mit Film · 2019-02-22 · Peter Bichsel hat im Vorwort zu Meienbergs Reportage bemerkt, man werde...

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9lcite Ädjtt Seitling INLAND Donnerstag, 7. Juli 1977 Nr. 157 27 Geschichtsschreibung mit Film und Klassenkampf Zur Kontroverse um den «.Landesverräter Ernst S.» Von Georg Kreis, Basel Wie immer man sich zu dem im Film «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.v ver- breiteten Geschichts- und Gesellschaftsbild ein- stellt anerkennen niiiss man, dass der Film eine lebhafte Diskussion über die Schweiz in den Jah- ren der nationalsozialistischen Bedrohung ausge- löst hat. Leider kann man ob de r Tatsache, dass diese an sich begrüssenswerte Diskussion stattfin- det, nicht froh werden, wenn man bedenkt, wel- chen Anreiz es brauchte und was das Ergebnis dieses Anreizes ist. Es bedurfte cines polemischen Filmes, und das Ergebnis ist teilweise Konfusion. Niklaus Meienberg und Richard Dindo ist es ge- lungen, mit ihrer Polemik die Aufmerksamkeit und mit den ausgestreuten Verdächtigungen da und dort auch den Zweifel am Verteidigungswil- len de r damals an führender Stelle tätigen Manner zu mobilisieren. Von einer fruchtbaren Verunsi- cherung konnte man reden, wenn es darum gegan- gen wäre, eine Diskussion über die Todesstrafe im allgemeinen und über die im letzten Aktivdienst vollstreckten Hinrichtungen im besonderen auszu- lösen. Dieses Thema ist ausführlich diskutiert worden und wird auch weiterhin Gegenstand neuer Diskussionen sein. Eine Auseinandersetzung indessen, die einzig um ethisch-religiöse und staatspolitisch-militäri- sche Fragestellungen kreist, übergeht zwei wich- tige Aspekte, auf die hier noch näher eingegangen werden soll: den ideologischen Unterhau, der die Geschicht e vom armen Ernst zu einem klassen- kämpferischen Agitationsstück macht, und die Mittel, die eingesetzt werden, um die Dokumenta- tion mit dem politischen Programm gleichzuschal- ten. Für die Filmemacher ist das dargestellte Einzelschicksal ein exemplarischer Fall, an dem de r «herrschenden Klasse» der Prozess gemacht werden soll. In einer Hinsicht ist der Film sicher exemplarisch: er zeigt, wessen Geistes Kind die Anwälte einer angeblich besseren Welt sind.* «Kommafehler» oder Manipulation? Peter Bichsel hat im Vorwort zu Meienbergs Reportage bemerkt, man werde sich gewiss beei- len, dem Verkünder unangenehmer Wahrheiten einen Kommafehler nachzuweisen. Einer dieser nicht unwesentlichen und in der Filmfassung mehrfach wiederholten «Kommafehler» ist die Be- hauptung, der einfache Kanoniers , sei als erster hingerichtet worden. In Wirklichkeit sind zuerst zwei Offiziere zum Tode verurteilt worden, die man nicht so leicht als ausgebeutete Opfer der Ge- sellschaft präsentieren kann und deren Fälle schlecht zur These passen, man habe bei der Ver- folgung des Verrats militärischer Geheimnisse Klassenjustiz geübt. Handelt es sich um einen Irr- tum oder um eine bewusste Fehldarstellung? An anderer Stelle haben die Autoren selbst die Zei- tungsmeldung kurz eingeblendet, woraus man ent- nehmen kann, dass im Fall S. ein neues Todesur- teil ausgesprochen worden ist. Ist auch dies nur ein Kommafehler, ein klas- senkämpferisches Gentlemandelikt gewissermassen, wenn Dindo in seiner Filmchronik über den Besit- zer des «Badener Tagblattes» als Antwort auf eine ihm unangenehme Filmkritik die tatsachenwidrige und verleumderische Behauptung verbreitet, er habe 1940 die pressefeindlichc «Eingabe der Zwei- hundert» unterzeichnet und mithin zu jenen Leu- ten gehört, über die de r Film in verschleierter Form sagt, sie hätten erschossen werden sollen? Irrtum oder Fälschung, muss man sich auch hier fragen. Was ist von solchen Leuten zu halten, die für sich lautstark in Anspruch nehmen, die besse- ren «Rcchcrchiercr» zu sein, und zugleich eine schwerwiegende Falschmeldung verbreiten, indem sie die besagte Petitionsliste bewusst «erweitern» oder es unterlassen, ihre Behauptung an de r leicht zugänglichen Liste zu überprüfen? Im Film herrscht eine auffallende Uebcrein- stimmung zwischen den Meinungsäusserungen de r Befragten und den Ansichten der Filmhersteller. Wie kommt es dazu? Bekanntlich können Ant- worten durch Fragestellungen weitgehend ge- steuert und störende Aussagen geschnitten wer- den, sofern die Manipulation durch den Ge- sprächspartner nicht richtig funktioniert. Beides ist im vorliegenden Streifen geschehen. Unvorsich- tigerweise lassen sich die Fragesteller einmal in die Karten blicken, indem sie auch den suggestiven Impuls mitliefern, der nicht einmal syntaktisch die Qualität einer Frage aufweist. «In den höheren Kreisen hat es ja überzeugte Nazis gegeben», lau- tet die «Frage», worauf (wen erstaunt's) de r Ge- sprächspartner sagt: «Ja natürlich, mehr als zwei- hundert, will's Gott.» Eine solchermassen um «richtige» Antworten bemühte Regie ist denn auch keineswegs daran in- teressiert, einmal provozierte falsche Antworten zu korrigieren oder einseitige Ansichten mit an- dcrscitigen Auffassungen zu konfrontieren, würde doch sonst die Meinung etwa, dass die herr- schende Klasse der Schweiz nicht viel besser sei als diejenige des Dritten Reiches, ihre ideologische Handlichkeit verlieren. Es wäre freilich verfehlt, von einem Tendenzfilm Ausgewogenheit zu er- warten. Der Landesverräterin! ist extrem einsei- tig und darf dies auch sein. Nicht unwiderlegt darf indessen der - gerade von Propagandisten immer mit besonderem Nachdruck erhobene An- spruch hingenommen werden, bloss eine unvorein- genommene und wahrheitsgetreue Dokumentation zusammengestellt zu haben. Die Ausführungen dieses Artikels beziehe n sich auf folgende Publikationen: 1. Text der (zweiten?) Filmfassung und Interview mit Meienberg und Dindo vom 13. Januar 1977, in: Film 2 Heft 3. 