Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung:...

15

Transcript of Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung:...

Page 1: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene
Page 2: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

Claudia Maria Riehl

MehrsprachigkeitEine Einf�hrung

Page 3: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

Einbandgestaltung: Peter Lohse, B�ttelborn

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet �berhttp://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich gesch�tzt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzul�ssig.Das gilt insbesondere f�r Vervielf�ltigungen,�bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.

i 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe dieses Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG erm�glicht.Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, HemsbachEinbandgestaltung: schreiberVIS, BickenbachGedruckt auf s�urefreiem und alterungsbest�ndigem PapierPrinted in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-25522-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erh�ltlich:eBook (PDF): 978-3-534-73272-2eBook (epub): 978-3-534-73273-9

Page 4: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

1 Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91.1 Mehrsprachigkeit als der Normalfall . . . . . . . . . . . . . . . . 91.2 Typen von Mehrsprachigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1.2.1 Art des Erwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.2.2 Gesellschaftliche Bedingungen. . . . . . . . . . . . . . . 121.2.3 Formen der Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121.2.4 Innere und �ußere Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . 16

1.3 Bedeutung von Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171.4 Aufbau und Themen des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

2 Methoden der Mehrsprachigkeitsforschung. . . . . . . . . . . . . . . 212.1 Qualitative und quantitative Methoden / Langzeit vs.

Querschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212.2 Soziolinguistische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222.3 Psycholinguistische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262.4 Neurophysiologische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

3 Kognitive und neuronale Grundlagen von Mehrsprachigkeit . . . . 343.1 Mentale Repr�sentation von Mehrsprachigkeit:

Das mehrsprachige Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343.1.1 Lokalisierung des Sprachzentrums im Gehirn . . . . . . 353.1.2 Repr�sentation von mehreren Sprachen im Gehirn . . . 35

3.2 Das bilinguale mentale Lexikon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393.2.1 Speicherung von Sprachen im Gehirn. . . . . . . . . . . 403.2.2 Sprachvernetzung und L2-Spracherwerb . . . . . . . . . 423.2.3 Die Rolle lautlicher �hnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 443.2.4 Vernetzung grammatischer Informationen . . . . . . . . 453.2.5 Zugriff auf das mentale Lexikon . . . . . . . . . . . . . . 48

3.3 Modelle bilingualer Sprachproduktion . . . . . . . . . . . . . . 493.3.1 Modular computationale Modelle . . . . . . . . . . . . . 493.3.2 Interaktive Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.3.3 Monitoring und Sprachtrennung . . . . . . . . . . . . . . 53

3.4 Mehrsprachigkeit und kognitive F�higkeiten . . . . . . . . . . . 553.4.1 Kognitive Vorteile von mehrsprachig aufwachsenden

Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563.4.2 Kognitive Vorteile mehrsprachiger Erwachsener. . . . . 583.4.3 Mehrsprachigkeit und Sprachaufmerksamkeit . . . . . . 59

3.5 Mehrsprachigkeit und Kreativit�t . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

4 Gesellschaftspolitische Grundlagen von Mehrsprachigkeit . . . . . 624.1 Formen mehrsprachiger Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . 62

Page 5: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

Inhalt

4.2 Verteilung der Sprachen: Diglossie . . . . . . . . . . . . . . . . 664.3 Spracherhalt und Sprachwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

4.3.1 Beispiele f�r Spracherhalt und Sprachwechsel . . . . . 684.3.2 Ethnolinguistische Vitalit�t . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

4.4 Sprachenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724.4.1 Spracherhaltsbem�hungen durch sprachpolitische

Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734.4.2 Sprachenpolitik und Sprachideologien. . . . . . . . . . 734.4.3 Sichtbarkeit von Sprachen: Linguistic landscapes . . . 764.4.4 Sprachenplanung durch Sprachmanagement . . . . . . 77

5 Individuelle Mehrsprachigkeit im Laufe des Lebens . . . . . . . . . 805.1 Sprache und Identit�t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805.2 Fr�hkindlicheMehrsprachigkeit: Bilingualer Erstspracherwerb 82

5.2.1 Strategien bilingualer Erziehung. . . . . . . . . . . . . . 835.2.2 Spracherwerb und Sprachtrennung . . . . . . . . . . . . 84

5.3 Typen des Zweitspracherwerbs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865.3.1 Fr�hkindlicher Zweitspracherwerb und kritische

Periode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865.3.2 Lernervariet�ten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

5.4 Drittspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 915.5 Individueller Sprachverlust: Spracherosion . . . . . . . . . . . 93

5.5.1 Ursachen des Sprachverlusts . . . . . . . . . . . . . . . . 935.5.2 Merkmale von Spracherosion . . . . . . . . . . . . . . . 95

