierung, Regierungskritik, Stabilität

In der vorliegenden Arbeit ist zur Frage der Mobilisierung festgestellt worden, dass Kritik an der Regierung und Kritik an den Fehlleistungen des Staates eine zentrale Rolle in den Nachrichten und Talkformaten der privaten Sender in der Stichprobe spielen (vgl. Kap. 8.1.1 und Kap. 8.2.1). Zentraler Gegenstand der Kritik sind Versorgungsmissstände in den Bereichen Elektrizität, Nahrung, Si-cherheit und Arbeit. Hier wird der Regierung Versagen bei der Erfüllung elemen-

404 Im hitzig geführten Gespräch zur Mahdi-Armee/Sadr-Bewegung dürfen Zuschauer anrufen

und es wird ein Video eingespielt, in dem sich Passanten zur Sache äußern; In einer Kontro-verse über die Bewertung der Sicherheitsoperation in Diyala werden die örtlichen Bewohner als zentraler Konfliktakteur behandelt und in den Nachrichten treten bürgernahe Gruppen fünfmal als Advokaten eines politischen Anliegens in Erscheinung (vgl. Kap. 8.1.3).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

408

tarer Versorgungsleistungen vorgeworfen. Zugleich wurde deutlich, dass die Kri-tikfunktion bei regierungskritischen Sendern wie Radio Dijla und al-Sharkiya zu weiten Teilen an die Bürger delegiert wird und der Bezug zu oppositionellen Be-wegungen oder Organisationen der Zivilgesellschaft bisher nicht hergestellt wird. In Anbetracht der Beständigkeit von Problemen wie Korruption, Unterversorgung und Gewalt wurde vermutet, dass den irakischen Medien aufgrund der fehlenden Vernetzung mit politischen Bewegungen die Durchsetzungsfähigkeit fehlt, um Themen auf die Agenda im politischen System zu setzen und Änderungen zu be-wirken (vgl. Kap. 8.5.2 und Kap. 8.2.3). Auch wird die politische Relevanz der zivilgesellschaftlichen Organisationen durch die fehlende Vernetzung mit den Medien und infolgedessen dem geringen Zugang zur Öffentlichkeit dauerhaft ge-schwächt. Empowerment der irakischen Zivilgesellschaft gegenüber der Regie-rung im Sinne der Mobilisierung findet aus Sicht der vorliegenden Untersu-chungsergebnisse im Verhältnis zwischen Medien und Zivilgesellschaft nicht statt.

Es war des Weiteren festgestellt worden, dass zwar Regierungskritik in allen Talkshows aller Sender selbstverständlich praktiziert wird, aber die Legitimität der regierenden Partei und der Regierung selbst dabei nie in Zweifel gezogen wird. Diese Legitimität wird zwar auf den privaten Sendern al-Sumeria und al-Sharkiya keineswegs – wie von McConnell und Becker (2002) gefordert – ge-stärkt und gefördert. Sie wird aber ebenfalls nicht dekonstruiert oder angezwei-felt. Damit kann die These vertreten werden, dass die politische Polarisierung der Medien, ihre Parteilichkeit für oder gegen die (schiitisch geprägte) Regierung keine radikalen Züge trägt und deswegen zur Aufhetzung verfeindeter Lager ge-geneinander wahrscheinlich keinen signifikanten Beitrag leistet. Als Ausnahme und Ansatz einer Radikalisierung der Regierungskritik in dem von Hafez (2014) gemeinten Sinne wurde die Thematisierung von Korruption identifiziert. Der Korruptionsvorwurf, der im Sommer 2008 gegen das Handelsministerium und damit gegen die Regierung artikuliert wird, ist an die Frage der Legitimität ge-knüpft und ist deswegen von besonderer Tragweite: auf al-Sharkiya bezichtigt Oppositionspolitiker Ali al-Rubayi in einem Nachrichtenbeitrag die Regierung in deutlichen Worten der Inkompetenz, der Korruption sowie der Behinderung der Justiz bei der Aufklärung von Korruption. Er stellt im gleichen Atemzug die Le-gitimität der Regierung in Frage. Hier wird ein Zusammenhang zwischen beiden Themen deutlich, weswegen die Vermeidung von Korruption als Thema durch

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9.4 Die Rolle der Medien in der Transformation

409

die irakischen Medien in diesem Kontext auch als Vermeidung der Legitimitäts-frage zu sehen ist, mit der die Kritik an der Regierung eine neue, möglicherweise mobilisierende, Dimension annehmen würde.

Zur forschungsleitenden Annahme 8405 kann also resümiert werden, dass Regie-rungskritik ein zentraler Gegenstand öffentlicher Diskurse ist. Im Rahmen der empirischen Untersuchung von Programminhalten wurden aber keine substanzi-ellen Hinweise darauf gefunden, dass Mobilisierung der Bürger für den politi-schen Wandel im Sinne eines Regimewechsels als politisches Ziel in den Medi-enangeboten der Stichprobe eine Rolle spielt.

Diese Beobachtung wird bestätigt durch die Auswertung der Interviews mit ira-kischen Medienproduzenten, in deren Selbstverständnis stabilisierende, konsoli-dierende und demokratiefördernde Aspekte eine Vorrangstellung haben, während der Wandel der politischen Verhältnisse im Sinne von System- oder Regierungs-wechsel im Berufsbild von geringer Bedeutung sind (vgl. Kap. 8.2.2). Im Demo-kratieverständnis der Befragten steht die Vermittlung zwischen Regierten und Re-gierenden sowie die Repräsentation ethno-konfessioneller Vielfalt im Mittelpunkt dieser Auffassung. Der politische Streit im Sinne des demokratischen Wettbe-werbs ist von nachrangiger Bedeutung oder wird gemieden – sowohl im Selbst-verständnis als auch in den Programminhalten, in denen Formen und Formaten Vorrang gegeben wird, die kein Eskalationspotenzial bergen.

In der demokratietheoretischen Auswertung der Analyse von Partizipation in ira-kischen Medien ist darüber hinaus die These formuliert worden, dass die domi-nante Repräsentation von Bürgern und bürgernahen Gruppen als passive und kri-tische Empfänger staatlicher Leistungen auf eine Vorrangstellung minimalisti-scher Formen verweist (vgl. Kap. 8.2.3). Dies entspricht den Auffassungen von McConnell und Becker (2002), die ein Engagement für maximalistische Formen von Demokratie, mithin Mobilisierung der Bürger für Partizipation, in der Phase der Konsolidierung als riskant einordnen und aus dieser Perspektive nicht emp-fehlen. Empfohlen wird vielmehr die Unterstützung der Regierung beim Aufbau staatlicher Strukturen, und die Vermittlung von Wissen über die Demokratie (vgl. ebd.). Letzteres ist auch erklärtes Ziel der im Rahmen der Studie befragten Medi-enproduzenten.

405 Forschungsleitende Annahme 8: Regierungskritik und ein insgesamt auf Wandel drängender

Diskurs über bestehende Zustände sind herausragende Merkmale irakischer Medieninhalte (Kap. 6.7.4).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

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Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse kann also den irakischen Medien eine übermäßige Mobilisierung der Gesellschaft kaum attestiert werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Konsolidierungsprozess im Irak von mehr Strahlkraft einer im Mediensektor formulierten Kritik gegenüber der Politik profitiert hätte. McConnell und Becker (2002) würden argumentieren, dass auf dem Weg zur kon-solidierten Demokratie Kompromisse gemacht und Phasen der Zurückhaltung zu-gunsten von mehr Stabilität und Sicherheit toleriert werden müssen (vgl. Kap. 3.3.3). Die Radikalisierung der sunnitisch geprägten Protestbewegung infolge ih-rer politischen Ausgrenzung im Jahr 2014 macht aber die dramatischen Folgen der auf Ausgrenzung angelegten Machtpolitik der Regierung Nuri al-Malikis sichtbar. Eine mobilisierte Öffentlichkeit hätte der klientelistischen Machtpolitik von Nuri al-Maliki Grenzen setzen und den dringend notwendigen Politikwechsel vielleicht früher herbeiführen können.

Andererseits verteidigt der Mediensektor die eigene Pluralität und Kritikfähigkeit seit zehn Jahren erfolgreich gegen autoritäre Zugriffe der Regierung. Irakischer Medienpluralismus hat sich bisher als robust und belastbar erwiesen. Auch die Beharrlichkeit, mit der die von Sanktionen betroffenen Medien ihre Arbeit im Irak aufrechterhalten, ist als Engagement für eine im demokratischen Sinne pluralis-tisch-kritische Öffentlichkeit zu bewerten.

