MitnationalerGrandezzaindenUntergang · PIZZICATO DancingQueen Sie stehen mit dem Rücken zur...

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PIZZICATO Dancing Queen S ie stehen mit dem Rücken zur Wand. Ihre Arbeitskollegen mobben Sie. So mancher sägt sogar an Ihrem Stuhl. Das halbe Land hasst sie. Der halbe Kontinent auch. Keep calm and carry on, würde der Engländer jetzt sagen. Und die Engländerin macht vor, wie es geht: Theresa May tänzelte – die eine Hand vor, die andere zurück, Hüftschwung – zu den Klängen von ABBAs „Dancing Queen“ über die Parteitagsbühne in Bir- mingham zu ihrem Rednerpult. Und dort ging es munter weiter. Die eine Hand vor, die andere zurück, Hüftschwung. „See that girl, watch that scene . . .“ Das Auditorium applaudierte stehend. Das hätte es wahr- scheinlich so und so getan, schließlich sagt Ihnen ja niemand di- rekt ins Gesicht, was er von Ihnen hält – isn’t it? ABBA so kam dem einen oder anderen sogar ein aufrichtiges Schmunzeln aus. Und, das sollten Sie sich auch immer vor Augen halten: Es könnte ja auch noch schlimmer kommen. Sie könnten plötzlich auf offener Bühne von einem heftigen Hustenanfall gebeutelt wer- den, ein Komiker überreicht Ihnen Ihr Entlassungsschreiben im Namen Ihres größten Kontrahenten und am Ende fallen hinter Ih- nen auch noch die Buchstaben Ihres Motivations-Mottos von der Wand. So geschehen auf dem Tory-Parteitag im Vorjahr. (oli) Reaktionen an: [email protected] LESERPOST Leserbriefe bitte an: Die Presse, Hainburger Straße 33, A-1030 Wien oder an [email protected] Die bildungspolitische Notbremse gezogen „Neue (alte) Strenge in den Schu- len“, von Julia Neuhauser, 2. 10. Der Unterrichtsminister zieht die bildungspolitische Notbremse, gerade noch rechtzeitig für die zahlreichen Schüler, die derzeit ohne ausreichende Kenntnisse in der Unterrichtssprache und in Mathematik kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt vorfinden. Schuld daran trägt die unver- antwortliche, ideologisch geprägte Bildungspolitik der letzten Jahr- zehnte. Dadurch wurde der Leis- tungsgedanke ad absurdum ge- führt und den Kindern vermittelt, es sei sinnlos, sich anzustrengen. Jetzt dürfen endlich wieder Leistungsgruppen geführt werden, in denen jedes Kind seinem Niveau entsprechend gefördert, aber auch gefordert wird. Auch Noten dürfen wieder gegeben werden, die klare Rückmeldungen über den Leistungsstand geben, natürlich begleitet von verbalen Zusatzinfor- mationen. Wer Noten abschaffen will oder siebenteilige Skalen ein- führt, die hauptsächlich zu Verwir- rung beitragen, tut den Schülern nichts Gutes, sondern will nur die negative Beurteilung verhindern. Diese ist aber genauso wesent- lich für die richtige Einschätzung der eigenen Lernfortschritte wie der Einser, über den sich alle Kin- der zu Recht freuen. Mag. Harald Pennitz, 8046 Graz Bekannter ist das Olah-Chaos „Bobos aller Bundesländer, ver- einigt euch!“, Leitartikel von Rainer Nowak, „Presse am Sonntag“, 30. 9. Da ich seit 1945 Mitglied der SPÖ bin, kann ich wohl als Parteivete- ran gelten. Und ich erinnere mich an Chaostage, gegen die die gegen- wärtigen Chaostage ein Sturm im Wasserglas sind. In den späten 1940er-Jahren war Erwin Scharf Zentralsekretär der SPÖ und wollte diese auf Mos- kauer Kurs bringen. Damals war ja noch Stalin an der Macht. Um Unterstützung für seine Linie wandte er sich an den Verband Sozialistischer Studenten, damit unsere Zeitung „Der Strom“ für seine Linie einträte. Als Propagan- dareferent des Verbands erzählte ich das Bruno Pittermann, der nur sagte: „Jetzt reicht’s!