5.6 Mehrsprachigkeit und Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

6. Formen mehrsprachigen Sprechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1006.1 Sprachmischung: Code-Switching und Code-Mixing . . . . . 100

6.1.1 Funktionales Code-Switching . . . . . . . . . . . . . . . 1016.1.2 Nicht-funktionales Code-Swiching . . . . . . . . . . . . 1036.1.3 Code-Switching vs. Ad-hoc-Entlehnungen . . . . . . . 1056.1.4 Prozesse des Code-Mixings . . . . . . . . . . . . . . . . 107

6.2 �bertragung von einer Sprache auf die andere: Transfer. . . . 1086.2.1 �bernahmenvonSprachmaterial (matter borrowing) . 1086.2.2 Transfer von Bedeutungen (semantischer Transfer) . . . 1096.2.3 �bernahme von Regeln und Strukturen

(pattern borrowing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1106.3 Gemischte Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126.4 Gastarbeiterdeutsch und Ethnolekt als Mischsprachen der

Migrationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1156.4.1 Charakteristika des Gastarbeiterdeutsch . . . . . . . . . 1156.4.2 Ethnolekte als Ergebnis mehrsprachigen Sprechens . . 116

7. Mehrschriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217.1 Mehrschriftlichkeit als wichtige Komponente der

Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217.2 Biliteralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

7.2.1 Fehlende Alphabetisierung in L1 und ihreKonsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

6

Page 6: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

7.2.2 Alphabetisierung in mehreren Sprachen . . . . . . . . . 1257.3 Erwerb konzeptioneller Schriftlichkeit in mehreren Sprachen . 1277.4 Mehrsprachige Textkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

7.4.1 Die Bedeutung von Textmustern . . . . . . . . . . . . . . 1307.4.2 Wechselwirkungen von Schriftsprachkompetenzen . . 132

7.5 Mehrschriftlichkeit im akademischen Kontext . . . . . . . . . . 1367.6 Mehrschriftlichkeit und Sprachmischung . . . . . . . . . . . . . 137

7.6.1 Sprachmischung in computervermittelterKommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

7.6.2 Historische Sprachmischung in privaterKommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

7.6.3 Sprachmischung in literarischen Texten. . . . . . . . . . 141

8. Mehrsprachigkeit im deutschen Bildungssystem . . . . . . . . . . . . 1448.1 Mehrsprachigkeit und F�rderung von Kindern mit

Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1448.2 Mehrsprachige Erziehung f�r alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1458.3 Mehrsprachige Modelle in der deutschen Bildungslandschaft . 146

L�sungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Inhalt 7

Page 7: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

Vorwort

Im Zuge der zunehmenden Migration und Globalisierung wird die Beherr-schung von mehr als einer Sprache auch in unserer Gesellschaft zu einerAlltagsrealit�t. Daher ist das Thema Mehrsprachigkeit auch in der deutschenForschungslandschaft zu einem wichtigen Untersuchungsbereich gewor-den. W�hrend in der englischsprachigen Forschung schon eine Reihe vonEinf�hrungen vorliegen, steht ein entsprechender �berblick �ber die unter-schiedlichen Bereiche der Mehrsprachigkeitsforschung aus soziolinguisti-scher, psycholinguistischer und textlinguistischer Sicht f�r das deutschePublikum noch aus. Das vorliegende Buch m�chte diese L�cke schließenund Studentinnen und Studenten sowie interessierten Fachkolleginnen und-kollegen die wichtigsten Forschungsgebiete und -methoden nahebringen.An dieser Stelle m�chte ich allen danken, die sich bei der Erstellung die-

ses Buches verdient gemacht haben: Mein ganz ausdr�cklicher Dank giltmeiner Mitarbeiterin, Rafaela Erl, f�r ihre unerm�dliche Mitarbeit am Ma-nuskript, besonders Literaturrecherche, Korrektur und Registererstellung.Ihrer Beharrlichkeit und ihrem kritischen Auge verdankt dieses Buch viel.Nikolas Koch danke ich besonders f�r die Korrekturen und Mitarbeit amLiteraturverzeichnis. Dank gilt auch meinen weiteren Mitarbeitern Anne-Katharina Harr, Julia Meyer, Till Woerfel und Seda Yilmaz-Woerfel f�r Kor-rekturlesen und kritische Anmerkungen.Dieses Buch ist dem Andenken meines unvergessenen Freundes und

Mentors Michael Clyne gewidmet, einem großartigen Menschen und For-scher, der sein Leben der Mehrsprachigkeit gewidmet hat.

M�nchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl

Page 8: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

1 Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit?

Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene Formen von gesell-schaftlich oder institutionell bedingtem und individuellem Gebrauch vonmehr als einer Sprache. Er beschreibt Sprachkompetenzen von Einzelnenwie Gruppen und verschiedene Situationen, in denen mehrere Sprachen inKontakt miteinander kommen oder in einer Konversation beteiligt sind. Die-se verschiedenen Sprachen schließen nicht nur offizielle Nationalsprachenmit ein, sondern auch Regional-, Minderheiten- und Geb�rdensprachenund sogar Sprachvariet�ten wie Dialekte. Der Begriff wird gleichsam als einOberbegriff sowohl f�r verschiedene Formen von Sprachenerwerb im Laufedes Lebens eines Individuums als auch f�r die Verwendung der Sprachenim Alltag, im Arbeitsleben und in Institutionen verwendet (vgl. Franceschini2009:29). Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ schließt damit auch automatischden Begriff ,Zweisprachigkeit‘ bzw. ,Bilingualit�t‘ mit ein und wird in derdeutschsprachigen Forschung h�ufig synonym mit diesem Begriff verwen-det. Die erlernten Sprachen bezeichnet man dabei in der Regel nach derReihenfolge ihres Erwerbs als Erstsprache (= L1), Zweitsprache (= L2) undDrittsprache (= L3) usw.Im Folgenden soll nun eine kurze Einf�hrung in die erw�hnten Aspekte

gegeben werden, die von der Pr�misse startet, dass Mehrsprachigkeit derNormalfall und Einsprachigkeit die Ausnahme ist und dies anhand statisti-scher Daten und neuronaler Befunde belegt. Danach werden die verschie-denen Typen von Mehrsprachigkeit in Bezug auf den Erwerb, die gesell-schaftlichen Bedingungen, die Kompetenz und die Sprachkonstellationendargestellt, und es wird auf die Unterscheidung von innerer und �ußererMehrsprachigkeit eingegangen. Schließlich wird die Bedeutung von Mehr-sprachigkeit f�r die mehrsprachigen Sprecher aufgezeigt.

1.1 Mehrsprachigkeit als der Normalfall

Es mag f�r mitteleurop�ische Verh�ltnisse befremdlich klingen, aber in vie-len Regionen der Welt ist Mehrsprachigkeit der Normalfall und Einsprachig-keit die Ausnahme. Man denke nur an den afrikanischen Kontinent: Hierspricht jeder Mensch außer seiner Muttersprache noch mindestens eineweitere, meist benachbarte, afrikanische Sprache und die Landessprache,die in der Regel eine europ�ische Sprache ist. Ganz �hnlich ist es auf demindischen Subkontinent: Auch hier beherrschen die Sprecher eine der vielenindoeurop�ischen oder dravidischen Sprachen und daneben noch eine deroffiziellen Amtsprachen wie Hindi und Englisch oder eine regionale Amts-sprache (bspw. Urdu oder Bengali). Viele weitere Beispiele ließen sich auf-z�hlen.

Page 9: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

1 Einleitung:Was ist Mehrsprachigkeit?

Wie verbreitet Mehrsprachigkeit ist, ergibt sich auch aus der folgendenTabelle, in der die Verteilung von Sprachen auf die verschiedenen Kontinen-te aufgef�hrt wird:

Kontinent Bev�lkerung Sprachen Prozentanteilaller Sprachen

DurchschnittlicheEinwohnerzahlpro Sprache

Asien 4,1 Mrd. 2304 32 % 1,8 Mio.

Afrika 938 Mio. 2146 30 % 437.000

Pazifik 33,7 Mio. 1311 19 % 26.000

Amerika 901 Mio. 1060 15 % 850.000

Europa 728 Mio. 284 4 % 2,6 Mio.

alle 6,7 Mrd. 7105 100 % 943.000

Tab. 1: Verteilung der Sprachen der Welt nach Angaben der Unesco 2014,gerundet (http://www.ethnologue.com/world)

Wie man aus der Tabelle ersehen kann, werden in Europa nur etwa 4% derSprachen der Welt gesprochen, daf�r 30% in Afrika: W�hrend man in Euro-pa einen Durchschnittswert von 2,6 Mio. Sprechern pro Sprache anf�hrenkann (und wie wir wissen, haben die meisten europ�ischen Sprachen vielmehr Sprecher), kommen afrikanische Sprachen im Durchschnitt nur auf437.000 Sprecher. Die geringsten durchschnittlichen Sprecherzahlen wei-sen Sprachen auf, die in der S�dsee gesprochen werden. Da ja in den jewei-ligen Staaten sehr viel mehr Menschen leben als diese Durchschnittswerteergeben, kann man daraus ersehen, dass die meisten Menschen mehrereSprachen beherrschen m�ssen (dazu auch Haarmann 2001:36ff.).Selbst in Europa, wo in den meisten Staaten nur eine Sprache als Staats-