9.4.2 Hybride Widersprüche prägen die Transformation im Mediensektor

Abschließend sei zur Frage der Transformation ganz grundsätzlich auf die von Merkel (2010), Voltmer (2012) und Rozumilowicz (2002) für die Konsolidie-rungsphase postulierte Gleichzeitigkeit alter und neuer Verhaltensmuster verwie-sen, die erhebliches Erklärungspotenzial für die Analyse des Mediensektors im Irak besitzt (vgl. Kap. 3.3.1 und 3.3.6). Ein signifikanter Anteil der in der vorlie-genden Arbeit gefundenen Paradoxien, Besonderheiten und Fehlleistungen ist da-mit zu erklären, dass die demokratische Erneuerung vom Erbe einer autoritären Kultur überlagert wird. Einerseits also spiegelt sich die Transformation des staat-lichen Mediensektors zum öffentlich-rechtlichen Sendernetzwerk IMN auf der Ebene der Inhalte in der Anerkennung der Verpflichtung zur Rechtfertigung von politischen Entscheidungen und politischem Handeln durch politische Eliten. An-dererseits werden die Nachrichten missbraucht für die verdeckte Verbreitung von politischer Werbung in Form von Kampagnen (vgl. Kap. 8.1.3). Einerseits wird die breite Einbindung aller Konfliktparteien als Quellen in die Berichterstattung

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9.4 Die Rolle der Medien in der Transformation

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durch die privaten Sender sichtbar gemacht. Andererseits wird die Ausblendung von Konflikten auf den Parteisendern betrieben, als könnte – wie früher – dem Publikum durch Nicht-Thematisierung die Inexistenz dieser Konflikte so vermit-telt werden. Einerseits Meinungsfreiheit in Recht und Verfassung, andererseits Bedrohung von Leib und Leben der Journalisten im Falle unliebsamer Berichter-stattung. Diese Gleichzeitigkeit von Offenheit und Repression, Propaganda und Aufklärung, Instrumentalisierung und politischer Kommunikation ist nach dem Phasenmodell von Rozumilowicz (2002) und nach Voltmer (2012) geradezu cha-rakteristisch für diese Phase der Transformation und darf nicht ausschließlich als Zeichen einer defizitären Fehlentwicklung falsch verstanden werden.

9.4.3 Publikumsorientierung im Transformationsprozess

In der bisherigen Zusammenfassung der Forschungsergebnisse war der privat-kommerzielle Sender al-Sumeria vielfach als Ausnahme und Erfüllungsinstanz demokratisch-normativer Ideale benannt worden. Al-Sumeria strebt nach Unpar-teilichkeit und Vielseitigkeit in der Berichterstattung, favorisiert den politisch en-gagierten Bürger (versus passiver Empfänger staatlicher Leistungen) und zeigt Mut zur kontroversen Debatte über politische Konflikte. Der einzige Sender, dem aufgrund seiner kommerziellen Ausrichtung Publikumsorientierung unterstellt werden darf, unterscheidet sich also von den anderen Sendern durch konzeptio-nelle Merkmale, die eher für die handlungsleitende Vorstellung eines im partizi-pativen Sinne engagierten Publikums sprechen. Die Professionalität und der kom-merzielle Erfolg des Gesamtkonzerns al-Sumeria sprechen gleichsam dafür, dass die Interessen und Einstellungen der irakischen Fernsehnutzer eingehend er-forscht wurden und die in den Redaktionen vorherrschenden Leitbilder keines-wegs aus der Luft gegriffen sind. Auch in der Transformationsforschung wird da-von ausgegangen, dass in dieser Phase der Konsolidierung mit einer mobilisierten Bürgergesellschaft zu rechnen ist, die in der Veränderung auch Gelegenheit zur Teilhabe erkennt und diese wahrnehmen möchte (vgl. Kap. 3.1 und 3.3.4). Aus der Verknüpfung dieser Enden darf versuchsweise die These formuliert werden, dass eine kommerziell motivierte Orientierung der Medien auf Publikumsinteres-sen in der Phase der Transformation das demokratische Projekt eher vorantreiben, als ein öffentlich-rechtlicher Auftrag dies zu leisten vermag. Im irakischen Trans-

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

412

formationsprozess jedenfalls erscheint das Verhältnis von kommerziellem Ge-winnstreben und Demokratie vor dem Hintergrund der vorliegenden Arbeitser-gebnisse als Dynamik gegenseitiger Verstärkung.406

9.5 Medien im Konflikt

Das Verhältnis von Medienberichterstattung und Konflikt war in Kap. 3.3.7 zu-nächst als Frage der Deutungshoheit diskutiert worden: Wer dominiert die Inter-pretation und Darstellung der Konfliktlage in der Öffentlichkeit? Mit Wolfsfeld (1997) war dazu die These formuliert worden, dass politische Eliten in Kriegs- und Krisensituationen ihr Informationsmonopol nutzen, um bestimmte Deutungs-muster in den Medien durchzusetzen. Geringe Informationskontrolle wird von Wolfsfeld (1997) in diesem Zusammenhang als Indiz für Unterlegenheit der Re-gierung in den entsprechenden Konflikten gesehen.

Es waren darüber hinaus journalistisch geprägte Muster der Konfliktdarstellung als unbeabsichtigte Konfliktinterventionen problematisiert worden. Im Zentrum der Kritik standen insbesondere holzschnittartige Vereinfachungen von komple-xen Konfliktmustern zur schlicht gestrickten, womöglich ethno-konfessionell be-gründeten Feindschaft zweier Parteien. Weiterhin ist mit Lynch (2002) die unre-flektierte Fokussierung der Medien auf Gewalt und Eskalation bei gleichzeitig umfassender Nichtbeachtung von Friedensinitiativen und Fortschritten bei der Beilegung von Konflikten kritisiert worden (vgl. Kap. 3.3.8).

In Kap. 6.6 wurde die Verflechtung von Medien- und Konfliktentwicklung als strukturelles Problem im Irak erörtert. Die Segmentierung der Medienlandschaft entlang ethno-konfessioneller Parteilinien wurde hier als Triebfeder für die zu-nehmend konflikthafte Spaltung der irakischen Gesellschaft problematisiert.

9.5.1 Wettbewerb um Deutungshoheit

In der vorliegenden Untersuchung konnte gezeigt werden, dass die privaten Me-dienangebote in der Berichterstattung zu den Konflikten der Zentralregierung mit

406 Die Gefährdung der Demokratie durch Kommerzialisierung des Mediensektors kann vor dem

Hintergrund dieser Beobachtung als ein für die konsolidierten Demokratien der westlichen Welt spezifisches Problem neu beleuchtet werden – eine These, die freilich durch weitere Forschungen zu testen wäre.

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9.5 Medien im Konflikt

413

den Sahwa Councils, der Mahdi-Armee und den Peshmerga in Kanaqin viele ver-schiedene Quellen nutzen und tendenziell ausgewogen berichten, während der schiitisch geprägte Parteisender al-Furat und der öffentliche Sender al-Iraqiya die Existenz dieser Konflikte durch Nicht-Thematisierung zu leugnen suchen (vgl. Kap. 8.3.1). Der Regierung ist es somit nicht gelungen, im Falle der genannten Konflikte ihre Sicht der Dinge in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Die Pluralität der Deutungen kann mit Wolfsfeld (1997) vielmehr als Hinweis auf weitgehende Autonomie der privaten Sender bei der Auswahl von Quellen und Darstellungen sowie auf die diesbezüglich eingeschränkte Machtfülle der Regierung bewertet werden. Dass also al-Sharkiya und al-Sumeria mit Vertretern der Sahwa Councils sprechen oder auch Vertreter der Mahdi-Armee zum Gespräch einladen, verweist auf eine in der Tendenz starke Position dieser Parteien im Verhältnis zur Regie-rung sowie auf relative Unabhängigkeit der Redaktionen von staatlicher Steue-rung. Im Scheitern der Regierung an der Lösung innenpolitischer Konflikte und der Absetzung von Nuri a-Maliki im Sommer 2014 findet diese These post hoc Bestätigung. Aus demokratietheoretischer Sicht ist die Autonomie der privaten Medien und die freie Verfügbarkeit verschiedener Quellen als Ausdruck demo-kratischer Vielfalt zu bewerten.