2. Niklaus Meienbergs erste Buch- fassung der Reportage über Ernst S., Luchterhand 1974. 3. Zweite Buchfassung mit Dindos Filmchronik vom Fe- bruar 1977 im Anhang. Sammlung Luchlerhand 247. Variationen der Wahrheit Das Filmkollektiv gibt sich objektiver, als es ist, und tut so, als ob es sich eine unverfälschte Reportage leisten könne, weil die Wahrheit ohne- hin «links» ist. Man kann Richard Dindo bei- pflichten, wenn er sagt, der Film wirke gerade deshalb politisch stark, weil die Autoren «selbst keine Aussagen mehr machen, sondern die Leute aus dem Volk reden lassen . . .». Keine Aussagen mehr: von seiten de r Regie sind die Aussagen (ab- gesehen von de r Montage, über die ebenfalls man- ches zu sagen wäre) eben in den Vorbesprechun- gen und in den unterschlagenen Fragen gemacht worden. Und was die «Leute aus dem Volk» vor der Kamera aussagen, sind längst keine spontanen Aeusserungcn mehr. Während man die in de r Zeit selbst entstandenen schriftlichen Quellen nicht mehr ändern kann und eine allenfalls einseitige Ausbeutung de r Quellen durch Dritte überprüfbar ist, lassen sich mündliche Quellen tendenzgemäss fabrizieren und zusammenschneiden. Enthält bei- spielsweise das Bonjour-Inlerview nicht auch Aeusserungcn, die sich weniger gut für die Zwecke d e r Regie einspannen lassen? Die recher- chierte Dokumentation hatte sich schon eine erste Zensur gefallen lassen müssen, bevor die Regie unter dem Druck rechtlicher Klagen ein zweites- mal Selbstzensur übte. Geradezu grotesk ist es, wenn, wie das kürz- lich in einem Plädoyer für die Zusprechung der bundesrätlichen Qualitätsprämie geschehen ist. das variantenreiche Machwerk mit Wahrheitsfindung und historischer Wahrhaftigkeit in Zusammen- hang gebracht wird. Welche Variante soll prämiert werden? Diejenige, die eingangs behauptet, die Schweiz habe während des Zweiten Weltkrieges abgesehen von den Erschiessungen im tiefsten Frieden geruht, oder diejenige, die diese absurde Behauptung leider nicht mehr ausspricht, sie aber weiter als Grundlage des Szenarios behält? Oder diejenige, in der die schiefen Vergleiche mit den «grossen Landesverrätern» nicht vor ehrverletzen- den Acusserungen zurückschrecken, oder diejeni- ge, die leichtfüssig ihre «Wahrheiten» abändert, weil sie mit der Wahrheit in Konflikt zu geraten droht? Theorichedürfiiis und FaktenvcracIiliiiiK Befürworter des Films haben geltend machen wollen, es sei ohnehin nicht möglich, eine objek- tive Darstellung der Vergangenheit zu geben, und jede Generation solle ihre Geschichte neu schrei- ben dürfen. Die Einsicht, dass jede Historiogra- phie zeitbedingt sei, entbindet weder die Autoren noch ihr Publikum, sich dennoch um ein Bild zu bemühen, das der wissenschaftlichen Kritik (im Sinne de r Nachvollziehbarkeit und Ueberprüfbar- keit durch Dritte) standhält und in dem Zeitgenos- sen wie Nachgeborene annähernd die gleiche Ver- gangenheit wiedererkennen können. Für Meien- berg und Dindo ist die Vergangenheit bloss ein Steinbruch, aus dem sie die Wurfgeschosse für ihre Gegenwartspolemik beziehen. Nachdem sie die Geschichte ihres kleinen Landesverräters bei- sammen hatten, reisten die Autoren für ein paar Tage nach Bonn und suchten (wie Dindo selbst darlegt) im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes dem Kleinen ein paar grosse Landesverrä- ter gegenüberzustellen. Wen wundert es, dass sie dann meinten gefunden zu haben, was sie auf jeden Fall finden wollten? So willkürlich ihre Ausbeute ist Meienberg und Dindo verstehen ihre Darstellung keineswegs als Diskussionsbeitrag zu einer relativen, immer provisorisch bleibenden und sich stets weiterent- wickelnden Geschichtsschreibung. Relativ sind bloss die verschiedenen Fassungen ihrer Geschich- te. Der Anspruch, mit dem sie ihre Vision verkün- den, ist absolut. Sie behaupten, die Geschichts- schreibung vom Kopf wieder auf die Füsse gestellt zu haben, und sind in ihrem Theorie- und Glau- bensbedürfnis so weit gegangen, nicht nur den ausgewählten Zeitabschnitt, sondern die Zeit- geschichte schlechthin über einen Leisten zu schlagen. Neolinker Faschismusverdacht Wegleitend für die Präsentation des Einzelfalls Ernst S. war die Absicht, hinter der formalen ge- setzlichen Gleichheit die «Klassenverhältnisse» sichtbar zu machen. Meienberg wollte mit seiner Geschichte etwas nachholen, was er schon 1971. im Bonjour-Bcricht vermisst hatte: eine Darstel- lung, die das Verhalten der verschiedenen Klassen analysiere. Gegen diesen Ansatz ist auch vom wis- senschaftlichen Standpunkt aus überhaupt nichts einzuwenden, sofern er nicht mit der politischen Absicht verbunden ist, eine Gesellschaftsschicht pauschal zu diffamieren. Inwiefern ist das indivi- duelle wie das kollektive Handeln durch die sozio- ökonomischen Bedingungen bestimmt? Leider ist diese Fragestellung bisher fast ausschliesslich von doktrinären Denkern der Linken gepflegt worden, mit dem Resultat, dass die meisten Abhandlungen von de r Absicht gezeichnet sind, den «Klassen- kampf» nicht nur zu analysieren, sondern in den Untersuchungen selbst zu betreiben. Dindo klagt, die Klassenstruktur sei in der Schweiz besonders gut versteckt, weshalb man «besondere Anstren- gungen» unternehmen müsse, sie zu finden. Worin diese Anstrengungen bestanden haben, ist dargelegt worden. Einmal mehr leiden die marxistischen Theoretiker an der Tatsache, dass sich in der kleinräumig industrialisierten Schweiz der halb in- dustriellen, halb agrarischen Gesellschaft die pro- letarischen Massen nicht finden lassen. Ihrem Notstand abhelfen soll die Misere eines Kummer- buben, der sich nicht in