sprache gilt, gibt es zahlreiche Minderheitenregionen, in denen die Bev�l-kerung mehrsprachig ist: Prominente Beispiele sind etwa S�dtirol mitDeutsch, Italienisch und Ladinisch oder Katalonien mit Katalanisch undSpanisch, aber es gibt noch viel mehr, n�mlich �ber 300 Sprachminderhei-ten (vgl. http://www.fuen.org/de/europaeische-minderheiten). Man kann so-gar davon ausgehen, dass es in Europa kaum ein Land gibt, in dem keineautochthonen Sprachminderheiten leben. Darunter versteht man Minder-heiten, die entweder durch Grenzziehungen zu dem jeweiligen Land ge-kommen sind, oder solche, die bei der Staatenbildung in Europa keinen ei-genen Staat bilden konnten, wie etwa die Ladiner in Norditalien oder dieSorben in Deutschland. Zu diesen Minderheiten kommen noch die sog. ,al-lochthonen‘ Minderheiten, das sind Menschen, die in ein bestimmtes Landeingewandert sind und dort geblieben sind. Die erste Generation der Ein-wanderer ist dabei in der Regel immer mehrsprachig, aber h�ufig trifft dasauch noch auf die zweite und manchmal auch auf die dritte Generation zu.Sind die Gruppen groß genug und haben sie kompakte Siedlungsgebiete –wie etwa die t�rkischst�mmige Bev�lkerung in Deutschland –, dann k�n-nen auch weitere Generationen bilingual aufwachsen (vgl. 4.1).

10

Verbreitung vonSprachen

Page 10: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

1.2 Typen vonMehrsprachigkeit

Neben diesen mehrsprachigen Gemeinschaften gibt es weltweit immermehr Menschen, die Fremdsprachenkenntnisse auf sehr hohem Niveau be-sitzen und die auch mehrere Jahre im Ausland verbracht haben. Alle dieseMenschen, die im Laufe ihres Lebens mehrere Sprachen aktiv in ihrem All-tag gebrauchen, sind als mehrsprachig anzusehen. Sie scheuen sich nurmanchmal aufgrund eines falsch verstandenen Begriffs von Mehrsprachig-keit, der immer noch von der Idee eines doppelten Muttersprachlers aus-geht, sich selbst als zwei- oder mehrsprachig zu bezeichnen (vgl. Sarter2013:13).Neben den statistischen Daten kann man Mehrsprachigkeit auch aus

einer neurologischen Perspektive als Normalfall betrachten: Denn tats�ch-lich zeigen Beispiele aus der Gehirnforschung, dass alle Sprachen, die einIndividuum beherrscht, in derselben Region im Gehirn gespeichert sind,und zwar im sog. ,Broca-Areal‘ (dazu genauer 3.1). Das, was den Menschenangeboren ist, ist die F�higkeit sprachliche �ußerungen zu produzieren,etwa indem man bestimmte Zeichen als Symbole verwendet und indemman aus einem endlichen Inventar von Zeichen, etwa Lauten oder Silben,eine unendliche Zahl von �ußerungen schaffen kann. Aber es ist dem Men-schen nicht angeboren, dass er nur eine bestimmte Sprache spricht. Daherpostuliert Meisel (2004:92): „Monolingualism can be regarded as resultingfrom an impoverished environment where an opportunity to exhaust the po-tential of the language faculty is not fully developed.“

1.2 Typen von Mehrsprachigkeit

Wenn man nun die gerade erw�hnten �berlegungen zugrunde legt, kannman Mehrsprachigkeit nach verschiedenen Kriterien definieren:

* nach Art des Erwerbs* nach gesellschaftlichen Bedingungen* nach Kompetenz* nach Sprachkonstellationen

1.2.1 Art des Erwerbs

Es handelt sich um unterschiedliche Arten von Mehrsprachigkeit, je nach-dem ob man mehrere Sprachen von Kind auf simultan erwirbt oder sie suk-zessive erwirbt. Im ersten Fall spricht man von sog. ,bilingualem Erstsprach-erwerb‘: D.h. das Kind besitzt dann zwei Erstsprachen (L1). Dann bestehenUnterschiede darin, ob man die Sprachen in einer nat�rlichen Umgebungerwirbt, wie etwa Migranten in ihrem Zielland, oder ob man sie im schuli-schen Kontext lernt. Im letzteren Fall spricht man von gesteuertem Erwerb.Und schließlich muss man auch noch unterscheiden, ob man die Sprachenals Kind oder als Erwachsener erwirbt und ob man die jeweilige Sprache alseine zweite (nach der Muttersprache) (= L2) oder dritte und weitere Sprachelernt (= L3).Der unterschiedliche Zeitpunkt bzw. die unterschiedliche Form des Er-

werbs hat indirekt Auswirkung auf die Art der Mehrsprachigkeit des Spre-chers, die sich nicht zwangsl�ufig in der Kompetenz ausdr�cken muss, son-

