MÜNSTERSCHE MITTELALTER-SCHRIFTEN … · werden: nicht nur die Geographie bei der Erde, das Wetter...

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MÜNSTERSCHE MITTELALTER-SCHRIFTEN Herausgegeben von G.ALTHOFF·A.ANGENENDT·K.HAUCK V. HONEMANN . P. JOHANEK . H. KELLER CH. MEIER· R. SCHMIDT-WIEGAND N. STAUBACH UND J. WOLLASCH Band 78 WILHELM FINK VERLAG· MÜNCHEN

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MÜNSTERSCHE MITTELALTER-SCHRIFTEN

Herausgegeben von

G.ALTHOFF·A.ANGENENDT·K.HAUCKV. HONEMANN . P. JOHANEK . H. KELLER

CH. MEIER· R. SCHMIDT-WIEGANDN. STAUBACH UND J. WOLLASCH

Band 78

WILHELM FINK VERLAG· MÜNCHEN

DIE ENZYKLOPÄDIE IM WANDELVOM HOCHMITTELALTERBIS ZUR FRÜHEN NEUZEIT

Herausgegeben von

CHRISTEL MEIER

Akten des Kolloquiums des Projekts Dim Sonderforschungsbereich 231 (29. 11.-1. 12. 1996)

Redaktion: Stefan Schuler und Marcus Heckenkamp

2002

WILHELM FINK VERLAG MÜNCHEN

CHRISTEL METER

Enzyklopädischer Ordo und sozialer Gebrauchsraum.Modelle der Funktionalität einer universalen Literaturform

I. DIE TOTALITÄT DER ENZYKLOPÄDIE

Das Geschäft des Enzyklopädikers ist die Ordnung der Dinge. Er findet die-se Ordnung nicht vor, er stellt sie her. Das wird unmittelbar einleuchtend,wenn Jorge Luis Borges "eine gewisse chinesische Enzyklopädie" zitiert, diedie Tiere in folgender Weise ordnet: 1. Tiere, die dem Kaiser gehören, 2.einbalsamierte Tiere, 3. gezähmte, 4. Milchschweine, 5. Sirenen, 6. Fabeltie-re, 7. herrenlose Hunde, 8. in diese Gruppierung gehörige, 9. die sich wietoll gebärden, 10. die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeich-net sind, 11. und so weiter, 12. die den Wasserkrug zerbrochen haben, 13.die von weitem wie Fliegen aussehen 1.

Michel Foucault kommt in Reflexionen über diese erstaunliche, erhei-ternde und erschreckende Taxinomie der Tiere zu dem Schluß: "Die funda-mentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschema-ta, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Prak-tiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empi-rischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wieder-finden wird. Am entgegengesetzten Ende des Denkens erklären wissen-schaftliche Theorien oder die Erklärungen der Philosophen, warum es imallgemeinen eine Ordnung gibt, welchem allgerneinen Gesetz sie gehorcht,... aus welchem Grund eher diese Ordnung als jene errichtet worden ist. "2Das Feld der praktischen Enzyklopädie liegt zwischen diesen beiden Polen,der fundamentalen Codes und der wissenschaftlichen Theorien; sie realisiertKompromisse zwischen ihnen, leistet Kritik und bewirkt Fortschritt in derVermittlung des einen mit dem anderen. Die vorn Enzyklopädisten in derOrdnung des einzelnen und in der Gesamtstruktur immer zu bewältigendeSpannung zwischen beiden Polen, der Empirie und dem Modell, wird vonAlsted im Eingang seiner großen Enzyklopädie von 1630 formuliert: Ency-clopaedia est metbodica comprebensio rerum omnium in hac vita bomini dis-cendarum,'

1 JORGE LUIS BORGES,Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München1966, S. 212.

2 MICHELFOUCAULT,Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissen-schaften, Frankfurt 1974, S. 22 f.

l Johann Heinrich Alsted, Encyclopaedia septem tomis distineta, Herborn 1630

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Die Gesamtheit der wißbaren Dinge zu organisieren und den Zusammen-hang der Wissenschaften methodisch herzustellen, hat das Mittelalter zweisachorientierte Modelle gebraucht, ehe es auch die alphabetische Lemmati-sierung einsetzte', Die Sachordnungen des Wissens rekurrieren entwederauf die Organisation der Welt selbst in mehr oder weniger reflektierten For-men oder auf die Zugänge des Menschen zum Wissen, also auf Disziplinenoder auf ein Wissenschaftssystem (bzw. auf Wissenschaftssysteme). Von bei-den Typen der Sachorganisation hat das Mittelalter zwei Arten entwickeltoder benutzt, deren jeweils modernere jedoch die ältere nicht ganz abgelösthat. Die folgenden Modelle und Differenzierungen lassen sich beschreiben.

1. Ordo rerum

a) Die Abbildung der Welt

Für eine strukturierte Abbildung der Welt wurden entweder im kultu-rellen Feld bewußte und bereitstehende Teilordnungen addiert zu einemGesamtaufriß, oder es wurde ein philosophisches Weltkonzept entwickeltund aus ihm alles einzelne hergeleitet und seiner jeweiligen Position zuge-wiesen. Dafür seien zwei Beispiele aus der Enzyklopädik des Mittelaltersgenannt:

Die Addition von Teilsystemen, die im Mittelalter zum Teil schonaus antiken Traditionen stammen, hat bereits Isidor von Sevilla, der Begrün-der der mittelalterlichen Enzyklopädie, für den Aufbau seiner ,Etymologien'vorgenommen: Artes, kirchliche Wissenschaft, Kosmologie und Geogra-phie, soziale und zivilisatorisch-technische Kenntnisbereiche bilden die Be-standteile seiner enzyklopädischen Summe'. Er ist damit Erbe der additivenantiken Disziplinenenzyklopädien (Cato, Varro, Celsus) besonders in denArtes-Teilen am Anfang und am Schluß wie auch des integrativen, stoisch-naturorientierten Konzepts von Plinius ,Naturalis historia", in derenDarstellungssequenzen: Kosmologie, Geographie, Anthropologie, Zoologie,

(Faca-Nachdruck, hrsg. von WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN, Stuttgart-BadCannstatt 1989), I S. 49.

4 VgI. HEINZ MEYER, Ordo rerum und Registerhilfen in mittelalterlichen Enzyklo-pädiehandschriften, in: Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, S. 315-339.

, Isidorus Hispalensis, Etymologiae, hrsg. von WALLACE MARTIN LINDSAY, 2 Bde.,Oxford 1911 ff. Vgl. CHRISTELMEIER, Der Wandel der Enzyklopädie des Mittelal-ters vom Weltbuch zum Thesaurus sozial gebundenen Kulturwissens: am Beispielder Artes mechanicae, in: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit, hrsg. von FRANZ M.EYBL - WOLFGANG HARMS - HANS-HENRIK KRUMMACHER- WERNER WELZIG,Tübingen 1995, S. 19-42, hier S. 27-29.

