Mehr sehen im Kiefergelenk - bzb-online.de · Gerade die kol-lagenen unteren Bänder der...

6
Mehr sehen im Kiefergelenk 3-D-Diagnostik bei craniomandibulärer Dysfunktion Ein Beitrag von Dr. Jean-Marc Pho Duc, München Craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) um- fassen eine sehr große Bandbreite an Erkrankun- gen im Kausystem. Im Rahmen der dreidimen- sionalen Diagnose bei CMD-Erkrankungen ist es einerseits möglich, die Bewegungsbahnen des Unterkiefers instrumentell zu untersuchen. Andererseits ist die Magnetresonanztomografie (MRT) im Vergleich der bildgebenden Verfahren die geeignetste Untersuchungsmethode, um alle wichtigen Strukturen der Kiefergelenke darzu- stellen [3,11,12]. Die Magnetresonanztomografie stellt in den ver- fügbaren Leseprogrammen Schichtbilder in allen drei Raumebenen zur Verfügung, ohne jedoch eine dreidimensionale Rekonstruktion zu ermöglichen, wie sie etwa bei der Computertomografie (CT) oder der digitalen Volumentomografie (DVT) bekannt ist (Abb. 1). Da sowohl das CT als auch das DVT keine befriedigende Darstellung von Weichgewebe ermög- lichen (Abb. 2), sind diese im Rahmen der CMD-Dia- gnostik ausschließlich für spezifische Fragestellun- gen im Hinblick auf knöcherne Veränderungen ge- eignet [6]. Im Gegensatz zum MRT wird der Patient in beiden Fällen einer nicht unerheblichen Belas- tung an ionisierender Strahlung ausgesetzt. Sowohl die instrumentelle Funktionsanalyse mit der Axio- grafie als auch die Anordnung einer MRT-Aufnahme setzen eine ausführliche klinische Funktionsanalyse des Kausystems voraus. In vielen einfachen Fällen reicht diese im Zusammenhang mit der Anamnese aus, um eine entsprechende Therapie einzuleiten. Wenn jedoch arthrogene Schmerzen und Funktions- einschränkungen im Vordergrund stehen, liefert die MRT-Untersuchung der Kiefergelenke oft wertvolle Informationen [4]. Gleichzeitig dokumentiert sie den Ist-Zustand der Gelenke im Hinblick auf ihre Morphologie und stellt, wenn eine prothetische Ver- sorgung nach Abschluss einer CMD-Therapie erfor- derlich ist, aus formaljuristischen Gründen einen wichtigen Dokumentationsschritt dar. Der instrumentellen Untersuchung der Bewe- gungsbahnen kommt im Vergleich zum MRT nur eine untergeordnete Bedeutung in der Diagnostik der Kiefergelenkserkrankungen zu. Hier stellt die MRT-Aufnahme von der Aussagekraft und Reliabili- tät her nach wie vor den Goldstandard dar. Jedoch liefert die instrumentelle Untersuchung besonders im Hinblick auf therapeutische Maßnahmen zur Einstellung der Okklusion mit Aufbissbehelfen oder im Hinblick auf anstehende prothetische Maßnah- men nach Schienentherapie und in Kombination mit der Auswertung von MRT-Aufnahmen viele zusätzliche Möglichkeiten [9]. Sie kann auch die Diagnose einer rein muskulär bedingten Einschrän- kung der Funktion stützen und so eine MRT-Auf- nahme überflüssig machen. MRT zeigt Kiefergelenk dreidimensional Das MRT stellt uns ein vollständiges Bild der Kiefer- gelenke in allen drei Raumebenen zur Verfügung. Die wichtigsten Aufnahmen stellen die mund- geschlossene in habitueller Okklusion und die ge- öffnete Aufnahme dar. Bei der mundgeschlossenen Aufnahme ist es außerordentlich wichtig, dass der Patient währenddessen seine habituelle maximale Interkuspidationsstellung einnimmt, da diese Posi- tion zum einen die Vermessung des funktionellen Gelenkspielraums und zum anderen seinen Ver- gleich mit Normwerten ermöglicht. Weiterhin er- folgt aus dieser Position heraus die Einstufung von Diskusverlagerungen [8]. Und schließlich kann nur über diese Position, die der Patient auch bei einer elektronischen Axiografie mit hoher Genauigkeit reproduzieren kann, die Referenzposition zwischen MRT und Axiografie gebildet werden. Die geöffnete Aufnahme sollte in der maximalen schmerzfreien Schneidekantendistanz (SKD) erfol- gen, die der Patient auch über die Dauer der Auf- nahme gut aushalten kann. Zur Stabilisierung die- ser Aufnahme sollte dem Patienten ein individuell angefertigter Bissschlüssel zum Beispiel aus Silikon mitgegeben werden und die dabei gemessene SKD als Referenz notiert werden. Bei Patienten, die ein reziprokes Kiefergelenksknacken aufweisen, kann auch die geöffnete Position vor dem Knackgeräusch von Interesse sein. Diese Aufnahmeposition zeigt, wie stark der posteriore Bandapparat bereits geschä- digt ist. Zudem kann es ein Hinweis sein, ob eine eventuelle Repositionierung des Diskus überhaupt | BZB Juni 17 | Wissenschaft und Fortbildung 60