11

NeurologischePerspektive

Page 11: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

1 Einleitung:Was ist Mehrsprachigkeit?

dern eher in der Haltung gegen�ber der Verwendung von Sprachen: Men-schen, die mit mehreren Sprachen gleichzeitig aufwachsen oder in starkmehrsprachig gepr�gten Gesellschaften leben, zeigen ein anderes Verhaltengegen�ber Sprachmischung und anderen Formen mehrsprachigen Spre-chens. Es spielt also eine Rolle, ob man von Anfang darauf trainiert wird,die Sprachen zu trennen oder nicht, und ob man die Sprachen in einem na-t�rlichen Kontext erwirbt oder W�rter und Strukturen �ber �bersetzungs-�quivalente oder explizite Regeln lernt.

1.2.2 Gesellschaftliche Bedingungen

Auch die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Mehrsprachigkeit prak-tiziert wird, sind v�llig unterschiedlich: Wie bereits in 1.1 erw�hnt, gibt esmehrsprachige Gesellschaften, in denen zwei oder mehrere Sprachen imt�glichen Umgang nebeneinander gebraucht werden – meist mit unter-schiedlichen Funktionen. Daneben gibt es viele Konstellationen mit indivi-dueller Mehrsprachigkeit: angefangen von Familien, in denen die Kindermehrsprachig aufwachsen, �ber bilinguale Schulangebote zur Mehrspra-chigkeit in der Arbeitswelt.Bei der Definition von Mehrsprachigkeit werden daher in der Regel drei

verschiedene Dimensionen unterschieden (vgl. L�di 1996):

* individuelle Mehrsprachigkeit* gesellschaftlicheMehrsprachigkeit* institutionelle Mehrsprachigkeit

W�hrend sich individuelle Mehrsprachigkeit auf den einzelnen Sprecherbezieht, versteht man unter gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit den Sprach-gebrauch in mehrsprachigen Staaten oder Regionen und unter institutionel-ler Mehrsprachigkeit die Verwendung mehrerer Arbeitssprachen in Institu-tionen. Diese verschiedenen Perspektiven auf Mehrsprachigkeit sindaneinander gekoppelt; vor allem geht gesellschaftliche und institutionelleMehrsprachigkeit meist mit individueller Mehrsprachigkeit einher.Aus diesen unterschiedlichen Konstellationen ergeben sich auch unter-

schiedliche Praktiken von Mehrsprachigkeit, wie Wechsel zwischen ver-schiedenen Sprachen in ein und derselben �ußerung (sog. ,Code-Swit-ching‘), Verwendung von Mischsprachen oder Sprachvariet�ten zwischenMuttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern, der Gebrauch von sog. Lin-guae francae (vgl. Franceschini 2011:347). Aus diesem Grund schl�gt Fran-ceschini (ebd.) vor, eine vierte Dimension einzuf�hren, n�mlich die ,diskur-sive Mehrsprachigkeit‘. Da aber die unterschiedlichen gesellschaftlichenVoraussetzungen und Konstellationen von Sprechern diese unterschiedli-chen Formen mehrsprachigen Sprechens bedingen, m�chte ich die diskursi-ve Mehrsprachigkeit eher als Ergebnis der gesellschaftlichen Bedingungensehen und nicht als eigene Dimension.

1.2.3 Formen der Kompetenz

Ein sehr grundlegender Punkt, der in der Mehrsprachigkeitsforschung immerwieder diskutiert wird, ist die Frage: Ab wann ist ein Mensch mehrsprachig?

12

Dimensionen vonMehrsprachigkeit

Page 12: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

1.2 Typen vonMehrsprachigkeit

In der Tat ist dies gar nicht so leicht zu beantworten. Bereits Uriel Weinreich(1953), einer der Pioniere in der Sprachkontakt- und Mehrsprachigkeitsfor-schung, hat zwischen drei Typen unterschieden, allerdings (der damaligenTradition folgend) nur auf die Kompetenz in zwei Sprachen bezogen:

* Zusammengesetzte Zweisprachigkeit (compound bilingualism)* Koordinierte Zweisprachigkeit (coordinative bilingualism)* Untergeordnete Zweisprachigkeit (subordinative bilingualism)

Weinreich bezieht sich hier vor allem auf die Speicherung von Sprachen imGehirn eines Individuums und erl�utert dies anhand der Speicherung vonW�rtern und Konzepten f�r die verschiedenen Sprachen: Im Falle von zu-sammengesetzter (bzw. verbundener) Zweisprachigkeit hat der Sprecher einbestimmtes Konzept zur Verf�gung, auf das er mit beiden Sprachen zugrei-fen kann, im Falle der koordinierten Zweisprachigkeit ist im Gehirn desSprechers neben dem betreffenden Wort auch jeweils ein eigenes Konzeptf�r einen bestimmten Begriff gespeichert. Bei der untergeordneten Zwei-sprachigkeit findet dagegen kein direkter Zugriff auf das Konzept statt, son-dern der Sprecher �bersetzt einfach von der Erstsprache (L1) in die Zweit-sprache (L2).Weinreich verdeutlicht sein Modell am Beispiel des russischen Begriffs

kniga und des deutschen Buch (vgl. Weinreich 1953:9f.):