6 Plinius, Naturalis historia, hrsg. von LUDWIG IAN - CARL MAYHOFF, Leipzig1875-1906 (Nachdruck Stuttgart 1967); MEIER, Wandel (wie Anm. 5) S. 25-27.

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Botanik, Mineralogie. Wenn auch Hraban? diese additive Ordnung um-strukturiert auf einen Seinsordo hin, der die Welt von Gott zu den Dingen- unter Eliminierung des Wissenschaftsteils - hierarchisch gliedert unddazu eine Ebene allegorischer Deutung in das Werk einzieht, bleibt derGesamtcharakter gleichwohl der einer Kompositstruktur, aus konventionel-len Teilsystemen addiert", Die Brechungen in der Systematik, die ein solchesVerfahren notwendig erzeugt, bleiben auch bei Hraban bestehen, da er imübrigen Isidors Anlage bis hin zu den praktisch-technischen Teilen amSchluß unmittelbar übernimmt.

b) Die philosophisch begründete Imago mundi

Der zweite Typ einer philosophisch fundierten und angelegtenEnzyklopädie tritt erst im 12. Jahrhundert und in zunächst noch unvoll-kommener Form auf. Die ,Imago mundi' des Honorius Augustodunensislegt die dispositio mundi im Abbild dar", indem er, vom arcbetypus mundusausgehend, dessen In-die-Erscheinung-Treten über die Elemente und derengeordnete Mischung in den Phänomenen und ihren Klassen verfolgt. DieDinge der Welt können in der Zuordnung zu den Elementen dargestelltwerden: nicht nur die Geographie bei der Erde, das Wetter bei der Luft, dieGestirne bei dem Feuer, sondern auch die Lebewesen entsprechend: Depu-tantur oero terre gradientia, aque natantia, aeri uolantia, igni radiantia'".Dem ersten unter der Kategorie ,Raum' stehenden Buch folgt ein zweitesüber Zeit und Zeiteinteilung, das im dritten Buch durch die Geschichte alshistorische Zeit fortgesetzt wird. Honorius, der Vermittler und Populisatordes philosophischen Hauptwerks Eriugenas, ,Periphyseon', hatte durch sei-ne ,Clavis physicae' mit diesem Darstellungsraster beträchtliche Nachfolge.In der ,Cosmographia' des Bernardus Silvestris kam es ebenso zum Zuge wiein Alans von Lille .De planctu Naturae'!'. In der Gattung Enzyklopädie hatnach dem ,Apex physicae' und Arnoldus Saxo im 13. Jahrhundert Bartholo-mäus Anglicus diesen philosophischen Ansatz in der Anlage von .De pro-

7 Hrabanus Maurus, De rerum naturis (De universe), MIGNE,PL Ill, Sp, 9-614.8 CHRISTELMEIER,Vom homo coelestis zum homo faber. Die Reorganisation der mit-

telalterlichen Enzyklopädie für neue Gebrauchsfunktionen bei Vinzenz von Beau-vais und Brunetto Latini, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erschei-nungsformen und Entwicklungsstufen, hrsg. von HAGENKELLER - KLAUSGRUB-MÜLLER- NIKOLAUSSTAUBACH,München 1992, S. 157-175, hier S. 158-160;HEINZ MEYER,Zum Verhältnis von Enzyklopädik und Allegorese im Mittelalter,in: Frühmittelalterliche Studien 24,1990, S. 290-313, hier S. 294-297.

9 Honorius Augustodunensis, Imago mundi, hrsg. von VALERIEI.}. FLINT,in: Archi-ves d'histoire doctrinale et litteraire du moyen age 57. 1983, S. 7-153, hier S. 49.

10 Honorius Augustodunensis, Imago mundi (wie Anm. 9) S. 50.11 MEIER,Homo coelestis (wie Anm. 8) S. 164-166.

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prietatibus rerum' in strikterem Sinne realisiert". Die Praefatio des Werkesverweist auf Pseudo-Dionys als einzigen namentlich genannten Autor, der inbesonderem Maß auf den Zusammenhang von intelligibler und sichtbarerWelt hingewiesen und damit auch das Begreifen dieses Konnexes geöffnet,die Gründe dargelegt hat!'. Er nimmt freilieh für diese konsequente Ord-nung eine Reduktion der Gegenstandsbereiche derart vor, daß er sie auf dienatürliche Welt beschränkt, Kulturelles nicht primär einbezieht. Währenddie erste Gliederungssequenz von den Invisibilia (Gott, Engel, Seele) bis zudem mit ratio begabten Menschen reicht, geht eine weitere Sequenz der be-handelten Gegenstände vom Makrokosmos über die Elemente, die das Ge-rüst der Taxonomie für die große Zahl der Dinge bilden, zu den Phänome-nen. Dieser Teil setzt nach der Behandlung der Zeit ein mit den Worten:Completo tractatu de proprietatibus temporis et partium eius, agendum est deinferioribus rebus et materialibus creaturis, de elementis scilicet et eorumquae ex elementis materialiter componuntur. Sunt autem materia et formaomnis rei corporalisprincipia ... Materia enim est causa indiuiduationis rerumetc.!" Aristoteles, arabische und abendländische Quellen, auch wiederumPseudo-Dionys, sind die Autoritäten dieses Konstrukts. Mit einem Buchüber die Akzidenzien (Farbe, Geruch, Geschmack, Maß, Zahl, Gewicht)schließt Bartholomäus sein Werk ab". Dieser philosophisch begründeteWelt-Ordo, der, im wesentlichen platonisch geprägt, von den Ursachen zuden Wirkungen führt, ist geeignet, Raum, Zeit, Materie und über die Ele-mente den Dingen, die breit ausgeführt werden und das eigentliche Interes-se des Autors bilden, ihren Ort in der Welt anzuweisen.

c) Das Sechstagewerk als Strukturmodell

Ein drittes Modell solcher Weltstrukturierung orientiert sich am Sec h s -tagewerk nach Gen. 1. Es hatte besonderen Erfolg, gerade auch in den be-

12 BartholomaeusAnglicus,De rerum proprietatibus, Frankfurt 1601 (Nachdruck1964); vgl, HEINZ MEYER, BartholomaeusAnglicus,De proprietatibus rerum.Selbstverständnisund Rezeption,in: Zeitschriftfür deutschesAltertumund deut-sehe Literatur 117,1988, S. 237-274, hier S. 241 f.

IJ BartholomaeusAnglicus,De rerumproprietatibus (wieAnm. I2) S. 1: Utile mihi etforsitan aliis, qui naturas rerum et proprietates per sanctorum /ibros nee non et pbi-losopborum dispersas non cognouerunt, ad intelligend« aenigmat« scripturarum, quaesub symbolis et figuris proprietatum rerum naturalium et artificialium a Spiritu sane-to sunt traditae et oelatae, quemadmodum ostendit Beatus Dionysius in HierarcbiaAngelica, circaprincipium dicens: Non est aliter nobis possibile lucere divinum radi-um, nisi varietate sacrorum velaminum anagogice circumuelatum, etc.