Transcript of Mehr sehen im Kiefergelenk - bzb-online.de · Gerade die kol-lagenen unteren Bänder der...

Page 1: Mehr sehen im Kiefergelenk - bzb-online.de · Gerade die kol-lagenen unteren Bänder der bilaminären Zone sind in diesem Fall zu sehr geschädigt. Die Daten werden in der Regel auf

Mehr sehen im Kiefergelenk3-D-Diagnostik bei craniomandibulärer Dysfunktion

Ein Be i t rag von Dr. Jean-Marc Pho Duc, München

Craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) um- fassen eine sehr große Bandbreite an Erkrankun-gen im Kausystem. Im Rahmen der dreidimen-sionalen Diagnose bei CMD-Erkrankungen ist es einerseits möglich, die Bewegungsbahnen des Unterkiefers instrumentell zu untersuchen. Andererseits ist die Magnetresonanztomografie (MRT) im Vergleich der bildgebenden Verfahren die geeignetste Untersuchungsmethode, um alle wichtigen Strukturen der Kiefergelenke darzu-stellen [3,11,12].

Die Magnetresonanztomografie stellt in den ver-

fügbaren Leseprogrammen Schichtbilder in allen

drei Raumebenen zur Verfügung, ohne jedoch eine

dreidimensionale Rekonstruktion zu ermöglichen,

wie sie etwa bei der Computertomografie (CT) oder

der digitalen Volumentomografie (DVT) bekannt ist

(Abb. 1). Da sowohl das CT als auch das DVT keine

befriedigende Darstellung von Weichgewebe ermög-

lichen (Abb. 2), sind diese im Rahmen der CMD-Dia-

gnostik ausschließlich für spezifische Fragestellun-

gen im Hinblick auf knöcherne Veränderungen ge-

eignet [6]. Im Gegensatz zum MRT wird der Patient

in beiden Fällen einer nicht unerheblichen Belas-

tung an ionisierender Strahlung ausgesetzt. Sowohl

die instrumentelle Funktionsanalyse mit der Axio-

grafie als auch die Anordnung einer MRT-Aufnahme

setzen eine ausführliche klinische Funktionsanalyse

des Kausystems voraus. In vielen einfachen Fällen

reicht diese im Zusammenhang mit der Anamnese

aus, um eine entsprechende Therapie einzuleiten.