“ Erwin Scharf wurde gefeuert. Seine Freundin Hilde Krones hat dann, zwischen Freund und Partei hin- und her- gerissen, Selbstmord begangen. Bekannter ist das Olah-Chaos. Franz Olah verließ den ÖGB, wurde Innenminister und wollte in der Partei an die Macht. Als er am Widerstand vieler Funktionäre scheiterte, kopierte er schnell noch einige Gau-Akten, die die Nazis über politische Akteure angelegt hatten, und nahm sie als mög- liches belastendes Material gegen seine Gegner mit nach 26 DEBATTE DONNERSTAG, 4. OKTOBER 2018 Mit nationaler Grandezza in den Untergang Gastkommentar. Ungarn ist schon über den Punkt hinaus, von dem man ohne größere finanzielle, moralische und gesellschaftliche Opfer zurück auf den richtigen Weg findet. Kann nur noch eine Katastrophe die Bevölkerung wachrütteln? VON ANDR ´ AS INOTAI I m 21. Jahrhundert benötigt man eine weltoffene, solidari- sche und verständnisvolle Ge- sellschaft. Baut eine Regierung hingegen keine solche Gesellschaft auf, sondern predigt viel lieber „Stolz und nationale Selbstach- tung“, ist das Land dem Untergang geweiht. Mir ist keine ungarische Regierung bekannt, nicht einmal aus der ersten Hälfte der 1950er- Jahre, in der die Pöbelhaftigkeit und Unmoral derart dominiert hätten. Mit beinahe mittelalterlich anmutendem Provinzialismus und Kleinkariertheit setzt man sich für kurzfristige Vorteile ein. Die Entscheidungsträger ha- ben keine Ahnung von dem, was in der Welt vorgeht. Ihre ausgespro- chen provinzielle Einstellung ver- suchen sie durch protziges Herr- schaftsgehabe und durch Verspot- tung Andersdenkender zu kom- pensieren. Demgegenüber schafft die Globalisierung des 21. Jahr- hunderts derart bedeutende und rasante Veränderungen, dass das dafür fehlende Verständnis ein Volk und dessen Führung in größ- te Schwierigkeiten bringen kann. Wer kann, verlässt das Land Die Verantwortung heutiger Regie- rungen ist riesig: Wie können sie ihre Bürger fit für die Zukunft ma- chen? Baut man auf Hass und Ein- schüchterung, wie es in Ungarn geschieht, artet das früher oder später nicht nur in einen geistigen, sondern unter Umständen sogar in einen physischen Genozid aus. Wer kann, verlässt Ungarn. Wer bleibt, wird sich in der Welt bald nicht mehr zurechtfinden. Der Populist denkt nie nach- haltig – er baut auf Ängste und Emotionen. Die Vernunft hat in seinen Berechnungen keinen Platz. Der Populismus kann sich auch leicht gegen den wenden, der ihn ausübt. Hass hat immer einen bestimmten Adressaten, der sich allerdings jederzeit ändern kann. Sitzt der Hass tief genug, dann wird die vergiftete Gesellschaft au- tomatisch nach dem nächsten Ob- jekt Ausschau halten. Ist es nicht George Soros, dann ist es die EU oder die UNO oder es sind die Migranten. Findet sich niemand mehr, können Nachbarn an die Reihe kommen. Eine Gesell- schaft auf Angst zu gründen, be- deutet, dass ihre gesamte kreative Energie, mit der sie sich für die Zu- kunft fit machen und ihre eigenen Chancen ausbauen könnte, verlo- ren geht. Die Angst lähmt, und jeg- licher Erfolg bleibt aus. Wir sind in Ungarn schon über den Punkt hi- naus, von dem man ohne größere finanzielle, moralische und gesell- schaftliche Opfer zurück auf den richtigen Weg finden könnte. Man müsste darüber reden, wie man die bisher verursachten materiellen und intellektuellen Schäden verringern und gleichzei- tig eine positive Zukunftsperspek- tive aufzeigen könnte. Diese sollte nicht auf Hass und Ausgrenzung, sondern auf Offenheit und Solida- rität basieren, chancenorientiert sein und sich auf gesellschaftli- chen Konsens stützen. Von Hass infiziert In letzter Zeit sind die Ungarn aber dermaßen teilnahmslos oder von Hass und Ausgrenzung infiziert ge- worden, dass es schier unmöglich scheint, sie auf diesen Weg zurück- zubringen. Trotzdem muss man alles unternehmen, selbst wenn einem der Gegenwind ins Gesicht bläst. Die Verantwortung betrifft die gesamte Bevölkerung. Aber was geschieht stattdessen? Sowohl die Jugend als auch die mittleren Jahr- gänge verlassen das Land in Scha- ren. Die Tatsache, dass gegenwär- tig mehr als eine halbe Million Un- garn im Ausland lebt und arbeitet, kann nicht