14 BartholomaeusAnglicus,De rerum proprietatibus (wieAnm. 12) S. 468.15 BartholomaeusAnglicus,De rerum proprietatibus (wieAnm. 12) S. 1133: Nunc

postremo de quibusdam accidentibus corporalium rerum substantias concomitantibus... est bic attendendum. Primo de colore, secunda de adore, tertia de sapore, ultimode liquore.

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deutenden Enzyklopädien des Mittelalters und noch darüber hinaus, unddas nicht ohne Grund. Erstens ist es biblisch legitimiert, besitzt daher hoheAutorität. Zweitens ist es in der Theologie und Exegese seit Basilios und denlateinischen patristischen Autoren philosophisch durchdacht und gedeutetworden!", mit neuem Elan seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts, in der so-genannten Schule von Chartres!", Es vereinigte dabei Schöpfungstheologieund Enzyklopädie im Sinne der ,philosophia perennis', das heißt, es setzteine zeitliehe Sequenz voraus, die vom Anfang her die Welt in ihren Abtei-lungen bis hin zum Menschen beschreibt und den Prozeß aus dem kosmolo-gischen Beginn fortsetzt in die geschichtliche Zeit", Zwei Sektoren, die inder additiven Enzyklopädie und noch bei Honorius unverbunden nebenein-ander gestanden hatten, konnten so in ein geschlossenes Konzept integriertwerden. Die Korrespondenz von sechs Tagen und sechs Weltaltern (die seitAugustin deutlich herausgestellt war'") half praktisch die Brücke zwischenKosmologie und (Heils-Kleschichte zu schlagen. Das Sechstagewerk habenAlexander Neekam im Ansatz", Gregor von Montesacro" und Vinzenz vonBeauvais zur Strukturbildung ihrer Weltbeschreibung benutzt, nachdem Isi-dor schon früh in .De natura rerum' einen entsprechenden Werkbeginn er-wogen hatte, wenn er nach dem Aufweis des Ursprungs der Dinge und desWissens in Gott fortfährt: quaproprer incipientes a die, cuias paene prima

16 Vgl. die Kommentare zum Hexaemeron.17 Vgl. z, B. NIKOLAUSM. HÄRING,The Creation and Creator of the World accor-

ding to Thierry of Chartres and Clarenbaldus of Arras, in: Archives d'histoire doc-trinale et litteraire du moyen äge 30, 1955, S. 137-216.

18 WILHELMSCHMIDT-BIGGEMANN,Enzyklopädie und Philosophia perennis, in: En-zyklopädien der Frühen Neuzeit (wie Anm. 5) S. 1-18 (mit Bibliographie S.308 ff.), hier S. 9 ff.; DERS., Topica uniuersalis. Eine Modellgeschichte humanisti-scher und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983.

19 Vgl. HEINZMEYER- RUDOLFSUNTRUP,Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbe-deutungen (Münsrersche Mittelalter-Schriften 56) München 1987, S. 442 ff.

20 Alexander Neckam, De naturis rerum Iibri duo, hrsg. von THOMASWRIGHT,Lon-don 1863 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967), S. 2 ff., 12 a, 55 ff., 127 ff.,158 ff.; vgl. CHRISTELMEIER,Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik, in:Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, hrsg.von LUDGERGRENZMANN- KARLSTACKMANN,Stuttgart 1984, S. 467-500, hierS. 474 f.

21 Vgl. Uno KINDERMANN,Der Dichter vom Heiligen Berge. Einführung in das Werkdes mittellateinischen Autors Gregor von Montesacro, mit Ersteditionen und Un-tersuchungen, Darmstadt 1989, S. 9 H.: "Das Lehrgedicht", S. 194 H.: "Anhang 3:Lateinischer Text zur Deificatio", S. 200 f.: Der Inhalt der sieben Bücher korre-spondiert mit den sieben Tagen der Erschaffung der Welt (Gen 1 f.); EYVINDCARLRONQUIST,Gregorius de Monte Sacro, Peri ton antbropon tbeopoieseos. A Studyand Partial Edition, 2 Bde., Diss. Chicago 1975, II S. 324 ff. Eine Gesamteditiondieser Enzyklopädie wird vorbereitet von Bernhard Pabst, Erlangen; vgl. dessenBeitrag in diesem Band.

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procreatio in ordine rerum uisibilium exstat", Vinzenz will im ,Speculum na-turale' zuerst von Gott, dem Schöpfer, und den Engeln handeln: post haecde materia informi et de [abrica mundi ac iuxta seriem operum VI dierum denatura et proprietatibus singularium per ordinem rerum; deinde uero de con-ditione hominis primi ... ll Die series omnium temporum schließt daran un-mittelbar an24•

Gregor von Montesacro beschreibt in seiner etwa 13 000 Hexameter um-fassenden - noch nicht editierten - Enzyklopädie ,De hominumdeificatione' (Peri ton anthröpön theopiisis) von etwa 1230 in sieben Bü-chern, die dem Sechstagewerk und dem Ruhetag gewidmet sind, die Berei-che der geschaffenen Welt. Er fügt zugleich eine Deutung der Schöpfungs-tage in der Erlösungsgeschichte des Menschen in der Form von sieben Sta-tionen des Wirkens Jesu von der Geburt bis zu Himmelfahrt und JüngstemGericht hinzu, und zwar jeweils im typologischen Bezug von Alter und Neu-er Zeit his zur endgültigen renooatio"; er begreift damit Welt und Heils-geschichte in die sieben Tage ein. Vinzenz läßt dem Sechstagewerk im,Speculum naturale' mit der Weltentstehung und der Abhandlung aller Sek-toren der natürlichen Welt in 32 Büchern nach dem Fall des Menschen des-sen Restitution in der Erkenntnis mit Hilfe der Wissenschaften und in derHeilsgeschichte in je einem eigenen Volumen, dem ,Speculum doctrinale'und dem ,Speculum historiale' , folgen".

2. Ordo artium

Die Organisation von Weltabbildung in der Enzyklopädie des Mittelaltersgeschieht also zum einen durch die Erstellung eines ordo rerum, der aus vor-philosophischen, konventionellen, eventuell auch empirischen Teilsystemenaufgebaut, aus philosophischer Gesamterklärung gewonnen oder durch In-terpretation der Stationen des biblischen Schöpfungsverlaufs gebildet wird.Das andere Grundsystem der enzyklopädischen Wissenspräsentation im

22 Isidore de Seville, Traite de la nature, hrsg. von JACQUESFONTAINE,Bordeaux1960, S. 169; vgl. Sap 1,17 ff.

2l Vincentius Bellovacensis, Speculum quadruplex sive Speculum maius, 4 Bde.,Douai 1624 (Nachdruck Graz 1964). Vgl. MEIER,Grundzüge (wie Anm. 20) S. 475mit Anm. 56.