Wenn jedoch arthrogene Schmerzen und Funktions-

einschränkungen im Vordergrund stehen, liefert die

MRT-Untersuchung der Kiefergelenke oft wertvolle

Informationen [4]. Gleichzeitig dokumentiert sie

den Ist-Zustand der Gelenke im Hinblick auf ihre

Morphologie und stellt, wenn eine prothetische Ver-

sorgung nach Abschluss einer CMD-Therapie erfor-

derlich ist, aus formaljuristischen Grün den einen

wichtigen Dokumentationsschritt dar.

Der instrumentellen Untersuchung der Bewe-

gungsbahnen kommt im Vergleich zum MRT nur

eine untergeordnete Bedeutung in der Diagnostik

der Kiefer gelenks erkrankungen zu. Hier stellt die

MRT-Aufnahme von der Aussagekraft und Reliabili-

tät her nach wie vor den Goldstandard dar. Jedoch

liefert die instrumentelle Untersuchung besonders

im Hinblick auf therapeutische Maßnahmen zur

Einstellung der Okklusion mit Aufbissbehelfen oder

im Hinblick auf anstehende prothetische Maßnah-

men nach Schienentherapie und in Kombination

mit der Auswertung von MRT-Aufnahmen viele

zusätzliche Möglichkeiten [9]. Sie kann auch die

Diagnose einer rein muskulär bedingten Einschrän-

kung der Funktion stützen und so eine MRT-Auf-

nahme überflüssig machen.

MRT zeigt Kiefergelenk dreidimensional Das MRT stellt uns ein vollständiges Bild der Kiefer-

gelenke in allen drei Raumebenen zur Verfügung.

Die wichtigsten Aufnahmen stellen die mund-

geschlossene in habitueller Okklusion und die ge-

öffnete Aufnahme dar. Bei der mundgeschlossenen

Aufnahme ist es außerordentlich wichtig, dass der

Patient währenddessen seine habituelle maximale

Interkuspidationsstellung einnimmt, da diese Posi-

tion zum einen die Vermessung des funktionellen

Gelenkspielraums und zum anderen seinen Ver-

gleich mit Normwerten ermöglicht. Weiterhin er-

folgt aus dieser Position heraus die Einstufung von

Diskusverlagerungen [8]. Und schließlich kann nur

über diese Position, die der Patient auch bei einer

elektronischen Axiografie mit hoher Genauigkeit

reproduzieren kann, die Referenzposition zwischen

MRT und Axiografie gebildet werden.

Die geöffnete Aufnahme sollte in der maximalen

schmerzfreien Schneidekantendistanz (SKD) erfol-

gen, die der Patient auch über die Dauer der Auf-

nahme gut aushalten kann. Zur Stabilisierung die-

ser Aufnahme sollte dem Patienten ein individuell

angefertigter Bissschlüssel zum Beispiel aus Silikon

mitgegeben werden und die dabei gemessene SKD

als Referenz notiert werden. Bei Patienten, die ein

reziprokes Kiefergelenksknacken aufweisen, kann

auch die geöffnete Position vor dem Knackgeräusch

von Interesse sein. Diese Aufnahmeposition zeigt,

wie stark der posteriore Bandapparat bereits geschä-

digt ist. Zudem kann es ein Hinweis sein, ob eine

eventuelle Repositionierung des Diskus überhaupt

| BZB Juni 17 | Wissenschaft und Fortbildung60

Page 2: Mehr sehen im Kiefergelenk - bzb-online.de · Gerade die kol-lagenen unteren Bänder der bilaminären Zone sind in diesem Fall zu sehr geschädigt. Die Daten werden in der Regel auf

möglich ist. Je weiter der posteriore Bandapparat in

dieser Position gestreckt wird, desto geringer sind

die Erfolgsaussichten einer auf Dauer rezidivfreien

Reposition des Diskus (Abb. 3 und 4). Gerade die kol-

lagenen unteren Bänder der bilaminären Zone sind

in diesem Fall zu sehr geschädigt. Die Daten werden

in der Regel auf einer CD einschließlich eines geeigne-

ten Programms, zum Beispiel einem Dicom-Viewer,

zur Verfügung gestellt. Es hat sich bewährt, jede

Schicht einzeln zu analysieren. Die übliche Schicht-

dicke bewegt sich zwischen 1 und 2 mm. Bei Schich-

ten unter 1 mm verschlechtert sich die Bildqualität.