In der Berichterstattung über die Konflikte der Zentralregierung mit der sunnitisch geprägten Aufstandsbewegung stellt sich die Situation anders dar. Hier hat sich das von der Regierung favorisierte Deutungsmuster Kampf gegen den Terroris-mus im Sample der untersuchten Medienangebote senderübergreifend durchge-setzt. Kein Sender lässt Vertreter der Aufstandsbewegung als Quelle sprechen, niemand thematisiert die politischen Hintergründe von Anschlägen und an keiner Stelle werden die Anliegen der Aufständischen je aufgegriffen (vgl. Kap. 8.3.1). Über die Illegitimität von Akteursgruppen aus dem Segment der sunnitisch ge-prägten Protestbewegung herrscht uneingeschränkte Einigkeit in der Gruppe der untersuchten Sender. Mögliche Folgen dieser Gleichschaltung für den Zusam-menhalt der Gesellschaft waren in Kap. 9.3.2 bereits diskutiert worden: die Ver-leugnung sunnitischer Positionen im Kontext einer klientelistischen Machtpolitik der Regierung unter Premierminister Nuri al-Maliki beförderte unter anderem die Radikalisierung sunnitisch-islamistischer Gruppen und den Aufstieg des IS 2013/2014. Zu ergänzen wäre hier die Kritik von Lynch (2002) an journalisti-schen Verarbeitungsroutinen, in denen komplexe Konfliktkonstellationen auf die Frontalkonfrontation zweier in sich homogener Parteien reduziert werden: der Staat gegen Terrorismus, eine Geschichte von zwei Feinden in a tug of war (vgl.

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

414

Kap. 3.3.8). Mit Lynch (2002) wäre von den irakischen Medien eine Unterschei-dung zwischen al-Qaida und den verschiedenen Gruppen der Aufstandsbewegung zu fordern, mithin auch Interesse für Binnenkonflikte im sunnitischen Lager so-wie eine Auseinandersetzung mit den sunnitisch geprägten Protesten gegen die Ausgrenzungspolitik der Regierung al-Maliki als Ausdruck struktureller Gewalt. Die Radikalisierung der sunnitisch geprägten Aufstandsbewegung in den vergan-genen Jahren unterstreicht diese Forderung als eine im Rückblick versäumte Ge-legenheit zum Einbezug einer legitimen Protestbewegung in das Prinzip der öf-fentlichen Repräsentation.

Der private und sunnitisch geprägte Sender al-Sharkiya ist von dieser Kritik teil-weise auszunehmen, weil hier zumindest im Gespräch mit Iyad Allawi am 31.08.2008 sowie im Gespräch mit Ibrahim al-Jafari am selben Tag das Problem der Ausgrenzung nicht-schiitischer Parteien aus politischer Machtausübung und die zunehmende Konzentration von Macht in den Händen des Premierministers mehrfach von den Moderatoren thematisiert werden. Abermals zeigt sich hier die Umkehrung der von Rozumilowicz (2002) postulierten Aufgabenverteilung zwi-schen öffentlich-rechtlichem und privatem Sektor in einem dualen System.407 Im Irak werden Versäumnisse des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bei der Erfül-lung des Integrationsmandats durch integrative Leistungen der privaten Sender abgefedert. Die Kompensation von Demokratiedefiziten in einer von privaten Me-dien dominierten Öffentlichkeit gilt aber aus normativer Sicht als Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Sektors (vgl. Kap. 2.3.4). Eine solche Umkehrung war im vorliegenden Kapitel bereits im Hinblick auf Zuständigkeiten im Bereich der In-formationsversorgung und mit Blick auf den Anspruch der Unparteilichkeit dis-kutiert worden (vgl. Kap. 8.4.4).

In der Analyse der Konfliktberichterstattung war eine in der Gesamtbetrachtung ansonsten ausgewogene Konfliktberichterstattung auf den privaten Sendern al-Sumeria und al-Sharkiya aufgefallen. Bei beiden Sendern waren die Nachrichten, insbesondere zum Konflikt der Zentralregierung mit den Sahwa Councils, vertikal und horizontal auf den breit gefächerten Einbezug von Betroffenen und Akteuren ausgerichtet. Die auf Basis der Literaturanalyse formulierte forschungsleitende

407 Mit Rozumilowicz (2002) war der private Sektor mit Fokus auf Wettbewerb und Kritik eher

dem minimalistischen Lager der Demokratietheorie zuzuordnen, während dem öffentlich-rechtlichen Sektor maximalistische Aufgaben wie Partizipation und Repräsentation von Viel-falt als Aufgaben zugeordnet werden.

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9.5 Medien im Konflikt

415

Annahme 4 von der genuinen Parteilichkeit der irakischen Medien kann also in der vorliegenden Arbeit für die Konfliktberichterstattung auf den privaten Sen-dern aus der Stichprobe so nicht bestätigt werden.408 Vielmehr zeigt sich die Be-richterstattung in diesem Segment der Medienlandschaft als tendenziell konflikt-neutral (vgl. Kap. 8.3.3).

Im Unterschied zur umfassenden und ausgewogenen Konfliktberichterstattung bei den privaten Sendern al-Sharkiya und al-Sumeria finden die zentralen innen-politischen Konflikte auf den öffentlichen und Parteisendern al-Iraqiya, al-Furat und Radio Bilad keine Erwähnung. Die Parteisender berichten also nicht einseitig, sondern überhaupt nicht über Konflikte (vgl. Kap. 8.3.1). Vor dem Hintergrund der Interviews, in denen die Taktik der Auslassung explizit kritisiert wird, ist in diesem Schweigen der Versuch zu sehen, die Existenz von Konflikten und damit auch die Existenz politischer Gegner zu leugnen. Gleichzeitig wird den Bürgern und Zuschauern durch die Nicht-Thematisierung auch kommuniziert, dass politi-sches Engagement in diesem Bereich nicht erwünscht ist, sondern dass die Lösung der Konflikte dem Arkanbereich der Politik vorbehalten bleiben muss.

Es ist anzunehmen, dass die Taktik der Ausblendung im Kontext einer pluralisier-ten Medienlandschaft sich vor allem ungünstig auf die Glaubwürdigkeit der ent-sprechenden Sender auswirkt, da die Existenz von Konflikten und politischen Gegnern den Zuschauern aus anderen als staatlichen Quellen bekannt ist. Auch verweist die explizite Bezugnahme der Interviewpartner auf die Strategie der Aus-blendung auf eine ähnlich ausgeprägte Sensibilität unter den Zuschauern (vgl. Kap. 8.1.2). Die Ausblendung ist also mit Rozumilowicz (2002) als dysfunktio-nales Residuum aus der Zeit autoritärer Herrschaft zu verstehen, dessen Ersetzung durch andere Formen des Umgangs nur eine Frage der Zeit ist (vgl. Kap. 3.3.1). Mit Habermas (1998) kann dazu die These aufgestellt werden, dass die Zuschauer im Kontext neuer Vielfalt neue Kompetenzen entwickeln, die die Effektivität au-toritär-manipulativer Kommunikationsangebote außer Kraft setzen.

408 Forschungsleitende Annahme 4: In der Aufbereitung von Themen für Nachrichten und

Talkformate spiegelt sich weitgehend ungebrochen die Steuerung der Inhalte durch Parteien (Kap. 6.7.2).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

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9.5.2 Konfliktbeteiligung

Im irakischen Diskurs zum Verhältnis von Konfliktentwicklung und Medienöf-fentlichkeit stehen Parteilichkeit und Eskalationseffekte parteilicher Berichter-stattung im Vordergrund (vgl. Kap. 6.6). Ganz pauschal wird irakischen Medien vorgeworfen, Konflikte durch Parteinahme in der Berichterstattung anzuheizen. Al-Marashi (2007) formulierte dazu relativierend die These, dass Teilhabe der Medien an Konflikteskalation bisher nur im Kontext massiver Zuspitzung politi-scher Spannungen beobachtet werden konnte. Exemplarisch wird dabei von ihm und anderen Autoren immer wieder auf die konfliktverschärfende Rolle der Me-dien in Samarra 2006 verwiesen.409 Als zweites Beispiel für Hate-Speech dient in der Literatur der Sender al-Zawra, der bis zu seiner Schließung im Frühjahr 2007 von djihadistischen Bewegungen als Kommunikationsplattform genutzt wurde (vgl. Kap. 6.6). In den von der Autorin durchgeführten Interviews mit irakischen Medienproduzenten werden zusätzlich auch die Medienangebote der Mahdi-Ar-mee, speziell der Radiosender al-Ahed, von einem Gesprächspartner als ‚faschis-tische’ Hetzmedien geächtet (vgl. Kap. 8.3.2).

In der vorliegenden Untersuchung von über 500 Stunden Fernseh- und Radioma-terial wurde keine konkret aufhetzende Kommunikation gegen ethno-konfessio-nelle Gruppen im Sinne der Hate-Speech gefunden. Als in dieser Hinsicht grenz-wertig kann der Auftritt von Asma al-Mussawi in der Talkshow In der Öffentlich-keit am 25.08.2008 bei al-Sumeria diskutiert werden. Per Video aus London ein-geblendet, nutzt die Vertreterin der Sadr-Bewegung die Gelegenheit, um eine Brandrede gegen die amerikanischen Besatzer zu halten.410 Der Vorfall ist aus transformationstheoretischer Sicht aber nicht primär als Manifestation konflikt-schürender Kommunikationsmuster bei al-Sumeria bemerkenswert. Er zeigt viel-mehr, welche Risiken mit dem redaktionellen Anspruch der Inklusion verbunden

409 In Samarra war es infolge des Angriffs auf die schiitische Pilgerstätte im Februar 2006 zu

blutigen Rachefeldzügen gekommen. Den lokalen Radio- und Fernsehstationen wurde später eine Teilschuld an der Zuspitzung der Lage gegeben, obwohl es zu einem tatsächlichen Ge-waltaufruf in den Medien nicht gekommen war.