24 Vgl. MEIER,Homo coelestis (wie Anm. 8) S. 169 mit Anm. 73.2' KINDERMANN(wie Anm. 22) S. 200 ff., jeder Tag der Schöpfung ist auf eine be-

stimmte Station des Lebens Christi auf Erden bezogen, nicht, wie sonst üblich, aufein Weltzeitalter.

26 Vgl. MEIER,Homo coelestis (wie Anm. 8) S. 166 ff. S. ebenso MONIQUEPAULMIER-FOUCART,Ordre encyclopedique et organisation de la matiere dans Ie ,Speculummaius' de Vincent de Beauvais, in: L'encyclopedisme, Actes du Colloque de Caen1987, hrsg. von ANNIEBECQ,Paris 1991, S. 201-215; DIES. - SERGELUSIGNAN,Vincent de Beauvais et I'histoire du ,Speculum maius', in: Journal des Savants I,1990, S. 97-124.

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Mittelalter ist ein ordo artium (läßt man die alphabetische Anlage zunächstaußer acht). Das Wissenschaftssystem drängt die kosmologische Perspekti-ve zurück zugunsten einer anthroprozentrischen. An Disziplinenordnungenoder Wissenschaftssystemen kennt das Mittelalter vor allem zwei, die in derEnzyklopädie gebraucht worden sind: die septem artes liberales und die ari-stotelische Wissenschaftseinteilung, mehr oder weniger modifiziert. Wenndie Sieben Freien Künste auch von der paganen Spätantike bis ins Mittelal-ter immer wieder abgehandelt worden sind, von Varro über Martianus Ca-pella, Cassiodor, Alcuin und Remigius bis hin zu Alan von LilIe, wenn sieauch als Weg zur Erkenntnis mit ihren einzelnen Lehrinhalten gezeichnetwurderr", so sind sie in der Enzyklopädie des Mittelalters doch nicht alsdurchgehend organisierendes Schema, sondern nur als Teilsystem ange-wandt worden: zuerst zu Beginn von Isidors .Etymologien". Die erst im 13.Jahrhundert unternommene Gründung einer Enzyklopädie auf ein Wissen-schaftssystem basiert auf der aristotelischen Einteilung der Wissenschaftenin Theorik, Praktik und Logik, wie sie Hugo von St. Victor in seinem Werküber die Methodik des Lesens ,Didascalicon' neu adaptiert und entwickelthatte ". Er erweiterte die überkommenen drei Großbereiche noch um dieMechanik. Von den Sieben Künsten war das Trivium in der Logik, das Qua-drivium in der Theorik unter der ,Mathematik' einbegriffen". Wenn Vin-zenz die Wissenschaften nach Hugos Entwurf in einem eigenen Teil, dem,Speculum doctrinale' abhandelt, bereitet er damit die Möglichkeit desWechsels von einem ordo rerum zu einem ordo artium in der Organisationder Enzyklopädie vor ". Er hat dazu bei Isidor, Hugo und Richard von St.Victor Orientierung gesucht: quorum primus in libra Ethimologiarum intercetera de quibus agit etiam de unaquaque scientia pauea breuiter tangit; secun-dus in libro Didascalicon scientiam uniuersaliter deuidit ac subdividit singu-lariumque materiam breoiter describit.)2Um dieses Ordnungsschema materi-

27 GÜNTER BERNT - LUDWIG HÖDL, Artes liberales, in: Lexikon des Mittelalters 1,1980, Sp. 1057-1062 (Lit.): PAUL ABELSON, The Seven Liberal Arts, New York21965; vgl. HARALD FUCHS, Enkyklios Paideia, in: Reallexikon für Antike undChristentum 5, 1962, Sp. 365-398; JUTTA TEZMEN-SIEGEL, Die Darstellungen derseptem artes liberales in der Bildenden Kunst als Rezeption der Lehrplangeschichte(tuduv-Studien. Reihe Kunstgeschichte 14) München 1985, S. 9 ff., 70 ff.

28 Isidorus Hispalensis, Etymologiae (wie Anm. 5): die Behandlung der Künste ist aufBuch 1-3 beschränkt.

2'1 Hugo von St. Viktor, Didascalicon. De studio legendi, hrsg. von CHARLES H.BUITIMER, Diss. Washington 1939.

)0 Hugo von St. Viktor, Didascalicon (wie in Anm. 29).)I MEIER, Wandel (wie in Anm. 5) und unten Anm. 39; vgl. ebenso DIES., Homo coe-

lestis (wie Anm. 26).)2 Vinzenz von Beauvais, Libellus apologeticus, hrsg. von SERGE LUSIGNAN, Preface

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ell auszufüllen (so Vinzenz), mußten die reichhaltigeren libri philosophorumausgewertet werden.

Unmittelbar nach Vinzenz wird eine Wissenschaftsorganisation im .Tre-sor' von Brunetto Latini vorgenommen. Vinzenz hatte die 17 Bücher des,Doctrinale' nach dem über Boethius vermittelten Schema von der Logik mitGrammatik, Dialektik, Rhetorik und Poetik, über die praktische Philoso-phie mit Individualethik, Ökonomik, Politik und Jurisprudenz, ferner derMechanik, einschließlich der praktischen und theoretischen Medizin, biszur theoretischen Philosophie mit Physik, Mathematik (Quadrivium) undTheologie eingeteilt. Brunetto Latini ordnet umgekehrt, von der Theorikzur Praktik, und gliedert der letzten die Rhetorik und die Artes mechanicaeein!'. Die Begründung für diese Änderung liegt in der Zweckbestimmungdes Werks (s. u.). Während sich aber für Brunetto Latini bei seinem in sichhomogenen Wissenschaftsordo als einern Organisationsprinzip der Enzyklo-pädie ein weiteres Problem nicht stellte, war Vinzenz veranlaßt gewesen, diedrei großen Teile seiner Enzyklopädie noch über den kosmologisch-heilsge-schichtlichen Zusammenhang hinaus fester zusammenzuschließen. Er tatdies durch den Rückbezug der Wissenssektoren und damit seiner ,Specula'auf die Erkenntniskräfte des Menschen, die - aufgrund der Gottebenbild-lichkeit - zugleich Spiegel des göttlichen Bewußtseins sind; dieses ist causaomnium naturerum. lumen omnium rationum, finis omnium actionum. Dieerst später voll realisierte Korrelation zum menschlichen Erkenntnisvermö-gen einerseits und Strukturen des Wissens und Wißbaren in der Enzyklopä-die andererseits ist von Vinzenz hier unter theologischer Prämisse bereits er-reicht". Auf einer solchen Korrelation basiert zum Beispiel noch die Syste-matik der französischen .Encyclopedie' der Aufklärung". An der Schwelleder Neuzeit lebt bei Gregor Reisch die Organisation der Enzyklopädie mitHilfe des Septem-Artes-Schemas noch einmal- anscheinend ganzrückstän-dig - wieder auf. Bei näherer Prüfung bietet Reisch in der ,Margarita phi-losophica?" aber eine eigenartige Mischung der beiden diuisiones (pbiloso-pbiae) disciplinarum, die das Mittelalter gebrauchte und die zu seiner Zeit

au ,Speculum maius' de Vincent de Beauvais: refraction et diffraction, Montreal -Paris 1979, S. 122.