die Gesellschaft integrie- ren konnte. Warum hat Meienberg für seine Exemplifizie- rung den denkbar schlechtesten Zeitabschnitt der schweizerischen Zeitgeschichte ausgewählt, die Jahre nämlich, da in den gesellschaftspolitischen wie in den aussenpolitischen Fraget! die Frontlinien weniger entlang den Gesellschaftsschichten als vielmehr quer durch sie hindurch liefen? Es sind die Jahre, mit denen die helvetische Neolinke den Verdacht, dass die Bourgeoisie den Faschismus in sich trage, an konkreten Beispielen angeblicher Sympathie oiler Kollaboration mit dem Dritten Reich belegen möchte. Mit einer Unverfrorenheit, wie man sie vor allem ans der nationalsozialisti- schen Propaganda kennt, wird de r nachgewiesene Fall einer wirklichen Kollaboration verharmlost (mehrfach wird de r Tatbestand als «Dummheit» oder als «Seich» umschrieben) und werden zu- gleich «die Herrschenden» mit unbelebten Be- hauptungen einer imaginären Kollaboration ver- dächtigt. Die Jury der Mannheimer Filmwoche hat mit ihrer Laudatio gezeigt, wie schlecht sie die Geschichte jener Jahre und wie gut sie hingegen die Botschaft tles Filmes begriffen hat, wenn sie lobend hervorhebt, de r Film benenne diejenigen, «die an der Macht waren und mit dem Faschismus kollaborierten». Zum Tatbestand: Indem er die unqualifizierte Bezeichnung «Granaten:) verwendet, erweckt Mei- enberg den Eindruck, man habe den Kleinen wegen einer bescheidenen «Waffenlieferung» hin- gerichtet, während oben die Grossen in industriel- lem Ausmass an die gleiche Seile die gleichen Granaten lieferten. Will oder kann Meienberg nicht auseinanderhalten, dass es sich keineswegs um die gleiche Munition gehandelt hat, sondern einmal um leichte Flabmunition und im Fall der Panzergranate um die geheimgehaltene Eigenent- wicklung der Kriegstechnischen Abteilung? Gerade im Fall der Schweiz, stimmt die These nicht, wonach Grossbürgertum, Finanzkapital usw. allein schon auf Grund ihrer Interessenlage Parteigänger dos Dritten Reiches gewese n seien. Die Dicke des Portefeuilles war nicht ausschlagge- bend für die Einstellung gegenüber dem Faschis- mus. Der Film erweckt beispielsweise den völlig falschen Eindruck, Emil Bührle habe als neu- schweizerischer Grossbürger, und das heisst als potentieller Anhänger der tausendjährigen Neu- ordnung. Waffen nach Deutschland exportiert. Die Firma Oerlikon hätte, wenn ihr dies möglich gewese n wäre, gewiss gerne im gleichen Ausmass an die «antifaschistische» Allianz, geliefert. Bei Kriegsbeginn konnt sie noch einen englischen Auftrag von viereinhalb Millionen Pfund entge- gennehmen, der die Lieferung von 1500 Flabkano- nen vorsah. Oerlikon-Flab-Geschütze bekämpften in de r Luftschlacht um England deutsche Maschi- nen, die mit Ocrlikon-Bordkanomm ausgerüstet waren, was, wenn man will, ähnlich absurd war wie die Tatsache, dass die schweizerische Luft- waffe mit aus Deutschland bezogenen Me-109 Luftraumverletzungen durch deutsche Flugzeuge bekämpfte. Und nach dem Krieg meldete sich beim angeblich «profaschistischen» Bührle als neuer Kunde die «antifaschistische» Armee der Sowjetunion. Es sei zugegeben, dass es schwierig ist, solche Fakten in schlagende Thesen zu verar- beiten. Leichter ist es, ein unerbittlicher Denker zu sein, wenn man unerbittlich gewisse Dinge nicht denkt. Heimliche Unterscheidungen Die Politik beginnt bei de r Verwendung de r Wörter, bei der Einführung heimlicher Aussonde- rungen, de r Unterscheidung etwa zwischen Fa- schisten und Arbeitern, als ob es unter den Ar- beitern nicht auch Frontisten gegeben hätte, als ob Sympathien für den Nationalsozialismus nur in Teilen des Bürgertums gehegt worden wären. Hier Frontisten und dort Arbeiter wenn man dies nur lange genug wiederholt, wird es geglaubt. Und lässt sich das Bürgertum (was immer das ist) vor den Augen der Bürger nicht leichter diffamieren, wenn man. wie das Zwciklassenmodell des Filmes es tut, den Mittelstand als nicht existent oder zum mindesten als nicht zum «Bürgertum» gehörend be- handelt? Eine heimlich-unheimliche Weichenstel- lung enthält die Behauptung, die Geschichte sei nur dann ein Geschichte fürs Volk und des Vol- kes, wenn sie die Qualität eines klassenkämpferi- schen Lehrstückes aufweist. Die Autoren geben sich als Volksredner und lassen sich gerne attestie- ren, parteiisch fürs Volk zu sein. Zum Volksfeind wird, wer ihre Meinung nicht teilt, und Volksfeind ist, wer als Oberer oder «Herrschender» nicht zum Volkskörper gehört. Ist man bereit, diese «Wahr- heiten» anzuerkennen, folgt der nächste Schritt, fol- gen die effektiven Aussonderungen, die konkreten Massnahmen. Hier gilt es, den Anfängen zu weh- ren. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich totalitäre Ideologen eines Begriffes bemächtigen, um einen Weg anzutreten, der von der Volksdemokratie über den Volksgerichtshof zum Volkssturm führt. Neben den heimlichen Unterscheidungen ver- sucht der Film mit dem erweiterten Begriff des Landesverrats eine heimliche Gleichsetzung einzu- schleusen, indem er politische Haltungen oder Handlungen mit dem strafrechtlich genau um- schriebenen Delikt des Verrats militärischer Ge- heimnisse gleichsetzt. Warum die Rechtsordnung unseres Staates das Gesinnungsdelikt als Straftat- bestand nicht kennt, erklärt sich Meienberg damit, dass die Oberen die Gesetze eben auf ihre eigenen Interessen abstimmen würden und es einzurichten wüssten, dass ihre (verräterische) Gesinnung kei- ner Strafverfolgung ausgesetzt sei. Wer soll entscheiden, welche Gesinnung und weicher Gesinnungstäter verfolgt werden soll? Massstab für die Beurteilung des politischen Ver- rates wäre für Meienberg die politische Effizienz, wobei für ihn kein Zweifel