Koordinierte Zweisprachigkeit ist in der Regel das, was Menschen haben,die in zweisprachiger Umgebung aufwachsen und die Sprachen nat�rlichlernen. Die untergeordnete Zweisprachigkeit erreicht man meistens dann,wenn man eine zweite Sprache im Fremdsprachenunterricht erlernt. Dennzumindest im traditionellen Fremdsprachenunterricht lernt man die neueSprache am Anfang immer �ber �bersetzungs�quivalente. Verwendet mandagegen die Sprachen in nat�rlichen Kontexten, kommt es zur zusammen-gesetzten Zweisprachigkeit. Viele Modelle, die die Speicherung mehrererSprachen im Gehirn erkl�ren wollen, greifen diese Konzeption wieder auf,aber in der Sprachwirklichkeit l�sst sich das nicht immer trennen: Es gibt zuviele Konstellationen von Mehrsprachigkeit – die ja auch oft von einer rei-nen Zweisprachigkeit weggeht und drei oder mehr Sprachen umfasst, sodass man diese nicht mit einem einfachen Modell erfassen kann. Daher er-fuhr die sog. coordinate-compound-Theorie bereits in den 70er-Jahren zwei

13

Abb. 1: Typen der Zweisprachigkeit nach Weinreich (aus Roche 2013a:78)

Typen vonZweisprachigkeit

Page 13: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

1 Einleitung:Was ist Mehrsprachigkeit?

Revisionen: 1. koordinierte und zusammengesetzte Mehrsprachigkeit wur-den als zwei Pole einer Skala angesehen, auf der Zweisprachige eingeord-net werden k�nnen, 2. es wurde postuliert, dass das Sprachsystem einesZweisprachigen in einen st�rker zusammengesetzten Bereich (z.B. Lexikon)und einen st�rker koordinierten Bereich (z.B. Grammatik) unterteilt werdenm�sse. Trotz aller Kritik hat aber die Unterscheidung, die Weinreich (1953)getroffen hat, durchaus eine gewisse Plausibilit�t, die auch durch neuere Er-gebnisse aus der Hirnforschung untermauert werden, wie wir in Kap. 3.2noch sehen werden.In der Mehrsprachigkeitsforschung geht man heute davon aus, dass eine

quasi-muttersprachliche Kompetenz in zwei oder mehr Sprachen die Aus-nahme bildet. Im Allgemeinen ist f�r die Herausbildung der Kompetenzenin den jeweiligen Sprachen der Sprachgebrauch in unterschiedlichen Do-m�nen (oder in unterschiedlichen sozialen Rollen) ausschlaggebend. DieseVerteilung bezeichnet man als Diglossie (zur Definition s.u. 4.2). Außerdemkann entweder eine Sprache in allen Bereichen immer dominant sein, oderaber in einem Bereich (einer Rolle) die eine, im anderen die andere. Vielf�l-tige Zwischenformen sind denkbar.Viele Publikationen berufen sich daher auf die Definition von Els Oksaar,

die Mehrsprachigkeit wie folgt definiert:

„Mehrsprachigkeit definiere ich funktional. Sie setzt voraus, dass derMehrsprachige in den meisten Situationen ohne weiteres von der einenSprache zur anderen umschalten kann, wenn es n�tig ist. Das Verh�ltnisder Sprachen kann dabei durchaus verschieden sein – in der einen kann,je nach der Struktur des kommunikativen Aktes, u.a. Situationen undThemen, ein wenig eloquenter Kode, in der anderen ein mehr eloquenterverwendet werden“ (Oksaar 1980:43).

Nach dieser Definition kann man ein Individuum als mehrsprachig bezeich-nen, das eine oder mehrere weitere Sprachen irgendwann im Laufe seinesLebens erlernt hat und es zumindest so weit gebracht hat, dass es ohne Wei-teres von der einen in die andere Sprache umschalten kann.Franceschini (2009:33) erweitert diese Definition noch um den gesell-