H Brunetto Latini, Li livres dou tresor, hrsg. von FRANCISJ. CARMODY,Berkeley -Los Angeles 1948 (Nachdruck Genf 1975), S. 17-22. Vgl. CHRISTELMEIER,Cos-mos politicus. Der Funktionswandel der Enzyklopädie bei Brunetto Latini, in:Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, S. 315-356, hier S. 342 ff.; DIES.,Homo coe-lestis (wie Anm. 8) S. 173-175.

34 MEIER,Homo coelestis (wie Anm. 8) S. 169-171.35 Ebd.; vgl. auch ULRICHDIERSE,Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophi-

sehen und wissenschaftstheoretischen Begriffs (Archiv für Begriffsgeschichte. Sup-plernenth. 2) Bonn 1977, S. 52 ff.

36 Gregor Reisch, Margarita philosophica, Basel 41517 (Nachdruck Düsseldorf 1973,hrsg. von LUTZGELDSETZER).

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noch Geltung hatten. Äußere und innere Organisation stehen daher inmerkwürdigem Widerspruch zueinander. Nach den Raumanteilen im Buchdominieren die Sieben Künste entschieden, sie nehmen etwa zwei Dritteldes Werkes ein. Der zweite, schmalere Teil enthält quasi als Erweiterungen:Sektionen über diephilosophia natura/is, die Seelenkräfte des Menschen, diephilosopbia moralis. Die Abwägung der konzeptionellen Präponderanzenläßt jedoch eine Dominanz der aristotelischen dioisio und ihrer Intentionenhervortreten. Die Sieben Künste sind nicht Propädeutik im einfachen Sin-ne, sondern theoretisch-wissenschaftliche, sozusagen universitäre Diszipli-nen, mit Reflexionen über die jeweilige Theorie und Praxis, bei deutlichemÜberwiegen der naturwissenschaftlichen Wissensfelder - eine Tendenz, diesich durch das Werk weiter verstärkt.". Die Spannung, ja die Konkurrenzzwischen zwei Artes-Modellen, die in der Organisation der ,Margarita' zuta-ge tritt, wird sich unter anderer Perspektive im folgenden auflösen lassen.

II. DIEUTILITARITÄTDERENZYKLOPÄDIE

Wenn es auch keinen Zweifel daran gibt, daß die Enzyklopädie per defini-tionem ein Universalbuch ist, sie also eine Totalität, eine Gesamtordnungdes Wißbaren anstrebt, so muß sie doch zugleich einem zweiten Prinzip ent-sprechen: der Utilitarität. Es geht nicht um den Gegensatz von Universal-und Einzelwissenschaft, der in der Neuzeit an Bedeutung gewinnt, sondernum funktionale Anbindung. Jede neue Enzyklopädie wird für den Gebrauchgeschrieben, soll im historischen und gesellschaftlichen Kontext bestimmteFunktionen erfüllen. Beide Prinzipien wirken sich als formende Determi-nanten auf die Enzyklopädie und ihre Organisation aus. Daß diese doppeltePrägung des Werktyps noch nicht genügend erkannt und mit ihren Konse-quenzen durchdacht wie für die Beurteilung der einzelnen Werke beachtetwurde, hat immer wieder zu Schwierigkeiten der Abgrenzung der Gattunggeführt. Vor einigen Jahren war die Forschung auf den Punkt gelangt, daßes ,Enzyklopädie' im Mittelalter gar nicht mehr geben sollte".

Die richtige Einschätzung der funktionalen Bestimmtheiten der Enzyklo-pädie, die sachgerechte Beantwortung solcher Fragen, wie: a. Für wen ist dieEnzyklopädie geschrieben? b. Wozu soll sie dem Adressaten nützen? c.Welches ist ihr soziokultureller Raum? vermeidet solche Irritationen und

n DIERSE(wieAnm.35) S. 11-13; vgl. ROBERTRITTERVONSRBIK,Die ,Margaritaphilosophies' des Gregor Reisch (t 1525), in: Denkschriften der Akademie derWissenschaftenin Wien,Mathematisch-naturwiss.Klasse104, Wien 1941, S. 85-205, hier S. 92-108.

38 S. z. B.DIERSE(wieAnm.35) S. 1 ff.;TRAUDE-MARIENISCHIK,Das volkssprachli-cheNaturbuch imspätenMittelalter.Sachkundeund DinginterpretationbeiJacobvanMaerlantund KonradvonMegenberg(Hermae. GermanistischeForschungen,N. F. 48) Tübingen 1986, S. 22 ff.

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hilft, die jeweilige Materialorganisation und Gesamtanlage zu begreifen.Nicht erst dem Konversationslexikon steht eine gesellschaftliche Funktionan der Stirn oder besser: auf dem Rücken geschrieben. Charakteristische ge-brauchsbedingte Modifikationen der universalen Entwürfe des Mittelalters,die wie Deformationen erscheinen können, führen zu einer Vielfalt in derGattung, deren Gründe sich nun analysieren lassen.

Als einschränkende Prinzipien begegnen dem Universalismus die Spezi-fikationen, der Offenheit die gruppenspezifischen Interessen und die Pro-fessionalisierungen, dem Anspruch auf Objektivität die subjektiv-situativeAusrichtung; sie bestimmen Art und Grad der aktuellen Modifizierung ge-nereller Anlageprinzipien. Nicht nur Prologe, Widmungen und weitere Rah-menteile zielen auf die anvisierte utili/as, sondern auch die Gesamtorganisa-tion entspricht durch Akzentuierung, Selektionen, bestimmte Zugaben demGebrauchshorizont.

Einige nutzungsorientierte Enzyklopädietypen des lateinischen Westensvom 9. bis zum 16. Jahrhundert seien nun vorgestellt. Es sind dies schieh-tenspezifische, institutionengebundene, einer Professionalisierung Rech-nung tragende Exemplare der Gattung. Unterscheiden lassen sich, ohne denAnspruch auf Vollständigkeit:

1. die politische Enzyklopädie,2. die Schulenzyklopädie,3. die Klosterenzyklopädie,4. die Predigerenzyklopädie.5. die medizinische Enzyklopädie,6. die Handels- und Gewerbeenzyklopädie,7. die Universitätsenzyklopädie,8. die Hausenzyklopädie.