besteht, dass die von Bundesrat Pilets Politik ausgegangene Wirkung weit schädlicher gewesen sei als das Vergehen des Ernst S. Man habe den Bundesrat eben nicht er- schiessen können, weil solche Hinrichtungen das zum Vorteil der Grossen angelegte System ge- sprengt hätten. Der Autor de r Landesverräterre- portage gibt zum mindesten zur Vermutung An- lass, dass er bei der Beurteilung dessen, was poli- tisch schädlich und deshalb strafrechtlich zu ahn- Klasseujustiz? Bii. Es wurde In diesem Blatt schon früher aul die merkwürdige geistig-politische Konstellation hingewiesen, welche in der Tatsache zu erblicken ist, class sich heute einzelne linke Intellektuelle, so Niklaus Meienberg und seine publizistischen Tra- banten im Fall des Landesverräters Ernst S., in die Rolle von Anwälten einstiger Zuträger und Hel- fershelfer de r Hitlerschen Sache begeben. Sie tun das, wie zu bemerken ist, meist nicht plump und direkt, sondern auf indirekte und subtile Weise, indem sie auf dem Hintergrund einer verharm- losenden und verständnisvollen Darstellung cines bestraften Verräters den Vorwurf de r «Klassen- justiz» erheben, um damit die verantwortlichen Behörden von damals (inklusive sozialdemokra- tischen Parlamentarier, weiche Begnadigungs- gesuche zum Tode verurteilter Landesverräter In de r Bundesversammlung mehrheitlich ablehnten) und die «bürgerliche» Schweiz von heule auf die Anklagebank zu versetzen. Wie ist dieser Vor- wurf der Klassenjustiz, zu beurteilen ein Vor- wurf übrigens, der nicht neu, vielmehr schon sei- nerzeit erhoben worden ist, wenngleich anders als heute nicht von Linken, sondern von einem Ex- ponenten de r schweizerischen Nationalsozialisten in «Grossdeutschland » wie Franz Burri? Für ein historisch stichhaltiges Urteil muss man sich die völlig aussergewöhnliche Bedro- hungssituation vor Augen halten, in de r sich die Schweiz während der Kriegsjahre befand, als auf Grund der militärischen Erfolge Hitlers ringsum schon die Schatten der potentiellen Henker über unsere Landesgrenzen fielen und verräterische Schweizer im Dienste nationalsozialistischer Amts- stellen bereits «Gcnickschiisslisten.» für die Ver- nichtung aller «Reichsfeinde» nach de r Besetzung unseres Landes erstejlten. Wer in den Berichten des Bundesrates über die «antidemokratische Tä- tigkeit von Schweizern und Ausländern» (von 1945) und über die «Verfahren gegen national- sozialistische Schweizer wegen Angriffs auf die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft» (von 1948) nachliest, was in den Kriegsjahren alles gegen den Selbstbehauptungswillen der Schweiz, von Schweizern und Deutschen ins Werk gesetzt wurde, kann auch nachträglich die Notwendigkeit harter Urteile gegen Verräter verstehen und zu- mindest nachvollziehen, weshalb der Bundesrat Ende Mai 1940 für Landesverrat im Bereich de r Armee, die ein zentrales Instrument de r Selbst- behauptung war. die Todesstrafe als Höchststrafe festsetzte und diese erst bei Kriegsende wieder abschaffte. Wenn man sich die Spionagetätigkeit und die Verratshandlungen in den Jahren 1939 bis 1945 in ihrem ganzen Ausmass vor Augen hält, so wird man sich hüten, den Fall Ernst S. isoliert unter sozialen Gesichtspunkton zu betrachten. Eine Durchsicht de r insgesamt 471 militärgerichtlichen Urteile (darunter 33 Todesurteile, wovon 17 voll- streckt, und 50 lebenslängliche Freiheitsstrafen) und der Liste der 489 durch zivile Gerichte ver- urteilten Personen (davon 387 während der Kriegsjahre und 102 weitere, deren in Deutsch- land gegen die Schweiz begangene Vergehen erst nach dem Krieg verfolgt werden konnten, dar- unter Dr. Barwirsch und Franz Burri mit der Maximalstrafe) zeigen, dass man der damaligen Rechtsprechung Klassengeist nicht ernstlich unter- stellen kann. Offiziere standen ebenso vor den Gerichten wie Soldaten, verräterische Unterneh- mer und Journalisten ebenso wie Hilfschaufleure. Weder Verratshandlungcn noch die harten Urteile waren das Privileg eines Standes oder einer Klasse. Und was die Strafzumessung betrifft, so konnte der Bundesrat am Schluss seines Berichts von 1948 feststellen, dass, wer bei der Verrats- tätigkeit «in führender Stellung war, . .. strenger, wer untergeordnete Aufgaben erfüllte oder die Schweizer Verhältnisse ungenügend kannte, mil- de r bestraft» wurde und dass es für Verrats- handlungen um des wirtschaftlichen Vorteils wil- len keine besondere Nachsicht geben durfte. den sei. wenig Hemmungen hätte . Wie solche Ver- fahren durchgeführt würden, zeigt die erschrek- kende Verachtung, die Niklaus M. der Tatsache entgegenbringt, dass im Verfahren S. alles seine Ordnung gehabt habe und der Fall von Instanz zu Instanz gereicht worden sei. Den auch hier ansatz- weise in Erscheinung tretenden totalitären Ord- nungsvorstellungen muss ebenfalls von Anfang an entschieden entgegengetreten werden. Max Frisch hat sich kürzlich mit den Autoren und ihrem Werk öffentlich solidarisiert und sich dabei wohl kaum an seinen «Biedermann und die Brandstifter» erinnert. Für ihn mag sein Stück wirklich zu einem Lehrstück ohne Lehre geworden sein anderen bleibt es eine eindrückliche De- monstration, worauf es hinausläuft, wenn man glaubt, mit Fraternisieren verhindern zu können, dass de r Ringer Schmitz und der Kellner Eisen- ring im Dachstock Feuer legen. Luntenleger sind Meienberg und Dindo nicht, weil sie den Schlaf der Gerechten storen und zur Diskussion heraus- fordern. Sie sind es insofern, als sie die Auseinan- dersetzung mit unlauteren Mitteln führen und ver- suchen, die Wahrheit ihren politischen Ambitio- Anzeige Befeuchten... eine neue Technik Creme Rehydrotonte Double fiction Hamüet Huhbiivcl Z7^LJ Neue Zürcher Zeitung vom 07.07.1977