410 In ausufernden Monologen kritisiert al-Mussawi die amerikanische Politik und die Sicher-heitsstrategie der internationalen Truppen. Ungeachtet der an sie gestellten Fragen bezeichnet sie die Besatzung als Virus, den man bekämpfen muss. Auch die islamischen Parteien werden von ihr als abtrünnige Konstruktionen diskreditiert, die den Islam nur scheinbar vertreten. Der Erfolg der Mahdi-Armee basiert ihrer Meinung nach auf der Einsicht der Iraker in diese Wahr-heiten. Al-Mussawi trägt ihre provokanten Thesen in populistischem Ton vor und lässt sich auf keine der vom Moderator vorgebrachten Fragen ein.

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9.5 Medien im Konflikt

417

sind. Asma al-Mussawi vertritt mit der Sadr-Bewegung eine Akteursgruppe, die zum Zeitpunkt des Gesprächs versucht, den schwierigen Wandel von einer be-waffneten Vetomacht zu einer politischen Partei zu vollziehen. Ihre Teilnahme am Gespräch legitimiert die Bewegung als Teil des politischen Systems und wird damit als Triebfeder dieser Transformation wirksam. Die propagandistische Rede ist aus dieser Perspektive als Transformationsrisiko zu verstehen, das der auf In-tegration orientierte Sender in Kauf nehmen und durch eine entsprechende Kon-textualisierung abfedern muss. Der Integrationsanspruch wird aber trotz solcher Entgleisungen bei al-Sumeria nicht aufgegeben, wie die übrigen Forschungser-gebnisse gezeigt haben.

Ergänzend zur Diskussion um die negative Rolle der Medien in der Konflikteska-lation wird die Segmentierung der Medienlandschaft entlang politisch bereits be-stehender Konfliktlinien als latent konfliktverschärfende Strukturausprägung problematisiert. Al-Rawi (2012), Isakhan (2009) und Price (2010) gehen davon aus, dass die Segmentierung der Medienlandschaft in einem fragilen Staat wie Irak die in der Gesellschaft bestehenden Gräben vertieft und damit der Möglich-keit von Versöhnung und Kohäsion im Wege steht. Auch wenn die Medien sich nicht aktiv an der Konflikteskalation beteiligen und auch wenn die Iraqi Identity als Bezugspunkt für den nationalen Zusammenhalt in der Öffentlichkeit stark ge-macht wird (vgl. Deane 2013), wirken die Medien auf struktureller Ebene tenden-ziell zugunsten von Desintegration und Zersplitterung – so die These (vgl. Kap. 6.4).

Aus der Auswertung der Interviews ergibt sich zunächst eine ambivalente Bewer-tung von parteilicher Vielfalt in der Medienlandschaft: Einerseits wird die neue Repräsentation von kultureller und politischer Vielfalt in der Öffentlichkeit als Durchbruch zu einer integrierten Gesellschaft markiert. Andererseits wird die Par-teilichkeit der Medien mit desintegrativen Effekten assoziiert. Beide Sichtweisen werden in der Gruppe der Befragten etwa gleich stark und teilweise auch von denselben Gesprächspartnern vertreten. Besonders hervorgehoben wird von vie-len Interviewpartnern die negative Rolle der Parteimedien und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in diesem Zusammenhang (vgl. Kap. 8.3.2).

Aus der Inhaltsanalyse der Radioprogramme ergibt sich zunächst eine von den Erwartungen abweichende Variante von Parteilichkeit, denn die untersuchten Sender richten sich nicht an ethno-konfessionell markierte Zielgruppen, sondern

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

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an Zielgruppen, die sich durch unterschiedliche Ordnungsvorstellungen und Wer-tewelten wie Religion, Staat, Tradition und Familie voneinander abgrenzen. Ra-dio Bilad referenziert in den Gesprächen mit Hörern auf Religion als zentrales Ordnungssystem, während Radio Dijla den Staat als Bezugssystem wählt. Radio Bagdad sucht die Auseinandersetzung mit den Regeln in Tradition und Familie, Radio Sumer sieht den Rückzug in die private Welt der Familie als Weg zum Glück. Damit wird die These von der konfliktverschärfenden Segmentierung der Medienlandschaft entlang ethno-konfessioneller Konfliktlinien zumindest für den Radiosektor hinfällig. Sichtbar wird stattdessen die Gleichzeitigkeit unterschied-licher Ordnungssysteme als Ausdruck eines gesellschaftlichen Umbruchs (vgl. Kap. 8.5.4).

Im Fernsehsegment drängt sich zur Frage der Parteilichkeit das polarisierte Ver-hältnis zwischen dem privaten, sunnitisch geprägten Sender al-Sharkiya und dem öffentlichen Sender al-Iraqiya in den Vordergrund. Die beiden Angebote reprä-sentieren das Lager der Regierungskritiker (al-Sharkiya) und das der Regierungs-unterstützer (al-Iraqiya) mit jeweils hohen Reichweiten. Aus demokratietheoreti-scher Sicht ist eine in dieser Form ebenbürtige Repräsentation beider Seiten in der Öffentlichkeit zu begrüßen, zumal keiner der Beiden sich in aufrührerischer Ab-sicht gegen das jeweils andere Lager wendet. Radikalisierte Formen gegenseitiger Kritik in dem von Hafez (2014) postulierten Sinne der Aberkennung von Legiti-mität wurden jedenfalls nicht gefunden.

Entscheidend für die Frage nach den gesellschaftlichen Effekten polarisierter Me-dienkommunikation sind aber weniger die Facetten der Produktion als vielmehr das Nutzungsverhalten unter den Rezipienten. Die Daten zu Reichweiten einzel-ner Angebote geben diesbezüglich Anlass zu der Vermutung, dass die irakischen Mediennutzer sich im Umgang mit Parteilichkeit tendenziell kompetent verhalten (vgl. Kap. 6.5). Sie nutzen unterschiedliche Quellen, und die Datenlage lässt ver-muten, dass viele Fernsehnutzer sowohl al-Iraqiya als auch al-Sharkiya regelmä-ßig einschalten. Studien zum Rezeptionsverhalten irakischer Mediennutzer liegen allerdings bisher nicht vor. Weiterführende Forschungsvorhaben zur Medienkom-petenz unter irakischen Zuschauern wären mit Blick auf die Bedeutsamkeit dieser Frage für das Verhältnis von Medien- und Konfliktentwicklung unbedingt anzu-regen.

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9.5 Medien im Konflikt

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Zur forschungsleitenden Annahme 9411 kann resümiert werden, das eine drasti-sche Vertiefung ethno-konfessioneller Gräben vor dem Hintergrund der hier skiz-zierten Beobachtungen als Medienwirkung eher nicht zu erwarten ist. Konflikt-vertiefend erscheint vielmehr die bereits umfassend problematisierte Ausgren-zung sunnitischer Akteure und Positionen aus den Medien, in der sich eine klien-telistische Politik der Regierung unter Premierminister Nuri al-Maliki in die Öf-fentlichkeit hinein erweitert. Ein Blick auf das Personaltableau aller Talkshows gibt eine Dominanz schiitischer Gäste zu erkennen sowie einen konsequenten Ausschluss von Kurden. Nur drei der insgesamt 23 Gäste sind Sunniten, keiner ist Kurde. Weitere Varianten der Ausblendung sunnitischer Positionen waren in den vorhergehenden Kapiteln bereits erörtert worden. Aus dieser Perspektive muss die These vom politischen Parallelismus als Treiber ethno-konfessioneller Konflikte korrigiert und als Problem der Ausgrenzung neu formuliert werden. Nicht die Reproduktion ethno-konfessioneller Konfliktlinien in der Medienland-schaft erscheint als Quelle der Desintegration, sondern die Reproduktion einer von der Regierung betriebenen Ausgrenzung sunnitischer und kurdischer Akteure in der Öffentlichkeit.