Bewertung der AufnahmenEine erste Beurteilung der Aufnahmen erfolgt stets

durch den Radiologen. Hier werden allgemeine

morphologische Veränderungen, Entzündungsge-

schehen, degenerative Prozesse und Diskusdisloka-

tionen bewertet. Erste Anzeichen einer Verlagerung

der Gelenkzwischenscheibe zeigen sich häufig in

den lateralen Schichten außen am Gelenkkopf

(Abb. 5). Hier sind die ein wirkenden Belastungen

auf das Gelenk am höchs ten. Die mittleren und

inneren Schichten können dabei völlig unauffällig

sein (Abb. 6). Bereits in diesem Zustand können Pa-

tienten funktionelle Beschwerden bekommen und

ein leichtes reziprokes Knackgeräusch kann auf-

treten. Das Schließknacken ist dabei häufig nicht

wahrnehmbar. Viele Patienten berichten in diesem

Zustand über leichtes Kieferklemmen am Morgen

nach dem Aufstehen, das sie in der Regel durch

Ausweichbewegungen selbst beheben können.

Bei einer stärkeren Schädigung des posterioren

Bandapparats kommt es zu einer vollständigen an-

terioren Verlagerung der Gelenkzwischenscheibe in

der mundgeschlossenen Position (Abb. 7). Bei vie-

len Patienten zeigt die Überprüfung der koronalen

Schichten, dass die Gelenkzwischenscheibe nach

anteromedial disloziert wird (Abb. 8). Es sind aber

auch anterolaterale und rein anteriore Verlage-

rungen möglich. Häufig ist dabei eine Verengung

des kranialen und dorsalen Gelenkspalts sichtbar

(Abb. 9). In der geöffneten Aufnahme zeigt sich

dann wieder das Bild einer vollständigen Reposition,

das heißt, bis auf eventuell vorhandene degenera-

tive Veränderungen zeigt sich kein Unterschied in

der Lagebeziehung von Kondylus und Diskus im

Vergleich zu einem gesunden Gelenk (Abb. 10).

Abb. 1: 3-D-Rekonstruktion des Kiefergelenks

Abb. 2: CT-Aufnahme des Kiefer gelenks

Abb. 3: Anteriore Diskus-dislokation mit Reposition (ADDmR) mundgeschlossen. Die Gelenkscheibe befindet sich vor dem Kondylus.

Abb. 4: ADDmR unmittelbar vor der Reposition

Abb. 5: Partielle ADDmR laterale Ansicht. Die Verlage-rung des Diskus ist sichtbar.

Abb. 6: Partielle ADDmR mediale Ansicht. Die Verla-gerung ist in dieser Schicht nicht erkennbar.

Abb. 7: ADDmR mundge-schlossen. Die Gelenkscheibe liegt mit dem Hinterrand am Kondylus an.

Abb. 8: ADDmR. Die koro-nale Ansicht zeigt, dass der Diskus auch nach medial abgeglitten ist.

Abb. 9: ADDmR, dorsale Verengung des Gelenkspalts

Abb. 10: ADDmR, Zustand nach Öffnung und Reposi-tion des Diskus

Wissenschaft und Fortbildung | BZB Juni 17 | 61

Page 3: Mehr sehen im Kiefergelenk - bzb-online.de · Gerade die kol-lagenen unteren Bänder der bilaminären Zone sind in diesem Fall zu sehr geschädigt. Die Daten werden in der Regel auf