Damit wird eine zu einfache Entwicklung von der Naturenzyklopädie zumThesaurus kulturellen Wissens angemessen zu differenzieren sein",

1. Die politische Enzyklopädie

Der markanteste Fall einer politischen Enzyklopädie im mittelalterlichenWesteuropa ist der .Tresor' Brunetto Latinis; zur universalen Strukturie-rung benutzt er einen der beiden zur Verfügung stehenden Wissenschafts-ordines, das aristotelische Modell. Doch sind seine Umformungen beträcht-lich. Zum einen stellt er die sonst höchste Dignität besitzende Theorik alsPropädeutik an den Anfang und behandelt hier im ersten Buch den kom-

39 MEIER, Wandel (wie Anm. 5) S. 30 ff.; vgl. STEFAN RHEIN, Die ,Cyclopaedia Pa-racelsica Christiana' und ihr Herausgeber Samuel Siderocrates: Enzyklopädie alsanti-humanistische Kampfschrift. in: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit (wieAnm. 5) S. 81-97, hier S. 91 f.

Enzyklopädischer Ordo und sozialer Gebrauchsraum 521

pletten Inhalt der älteren mittelalterlichen Enzyklopädie in Kurzform, ein-schließlich der Geschichte (1. Buch). Das Hauptgewicht legt er dann auf diepraktische Philosophie. Diese teilt er ein in Individualethik und Ökonomikals private Praktik einerseits (2. Buch) und die Politik als öffentliche Prak-tik und damit auch als höchste Wissenschaft andererseits (3. Buch). Aus derGrundwissenschaft Logik wird zudem die Rhetorik herausgezogen und zurPolitik gestellt. Beide zusammen machen die theoretische, mit dem Wortausgeübte Politik aus, der die mit den Händen, im Tun betriebene Mecha-nik als praktischer Bereich beigeordnet wird. Wohin die Lehrintention die-ser Enzyklopädie zielt, liegt auf der Hand: Es ist eine Enzyklopädie für denStaatsmann, in diesem Fall den Lenker der Stadtkommune im nördlichenItalien, den Podesta, auf dessen Situation nicht nur die Aufwertung der Po-litik, sondern auch der in den Versammlungen und anderen Redeerforder-nissen notwendigen Rhetorik reagiert. Brunetto Latini begründet seineNobilitierung der Politik und bezeichnet seinen Adressaten expressis verbisals den Stadtlenker, der sich auch von den zeitgenössischen Herrschern inFrankreich, wohin der Autor vorübergehend emigrieren mußte, unterschei-der".

2. Die Schulenzyklopädie

Von erheblicher Eigenwilligkeit ist das Modell einer Schulenzyklopädie, wiesie das späte 13. Jahrhundert aufzuweisen hat. Der Schulmann Konrad vonMure, jahrzehntelang erster Kantor und scbolasticus am Züricher Großmün-ster und Leiter der zugehörigen scbola Carolina, hat mit seinem bis in dieNeuzeit erfolgreichen ,Fabularius' von 127341 - etwa ein Jahrzehnt nachBrunetto Latini - ein enzyklopädisches Handbuch für den schulischen Ge-brauchsraum geschaffen. Dieses Werk, das den Erfordernissen des literari-schen Unterrichts vollkommen Rechnung trägt und als umfassendes Hilfs-mittel für die Auctores-Lektüre, vor allem die Dichter, konzipiert wurde, istim Kern ein enzyklopädisch-historisches Lexikon von alphabetischer Anla-ge. Darin sind als Lemmata im wesentlichen historische und mythologischePersonen der Antike, selten Gestalten der Bibel und des Mittelalters, fernerdie Autoren sowie politische, historische und doktrinale Begriffe aufgenom-men. Darüber hinaus präsentiert Konrad auch eine vollständige Götterlehre

40 Brunetto Latini, Tresor (wie Anm. 33) S. 17,20 f.; MEIER,Cosmos politicus (wieAnm. 33), S. 350 ff.

41 Eine Edition des ,Fabularius' wird an der Universität Bonn vorbereitet; eine früheEdition aus Basel (um 1470) enthält eine gekürzte Version des Textes; vgl. ERICHKLEINSCHMIDT, Konrad von Mure, in: Die deutsehe Literatur des Mittelalters.Verfasserlexikon 5,21985,236-244 (Lit.).

522 Christel Meier

in fast 500 Hexametern, die übernommen sind aus seinem ,Novus Grecis-mus' (ebenfalls einer Schulenzyklopädie, in ca. 10550 Hexametemr", undergänzt das Lexikon durch einen vorangestellten geschichtlichen Teil, eineArt Konkordanz pagan-antiker und biblischer Vorgeschichte. Auch die Na-turkunde tritt hinzu in der Form von nachgestellten Verzeichnissen vonSteinen, Pflanzen und Bäumen (De Iapidibus, De plantis, De arboribus).Für die Tiere konnte Konrad auf sein bereits voausgegangenes Werk .Denaturis animalium' verweisen. Die Triviumskünste Grammatik und Rhetorikbestimmen nicht nur die literaturtheoretischen Ausführungen in Praefatiound Epilog, sondern durchziehen auch in zahlreichen Einzelerklärungendas gesamte Werk, so daß die philologische Komponente einen nicht uner-heblichen Anteil am Gesamtvolumen des Textes hat, vergleichbar Isidors,Etymologien'. Mit den Ergänzungsteilen zusammen transzendiert das histo-risch-mythologische Lexikon das Spezialhandbuch in Richtung auf eine en-zyklopädische Summe, die zugleich dem intendierten Gebrauch konsequentangepaßt, sparsam und ohne gehobenen Anspruch bleibt - mit den Wortendes Autors: cupiens communi paruulorum utilitati deseroire" . Die Totalität,die das Werk erreicht, basiert nicht auf einem systematischen Gesamt-entwurf, sondern sie wird eher nach einer Vollständigkeitsvorstellung imKomplettieren angestrebt und additiv gefunden. Die formale Uneinheitlich-keit der Kombination bedeutet in diesem Fall nicht nur Nachlässigkeit, son-dern zeigt das Werk ganz auf die Praxis zugeschnitten in der Präferenz derjeweils am schnellsten konsultierbaren oder memorierbaren Form der Teile.Für die in dieser Zeit im Entwicklungstrend von enzyklopädischen Büchernliegende Alphabetisierung des Hauptteils spricht der Autor den Nutzendeutlich aus: Hoc enim ordine babito et cognito lector id, quod desiderat eo[acilius poterit inuenire:" - An die Studien von Mary und Richard Rouse mitdem programmatischen Titel ,Statim invenire' sei hier nur erinnert".

42 Der ,Novus Grecismus' des Konrad von Mure ist bislang noch nicht ediert; eineEdition ist in Vorbereitung: Alexandru Cizek, Die Schulenzyklopädie ,NovusGrecismus' Konrads von Mure. Prolegomena zu einer künftigen Ausgabe des Lehr-gedichts, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 236-258.