9.5.3 Der Streit als Mittel der Versöhnung

Das Prinzip der Repräsentation von (ethno-konfessionellen) Minderheiten in der Öffentlichkeit hat für die in der vorliegenden Arbeit befragten Medienproduzen-ten eine Schlüsselfunktion als Mechanismus gesellschaftlicher Integration. Die Öffentlichkeit wird als Spiegel der Gesellschaft gesehen und die Repräsentation darin als Anerkennung der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft (vgl. Kap. 8.3.2). Der demokratische Streit um politische Positionen als Fernsehformat wie von Price (2010) als Maßnahme der Krisenprävention vorgeschlagen, die verbale Auseinandersetzung als Alternative zur Gewalt wie von Mouffe (2007) empfoh-len, der für Habermas (1996) zentrale Austausch von Argumenten – all dies hat aus Sicht der Interviewpartner keine Bedeutung im Versöhnungsprozess. Zur Überwindung der irakischen Konflikte muss in den Augen der irakischen Inter-viewpartner der Weg der Repräsentation beschritten werden.

Die Geringschätzung des Streits um politische Positionen findet Bestätigung in der Analyse der Talkformate in TV und Radio. Im Fernsehen sind nur drei der 15

411 Forschungsleitende Annahme 9: Die Berichterstattung lokaler Medien über Konflikte im Irak hat konfliktschürenden Charakter (Kap. 6.7.4).

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

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untersuchten Talksendungen überhaupt als Debatte mit mehr als einem Ge-sprächsgast angelegt und im Radio werden Talkformate fast ausnahmslos als Call-in-Sendung mit offener Leitung für die Hörer realisiert. Die forschungsleitende Annahme 5412 kann hier mit Einschränkungen erhärtet und verfeinert werden: Eine kontroverse Debatte zwischen politischen Gegnern findet sich in Ansätzen nur als randständige Form bei al-Sumeria.

Für Mouffe (2007) hat der öffentliche Streit den Stellenwert einer Alternative zur bewaffneten Auseinandersetzung.413 Je mehr Möglichkeiten für die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Gegner geschaffen werden, desto geringer ist die Notwendigkeit, den Streit mit Waffen zu führen – so ihre These. Auch Price (2010) hatte angeregt, einen öffentlichen Dialog zwischen insurgents and gover-nement in den Medien zu wagen und hier mehr Verantwortung im Versöhnungs-prozess zu übernehmen (vgl. ebd.: 222). Stattdessen wird der politische Streit im irakischen Mediensektor weiträumig gemieden und damit das hier gegebene Ver-söhnungspotenzial nicht genutzt.

Als Ausnahme ist in diesem Zusammenhang der privat-kommerzielle Sender al-Sumeria zu nennen, der als einziges Medienangebot der Stichprobe innenpoliti-sche Konflikte in kontrovers angelegten Gesprächen zur Debatte stellt. Die be-waffnete Auseinandersetzung in Kanaqin/Diyala sowie die umstrittene Neuaus-richtung der Mahdi-Armee stehen thematisch im Mittelpunkt von zwei der drei Talkshows. Die Analyse zeigt aber, wie schwierig sich die Ausrichtung und Mo-deration eines Streitgesprächs unter Transformationsbedingungen gestaltet. Die Vertreterin der Sadr Bewegung nutzt die Gelegenheit, um propagandistische Re-den zu schwingen, während der ihr zugedachte Gegenspieler seine Rolle nicht annimmt, sondern vielmehr Gemeinsamkeiten seiner Partei mit der Sadr-Bewe-gung betont. Die Kontroverse um Kanaqin/Diyala entbrennt nur halbherzig, weil die Studiogäste diplomatisch agieren und darüber hinaus die gegnerischen Lager nicht wirklich, sondern nur scheinbar repräsentieren.414 Der Moderatorin fehlt es

412 Forschungsleitende Annahme 5: Der argumentativ geführte Streit um Positionen zwischen Vertretern gegnerischer Lager findet im irakischen Rundfunk nicht statt (Kap. 6.7.3).

413 „Die Entstehung antagonistischer Konflikte ist so lange unwahrscheinlich, wie für widerstrei-tende Stimmen legitime agonistische Artikulationsmöglichkeiten existieren.“ (Mouffe 2007: 30).

414 Über die Situation in Kanaqin spricht Salim Abdallah als Mitglied des Länderparlaments in Diyala (sunnitische Tawafuq Front) mit dem Leiter der Sicherheitsoperationen in Diyala Ab-dulkarim Khalif (Irak kontrovers am 26.08./50 min). Zur Lage der Mahdi-Armee (In der Öf-fentlichkeit am 25.08./97 min) sprechen Asma al-Mussawi als Vertreterin der Sadr-Bewegung

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9.6 Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

421

an Erfahrung oder Mut, die Gespräche offensiv in Richtung eines politischen Streits zu steuern und damit auch für die provokanten Einlassungen von al-Mussawi einen diskursiven Rahmen zu schaffen (vgl. Kap. 8.3.3). Die Spezifik der Transformation stellt hier Anforderungen an einen TV-Sender, der mit den dort gegebenen Ressourcen (noch) nicht bewältigt werden kann. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der einzige kommerzielle Sender der Stichprobe ein Publikum imaginiert und anspricht, das dem politischen Streit Wertschätzung entgegen-bringt. Damit wird die Frage aufgeworfen, in welche Richtung der demokratische Prozess von den hier greifbaren Ansätzen einer kapitalistischen Ökonomie be-wegt wird.

9.6 Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

Das IMN war im Jahr 2004 von der damaligen Übergangsregierung CPA als Netz-werk öffentlich-rechtlicher Sender gegründet worden. Die Unabhängigkeit des IMN konnte aber nicht konsolidiert werden; die Sendergruppe stand bald in dem Ruf, im Dienste der Regierung zu operieren (vgl. Kap. 6.4.1). In den Gesprächen mit den irakischen Medienproduzenten ist al-Iraqiya heftig kritisiert worden (vgl. Kap. 8.1.2). Gegenstand der Kritik waren Ausblendung von unliebsamen Themen und Verengung der Aufmerksamkeit auf politische Führungseliten. In der Unter-suchung der Programminhalte wurden parteiliche, einseitige und manipulative Formen der Kommunikation vor allem in den Nachrichten identifiziert, in denen beispielsweise über innenpolitische Konflikte, Anschläge und Aktivitäten politi-scher Gegner kaum berichtet wird. Es würden vornehmlich positive Themen für die Nachrichten ausgesucht, über die einseitig positiv berichtet würde, und es würden Themenstrecken zu politischen Kampagnen ausgebaut.

Vor dem Hintergrund der bereits gärenden Konflikte in der Gesellschaft und auch mit Blick auf die Segmentierung der Medienlandschaft entlang parteilicher De-markationslinien war der Integrationsaspekt in der Mandatierung des IMN durch CPA-Order 66 in der Phase der Gründung ausdrücklich betont worden. Die För-derung kultureller Vielfalt wurde ebenso als gesellschaftlicher Auftrag definiert wie Inklusion und Repräsentation von Minderheiten (vgl. Kap. 6.4.1). Zu einem

und Falih Faisal al-Fayyad als Mitglied der Nationalen Reformbewegung. Der tatsächliche Konflikt spielt sich aber im ersten Fall zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Autonomieregierung ab, die beide im Gespräch nicht vertreten sind.

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

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frühen Zeitpunkt war hier die Notwendigkeit einer gemeinnützigen Institution er-kannt worden, die dem Prozess der gesellschaftlichen Zersplitterung ein integra-tives Konzept entgegenstellt. Diese Gelegenheit, sich gegen die Fragmentierung Iraks als Instanz der Inklusion zu profilieren, hat das IMN ungenutzt verstreichen lassen und dabei die eigene Glaubwürdigkeit verspielt sowie auch die Marginali-sierung bereits marginalisierter Gruppen vorangetrieben – mit schwerwiegenden Folgen, wie der beginnende Staatszerfall im Jahr 2014 offenbart.

Positiv hervorzuheben sind die große Zahl an politischen Interviews und Talkfor-maten bei al-Iraqiya sowie insgesamt ein sehr hoher Informationsanteil von über 70% im Programm (vgl. Kap. 8.4.1). In den Gesprächen mit Regierungsvertretern wird der Zuschauer recht umfassend über Arbeit und Ziele der Regierung infor-miert. Anders als unter autoritären Verhältnissen ist hier auch eine Bereitschaft erkennbar, sich den Ansprüchen der Bürger auf Rechtfertigung zu stellen. Auch wenn dies nur in Ansätzen gelingt, zeigt al-Iraqiya Stärken im Bereich der Publi-zität.