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Page 1: mit Film · 2019-02-22 · Peter Bichsel hat im Vorwort zu Meienbergs Reportage bemerkt, man werde sich gewiss beei-len, dem Verkünder unangenehmer Wahrheiten einen Kommafehler nachzuweisen.

9lcite Ädjtt Seitling INLAND Donnerstag, 7. Juli 1977 Nr. 157 27

Geschichtsschreibung mit Film und Klassenkampf

Zur Kontroverse um den «.Landesverräter Ernst S.»

Von Georg Kreis, Basel

Wie immer man sich zu dem im Film «DieErschiessung des Landesverräters Ernst S.v ver-breiteten Geschichts- und Gesellschaftsbild ein-stellt anerkennen niiiss man, dass der Film einelebhafte Diskussion über die Schweiz in den Jah-ren der nationalsozialistischen Bedrohung ausge-löst hat. Leider kann man ob d er Tatsache, dassdiese an sich begrüssenswerte Diskussion stattfin-det, nicht froh werden, wenn man bedenkt, wel-chen Anreiz es brauchte und was das Ergebnisdieses Anreizes ist. Es bedurfte cines polemischenFilmes, und das Ergebnis ist teilweise Konfusion.Niklaus Meienberg und Richard Dindo ist es ge-lungen, mit ihrer Polemik die Aufmerksamkeitund mit den ausgestreuten Verdächtigungen daund dort auch den Zweifel am Verteidigungswil-len d er damals an führender Stelle tätigen Mannerzu mobilisieren. Von einer fruchtbaren Verunsi-cherung konnte man reden, wenn es darum gegan-gen wäre, eine Diskussion über die Todesstrafe imallgemeinen und über die im letzten Aktivdienstvollstreckten Hinrichtungen im besonderen auszu-lösen. Dieses Thema ist ausführlich diskutiertworden und wird auch weiterhin Gegenstand

neuer Diskussionen sein.Eine Auseinandersetzung indessen, die einzig

um ethisch-religiöse und staatspolitisch-militäri-sche Fragestellungen kreist, übergeht zwei wich-tige Aspekte, auf die hier noch näher eingegangen

werden soll: den ideologischen Unterhau, der dieGeschichte vom armen Ernst zu einem klassen-kämpferischen Agitationsstück macht, und dieMittel, die eingesetzt werden, um die Dokumenta-tion mit dem politischen Programm gleichzuschal-

ten. Für die Filmemacher ist das dargestellte

Einzelschicksal ein exemplarischer Fall, an demd er «herrschenden Klasse» der Prozess gemachtwerden soll. In einer Hinsicht ist der Film sicherexemplarisch: er zeigt, wessen Geistes Kind dieAnwälte einer angeblich besseren Welt sind.*

«Kommafehler» oder Manipulation?

Peter Bichsel hat im Vorwort zu MeienbergsReportage bemerkt, man werde sich gewiss beei-len, dem Verkünder unangenehmer Wahrheiteneinen Kommafehler nachzuweisen. Einer diesernicht unwesentlichen und in der Filmfassung

mehrfach wiederholten «Kommafehler» ist die Be-hauptung, der einfache Kanoniers, sei als ersterhingerichtet worden. In Wirklichkeit sind zuerstzwei Offiziere zum Tode verurteilt worden, dieman nicht so leicht als ausgebeutete Opfer der Ge-sellschaft präsentieren kann und deren Fälleschlecht zur These passen, man habe bei der Ver-folgung des Verrats militärischer GeheimnisseKlassenjustiz geübt. Handelt es sich um einen Irr-tum oder um eine bewusste Fehldarstellung? Ananderer Stelle haben die Autoren selbst die Zei-tungsmeldung kurz eingeblendet, woraus man ent-nehmen kann, dass im Fall S. ein neues Todesur-teil ausgesprochen worden ist.

Ist auch dies nur ein Kommafehler, ein klas-senkämpferisches Gentlemandelikt gewissermassen,wenn Dindo in seiner Filmchronik über den Besit-zer des «Badener Tagblattes» als Antwort auf eineihm unangenehme Filmkritik die tatsachenwidrigeund verleumderische Behauptung verbreitet, erhabe 1940 die pressefeindlichc «Eingabe der Zwei-hundert» unterzeichnet und mithin zu jenen Leu-ten gehört, über die d er Film in verschleierterForm sagt, sie hätten erschossen werden sollen?Irrtum oder Fälschung, muss man sich auch hierfragen. Was ist von solchen Leuten zu halten, diefür sich lautstark in Anspruch nehmen, die besse-ren «Rcchcrchiercr» zu sein, und zugleich eineschwerwiegende Falschmeldung verbreiten, indemsie die besagte Petitionsliste bewusst «erweitern»oder es unterlassen, ihre Behauptung an d er leichtzugänglichen Liste zu überprüfen?

Im Film herrscht eine auffallende Uebcrein-stimmung zwischen den Meinungsäusserungen d erBefragten und den Ansichten der Filmhersteller.Wie kommt es dazu? Bekanntlich können Ant-worten durch Fragestellungen weitgehend ge-steuert und störende Aussagen geschnitten wer-den, sofern die Manipulation durch den Ge-sprächspartner nicht richtig funktioniert. Beidesist im vorliegenden Streifen geschehen. Unvorsich-tigerweise lassen sich die Fragesteller einmal in dieKarten blicken, indem sie auch den suggestivenImpuls mitliefern, der nicht einmal syntaktisch dieQualität einer Frage aufweist. «In den höherenKreisen hat es ja überzeugte Nazis gegeben», lau-tet die «Frage», worauf (wen erstaunt's) d er Ge-sprächspartner sagt: «Ja natürlich, mehr als zwei-hundert, will's Gott.»

Eine solchermassen um «richtige» Antwortenbemühte Regie ist denn auch keineswegs daran in-teressiert, einmal provozierte falsche Antwortenzu korrigieren oder einseitige Ansichten mit an-dcrscitigen Auffassungen zu konfrontieren, würdedoch sonst die Meinung etwa, dass die herr-schende Klasse der Schweiz nicht viel besser seials diejenige des Dritten Reiches, ihre ideologischeHandlichkeit verlieren. Es wäre freilich verfehlt,von einem Tendenzfilm Ausgewogenheit zu er-warten. Der Landesverräterin! ist extrem einsei-tig und darf dies auch sein. Nicht unwiderlegt darfindessen der - gerade von Propagandisten immermit besonderem Nachdruck erhobene An-spruch hingenommen werden, bloss eine unvorein-genommene und wahrheitsgetreue Dokumentationzusammengestellt zu haben.