schaftlichen Aspekt, indem sie vorschl�gt, Mehrsprachigkeit als eine F�hig-keit von Gesellschaften, Institutionen, Gruppen und Individuen „to engageon a regular basis in space and time with more than one language in every-day life“ zu betrachten. Sie verankert die Mehrsprachigkeit auch in den Ver-haltensweisen einer bestimmten Gruppe und definiert dabei Sprache als diekonventionalisierte Sprachform in dieser Gruppe („habitual way of commu-nication“) (Franceschini 2011:346). Dies kann auch eine Mischvariet�t zwi-schen zwei oder mehr verschiedenen Sprachsystemen sein. Diese in mehr-sprachigen Gruppen entstandenen Variet�ten k�nnen dann sogar auch voneinsprachigen Sprechern �bernommen werden, wie die sog. ,Ethnolekte‘,jugendsprachliche Mischformen, die Elemente aus Migrantensprachen inte-grieren.Ein wichtiger Aspekt, der in der neueren Forschung immer wieder disku-

tiert wird, ist, dass man Mehrsprachigkeit als einen dynamischen Prozessauffassen muss: D.h. die gerade beschriebenen Kompetenzen sind nicht sta-tisch, sondern k�nnen sich im Laufe des Lebens immer wieder verlagern, da

14

Kompetenz undDom�nen

Definition vonMehrsprachigkeit

Mehrsprachigkeit alsdynamischer Prozess

Page 14: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

1.2 Typen vonMehrsprachigkeit

sich auch die Sprachfigurationen immer wieder �ndern. Dabei gibt es Pha-sen, in denen die Kompetenzen relativ stabil sind, und Phasen, in deneneine Ver�nderung stattfindet (dazu auch Grosjean 2013:10f.). Wie bereitserw�hnt, h�ngt das meist von der Dominanz der jeweiligen Sprachen ab.Nehmen wir ein Beispiel: Ein Junge w�chst in einer t�rkischsprachigenFamilie in Deutschland auf und spricht bis zu seinem dritten Lebensjahr nurT�rkisch. Dann kommt er in einen deutschsprachigen Kindergarten undwird allm�hlich zweisprachig. In der Schule wird dann die deutsche Spra-che immer dominanter (v.a. wenn der Junge keine M�glichkeit hat, einenmuttersprachlichen Unterricht zu besuchen). Nach dem Abitur beschließtnun der junge Mann, sein Studium in der T�rkei zu absolvieren. Hier wirdnun die t�rkische Sprache dominant. Nach dem Abschluss kehrt er nachDeutschland zur�ck und je nach Verh�ltnissen kann dann die deutscheSprache wieder dominant werden usw. Wie das Beispiel zeigt, ist die domi-nante Sprache dabei nicht immer die ,Muttersprache‘ (vgl. Grosjean2013:13).Neben dieser Dynamik, die von den �ußeren Konstellationen bestimmt

wird, gibt es auch eine Dynamik, die durch kognitive Bedingungen be-stimmt ist: Dies wird etwa beschrieben in der urspr�nglich aus der Mathe-matik stammenden Dynamic Systems Theory, die von de Bot/Lowie/Verspoor (2007) auf die Mehrsprachigkeit angewendet wird. Danach beste-hen Sprachwissen und Sprachkompetenz eines Mehrsprachigen nicht ausgetrennten oder trennbaren Subsystemen (L1, L2, L3 usw.), sondern bildenein holistisches dynamisches System, in dem jede Ver�nderung Auswirkun-gen auf alle Subsysteme hat. D.h. wenn ein Mehrsprachiger ein bestimmtesKonzept oder ein sprachliches Muster in einer Sprache erwirbt, kann sichdas auch auf die Konzepte und Muster in seinen anderen Sprachen auswir-ken. Im Gegensatz zu �lteren Theorien, die prim�r den Einfluss der L1 aufalle weiteren Sprachen betrachteten, geht dieser Ansatz davon aus, dass derErwerb weiterer Sprachen auch Auswirkungen auf die Erstsprache hat. Manhat dann quasi ein sprachliches Gesamtrepertoire, aus dem man sich bedie-nen kann. Meist sind das lediglich W�rter, auf die man zur�ckgreift, wieetwa wenn man englische W�rter in das Deutsche einbaut. Allerdings sindoft auch die Bedeutung oder grammatische Strukturen vom Transfer betrof-fen (vgl. Riehl 2013a, 2014). De Bot (2004:27) betont, Sprachen seien„highly individual, idiosyncratic subsets of elements at different levels, withno real boundaries to keep them apart, and always in a state of flux“.Die F�higkeit, die gesamten sprachlichen Ressourcen nutzen zu k�nnen,

wird auch als Multicompetence bezeichnet. Cook (2005) versteht darunterdie Koexistenz von mehr als einer Sprache in einem Kopf. Wichtig ist dabeidie Tatsache, dass man jemanden, der eine Sprache als Zweitsprache lernt,nicht mit einem Muttersprachler vergleichen darf, da er unter diesem Aspektimmer als ein Sprecher, der die Sprache nicht perfekt beherrscht, erscheinenw�rde. Vielmehr pl�diert Cook daf�r, Zweitsprachlerner mit anderen Zweit-sprachlernern zu vergleichen. Er weist auch auf das hin, was in der Dyna-mic Systems Theory beschrieben wird, n�mlich dass das Lernen einer zwei-ten Sprache auch die Erstsprache beeinflusst: „the L1 in the mind of an L2user was by no means the same as the L1 in the mind of a monolingualnative speaker“ (Cook 2005:4). Auch wenn man davon ausgeht, dass das