43 Konrad von Mure, Fabularius, Prologue, in: FRANZF. BENDEL,Konrad von Mure,in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 30, 1909, S.51-101, hier S. 77. Über Tiere vgl. Konrad von Mure, De naturis animalium, hrsg.von ARpADPETERORBAN,Heidelberg 1989. Der geographische Teil des Lexikonsscheint verloren zu sein.

44 Konrad von Mure, Fabularius, Prologue, s. BENDEL(wie Anm. 43) S. 77.45 RICHARDH. ROUSE- MARYA. ROUSE,Statim invenire. Schools, Preachers and

New Attitudes to the Page, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century,hrsg. von ROBERTL. BENSON- GILESCONSTABLE,Oxford 1982, S. 201-225.

Enzyklopädischer Ordo und sozialer Gebrauchsraum 523

3. Die Klosterenzyklopädie

Die Spannung zwischen Universalität und Spezifikation ist besonders großin Enzyklopädien, die zugleich in ihrer Anlage die Totalität der Welt umfas-sen und für den Gebrauch auf einen bestimmten Konvent, das Entstehungs-kloster , zugeschnitten sind. Zwei Werke des 12.Jahrhunderts, Lamberts vonSt.-Orner ,Liber floridus' und Herrads von Hohenburg ,Hortus deliciarum',vertreten diesen Typ der Enzyklopädie. Da Lamberts Buch sich in besonde-rem Maß als ,work in progress' darstellt und eine Antwort auf die Fragenach den Organisationsprinzipien für größere Teile des Werkes letztlich hy-pothetisch bleiben muß", soll hier Herrads Werk exemplarisch analysiertwerden, auch wenn es heute, nach dem Verlust des Originals, nur in der Re-konstruktion von 1979 benutzt werden kann". Beide Werke haben einenRahmen, der ganz und bloß auf das eigene Kloster gerichtet ist, diesem wirdaber nicht eine billige Gebrauchshandschrift, sondern ein Prachtkodex ge-widmet. Es verwundert, daß Lamberts Werk überhaupt Abschriften erfuhr(Abb. 36 f.), während naturgemäß Herrads ,Hortus' ein Unikum blieb.

Herrads Buch ist in solchem Maß auf die Adressatinnen und Benutzer ge-richtet, daß sie sogar im Schlußbild vollzählig als Konvent von 60 Kanonis-sen mit Namentituli neben ihrer Äbtissin erscheinen"; der Codex sozusagenin seinen Gebrauchsraum hineingeht (Abb. 38 alb). Bereits das Eingangs-gedieht, die Salutatio an den Konvent in 25 Strophen, charakterisiet dieEmpfängerinnen49:

Salve cobors virgillumHobenburgiensiumAlbans quasi liliumAmans Dei Filium.

He"at deuotissimaTua fidelissimaMater et ancillulaCantat tibi cantica.

Und es gibt erste Hinweise auf die Intention des Buchs, wenn die ge-

46 Lambert von St. Orner, Liber Floridus. Autograph-Facs., hrsg. von ALBERTDERO-LEZ, Gent 1968; Liber Floridus Colloquium, hrsg. von ALBERT DEROLEZ, Gent1973; ALBERTDEROLEZ, Lambertus qui librum fecit. Een codicologische studie vande Liber Floridus-Autograaf (Gent, Universiteitsbibliotheek, handschrift 92), Brüs-sel 1978.

47 Herrad of Hohenbourg, Hortus deliciarum, hrsg. von ROSALIEGREEN - MICHAELEVANS - CHRISTINE BISCHOFF - MICHAEL CURSCHMANN,2 Bde., London - Lei-den 1979, Bd. 1: Reconstruction, Bd. 2: Commentary.

48 Herrad of Hohenbourg, Hortus deliciarum (wie Anm. 47) Bd. L, S. 345-346 (fol.322V-323').

49 Herrad of Hohenbourg, Hortus deliciarum (wie Anm. 47) Bd. 1, S. 2. (fol. IV).

524 Christel Meier

schmückten Bräute Christi und klugen Jungfrauen mit der Schärfung ihresGeistes, mit dem Schmuck des Wissens sich vorbereiten sollen: Et exornet[aciem / mentis purgans aciem. Das Buch sollte dabei das Erreichen des Zielsdurch Ausschalten des Vergessens garantieren:

Sit hie liber utilisTibi delectabilisEt non cesses uoluereHunc in tuo pectore,

Ne more strucineoSurrepat oblivioEt ne viam deserasAntequam peruenias.

Das Werk zeigt eine große heilsgeschichtliche Gesamtorganisation von derWeItschöpfung bis zu den Endzeiten mit dem Zentrum in Christi Erdenle-ben und der Apostelzeit. In diese schließt es die anderen enzyklopädischenMaterien, Kosmologie, Meteorologie, Geographie, Mikrokosmos, Wissen-schaften, Künste, Musen, Kirche, Kult, Institutionen und Stände sowieEthik, mit ein. Auf den weiten Horizont der Quellentexte weist Herradselbst hin, wenn sie ihre Exzerptionsarbeit als das Honigsammeln einer Bie-ne aus heiligen und wissenschaftlichen Quellen zur Herstellung einer neuenWabe kennzeichnet, die die Stärkung für Aufstieg und Rückkehr zum Ewi-gen bereitstellen soll: ... hunc librum qui intitulatur Hortus delidarum ex di-uersis sacre et philosoph ice scripture floribus ... comportaui et ... quasi inunum melllfluum [auum compagjnaui. Quapropter in ipso libra oportet vos se-dulo gratum querere pastum et mellitis stillicidiis animum reficere lassum, ut... transitoria secure percurratis et eterna ... possideatisl"

Organisation, Inhalt und Funktionsbestimmung des Werkes führen aufein weites kanoniales Wissenskonzept mit Dominanz der Heilsgeschichte,mit Kosmologie und einem Wissenschaftsentwurf, der auch die antiken phi-losopbi hochschätzt (die poetae allerdings kritisch einbezieht), mit einer ela-borierten und selbstbewußten Vorstellung vom Ideal der Brautschaft Chri-sti der Frauenkonvente, das letztlich auch die Gesamtkirche betrifft. Diesdeutet Herrad einleitend an, wenn sie ihre Arbeit getan sieht: ad laudem ethonorem Christi et Ecclesie, causaque dilectionis vestre, für die Kirche undihre congregatio religiose?',