Die Ausführungen dieses Artikels beziehen sich auffolgende Publikationen: 1. Text der (zweiten?) Filmfassungund Interview mit Meienberg und Dindo vom 13. Januar1977, in: Film 2 Heft 3. 2. Niklaus Meienbergs erste Buch-fassung der Reportage über Ernst S., Luchterhand 1974.3. Zweite Buchfassung mit Dindos Filmchronik vom Fe-bruar 1977 im Anhang. Sammlung Luchlerhand 247.

Variationen der WahrheitDas Filmkollektiv gibt sich objektiver, als es

ist, und tut so, als ob es sich eine unverfälschteReportage leisten könne, weil die Wahrheit ohne-hin «links» ist. Man kann Richard Dindo bei-pflichten, wenn er sagt, der Film wirke gerade

deshalb politisch stark, weil die Autoren «selbstkeine Aussagen mehr machen, sondern die Leuteaus dem Volk reden lassen . . .». Keine Aussagen

mehr: von seiten d er Regie sind die Aussagen (ab-gesehen von d er Montage, über die ebenfalls man-ches zu sagen wäre) eben in den Vorbesprechun-gen und in den unterschlagenen Fragen gemacht

worden. Und was die «Leute aus dem Volk» vorder Kamera aussagen, sind längst keine spontanenAeusserungcn mehr. Während man die in d er Zeitselbst entstandenen schriftlichen Quellen nichtmehr ändern kann und eine allenfalls einseitigeAusbeutung d er Quellen durch Dritte überprüfbarist, lassen sich mündliche Quellen tendenzgemäss

fabrizieren und zusammenschneiden. Enthält bei-spielsweise das Bonjour-Inlerview nicht auchAeusserungcn, die sich weniger gut für dieZwecke d er Regie einspannen lassen? Die recher-chierte Dokumentation hatte sich schon eine ersteZensur gefallen lassen müssen, bevor die Regie

unter dem Druck rechtlicher Klagen ein zweites-mal Selbstzensur übte.

Geradezu grotesk ist es, wenn, wie das kürz-lich in einem Plädoyer für die Zusprechung derbundesrätlichen Qualitätsprämie geschehen ist. dasvariantenreiche Machwerk mit Wahrheitsfindungund historischer Wahrhaftigkeit in Zusammen-hang gebracht wird. Welche Variante soll prämiertwerden? Diejenige, die eingangs behauptet, dieSchweiz habe während des Zweiten Weltkriegesabgesehen von den Erschiessungen im tiefstenFrieden geruht, oder diejenige, die diese absurdeBehauptung leider nicht mehr ausspricht, sie aberweiter als Grundlage des Szenarios behält? Oderdiejenige, in der die schiefen Vergleiche mit den«grossen Landesverrätern» nicht vor ehrverletzen-den Acusserungen zurückschrecken, oder diejeni-ge, die leichtfüssig ihre «Wahrheiten» abändert,weil sie mit der Wahrheit in Konflikt zu geratendroht?

Theorichedürfiiis und FaktenvcracIiliiiiKBefürworter des Films haben geltend machen

wollen, es sei ohnehin nicht möglich, eine objek-tive Darstellung der Vergangenheit zu geben, undjede Generation solle ihre Geschichte neu schrei-ben dürfen. Die Einsicht, dass jede Historiogra-phie zeitbedingt sei, entbindet weder die Autorennoch ihr Publikum, sich dennoch um ein Bild zubemühen, das der wissenschaftlichen Kritik (imSinne d er Nachvollziehbarkeit und Ueberprüfbar-keit durch Dritte) standhält und in dem Zeitgenos-sen wie Nachgeborene annähernd die gleiche Ver-gangenheit wiedererkennen können. Für Meien-berg und Dindo ist die Vergangenheit bloss einSteinbruch, aus dem sie die Wurfgeschosse fürihre Gegenwartspolemik beziehen. Nachdem siedie Geschichte ihres kleinen Landesverräters bei-sammen hatten, reisten die Autoren für ein paarTage nach Bonn und suchten (wie Dindo selbstdarlegt) im Politischen Archiv des AuswärtigenAmtes dem Kleinen ein paar grosse Landesverrä-ter gegenüberzustellen. Wen wundert es, dass siedann meinten gefunden zu haben, was sie aufjeden Fall finden wollten?

So willkürlich ihre Ausbeute ist Meienbergund Dindo verstehen ihre Darstellung keineswegsals Diskussionsbeitrag zu einer relativen, immerprovisorisch bleibenden und sich stets weiterent-wickelnden Geschichtsschreibung. Relativ sindbloss die verschiedenen Fassungen ihrer Geschich-te. Der Anspruch, mit dem sie ihre Vision verkün-den, ist absolut. Sie behaupten, die Geschichts-schreibung vom Kopf wieder auf die Füsse gestelltzu haben, und sind in ihrem Theorie- und Glau-bensbedürfnis so weit gegangen, nicht nur denausgewählten Zeitabschnitt, sondern die Zeit-geschichte schlechthin über einen Leisten zuschlagen.

Neolinker FaschismusverdachtWegleitend für die Präsentation des Einzelfalls

Ernst S. war die Absicht, hinter der formalen ge-setzlichen Gleichheit die «Klassenverhältnisse»sichtbar zu machen. Meienberg wollte mit seinerGeschichte etwas nachholen, was er schon 1971.im Bonjour-Bcricht vermisst hatte: eine Darstel-lung, die das Verhalten der verschiedenen Klassenanalysiere. Gegen diesen Ansatz ist auch vom wis-senschaftlichen Standpunkt aus überhaupt nichtseinzuwenden, sofern er nicht mit der politischenAbsicht verbunden ist, eine Gesellschaftsschichtpauschal zu diffamieren. Inwiefern ist das indivi-duelle wie das kollektive Handeln durch die sozio-ökonomischen Bedingungen bestimmt? Leider istdiese Fragestellung bisher fast ausschliesslich vondoktrinären Denkern der Linken gepflegt worden,mit dem Resultat, dass die meisten Abhandlungenvon d er Absicht gezeichnet sind, den «Klassen-kampf» nicht nur zu analysieren, sondern in denUntersuchungen selbst zu betreiben. Dindo klagt,die Klassenstruktur sei in der Schweiz besondersgut versteckt, weshalb man «besondere Anstren-gungen» unternehmen müsse, sie zu finden. Worindiese Anstrengungen bestanden haben, ist dargelegtworden. Einmal mehr leiden die marxistischenTheoretiker an der Tatsache, dass sich in derkleinräumig industrialisierten Schweiz der halb in-dustriellen, halb agrarischen Gesellschaft die pro-letarischen Massen nicht finden lassen. IhremNotstand abhelfen soll die Misere eines Kummer-buben, der sich nicht in die Gesellschaft integrie-ren konnte.