ausschließlich mit Ge- haltsunterschieden erklärt werden. Sie haben Ungarn vor allem darum verlassen, weil sie in ihrer Heimat keine Perspektive sehen, weil sie die permanente Kampf- bereitschaft genauso verabscheu- en wie die alles durchdringende Korruption. Auch, weil der ehrli- che Kleinunternehmer ausgeboo- tet wird, weil die Zukunft seiner Kinder unsicher ist. Das Wirtschaftswachstum Un- garns ist ein Potemkinsches Dorf. Ein Teil des Wachstums beruht auf Export, der sowohl auf die günstige Weltkonjunktur als auch auf die Stärke der deutschen Autofirmen zurückzuführen ist. Gerät eines von beiden ins Wanken, hat Un- garn das Nachsehen. Bald werden auch die Mittel aus den Strukturfonds der EU zu- rückgehen bzw. werden die zum Konsum benötigten Reallöhne nicht mehr wachsen. Die Wettbe- werbsfähigkeit des Landes hat sich nicht gebessert. Durch das Über- gewicht der deutschen Autofirmen ist die ungarische Wirtschaft sogar noch verwundbarer geworden. Verprasste EU-Subventionen Dazu kommt, dass die im Ausland arbeitenden Ungarn ihre Ver- wandten jährlich mit drei bis vier Milliarden Euro unterstützen. Wenn wir nur die Wirtschaftsleis- tung von 2017 wiederholen, wür- den die Gelder aus Brüssel und die Auslandsüberweisungen das Brut- toinlandsprodukt jährlich um sechs Prozent erhöhen. Offiziell wird das Wachstum in diesem Jahr auf vier Prozent geschätzt. Man könnte fragen: Wo sind die fehlen- den zwei Prozent geblieben? Die Antwort ist einfach: Sie wurden beiseitegeschafft. Das Verprassen der EU-Subventionen zeugt von historisch einmaliger Verantwor- tungslosigkeit. Zwar hat Ungarns Bauindustrie von den Prestigebau- ten profitiert, aber eine nachhal- tige Entwicklung in dieser Branche ist nicht zu erwarten. Bereits jetzt ist abzusehen, dass wir das Land der verwahrlosten Bauten werden. Ungarns Oligarchen finanzie- ren sich gegenseitig kreuz und quer, obwohl ihnen bewusst sein dürfte, dass Vermögen an sich noch keine Wettbewerbsfähigkeit schafft. In einem Umfeld stabiler, nachhaltig verlässlicher und plan- barer Wirtschaft gibt es Impulse, die Konkurrenzfähigkeit schaffen und verstärken. Dazu sind die un- garischen Oligarchen ungeeignet. Kaum einer könnte sich im inter- nationalen Wettbewerb behaup- ten. Sie zu schützen, bedarf es ständiger Verstaatlichung. Moderne Leibeigenschaft Natürlich würde die ungarische Wirtschaft nicht über Nacht pleite- gehen, da die in ausländischen Devisen aufgenommenen Kredite in Forint umgewechselt wurden. Damit nahm die finanzielle Ver- letzbarkeit des Landes bedeutend ab. Würde der Kurs der Landes- währung weiter fallen oder würde sie spekulativ attackiert, hätte das im Nu einschneidende Folgen. Davon würde aber die Bevöl- kerung nichts merken. Sie will es nämlich nicht wahrhaben, dass das System zynisch und skrupellos polarisiert und dabei sowohl mate- riell als auch spirituell eine moder- ne Leibeigenschaft ins Leben ruft. Das bedeutet Abhängigkeiten wie im Feudalismus. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass die Menschen nur noch durch eine Katastrophe samt darauffolgen- dem Neubeginn wachgerüttelt werden könnten. Die Entwicklung wird zeigen, ob für eine Erneue- rung dann überhaupt genug Zeit vorhanden gewesen sein wird. Der Großteil der Ungarn lebt in einer Scheinwelt. Als hätte auf unsere „außergewöhnliche Na- tion“ all das, was unsere nahe und ferne Umgebung seit Langem aus- macht, gar keinen Einfluss. E-Mails an: [email protected] DER AUTOR Prof. Dr. Andr´ as Inotai (* 1943) war von 1991 bis 2010 der Generaldirektor des Instituts für Weltwirtschaft an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Mehrere Gast- professuren, u. a. in Lima/Peru, Brügge, Warschau, an der New Yorker Columbia University und in Bonn. Von 1996 bis 1998 Leiter der Strategischen Einsatz- gruppe für Integration in die EU. Zahl- reiche Publikationen. [ Uni Bonn]