Im Verhältnis zum privaten Sektor ist eine Aufgabenteilung beobachtet worden, die sich gegenläufig zu dem von Rozumilowicz (2002) postulierten Verhältnis zwischen einem öffentlich-rechtlichen und einem privaten Sektor verhält. Ro-zumilowicz (2002) sieht in einem dualen System Wettbewerbsorientierung und Parteilichkeit als primäre Prägung im Sektor der privaten Anbieter, die aufgrund ihrer kommerziellen Ziele den demokratischen Anspruch der Bürger auf Reprä-sentation und Information nur eingeschränkt erfüllen. Die Aufgabe des öffentli-chen Mediensektors besteht unter anderem darin, das strukturelle Ungenügen des privaten Sektors durch Orientierung auf Partizipation und Vielfalt auszugleichen, um sicherzustellen, dass elementare Kommunikationsleistungen für die Demo-kratie erbracht werden (vgl. Kap. 3.3.1). Im Irak ist diese Arbeitsteilung zumin-dest im TV-Sektor invertiert: Die Parteilichkeit und andere Fehlleistungen der öf-fentlichen Sender und der Parteimedien werden im privat-kommerziellen Sektor kompensiert, der demokratische Basisfunktionen erfüllt, während im öffentlichen Sektor klientelistische Anliegen verfolgt werden.415 Exemplarisch für diese Form der Kompensation kann die Berichterstattung über innenpolitische Konflikte her-

415 Für das Radiosegment ist die These von der funktionalen Umkehrung wegen der gering aus-

geprägten Instrumentalisierung und scheinbar größeren Unabhängigkeit nicht zutreffend (vgl. Kap. 8.5.4).

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9.7 Offene Fragen und vorläufige Antworten: ein Ausblick

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angezogen werden. In der vorliegenden Stichprobe der TV-Sender wurde im öf-fentlichen Fernsehen über innenpolitische Konflikte nicht berichtet, während die beiden privaten Sender al-Sharkiya und al-Sumeria ausgeglichen und umfassend zum Thema berichten. Auch der Integrationsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird im Irak von den privaten Sendern eher erfüllt als vom öffentlich-rechtlichen IMN (vgl. Kap. 8.3.3).

9.7 Offene Fragen und vorläufige Antworten: ein Ausblick

Es soll am Ende dieser Arbeit nicht versäumt werden, auf die Entwicklungschan-cen zu verweisen, die aus der Zerschlagung des IS im Sommer 2017 jetzt hervor-gehen. Unter Führung von Regierungschef al-Abadi ist es einer Allianz bewaff-neter Milizen im Schulterschluss mit dem staatlichen Militär und mit Unterstüt-zung durch Drittländer wie USA und Deutschland gelungen, im Juli 2017 den IS in seiner letzten Hochburg Mosul niederzuringen und die ehemalige Hauptstadt des Kalifats wieder in die staatliche Ordnung einzugliedern. Im Nachgang der Befreiung stehen die Bewohner Mosuls heute unter Generalverdacht, sich vom IS nicht genügend distanziert und seinerzeit auch die Machtübernahme in Mosul durch ausbleibenden Widerstand ermöglicht zu haben. Vergeltungsaktionen, Sip-penhaft und Verfolgung verdächtigter Familien sind in Mosul an der Tagesord-nung, die Identität und die gesellschaftliche Stellung der Sunniten im Irak werden in diesem Kontext erneut mit verhandelt.

Einige der in der vorliegenden Forschungsarbeit für den Mediensektor identifi-zierten Schieflagen werden die gesellschaftliche und politische Bewältigung der aktuellen Herausforderungen erschweren. Dazu gehören die Marginalisierung sunnitischer Positionen in der Öffentlichkeit, mangelnder Einschluss zivilgesell-schaftlicher Akteure in die Medienaufmerksamkeit sowie eine schwach ausge-prägte Debattenkultur. Die grundsätzlich pluralistische Offenheit des Mediensek-tors, die Beständigkeit der pluralistischen Strukturen und die Bürgernähe der vie-len neuen Radiosender in der Provinz Niniveh eröffnen gleichzeitig Opportunitä-ten für einen partizipativen Prozess, in dem auch Fragen von Schuld und Vergel-tung, Identität und Differenz offen und womöglich konstruktiv debattiert werden können. Die Wechselwirkungsbeziehungen zwischen Medien und politischer Entwicklung werden aber maßgeblich vom Rezeptionsverhalten der Iraker abhän-gig sein, über das bisher nur spekuliert werden kann.

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

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Fehlende Forschung zur Mediennutzung im Irak, zur Medienkompetenz und zur Glaubwürdigkeit der irakischen Rundfunkmedien ist in der demokratietheoreti-schen Einordnung von Ergebnissen aus der Inhaltsanalyse mehrfach als Problem für alle das Medien-Politik-Verhältnis betreffenden Einschätzungen benannt wor-den (vgl. Kap. 6.5, Kap. 8.1.3 und Kap. 9.5.2). Die Auswirkung manipulativer und parteilicher Berichterstattung auf politische Konflikte und gesellschaftliche Kohäsion erscheint ohne eine entsprechende Wissensgrundlage als kaum beurtei-lungsfähig. Ausgehend von diesem Forschungsbedarf hat die Autorin im Jahr 2016 eine Studie zu Medienkompetenz, Medienbewertung und zum Nutzerver-halten im Irak durchgeführt. In den Monaten Oktober und November 2016 wur-den 2.982 Mediennutzer in zehn irakischen Städten in allen Teilen des Landes zu verschiedenen Aspekten ihrer Mediennutzung befragt (Fiedler und Wollenberg 2017). Als theoretischer Ausgangspunkt wurde die Theorie der Selective Expo-sure gewählt, der zufolge Mediennutzer grundsätzlich dazu neigen, Informations-angebote zu bevorzugen, die individuell bestehende Ansichten bestärken und In-formationsangebote zu meiden, die den eigenen Ansichten zuwiderlaufen (vgl. McGuire 1968; Festinger 1964). Im Kontext fragmentierter Mediensysteme und zunehmend selektiver Berichterstattung führt Selective Exposure zur Verinselung und Abschottung von Lebenswelten – so die These (vgl. Sunstein 2002; vgl. auch Kap. 3.3.2). Für den Irak wird entsprechend vermutet: Sunniten schauen sunni-tisch geprägte Sender und Schiiten schauen schiitisch geprägte Sender, während Kurden kurdische Sender bevorzugen (vgl. Kap. 6.6).

Die Ergebnisse der 2016 durchgeführten Studie machen aber deutlich, das Medi-ennutzer polarisiert-pluralistische Strukturen, mithin parteiliche Medienangebote, kritisch bewerten und ihre eigene Quellenwahl durch Nutzung unterschiedlicher Kanäle und Überprüfung von Medieninhalten vor allem im Gespräch mit Freun-den und Verwandten den sich wandelnden Medienstrukturen anpassen. In Kapitel 6.5 war bereits erwähnt worden, dass der sunnitisch geprägte Sender al-Sharkiya hohe Reichweiten im schiitisch geprägten Süden des Landes erzielt. Die Studie zeigt zudem, das die irakischen Mediennutzer bewusst Quellen kombinieren, um die Defizite einer polarisiert-pluralistischen Struktur auszugleichen: 75% der Be-fragten geben an, regelmäßig zwei oder mehr Quellen zu nutzen, um sich über innenpolitische Entwicklungen zu informieren (vgl. Fiedler und Wollenberg 2017: 18). 60% vergleichen regelmäßig Medienangebote aus unterschiedlichen politischen Lagern (vgl. ebd.). 87% sind sich bewusst darüber, dass parteiliche Sender aus politischen Gründen über bestimmte Ereignisse nicht berichten (vgl.

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9.7 Offene Fragen und vorläufige Antworten: ein Ausblick

425

ebd.: 19). Fast 60% der Befragten geben an, regelmäßig Medieninhalte kritisch mit Freunden und Verwandten zu diskutieren (vgl. ebd.: 18).

Die Selective-Exposure-These wäre vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen für den Kontext polarisiert-pluralistischer Medienstrukturen in post-autoritären Transformationsumgebungen ggf. infrage zu stellen. Es sollte in weitergehenden, komparativ angelegten Studien, untersucht werden, ob die Entstehung der ge-nannten Medienstrukturen ein reflektiert-kritisches Publikum gleichsam mit her-vorbringen. Das wäre durchaus folgenreich für die Einschätzung von Medienwir-kungen. Das letzte Kapitel einer Studie ist kaum der richtige Ort, um neue The-menfelder zu erschließen, aber es soll zumindest abschließend und mit aller Be-sonnenheit die Annahme bestärkt werden, dass manipulative Medienangebote so-wie parteiliche und auch eskalative Kommunikationsangebote im Irak auf ein mehrheitlich kritisches Publikum treffen, das sich sehr skeptisch mit Medienin-halten auseinandersetzt und zunehmend auch auf persönliche Netzwerke zurück-greift, um diese Inhalte zu hinterfragen. Davon profitieren in einem fragilen Staat wie Irak sowohl die Qualität der politischen Partizipation als auch der ethno-kon-fessionelle Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Mit zeitlich zunehmendem Abstand zum Regimesturz im Jahr 2003 wird auch deutlich, dass Parteilichkeit, Polarisierung und politischer Paralellismus als typi-sche Merkmale hybrider Medienstrukturen im Irak keinesfalls als vorüberge-hende Übergangsdefizite missverstanden werden dürfen. Vielmehr scheint die Medienentwicklung in den letzten zehn Jahren die von Voltmer (2012) vorge-brachte These von der wahrscheinlichen Konsolidierung hybrider Strukturen mit all ihren Adjektiven und Widersprüchen zu bestärken (vgl. ebd.: 244). Voltmer (2012) vergleicht die Entwicklung von Mediensystemstrukturen in verschiedenen neuen Demokratien und zeigt, dass Hybridität in den meisten Fällen auch in der Konsolidierungsphase der Transformation erhalten bleibt und sich eben nicht auf-löst in entweder eine Renaissance autoritärer Regierungsformen oder in die Über-windung von Demokratiedefekten. „Instead hybrid systems show a surprising level of persistence, and in many cases the peculiar mix of democratic and auto-cratic practices has to be regarded as an equilibrium rather than a transitory state of affairs.“ (Ebd. 244) Auch die irakische Medienlandschaft wird wohl auf lange Sicht einen parteilich-pluralistischen Charakter beibehalten und die Gleichzeitig-keit autoritär geprägter und demokratischer Verhaltensmuster eher noch vertiefen.