Warum hat Meienberg für seine Exemplifizie-rung den denkbar schlechtesten Zeitabschnitt der

schweizerischen Zeitgeschichte ausgewählt, dieJahre nämlich, da in den gesellschaftspolitischenwie in den aussenpolitischen Fraget! die Frontlinienweniger entlang den Gesellschaftsschichten alsvielmehr quer durch sie hindurch liefen? Es sinddie Jahre, mit denen die helvetische Neolinke denVerdacht, dass die Bourgeoisie den Faschismus insich trage, an konkreten Beispielen angeblicherSympathie oiler Kollaboration mit dem DrittenReich belegen möchte. Mit einer Unverfrorenheit,wie man sie vor allem ans der nationalsozialisti-schen Propaganda kennt, wird d er nachgewieseneFall einer wirklichen Kollaboration verharmlost(mehrfach wird d er Tatbestand als «Dummheit»oder als «Seich» umschrieben) und werden zu-gleich «die Herrschenden» mit unbelebten Be-hauptungen einer imaginären Kollaboration ver-dächtigt. Die Jury der Mannheimer Filmwochehat mit ihrer Laudatio gezeigt, wie schlecht sie dieGeschichte jener Jahre und wie gut sie hingegendie Botschaft tles Filmes begriffen hat, wenn sielobend hervorhebt, d er Film benenne diejenigen,«die an der Macht waren und mit dem Faschismuskollaborierten».

Zum Tatbestand: Indem er die unqualifizierteBezeichnung «Granaten:) verwendet, erweckt Mei-enberg den Eindruck, man habe den Kleinenwegen einer bescheidenen «Waffenlieferung» hin-gerichtet, während oben die Grossen in industriel-lem Ausmass an die gleiche Seile die gleichenGranaten lieferten. Will oder kann Meienbergnicht auseinanderhalten, dass es sich keineswegsum die gleiche Munition gehandelt hat, sonderneinmal um leichte Flabmunition und im Fall derPanzergranate um die geheimgehaltene Eigenent-wicklung der Kriegstechnischen Abteilung?

Gerade im Fall der Schweiz, stimmt die Thesenicht, wonach Grossbürgertum, Finanzkapitalusw. allein schon auf Grund ihrer InteressenlageParteigänger dos Dritten Reiches gewesen seien.Die Dicke des Portefeuilles war nicht ausschlagge-bend für die Einstellung gegenüber dem Faschis-mus. Der Film erweckt beispielsweise den völligfalschen Eindruck, Emil Bührle habe als neu-schweizerischer Grossbürger, und das heisst alspotentieller Anhänger der tausendjährigen Neu-ordnung. Waffen nach Deutschland exportiert.Die Firma Oerlikon hätte, wenn ihr dies möglichgewesen wäre, gewiss gerne im gleichen Ausmassan die «antifaschistische» Allianz, geliefert. BeiKriegsbeginn konnt sie noch einen englischenAuftrag von viereinhalb Millionen Pfund entge-gennehmen, der die Lieferung von 1500 Flabkano-nen vorsah. Oerlikon-Flab-Geschütze bekämpftenin d er Luftschlacht um England deutsche Maschi-nen, die mit Ocrlikon-Bordkanomm ausgerüstetwaren, was, wenn man will, ähnlich absurd warwie die Tatsache, dass die schweizerische Luft-waffe mit aus Deutschland bezogenen Me-109Luftraumverletzungen durch deutsche Flugzeugebekämpfte. Und nach dem Krieg meldete sichbeim angeblich «profaschistischen» Bührle alsneuer Kunde die «antifaschistische» Armee derSowjetunion. Es sei zugegeben, dass es schwierigist, solche Fakten in schlagende Thesen zu verar-beiten. Leichter ist es, ein unerbittlicher Denkerzu sein, wenn man unerbittlich gewisse Dinge

nicht denkt.

Heimliche Unterscheidungen

Die Politik beginnt bei d er Verwendung d erWörter, bei der Einführung heimlicher Aussonde-rungen, d er Unterscheidung etwa zwischen Fa-schisten und Arbeitern, als ob es unter den Ar-beitern nicht auch Frontisten gegeben hätte, als obSympathien für den Nationalsozialismus nur inTeilen des Bürgertums gehegt worden wären. HierFrontisten und dort Arbeiter wenn man diesnur lange genug wiederholt, wird es geglaubt. Undlässt sich das Bürgertum (was immer das ist) vorden Augen der Bürger nicht leichter diffamieren,wenn man. wie das Zwciklassenmodell des Filmeses tut, den Mittelstand als nicht existent oder zummindesten als nicht zum «Bürgertum» gehörend be-handelt? Eine heimlich-unheimliche Weichenstel-lung enthält die Behauptung, die Geschichte seinur dann ein Geschichte fürs Volk und des Vol-kes, wenn sie die Qualität eines klassenkämpferi-schen Lehrstückes aufweist. Die Autoren geben

sich als Volksredner und lassen sich gerne attestie-ren, parteiisch fürs Volk zu sein. Zum Volksfeindwird, wer ihre Meinung nicht teilt, und Volksfeindist, wer als Oberer oder «Herrschender» nicht zumVolkskörper gehört. Ist man bereit, diese «Wahr-heiten» anzuerkennen, folgt der nächste Schritt, fol-gen die effektiven Aussonderungen, die konkretenMassnahmen. Hier gilt es, den Anfängen zu weh-ren. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich totalitäreIdeologen eines Begriffes bemächtigen, um einenWeg anzutreten, der von der Volksdemokratieüber den Volksgerichtshof zum Volkssturm führt.

Neben den heimlichen Unterscheidungen ver-sucht der Film mit dem erweiterten Begriff desLandesverrats eine heimliche Gleichsetzung einzu-schleusen, indem er politische Haltungen oderHandlungen mit dem strafrechtlich genau um-schriebenen Delikt des Verrats militärischer Ge-heimnisse gleichsetzt. Warum die Rechtsordnung

unseres Staates das Gesinnungsdelikt als Straftat-bestand nicht kennt, erklärt sich Meienberg damit,dass die Oberen die Gesetze eben auf ihre eigenen

Interessen abstimmen würden und es einzurichtenwüssten, dass ihre (verräterische) Gesinnung kei-ner Strafverfolgung ausgesetzt sei.