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PIZZICATO

Dancing QueenS ie stehen mit dem Rücken zur Wand. Ihre Arbeitskollegen

mobben Sie. So mancher sägt sogar an Ihrem Stuhl. Das halbeLand hasst sie. Der halbe Kontinent auch.

Keep calm and carry on, würde der Engländer jetzt sagen. Unddie Engländerin macht vor, wie es geht: Theresa May tänzelte – dieeine Hand vor, die andere zurück, Hüftschwung – zu den Klängenvon ABBAs „Dancing Queen“ über die Parteitagsbühne in Bir-mingham zu ihrem Rednerpult. Und dort ging es munter weiter.Die eine Hand vor, die andere zurück, Hüftschwung. „See that girl,watch that scene . . .“

Das Auditorium applaudierte stehend. Das hätte es wahr-scheinlich so und so getan, schließlich sagt Ihnen ja niemand di-rekt ins Gesicht, was er von Ihnen hält – isn’t it? ABBA so kam demeinen oder anderen sogar ein aufrichtiges Schmunzeln aus.

Und, das sollten Sie sich auch immer vor Augen halten: Eskönnte ja auch noch schlimmer kommen. Sie könnten plötzlichauf offener Bühne von einem heftigen Hustenanfall gebeutelt wer-den, ein Komiker überreicht Ihnen Ihr Entlassungsschreiben imNamen Ihres größten Kontrahenten und am Ende fallen hinter Ih-nen auch noch die Buchstaben Ihres Motivations-Mottos von derWand. So geschehen auf dem Tory-Parteitag im Vorjahr. (oli)

Reaktionen an: [email protected]

LESERPOSTLeserbriefe bitte an:Die Presse, Hainburger Straße 33,A-1030 Wien oder [email protected]

Die bildungspolitischeNotbremse gezogen„Neue (alte) Strenge in den Schu-len“, von Julia Neuhauser, 2. 10.Der Unterrichtsminister zieht diebildungspolitische Notbremse,gerade noch rechtzeitig für diezahlreichen Schüler, die derzeitohne ausreichende Kenntnisse inder Unterrichtssprache und inMathematik kaum Chancen aufdem Arbeitsmarkt vorfinden.