Die Erkrankung kann in jedem Stadium stagnie-

ren und Patienten, die bis auf die Knackgeräusche

keinerlei Beschwerden haben und bei denen keine

Tendenz zu Kieferklemmen erkennbar ist, benöti-

gen keine Therapie. Es kann jedoch die Progredienz

hemmen, bei diesen Patienten eine Aufbissschiene

mit guter gleichmäßiger Abstützung analog zu ei-

ner Michigan-Schiene einzugliedern [7]. Wichtig ist

es, in diesem Zusammenhang eine forcierte Position

nach dorsal unbedingt zu vermeiden, entsprechend

der Definition für die zentrische Position nach der

„cranioventralsten Position unter physiologischer

Belastung der beteiligten Gewebe“. In den Empfeh-

lungen der Deutschen Ge sell schaft für Funktions-

diagnostik und -therapie (DGFDT) werden entspre-

chende Hinweise zur CMD-Therapie gegeben.

Degenerative Veränderungen im KiefergelenkEin erheblicher Anteil der Patienten, die die Sprech-

stunde für CMD aufsuchen, klagt über akute Be-

schwerden und Schmerzen. Das visuelle Korrelat

zeigt sich meist deutlich im MRT in Form von dege-

nerativen Veränderungen im Kiefergelenk. Sobald

sich die vorverlagerte Gelenkzwischenscheibe bei

der Translation des Kondylus nicht mehr zwischen

Gelenkköpfchen und Eminentia articularis reponie-

ren kann, tritt im Anfangsstadium eine Kieferklem-

me auf. Die Mundöffnung ist eingeschränkt und

weicht zur betroffenen Seite ab. In diesen Fällen

wird der posteriore Bandapparat beim Versuch,

den Widerstand zu überwinden, massiv überdehnt

und es kann ein Gelenkerguss auftreten.

Dieser äußert sich in einer Kiefersperre, das heißt,

der Patient kann nicht mehr ganz in seine habitu-

elle Okklusion schließen (Abb. 11). Erst nach eini-

gen Tagen lässt bei entsprechender Schonung und

gegebenenfalls Unterstützung durch Entzündungs-

hemmer der Schmerz beim Mundschluss nach und

die Okklusion nähert sich wieder der maximalen

Interkuspidation an. Eine T2-Wichtung ist dabei

zur Darstellung eines Gelenkergusses besonders ge-

eignet und sollte gegebenenfalls mit dem Radiolo-

gen abgesprochen werden (Abb. 12). Chronisch an-

haltende Beschwerden und Schmerzen im Bereich

der Kiefergelenke, wie sie häufig bei Patienten mit

einer länger bestehenden anterioren Diskusdislo-

kation ohne Reposition anzutreffen sind, führen zu

einem destruktiven Umbau der Gelenkstrukturen,

Abb. 11: Gelenk bei Patient mit Kiefersperre, T1-Wich-tung

Abb. 12: Gelenk bei Patient mit Kiefersperre, T2- Wichtung, Entzündungen werden hervorgehoben

Abb. 13: Anteriore Diskusdislokation ohne Reposition (ADDoR), Gelenk mit degenerativer Abflachung am Kondylus und an der Temporalfläche im Sinne einer „Schleifarthrose“

Abb. 14: Kondylus mund- geschlossen mit subchon- draler Zyste

Abb. 15: Kondylus mund-geöffnet mit subchondraler Zyste. Der Diskus wird vor dem Kondylus zusammen-gefaltet.

Abb. 16: Oberer Kondylus-anteil resorbiert, starke Verengung des dorsalen Gelenkspalts

Abb. 17: Arthritis und Arthrose von Kondylus und Tuberculum articulare

Abb. 18: Zerklüftete Oberfläche bei aktiver Arthrose. Sie kann aufgrund von Gleithindernissen und Knackgeräuschen sowohl klinisch als auch bei der Axiografie als Verlagerung mit Reposition falsch interpretiert werden.

| BZB Juni 17 | Wissenschaft und Fortbildung62

Page 4: Mehr sehen im Kiefergelenk - bzb-online.de · Gerade die kol-lagenen unteren Bänder der bilaminären Zone sind in diesem Fall zu sehr geschädigt. Die Daten werden in der Regel auf

die besonders deutlich im Bereich der Kondylen

sichtbar werden. Wenn auch die Temporalfläche

betroffen ist, entwickelt sich das Bild einer soge-

nannten Schleifarthrose (Abb. 13).