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9 Abschließende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

426

Darauf verweist zumindest die Vielzahl neuer Sender, die von Parteien oder an-deren Interessensgruppen in den vergangenen Jahren gegründet, betrieben oder finanziert wurden und weiterhin werden.416

Ausgehend von der Konsolidierungsvermutung plädiert Voltmer (2012) für eine lokal verankerte Weiterentwicklung von Begriffen und Werten im Bereich jour-nalistischer Ethik und für eine kontextsensitive Dekonstruktion normativer The-orien (vgl. ebd.: 233f). In der komparativen Mediensystemforschung – so ihre Kritik – werden westlich geprägte Modelle und Werte als universell (miss)ver-standen und zum Einsatz gebracht, während die politischen Umstände vor Ort den zugrundeliegenden Prämissen dieser Modelle gar nicht entsprechen. Die Ergeb-nisse der vorliegenden Studie sollen auch in diese Richtung verstanden werden: als Beitrag für eine Theorie von Öffentlichkeit im Kontext hybrider und fragiler Staatlichkeit und als Ausgangspunkt für weitere Forschungsarbeiten in diesem Bereich.

416 Zum Beispiel al-Ahed (Qais al-Khazali, Anführer der League of the Righteous /Untergruppe

der Hashd as Shaabi), Al-Etijah (Irakische Hezbollah Partei), al-Ayam (Supreme Iraqi Islamic Council SIIC), al-Rased (Haider al-Abadi, Dawa Partei), Sama al-Mosul (Atheel al-Nujaifi), al-Ghadeer (Badr-Bewegung). Die Beispiele machen auch deutlich, dass die aktuelle Grün-dungswelle von schiitisch geprägten Gruppierungen dominiert wird.

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Annex 1: Interviewpartner (Namen der Personen und Sender anonymisiert)

Name Kürzel Position Sender

Omar al-Juburi OJB Leiter Public Relations Religiös geprägter Radiosender einer sunnitischen Partei

Serd Nuri SN Geschäftsführer Fernsehsender einer kurdischen Partei

Abbass Qassim AQ Produzent und Moderator US-finanzierter TV-Sender

Zain al-Abdeen Badr ZAB Chefredakteur Nachrichten TV-Sender einer schiitisch geprägten konservati-ven Partei

Haider Hammad HH Gründer, Inhaber, Direktor Privater Radiosender

Ibrahim Rasheed IR Redakteur Privater Radiosender

Nour Salman NOS Redakteurin Privater Radiosender

Pierre Bassil PB Direktor Privater Fernsehsender

Ihsan Turkey TM Direktor Radio/TV Radio und TV-Sender einer turkmenischen Grup-pierung

Mahmud al-Ajili MAA Programmdirektor Radiosender einer liberal republikanischen Partei

Zeinab Khayat ZK Projektleiterin für den Aufbau des Senders

Unabhängiger Radio/TV-Sender, gegründet und fi-nanziert durch internationale NGO

Hassan al-Maliki HM Gründer, Inhaber, Direktor Privater Fernsehsender

Issam Jabr IJ Programmdirektor Öffentlich-rechtlicher Radiosender

Anmar Fadil AF Direktor Öffentlich-rechtlicher Fernseh- und Radiosender (Regionalsender)

Khulud al-Hashimi KH Radiojournalistin Öffentlich-rechtlicher Radiosender

Ahmed Saloum AS Regionalleiter TV Öffentlich-rechtlicher Fernsehsender

Iyad al-Tamimi ET Experte Direktor einer Nachrichtenagentur

Tarik Khalil TK Experte Verleger

Bassem Shakr BAS Experte Professor an der Faculty of Mass Communication der Universität Bagdad

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Annex 2: Kategorien für die Zuweisung der Sprecher zu Akteursgruppen

Akteursgruppe Akteursgruppe repräsentiert:

Regierung und Präsi-

dent

Sprecher, Berater, Vertreter und Mitglieder der Regierung, Präsident, Vize-Präsi-dent, (Vize-)Minister und Minister-Berater, Staatssekretäre

Politische Eliten Parteivorsitzende, Botschafter, Präsident des Parlaments

Politischer Mittelbau Parlamentarier/Parteimitglieder, Mitglieder und Vorsitzende von parlamentarischen Ausschüssen

Experten und Analys-

ten

Akademiker, Mitarbeiter in Behörden und Staatsbetrieben, Think Tank-Vertreter, Fachpersonal aus Wirtschaft und Technik

Kommunalpolitik Gouverneure, Provinzräte

Kultur- und Medien-

schaffende

Schriftsteller, Journalisten, Künstler, Filmemacher

Militär und Polizei Polizisten, Soldaten, Generäle, Kommissare

Bürgernahe Gruppen Organisationen der Zivilgesellschaft, Stammesvertreter, Demonstranten/Demonstra-tionen, Bürgermeister und Vize-Bürgermeister

Bürger Passanten, Zuschauer, Flüchtlinge, Verkäufer, Anwohner

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Annex 3: The Professional Code of Conduct for the Iraqi Media

Signed by 38 representatives of Iraqi Media Outlets and Released March 2008

Introduction:

We, a group of Iraqi journalists, representing a number of Iraqi audio and visual media organi-sations, believe in the role of Iraqi media organisations in helping rebuild Iraq. We also believe in the media’s influence in establishing peace and stability within Iraqi society, and serving it through adherence to responsible and professional journalism that guarantees the right to access information, exchange it, and disseminate it to the public. We believe in journalism based on freedom of expression as stated in article 19 of the International Declaration for Human Rights, and article 19 of the International Commitment to Civil and Political rights, as well as interna-tional journalistic standards, while taking into consideration Iraqi particularities.

We are agreed upon the professional values and practices and the need to lay them down as a foundation for a self-regulatory, professional code that presumes moral commitment by the media organisations and journalists who sign up to it.

The code takes into consideration the diversity of Iraqi media organisations and acknowledges the value of the existence of a joint group of principles and values to regulate and organise the Iraqi media. While the code is mainly concerned with news bulletins and programmes, it urges that it be taken into consideration in other programming. The code is constantly evolving, and will require regular reviewing and updating by journalists, to take into consideration the changing circumstances in Iraq that may affect the relationship between journalists and the society they work within.

Professional Values: According to this code, we bear the responsibility to work with professionalism at all times by committing to the following principles:

Objectivity:

1. We will adhere to balance and objectivity as an editorial value of news, regardless of the media organisations level of independence, sources of finance, or political or religious sides they are affiliated with or are supported by.

2. We endeavour to give all differing points of view on any matter the right of expression in a professional, fair, and balanced manner, and to respect all differences of opinion and not take one side against another.

3. We will not hold preconceived ideas when preparing news items and will stand at the same distance from the event and not distort, change, embellish, misuse or partially represent information.

4. We will present available facts as they are, allowing the public to form its own opinion. We will not attempt to guide their thought process or decision making by imposing our own opinions on news bulletins.

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5. We will adopt neutrality with the exception of natural catastrophes and humanitarian is-sues of common interest that require a positive stand, while ensuring full coverage of the information.

6. We will deal with politicians, officials, and the public fairly, and will not edit speeches and interviews in a way that distorts, changes the script, pictures, or sound in any way. We will also not use clips and parts of scripts out of context or in manner that changes the original meaning.

Accuracy:

7. Accuracy is the core of professional and responsible media and as such we will not take for granted the accuracy of the information we receive from official or other sources, before ensuring their accuracy as much as possible. We will endeavour to use more than one source of news, especially in the case of complicated, sensitive, or controversial issues. We will refer clearly to the source of information.

8. Accuracy is not restricted to giving correct information. Eliminating, distorting or pre-senting incomplete facts is also inaccurate.