Schuld daran trägt die unver-antwortliche, ideologisch geprägteBildungspolitik der letzten Jahr-zehnte. Dadurch wurde der Leis-tungsgedanke ad absurdum ge-führt und den Kindern vermittelt,es sei sinnlos, sich anzustrengen.

Jetzt dürfen endlich wiederLeistungsgruppen geführt werden,

in denen jedes Kind seinem Niveauentsprechend gefördert, aber auchgefordert wird. Auch Noten dürfenwieder gegeben werden, die klareRückmeldungen über denLeistungsstand geben, natürlichbegleitet von verbalen Zusatzinfor-mationen. Wer Noten abschaffenwill oder siebenteilige Skalen ein-führt, die hauptsächlich zu Verwir-rung beitragen, tut den Schülernnichts Gutes, sondern will nur dienegative Beurteilung verhindern.

Diese ist aber genauso wesent-lich für die richtige Einschätzungder eigenen Lernfortschritte wieder Einser, über den sich alle Kin-der zu Recht freuen.Mag. Harald Pennitz, 8046 Graz

Bekannterist das Olah-Chaos„Bobos aller Bundesländer, ver-einigt euch!“, Leitartikel von RainerNowak, „Presse am Sonntag“, 30. 9.Da ich seit 1945 Mitglied der SPÖbin, kann ich wohl als Parteivete-ran gelten. Und ich erinnere michan Chaostage, gegen die die gegen-

wärtigen Chaostage ein Sturm imWasserglas sind.

In den späten 1940er-Jahrenwar Erwin Scharf Zentralsekretärder SPÖ und wollte diese auf Mos-kauer Kurs bringen. Damals war janoch Stalin an der Macht. UmUnterstützung für seine Liniewandte er sich an den VerbandSozialistischer Studenten, damitunsere Zeitung „Der Strom“ fürseine Linie einträte. Als Propagan-dareferent des Verbands erzählteich das Bruno Pittermann, der nursagte: „Jetzt reicht’s!“ Erwin Scharfwurde gefeuert. Seine FreundinHilde Krones hat dann, zwischenFreund und Partei hin- und her-gerissen, Selbstmord begangen.

Bekannter ist das Olah-Chaos.Franz Olah verließ den ÖGB,wurde Innenminister und wolltein der Partei an die Macht. Als eram Widerstand vieler Funktionärescheiterte, kopierte er schnell nocheinige Gau-Akten, die die Nazisüber politische Akteure angelegthatten, und nahm sie als mög-liches belastendes Materialgegen seine Gegner mit nach

26 DEBATTE DONNERSTAG, 4. OKTOBER 2018

Mit nationaler Grandezza in den UntergangGastkommentar. Ungarn ist schon über den Punkt hinaus, von dem man ohne größere finanzielle, moralische undgesellschaftliche Opfer zurück auf den richtigen Weg findet. Kann nur noch eine Katastrophe die Bevölkerung wachrütteln?

VON ANDRAS INOTAI

I m 21. Jahrhundert benötigtman eine weltoffene, solidari-sche und verständnisvolle Ge-

sellschaft. Baut eine Regierunghingegen keine solche Gesellschaftauf, sondern predigt viel lieber„Stolz und nationale Selbstach-tung“, ist das Land dem Unterganggeweiht. Mir ist keine ungarischeRegierung bekannt, nicht einmalaus der ersten Hälfte der 1950er-Jahre, in der die Pöbelhaftigkeitund Unmoral derart dominierthätten. Mit beinahe mittelalterlichanmutendem Provinzialismus undKleinkariertheit setzt man sich fürkurzfristige Vorteile ein.