In der Ausprägung der degenerativen Verände-

rungen zeigen sich osteophytäre Anlagerungen in

Form von Randzackenbildung am Vorderrand des

Kondylus, Auflösung einer durchgehenden Korti-

kalisstruktur, subchondrale Zysten, die auf aktive

entzündliche Umbauvorgänge hindeuten, bis hin

zur massiven Reduktion und Degeneration der

Kondylen (Abb. 14 bis 18).

Im Hinblick auf die Klassifizierung der Erkrankung

stellen die von Dworkin und LeResche publizierten

Research Diagnostic Criteria die international be-

kannteste Einteilung der Erkrankungsbilder einer

CMD dar [1,10].

Scharnierachsenbewegungen und ihre BedeutungDie Untersuchung der Bewegungen der Scharnier-

achse in allen Raumebenen kann zusätzliche Infor-

mationen liefern und die Einstellung bestimmter

Positionen erleichtern (Abb. 19a und b). Heutzutage

ist eine Vielzahl an Systemen verfügbar, die sich

insbesondere im Hinblick auf das angewendete

Verfahren unterscheiden. Es gibt Systeme, die mit

Widerstandsplatten elektromechanisch arbeiten,

Systeme, die auf Ultraschall basieren, und optische

Systeme. Den für die Diagnostik bestimmten elek-

tronischen Systemen ist gemein, dass die Schar-

nierachsposition schnell ermittelt werden kann.

Darauf sollte man allerdings nicht ohne eine Ge-

genprobe vertrauen. Da die Systeme auch bei einer

nicht perfekt ausgeführten initialen Öffnungsbewe-

gung und trotz einer translatorischen Komponente

eine Scharnierachse errechnen, ergeben sich sonst

zwangsläufig falsche Messergebnisse.

Diagnostische Aussagen aus den Bewegungsspuren der Scharnierachse Sofern das System es zulässt, sollten die Translations-

und Rotationsbewegungen quantifiziert werden.

Gerade die Unterscheidung der reinen Translations-

gegenüber der Rotationsbewegung liefert einen dia-

gnostischen Hinweis, ob die Bewegung mehr durch

einen Widerstand im Gelenk – in diesem Fall würde

diese die Rotation überwiegen – oder stärker durch

die Muskulatur behindert wird. Leider wird diese

Option von den meisten Systemen nicht angeboten.

Bei der Reposition des Diskus kommt es zunächst

zu einem Abbremsen der Bewegung des Kondylus,

da der vorgeschädigte Bandapparat gedehnt wird.

Wenn der Diskus durch den zunehmenden Zug zwi-

schen Kondylus und Temporalfläche gezogen wird,

kommt es zu einer plötzlichen Beschleunigung des

Kondylus. Das Abbremsen ist als Verdichtung der

Punktespur zu sehen. Die Beschleunigung impo-

niert als plötzlich verringerte Anzahl an Punkten

auf der Spur. Der Beginn der Beschleunigung des

Kondylus bei der Reposition des Diskus sowie das

plötzliche Abbremsen der Bewegung innerhalb der

Bewegungsbahn kann vermessen werden und zur

Einstellung einer Repositionierungsschiene dienen

(s. Abb. 19a und b).

Messungen zwischen habitueller Okklusion und zen-

trischer Kieferrelation geben Auskunft über eventu-

ell vorhandene Zwangsbissführungen und können

nachfolgend zur Einstellung einer neuen Bisslage

Abb. 19a:Axiografiespur bei anteriorer Diskus dislokation mit Reposition (ADDmR). Gut erkennbar ist die plötzliche Beschleunigung der Spur im ersten Drittel der Öffnungs bewegung.