9. We will refer information we did not come by directly to its original source. We will also identity official spokespersons if it is their job to provide information to the press.

10. We will not use press releases or written statements that do not bear the name of the issuing authority or press official. We will endeavour to record statements by audio and vision where possible, with the prior agreement of the party involved.

11. We will not reveal our sources only if revealing it were to endanger their lives or lose us an important source of information. We will endeavour to cross check information from secret sources with other sources.

12. Exclusivity will not be at the cost of accuracy. Exclusivity and accuracy together are ideal and required but accuracy comes before exclusivity.

13. We will be cautious of spreading rumours and unsubstantiated information as facts. We will not broadcast malicious and harmful accusations deliberately. However, that will not stop us from criticising individuals and officials in a professional and responsible manner.

14. We will put facts and information in their right context in order that the audience is fully aware of the relevance of events. We will give the full picture of events by closely and constantly following current issues and developments in Iraq.

15. We will implement all necessary procedures to ensure accuracy, even when faced with tight deadlines. We will also attempt to confirm the accuracy of electronic websites before using them as news sources.

16. We will endeavour to establish clear internal editorial guidelines with regards to used expressions and terms. We will ensure that our terminology is clear and avoids the use of inciting language or pre judgements.

Correcting Mistakes and Right of Reply:

17. We pledge to correct news that conveys wrong information to the public, in order to lessen the damage and protect that reputation of the media organisation we

Annex 3: The Professional Code of Conduct for the Iraqi Media 442

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work for. Fast correction increases the chances of viewers being made aware of the first inaccurate report

18. Correction will take the form of a news item or updated report including the correct information. Bigger mistakes require an apology and, in some cases, granting the right of reply to injured parties.

19. We will grant the right of reply to individuals who are criticised or are harmed as a part of correcting errors.

20. We will endeavour to establish the concept that correcting mistakes is a sign of strength, not weakness. Correcting and apologising for mistakes prove that the organisation has high editorial, moral, and professional standards.

21. We will apologise quickly and on air immediately if the mistake is big and requires it.

Integrity- Journalists:

22. Professional journalism requires a high standard of personal integrity as a journalist is in a position of trust and has the ability to influence public opinion.

23. We will not allow our personal relationships or financial or trade interests, or those of our families or close friends, to influence our journalistic or editorial decisions or the reputation and credibility of the organisations we wok for.

24. We will not accept bribes, incentives, presents, or material benefits to either cover a story or refrain from broadcasting one.

25. We will use only correct and moral methods to access information, documents, and audio and visual recordings.

26. We will protect the identity of sources only if asked to. We will not reveal trusted secret sources if it endangers their lives.

27. As taking officials and public service employees to task is part of our job, we realise the importance of our own behaviour being above legal recriminations.

28. We will be loyal to our profession and the organisation we work for, unless it affects our work and professionalism.

Integrity-Media Organisation:

29. Media organisations have to be transparent and clear about their sources of funding and support and their editorial objectives. The public has the right to know all relevant information about media organisations.

30. Media organisations are obliged to care for, protect, and support their employees from threats and harm.

31. Media organisations must set out a group of clear internal guidelines that identify rights and duties of journalists within their organisations.

32. Media organisations must adopt freedom of expression and the right of access to infor-mation and should be prepared to implement and advertise them itself.

33. Media organisations have a duty to provide the public with information about itself and means of contact in order that the public can send opinions, make complaints, and re-quest information.

34. Media organisations must provide their employees with legal work contracts and pro-tect them from discrimination, marginalisation, and unfair treatment. They must also reward good performance and efficiency.

Annex 3: The Professional Code of Conduct for the Iraqi Media 443

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35. Media organisations should put into place full health and safety procedures, and pro-vide protective equipment and first aid at the place of work.

36. Media organisations should introduce support mechanisms for employees and journal-ists who are injured during work, as well as mechanisms to support families of those killed while on duty.

37. Media organisations should provide fair and equal training opportunities to improve journalistic skills and raise the standard of journalistic work

38. Media organisations should show solidarity with their journalists, and those who work for other organisations, if accused or indicted for actions resulting from their work until verified. The accuracy of official information accusing or indicting journalists for ac-tions outside of the profession must also be ascertained.

The Media and Society

Covering political and governmental issues:

39. The media is one of the main means of communication between politicians and the public. Therefore we pledge to maintain professional independence during coverage of government and party activities. We pledge also not to either defend or oppose certain policies or give in to pressures to cover political campaigns or initiatives.

40. Editorial decisions belong to journalists and editors only, and are beyond political in-fluence or pressures, whilst taking into consideration the interest of the public and the editorial policy of the media organisation we work for.

41. We will support the general objectives of national interest and refuse any pressures to follow certain editorial policies in this regard.

42. Coverage of political issues will not be restricted to the activities of politicians and government officials only, but also to activities and initiatives by civil society organisa-tions and other bodies that work for the benefit of Iraq in various ways.

43. We pledge to defend any colleague who is accused of disloyalty or treason while doing their job in providing responsible and fair journalism.

44. We will make politicians aware of the professional role of free journalism as a fourth state.

45. We will not be politically active or accept a political post while working as journalists. We will not put political considerations above professional ones.

Covering Acts of Violence, Disturbances, and National Security Issues

46. A journalist should not cover up news of acts of violence and disturbances on the pre-text of protecting society. We pledge to cover events of this nature with care and sen-sitivity in a way that does not escalate the situation or encourage or incite violence.

47. We will balance between the right of the public to know and national security consid-erations while ensuring that security restrictions are not used as an excuse to prevent us the right to cover events.

48. We will be careful and accurate when covering civil disturbances and acts of violence, in the knowledge that inaccurate, biased, or emotionally inciting coverage may escalate the situation. We will also not jump to conclusions or rush into making judgements.

Annex 3: The Professional Code of Conduct for the Iraqi Media 444

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49. We will ensure that the language and terminology used in covering such news is fair and carefully worded, and that descriptive coverage is not too emotional and conveys the information in a clear, accurate, and balanced manner.

50. We will take care when using images of death, injuries, and human suffering. We will balance between the need for accurate and clear coverage and sensitivity towards hu-man dignity, by not using lingering and close-up shots of death and injury or frightening and disturbing images.

51. We will adhere to the freedom of expression regulations internationally agreed upon and will not incite violence or terrorism or religious or ethnic hatred. The organisation is responsible for any and all that is published or broadcast that may be considered incitement.

52. We will not express an opinion or pass judgement on cases before the courts prior to sentencing. We will restrict coverage to informing the public as to the legal proceedings from legal sources.

Respecting Society’s Diversities and Values

53. We pledge to respect the national, religious, and political diversities of society and not to discriminate against any individual or group. We will refrain from describing or grouping individuals and factions in unacceptable terms and will respect the moral, religious, and cultural values and beliefs of all parts of society.

Respecting Privacy

54. All members of society, even those working in the public domain, have the right to enjoy a private life and for it to be protected. A journalist must respect this right.

55. We will work to balance the need to gain information and the right of individuals to privacy unless it concerns issues of corruption, illegal practices, or neglect and non efficiency in fulfilling a public duty.

56. We will check any facts and evidence where there is a reason to use the right to know to pry into an individual’s private life. We will not level or use unsubstantiated accu-sation or rumours.

57. We will inform the other party of any accusations levelled against them and grant them the right to reply prior to publishing or broadcasting.

58. We acknowledge that the public have more right to a private life than public figures in political or governmental positions. For the latter, there is no need to pry into or broad-cast details of their private lives as long as they are legal and do not affect society and their duties.

59. We will respect the privacy of the public in their homes and on their properties and in public places. We have no right to enter private homes unless in accordance with the law and with a legal warrant.

60. We realise that while some people may feel the need to talk to the media after a trau-matic event, others may not. Therefore, we will not impose ourselves on individuals in certain circumstances unless we have their explicit and written approval.

61. We will be careful and sensitive when dealing with children in circumstances that show their vulnerability or emotional immaturity. Parents may not wish for their children to be subjected to media coverage therefore it is necessary to obtain their permission or a court order before talking to the children.

Annex 3: The Professional Code of Conduct for the Iraqi Media 445

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Conclusion:

The code presumes a moral and professional adherence by journalists and media organisations to its articles. It will work on finding non obligatory mechanisms to implement it for the general good of media in Iraq. The dissemination of the code on a wide scale will help develop the awareness and performance of Iraqi journalists. It will also create more of an awareness and understanding by decision makers and the public with regards to the role of the media in society’s public and political life. Membership of the code is open to all journalists and media organisations willing to adhere to and implement it. Signing up to it will ensure that media organisations contribute in developing an important and active sector that relies on strong, professional values and principles.

END

Annex 3: The Professional Code of Conduct for the Iraqi Media 446