Wer soll entscheiden, welche Gesinnung undweicher Gesinnungstäter verfolgt werden soll?Massstab für die Beurteilung des politischen Ver-rates wäre für Meienberg die politische Effizienz,wobei für ihn kein Zweifel besteht, dass die vonBundesrat Pilets Politik ausgegangene Wirkungweit schädlicher gewesen sei als das Vergehen desErnst S. Man habe den Bundesrat eben nicht er-schiessen können, weil solche Hinrichtungen daszum Vorteil der Grossen angelegte System ge-sprengt hätten. Der Autor d er Landesverräterre-portage gibt zum mindesten zur Vermutung An-lass, dass er bei der Beurteilung dessen, was poli-tisch schädlich und deshalb strafrechtlich zu ahn-

Klasseujustiz?Bii. Es wurde In diesem Blatt schon früher aul

die merkwürdige geistig-politische Konstellationhingewiesen, welche in der Tatsache zu erblickenist, class sich heute einzelne linke Intellektuelle, soNiklaus Meienberg und seine publizistischen Tra-banten im Fall des Landesverräters Ernst S., in dieRolle von Anwälten einstiger Zuträger und Hel-fershelfer d er Hitlerschen Sache begeben. Sie tundas, wie zu bemerken ist, meist nicht plump unddirekt, sondern auf indirekte und subtile Weise,

indem sie auf dem Hintergrund einer verharm-losenden und verständnisvollen Darstellung cinesbestraften Verräters den Vorwurf d er «Klassen-justiz» erheben, um damit die verantwortlichenBehörden von damals (inklusive sozialdemokra-tischen Parlamentarier, weiche Begnadigungs-gesuche zum Tode verurteilter Landesverräter Ind er Bundesversammlung mehrheitlich ablehnten)

und die «bürgerliche» Schweiz von heule auf dieAnklagebank zu versetzen. Wie ist dieser Vor-wurf der Klassenjustiz, zu beurteilen ein Vor-wurf übrigens, der nicht neu, vielmehr schon sei-nerzeit erhoben worden ist, wenngleich anders alsheute nicht von Linken, sondern von einem Ex-ponenten d er schweizerischen Nationalsozialistenin «Grossdeutschland» wie Franz Burri?

Für ein historisch stichhaltiges Urteil mussman sich die völlig aussergewöhnliche Bedro-hungssituation vor Augen halten, in d er sich dieSchweiz während der Kriegsjahre befand, als aufGrund der militärischen Erfolge Hitlers ringsumschon die Schatten der potentiellen Henker überunsere Landesgrenzen fielen und verräterischeSchweizer im Dienste nationalsozialistischer Amts-stellen bereits «Gcnickschiisslisten.» für die Ver-nichtung aller «Reichsfeinde» nach d er Besetzungunseres Landes erstejlten. Wer in den Berichtendes Bundesrates über die «antidemokratische Tä-tigkeit von Schweizern und Ausländern» (von1945) und über die «Verfahren gegen national-sozialistische Schweizer wegen Angriffs auf dieUnabhängigkeit der Eidgenossenschaft» (von1948) nachliest, was in den Kriegsjahren allesgegen den Selbstbehauptungswillen der Schweiz,von Schweizern und Deutschen ins Werk gesetztwurde, kann auch nachträglich die Notwendigkeitharter Urteile gegen Verräter verstehen und zu-mindest nachvollziehen, weshalb der BundesratEnde Mai 1940 für Landesverrat im Bereich d erArmee, die ein zentrales Instrument d er Selbst-behauptung war. die Todesstrafe als Höchststrafefestsetzte und diese erst bei Kriegsende wiederabschaffte.

Wenn man sich die Spionagetätigkeit und dieVerratshandlungen in den Jahren 1939 bis 1945in ihrem ganzen Ausmass vor Augen hält, so wirdman sich hüten, den Fall Ernst S. isoliert untersozialen Gesichtspunkton zu betrachten. EineDurchsicht d er insgesamt 471 militärgerichtlichenUrteile (darunter 33 Todesurteile, wovon 17 voll-streckt, und 50 lebenslängliche Freiheitsstrafen)und der Liste der 489 durch zivile Gerichte ver-urteilten Personen (davon 387 während derKriegsjahre und 102 weitere, deren in Deutsch-land gegen die Schweiz begangene Vergehen erstnach dem Krieg verfolgt werden konnten, dar-unter Dr. Barwirsch und Franz Burri mit derMaximalstrafe) zeigen, dass man der damaligenRechtsprechung Klassengeist nicht ernstlich unter-stellen kann. Offiziere standen ebenso vor denGerichten wie Soldaten, verräterische Unterneh-mer und Journalisten ebenso wie Hilfschaufleure.Weder Verratshandlungcn noch die harten Urteilewaren das Privileg eines Standes oder einerKlasse. Und was die Strafzumessung betrifft, sokonnte der Bundesrat am Schluss seines Berichtsvon 1948 feststellen, dass, wer bei der Verrats-tätigkeit «in führender Stellung war, . . . strenger,wer untergeordnete Aufgaben erfüllte oder dieSchweizer Verhältnisse ungenügend kannte, mil-d er bestraft» wurde und dass es für Verrats-handlungen um des wirtschaftlichen Vorteils wil-len keine besondere Nachsicht geben durfte.

den sei. wenig Hemmungen hätte. Wie solche Ver-fahren durchgeführt würden, zeigt die erschrek-kende Verachtung, die Niklaus M. der Tatsacheentgegenbringt, dass im Verfahren S. alles seineOrdnung gehabt habe und der Fall von Instanz zuInstanz gereicht worden sei. Den auch hier ansatz-weise in Erscheinung tretenden totalitären Ord-nungsvorstellungen muss ebenfalls von Anfang anentschieden entgegengetreten werden.

Max Frisch hat sich kürzlich mit den Autorenund ihrem Werk öffentlich solidarisiert und sichdabei wohl kaum an seinen «Biedermann und dieBrandstifter» erinnert. Für ihn mag sein Stückwirklich zu einem Lehrstück ohne Lehre gewordensein anderen bleibt es eine eindrückliche De-monstration, worauf es hinausläuft, wenn manglaubt, mit Fraternisieren verhindern zu können,dass d er Ringer Schmitz und der Kellner Eisen-ring im Dachstock Feuer legen. Luntenleger sindMeienberg und Dindo nicht, weil sie den Schlafder Gerechten storen und zur Diskussion heraus-fordern. Sie sind es insofern, als sie die Auseinan-dersetzung mit unlauteren Mitteln führen und ver-suchen, die Wahrheit ihren politischen Ambitio-

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Neue Zürcher Zeitung vom 07.07.1977

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