Abb. 19b: Optoelektronisches Registrier verfahren zur berührungs losen Vermessung der Gelenkbahnen

Wissenschaft und Fortbildung | BZB Juni 17 | 63

Page 5: Mehr sehen im Kiefergelenk - bzb-online.de · Gerade die kol-lagenen unteren Bänder der bilaminären Zone sind in diesem Fall zu sehr geschädigt. Die Daten werden in der Regel auf

mit einer Aufbissschiene herangezogen werden

(Abb. 20 bis 23). Ein weiterer wesentlicher Bestand-

teil der elektronischen Registrierverfahren ist die

Artikulatorprogrammierung. Durch die Analyse

der Bewegungsbahnen in allen drei Raum ebenen

lassen sich alle teil- und volljustierbaren Artikulato-

ren individuell an die Patientensituation anpassen.

Der Zeitaufwand einer solchen Messung ist dabei

besonders bei den ultraschallbasierten und den

optischen Geräten gegenüber älteren Verfahren

wesentlich geringer geworden.

In diagnostischer Hinsicht sollten aus der Analyse

der Bewegungsbahnen folgende Messungen he-

rausgegriffen werden:

· Länge der Öffnungs- und Protrusionsbahn im

Seiten vergleich

· Bahn des schwingenden Kondylus im Seiten-

vergleich

· Quantifizierung der Rotationsbewegung (falls

möglich)

· Untersuchung der habituellen Schließbewegung

auf Abgleitbewegungen

· Vergleich der habituellen Position mit einer zen-

trischen Position bei möglichst entspanntem

Muskel tonus

· Analyse der ungeführten Bahnen auf Beschleuni-

gungs- und Abbremsphänomene

· Analyse der Öffnungs- und Schließbahn auf Kreu-

zungsphänomene

Deutliche Seitenunterschiede bei der Länge der Be-

wegungsbahnen weisen auf eine einseitige Störung

hin, mit der kürzeren Spur auf der erkrankten Seite.

Eine deutlich verringerte Translationsbewegung bei

der Öffnungsspur im Vergleich zur Protrusionsspur

ist ein Indiz für eine Einschränkung myogenen Ur-

sprungs. Eine sowohl bei der Öffnung als auch bei

der Protrusion verringerte Translationsbewegung

mit nahezu normalem Rotationswinkel deutet auf

eine Einschränkung arthrogenen Ursprungs hin.

Eine kranial zur zentrischen Position liegende ha-

bituelle Scharnierachse weist auf eine Kompression

des Gelenks hin. Dies setzt in jedem Fall eine para-

okklusale Befestigung des Unterkieferbogens für die

Registrierung voraus (Abb. 24).

Die Definition des Begriffs Zentrik ist eindeutig.

Leider ist deren Umsetzung mit zentrischen Regist-

raten oder unter manueller Führung durch den Be-

handler sehr fehleranfällig und resultiert in einer

geringen Reproduzierbarkeit [5]. Die verlässlichste

Position ist die habituelle Kontaktposition, aus der

heraus präzise Veränderungen möglich sind, da

die Ausgangsposition reproduzierbar bekannt ist.

Deshalb ist es wichtig, bei einer MRT-Aufnahme in

jedem Fall eine mundgeschlossene Aufnahme in

habitueller maximaler Kontaktposition durchzu-

führen und sich zu vergewissern, dass der Patient

währenddessen in der Lage ist, diese einzuneh-

men. Manche Patienten neigen dazu, durch die

Abb. 23: Gefräste Schiene im Mund Abb. 24: Paraokklusale Befestigung des Unterkieferbogens