Die Entscheidungsträger ha-ben keine Ahnung von dem, was inder Welt vorgeht. Ihre ausgespro-chen provinzielle Einstellung ver-suchen sie durch protziges Herr-schaftsgehabe und durch Verspot-tung Andersdenkender zu kom-pensieren. Demgegenüber schafftdie Globalisierung des 21. Jahr-hunderts derart bedeutende undrasante Veränderungen, dass dasdafür fehlende Verständnis einVolk und dessen Führung in größ-te Schwierigkeiten bringen kann.

Wer kann, verlässt das LandDie Verantwortung heutiger Regie-rungen ist riesig: Wie können sieihre Bürger fit für die Zukunft ma-chen? Baut man auf Hass und Ein-schüchterung, wie es in Ungarngeschieht, artet das früher oderspäter nicht nur in einen geistigen,sondern unter Umständen sogar ineinen physischen Genozid aus.Wer kann, verlässt Ungarn. Werbleibt, wird sich in der Welt baldnicht mehr zurechtfinden.

Der Populist denkt nie nach-haltig – er baut auf Ängste undEmotionen. Die Vernunft hat inseinen Berechnungen keinenPlatz. Der Populismus kann sichauch leicht gegen den wenden, derihn ausübt. Hass hat immer einenbestimmten Adressaten, der sichallerdings jederzeit ändern kann.Sitzt der Hass tief genug, dannwird die vergiftete Gesellschaft au-tomatisch nach dem nächsten Ob-jekt Ausschau halten.

Ist es nicht George Soros, dannist es die EU oder die UNO oder essind die Migranten. Findet sichniemand mehr, können Nachbarnan die Reihe kommen. Eine Gesell-schaft auf Angst zu gründen, be-deutet, dass ihre gesamte kreative

Energie, mit der sie sich für die Zu-kunft fit machen und ihre eigenenChancen ausbauen könnte, verlo-ren geht. Die Angst lähmt, und jeg-licher Erfolg bleibt aus. Wir sind inUngarn schon über den Punkt hi-naus, von dem man ohne größerefinanzielle, moralische und gesell-schaftliche Opfer zurück auf denrichtigen Weg finden könnte.

Man müsste darüber reden,wie man die bisher verursachtenmateriellen und intellektuellenSchäden verringern und gleichzei-tig eine positive Zukunftsperspek-tive aufzeigen könnte. Diese solltenicht auf Hass und Ausgrenzung,sondern auf Offenheit und Solida-rität basieren, chancenorientiertsein und sich auf gesellschaftli-chen Konsens stützen.

Von Hass infiziertIn letzter Zeit sind die Ungarn aberdermaßen teilnahmslos oder vonHass und Ausgrenzung infiziert ge-worden, dass es schier unmöglichscheint, sie auf diesen Weg zurück-zubringen. Trotzdem muss manalles unternehmen, selbst wenneinem der Gegenwind ins Gesichtbläst.

Die Verantwortung betrifft diegesamte Bevölkerung. Aber was

geschieht stattdessen? Sowohl dieJugend als auch die mittleren Jahr-gänge verlassen das Land in Scha-ren. Die Tatsache, dass gegenwär-tig mehr als eine halbe Million Un-garn im Ausland lebt und arbeitet,kann nicht ausschließlich mit Ge-haltsunterschieden erklärt werden.

Sie haben Ungarn vor allemdarum verlassen, weil sie in ihrerHeimat keine Perspektive sehen,weil sie die permanente Kampf-bereitschaft genauso verabscheu-en wie die alles durchdringendeKorruption. Auch, weil der ehrli-che Kleinunternehmer ausgeboo-tet wird, weil die Zukunft seinerKinder unsicher ist.

Das Wirtschaftswachstum Un-garns ist ein Potemkinsches Dorf.Ein Teil des Wachstums beruht aufExport, der sowohl auf die günstigeWeltkonjunktur als auch auf dieStärke der deutschen Autofirmenzurückzuführen ist. Gerät einesvon beiden ins Wanken, hat Un-garn das Nachsehen.