15

Multicompetence

Page 15: Mehrsprachigkeit Eine Einführung - Buch.de · Mnchen, Mai 2014 Claudia Maria Riehl. 1Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Der Begriff ,Mehrsprachigkeit‘ bezeichnet verschiedene

1 Einleitung:Was ist Mehrsprachigkeit?

menschliche Denken grunds�tzlich universal ist, so nutzen doch die ver-schiedenen Sprachen verschiedene Konzepte oder geben verschiedeneM�glichkeiten vor, mentale Konzepte zum Ausdruck zu bringen. Bei mehr-sprachigen Menschen findet hier eine �berblendung der Konzepte statt, dieihnen die jeweils unterschiedlichen Sprachen zur Verf�gung stellen (vgl.Cook 2011). Cook (ebd.:3) formuliert das folgendermaßen, dass etwa eineenglischsprachige Person, die Japanisch als L2 gelernt hat und in Tokyo lebt,weder rein englisch noch rein japanisch „denkt“, sondern in einer Weise,die aus beiden zusammengesetzt ist.Aus diesen �berlegungen kann man nun ableiten, was Grosjean bereits

1985 (Wiederabdruck 2008) gefordert hat, n�mlich dass ein mehrsprachigerMensch nicht als ein aus zwei einsprachigen zusammengesetztes Individu-um betrachtet werden darf. Er verf�gt nicht nur �ber ein dynamischesSprachsystem, sondern unterscheidet sich von einsprachigen Menschenauch dadurch, dass er Praktiken mehrsprachigen Sprechens verwendet –wie Code-Switching oder Formen des �bersetzens von einer Sprache in dieandere. Oder wie Garc�a (2009:44f.) es formuliert: „a bilingual person is aperson that ,languages‘ differently“. Daher darf man auch einen mehrspra-chigen Menschen nicht mit einem einsprachigen vergleichen. Grosjean(2008:14) verdeutlicht dies sehr sch�n am Bild eines H�rdenl�ufers: EinH�rdenl�ufer vereinigt im Prinzip zwei Sportarten in sich, den des Sprintersund den des Hochspringers. Er wird aber nie so hohe Leistungen in diesenbeiden Sportarten erreichen wie Sportler, die nur auf Sprint oder Hoch-sprung spezialisiert sind. Und es wird ihn auch niemals jemand mit einemSprinter oder Hochspringer vergleichen. Ein bilingualer Sprecher ist nunwie ein H�rdenl�ufer: er vereint zwei verschiedene Sprachen, wird aber inder Regel weder in der einen noch in der anderen Sprache einem monolin-gualen Sprecher einer der beiden Sprachen gleichen. Daher darf er auchnicht mit einem monolingualen Sprecher verglichen werden.

1.2.4 Innere und �ußereMehrsprachigkeit

Bei der Typisierung von Mehrsprachigkeit spielt ein weiterer Aspekt eineRolle, n�mlich der Status der beteiligten Sprachen: Diese k�nnen zwei vollausgebaute Kultursprachen von internationalem Prestige sein, wie Italie-nisch und Deutsch oder Franz�sisch und Deutsch. Es kann sich aber auchum eine Kultursprache und eine Sprache mit regionaler kommunikativerReichweite handeln (z.B. Italienisch und Ladinisch) oder um eine Kultur-sprache und einen dachlosen Dialekt (Franz�sisch und Els�sserdeutsch).Bisher wurde davon ausgegangen, dass nur Individuen mehrsprachig

sind, die in zwei (oder mehreren) verschiedenen Sprachen kommunizieren.Aber daneben hat man ja auch viele verschiedene Variet�ten bzw. Registerzur Verf�gung, die ebenfalls Teil unseres Sprachsystems sind. Daher setztsich die Bilingualismus-Forschung auch mit der Frage auseinander, ob essich nicht auch da um Mehrsprachigkeit handelt, wo nicht eigentliche Spra-chen, sondern Variet�ten ein und derselben Dachsprache involviert sind.Darunter kann man Dialekte (= regional bestimmte Variet�ten einer Spra-che) oder Soziolekte (= gruppenspezifische Variet�ten) z�hlen. Um diesemUmstand Rechnung zu tragen, wurde eine Begriffsunterscheidung einge-

16

Ph�nomenmehr-sprachiger Mensch