Abb. 20: Übertragung der Bisslage in die Konstruk-tionssoftware

Abb. 21: Auflagern der Schiene, Sicht von kaudal Abb. 22: Fertigstellung der Schienenkonstruktion, Sicht von lateral

| BZB Juni 17 | Wissenschaft und Fortbildung64

Page 6: Mehr sehen im Kiefergelenk - bzb-online.de · Gerade die kol-lagenen unteren Bänder der bilaminären Zone sind in diesem Fall zu sehr geschädigt. Die Daten werden in der Regel auf

besondere Situation während einer MRT-Aufnahme

leicht protrudiert zu schließen, entgegen ihrer

maximalen Interkuspitation (IKP). Eine exakte

Gelenkspaltvermessung ist jedoch nur ausgehend

von dieser habituellen IKP möglich, die Aufschluss

über einen ausreichend funktionellen Gelenk-

spielraum im belasteten Zustand gibt. Sichtbar

wird auch, ob der funktionelle Gelenkspielraum

insbesondere im kranialen und/oder dorsalen An-

teil kritische Werte im Vergleich zu Normwerten

eines gesunden Probandenguts unterschreitet und

damit tatsächlich Veränderungen der Okklusion

indiziert sind. Allein aus den computergestützten

instrumentellen funktionsdiagnostischen Messun-

gen heraus die Indikation einer Okklusionsverän-

derung zu stellen, erfordert viel Erfahrung und ist

aus forensischer Sicht nicht belegbar.

Unterschiede der Exkursions- zur Inkursionsspur

bei der Öffnungsbewegung mit sich kreuzenden

Bahnen weisen auf eine Verlagerung der Gelenk-

zwischenscheibe mit Reposition hin (Abb. 25). Die

Interpretation der Bahnen erfordert eine gewisse

Einarbeitung. Es sollte stets bedacht werden, dass

die Bewegungsanalyse der Scharnierachse – mag

sie auch noch so genau erfolgt sein – nur eine ein-

geschränkte Reliabilität im Hinblick auf diagnos-

tische Schlussfolgerungen hat. Sie steigt erheblich

mit der Erfahrung des Behandlers. Der Vergleich

mit MRT-Aufnahmen zeigt, dass Bewegungsmuster,

die eigentlich für ein bestimmtes Erkrankungsbild

sprechen, manchmal eine andere Ursache haben

können. Insofern ist es korrekter, von Verdachtsdia-

gnosen zu sprechen, solange keine Gewissheit über

die Ursache vorliegt.

FazitDie Magnetresonanztomografie stellt nach wie vor

den Goldstandard zur Darstellung der Kiefergelenke

dar. Sie erfasst alle Gewebestrukturen und stellt

diese in Schichtbildern zur Verfügung. Bisher sind

keine Viewer verfügbar, die eine dreidimensionale

Darstellung am Bildschirm ermöglichen. Diese Op-

tion könnte in naher Zukunft realisiert werden, ist

jedoch für die Analyse der Aufnahmen von unterge-

ordneter Bedeutung. Sie würde jedoch helfen, sich

das Gelenk im Ganzen vorzustellen. Wichtiger ist

die Analyse aller Schichten in der Sagittalebene von

lateral nach medial und in der Koronalebene von

dorsal nach anterior [2]. Im Zweifel können noch

axiale Schichten hinzugezogen werden. Auf diese

Weise ist der morphologische Zustand des Gelenks

in allen Raumebenen bekannt.

Die instrumentelle Bewegungsanalyse der Unter-

kieferbewegungen und die Positionsanalyse der

Scharnierachse liefern eine dreidimensionale Sicht

der Funktion des Kiefers und unterstützen den

Zahnarzt bei der Therapie komplexer Fälle. Jede

Therapie sollte die Invasivität so gering wie möglich

halten. Die dreidimensionale Analyse hilft dieses

Ziel zu verwirklichen und reduziert sie auf die Fälle,

in denen ein invasives Vorgehen mit dauerhafter

Umstellung der Okklusion unumgänglich ist.

Korrespondenzadresse: Dr. Jean-Marc Pho Duc

Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik der LMU MünchenGoethestraße 70, 80336 München

[email protected]

Literatur beim Verfasser

Abb. 25:Starke Abweichung der Öffnungs- spur zur Schließspur bei ADDmR

Wissenschaft und Fortbildung | BZB Juni 17 | 65