Bald werden auch die Mittelaus den Strukturfonds der EU zu-rückgehen bzw. werden die zumKonsum benötigten Reallöhnenicht mehr wachsen. Die Wettbe-werbsfähigkeit des Landes hat sichnicht gebessert. Durch das Über-

gewicht der deutschen Autofirmenist die ungarische Wirtschaft sogarnoch verwundbarer geworden.

Verprasste EU-SubventionenDazu kommt, dass die im Auslandarbeitenden Ungarn ihre Ver-wandten jährlich mit drei bis vierMilliarden Euro unterstützen.Wenn wir nur die Wirtschaftsleis-tung von 2017 wiederholen, wür-den die Gelder aus Brüssel und dieAuslandsüberweisungen das Brut-toinlandsprodukt jährlich umsechs Prozent erhöhen. Offiziellwird das Wachstum in diesem Jahr

auf vier Prozent geschätzt. Mankönnte fragen: Wo sind die fehlen-den zwei Prozent geblieben? DieAntwort ist einfach: Sie wurdenbeiseitegeschafft. Das Verprassender EU-Subventionen zeugt vonhistorisch einmaliger Verantwor-tungslosigkeit. Zwar hat UngarnsBauindustrie von den Prestigebau-ten profitiert, aber eine nachhal-tige Entwicklung in dieser Brancheist nicht zu erwarten. Bereits jetztist abzusehen, dass wir das Landder verwahrlosten Bauten werden.

Ungarns Oligarchen finanzie-ren sich gegenseitig kreuz undquer, obwohl ihnen bewusst seindürfte, dass Vermögen an sichnoch keine Wettbewerbsfähigkeitschafft. In einem Umfeld stabiler,nachhaltig verlässlicher und plan-barer Wirtschaft gibt es Impulse,die Konkurrenzfähigkeit schaffenund verstärken. Dazu sind die un-garischen Oligarchen ungeeignet.Kaum einer könnte sich im inter-nationalen Wettbewerb behaup-ten. Sie zu schützen, bedarf esständiger Verstaatlichung.

Moderne LeibeigenschaftNatürlich würde die ungarischeWirtschaft nicht über Nacht pleite-gehen, da die in ausländischenDevisen aufgenommenen Kreditein Forint umgewechselt wurden.Damit nahm die finanzielle Ver-letzbarkeit des Landes bedeutendab. Würde der Kurs der Landes-währung weiter fallen oder würdesie spekulativ attackiert, hätte dasim Nu einschneidende Folgen.

Davon würde aber die Bevöl-kerung nichts merken. Sie will esnämlich nicht wahrhaben, dassdas System zynisch und skrupellospolarisiert und dabei sowohl mate-riell als auch spirituell eine moder-ne Leibeigenschaft ins Leben ruft.Das bedeutet Abhängigkeiten wieim Feudalismus. Ich bin immermehr davon überzeugt, dass dieMenschen nur noch durch eineKatastrophe samt darauffolgen-dem Neubeginn wachgerütteltwerden könnten. Die Entwicklungwird zeigen, ob für eine Erneue-rung dann überhaupt genug Zeitvorhanden gewesen sein wird.

Der Großteil der Ungarn lebtin einer Scheinwelt. Als hätte aufunsere „außergewöhnliche Na-tion“ all das, was unsere nahe undferne Umgebung seit Langem aus-macht, gar keinen Einfluss.

E-Mails an: [email protected]

DER AUTOR

Prof. Dr. Andras Inotai(* 1943) war von 1991 bis2010 der Generaldirektor

des Instituts für Weltwirtschaft an derUngarischen Akademie derWissenschaften. Mehrere Gast-professuren, u. a. in Lima/Peru, Brügge,Warschau, an der New Yorker ColumbiaUniversity und in Bonn. Von 1996 bis1998 Leiter der Strategischen Einsatz-gruppe für Integration in die EU. Zahl-reiche Publikationen. [ Uni Bonn]