50 Herrad of Hohenbourg, Hortus deliciarum (wie Anm. 47) Bd. 1, S. 4 (fol. IV?).11 Ebd.

Enzyklopädischer Ordo und sozialer Gebrauchsraum 525

4. Die Predigerenzyklopädie

Ein von den übrigen Enzyklopädien deutlich abgrenzbarer Werktyp ist diesogenannte moralisierte Enzyklopädie, die nach ihrer häufigen internenZweckbestimmung auch Predigerenzyklopädie genannt werden kann. DieseForm gelangt im Spätmittelalter zu starker Verbreitung, die Handschriften-zahlen gehen in mehrere Hunderte. Sie bildet aber ein in der Forschung bis-her noch kaum erschlossenes Feld. Entsprechend werden die folgendenÜberlegungen dazu im Bewußtsein ihrer Vorläufigkeit vorgetragen". Aller-dings sind in Groningen, in Louvain-la-Neuve und in Münster durch PeterBinkley, Baudouin van den Abeele und Heinz Meyer wichtige Arbeiten inGang gesetzt. Auch in diesem Werktyp haben sich funktionsspezifische For-men entwickelt, in denen Totalitätsstreben und Gebrauchsbedingungensich spiegeln. Abgeleitet in der Regel von den sogenannten Natur-enzyklopädien des 13. Jahrhunderts, vor allem Bartholomäus Anglicus undThomas von Cantimpre, finden sie variante Formen der Organisation für diepraktische Auffindbarkeit der Korrelationen von Dingen (signijicantia) undBedeutungen isignificata), die sie in großer Zahl verarbeiten und für denBenutzer bereitstellen. Als zweckmäßig erscheinen und geradezu charakte-ristisch sind verschiedene Kombinationen von Sachsystematik und alphabe-tischer Ordnung, etwa in den Werken des Marcus von Orvieto, Heinrichvon Schüttenhofen, Johannes von San Gimignano und im ,Reductoriummorale' des Petrus Berchorius. Zum Beispiel richtet sich bei Johannes vonSan Gimignano die Buchgliederung (Primärordnung) nach der Systematikder Dinge (signi/icantia) und die buchinterne Anordnung nach dem Alpha-bet der Bedeutungen (signi/icata). Doch auch die alphabetische Primärord-nung der Bedeutungen ist mehrfach gewählt: in der ,Tabula exemplorum',bei Jacobus von Lausanne, Johannes von Bromyard und im ,Repertoriummorale' des Berchorius. Der ,Liber septiformis de moralitatibus' des Marcusvon Orvieto vom Ende des 13. Jahrhunderts ist sachsystematisch in siebenBüchern geordnet, von denen die letzten drei (Tiere, Pflanzen, Mineralien)alphabetisch unterteilt sind; die Bedeutungen kommen seriell in den Einzel-artikeln zum Zug 5J.

Es charakterisiert diese Predigerenzyklopädien und erklärt die Tendenzzu alphabetischen Formen, daß sie eine Art von Thesauri, geistliche Topos-sammlungen darstellen, auf deren copia rerum et allegoriarum bzw. morali-

52 Monographische Untersuchungen zu diesem Thema sind in Vorbereitung von: Pe-ter Binkley, Groningen - London (Canada); Baudouin van den Abeele, Louvain-la-Neuve; Heinz Meyer, Münster.

13 Zur moralisierten Enzyklopädie, insbesondere zum .Liber septiformis de rnoralira-tibus' , liegt mir vor HEINZ MEYER,Organisationsformen und Kompilationstechnikin der moralisierten Enzyklopädik (Vortrag in Münster Januar 1996); vgl. auchMEYER(wie Anm. 56) S. 296 ff.

526 Christel Meier

tatum man z. B. für die Predigtvorbereitung leicht Zugriff nehmen kann.Mit ihrem moralischen Schwerpunkt und mit ihrer Berücksichtigung derverschiedenen Lebensformen und Stände der Gesellschaft zielen diese Wer-ke aber auch hinein in einen allgemein-humanen Aktionsraum. Beide Züge,Topik und soziale Verortung, nimmt Petrus Berchorius in der Einführungzu seinem ,Reductorium morale' in den Blick, wenn er das Werk einenSteinbruch oder einen Brunnen nennt, aus dem Material zu schöpfen sei,wenn er die vielfältigen Anwendungsformen anspricht: sic primum Opus (sc.Reductorium morale) sit sicut lapicidina vel puteus ad materiam baurien-dum 54.

5. Die medizinische Enzyklopädie

Mehr als einmal wurde bis zur frühen Neuzeit die lateinische Enzyklopädiefür medizinische Zwecke zubereitet, also einer Professionalisierung unterzo-gen, ohne daß das Resultat jeweils als Fachenzyklopädie im strikten Sinn zubezeichnen wäre. Zwei Beispiele sollen herausgehoben werden: Hildegardsvon Bingen ,Physica' aus der Mitte des 12. Jahrhunderts und der ,Hortus sa-nitatis' vom Ende des 15. Jahrhunderts. Mit der starken Aufnahme arabi-schen naturwissenschaftlichen Quellenguts im hochmittelalterlichen We-sten, mit dessen deutlicher Akzentuierung der Elementen- und Tempera-mentenlehre wird eine Reorganisation enzyklopädischen Wissens für denSektor der Heilkunde erleichtert. Auch in den nicht eigentlich medizini-schen Enzyklopädien des 12. und 13. Jahrhunderts ist dieser Einfluß zukonstatieren: im ,Apex physicae', bei Arnoldus Saxo'", Barrholomäus Angli-cus, Vinzenz von Beauvais. So wird die relativ starke Durchsetzung der Na-turbeobachtung mit medizinischem Wissen in der Rezeptionsgeschichteetwa des Bartholomäus Anglicus geschätzt beim fachspezifischen Gebrauchdes Werks von Medizinern"; aber auch kritisiert von Benutzern mit ande-ren Interessen, wie bei dem Petrarca-Freund Petrus Berchorius, der Bartho-lomäus für die Erstellung seiner Prediger-Enzyklopädie verwendet. In sei-nen Erklärungen über Kürzungen oder Erweiterungen dieser Vorlage sagt

54 Petrus Berchorius, Reductorium morale, Köln 1731, S. 1b (Prologus),55 Vgl. MARIE-OmLE GARRIGUES, L'Apex physicae, une encyclopedic du XII· siede,

in: Melanges de I'Ecole francaise de Rome 87,1, 1975, S. 303-337; Arnoldus Saxo,Die Enzyklopädie, hrsg. von EMIL STANGE, in: Beilagen zum Jahresbericht des Kö-niglichen Gymnasiums zu Erfurt, Erfurt 1905 ff.; FRANZJOSEF WORSTBROCK, Ar-noldus Saxo, in: Die deutsehe Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 1,21978,Sp. 485-488; eine Neuedition wird vorbereitet von Isabelle Draelants, Louvain-Ia-Neuve: vgl, ihren Beitrag in diesem Band.

56 HEINZ MEYER, Die Enzyklopädie des Bartholomäus Anglicus. Untersuchungen zurÜberlieferungs- und Rezeptionsgeschichte von .De proprietatibus rerum' (Mün-stersehe Mittelalter-Schriften 77) München 2000, S. 266 ff., 279.

Enzyklopädischer Ordo und sozialer Gebrauchsraum 527

Berchorius: notandum est, quod istud ... uolumen, quod Morale Reductoriumappello, ordinem libri de proprietatibus rerum sequitur ... Aliquae etiam suntin libro de proprietatibus materiae, quas ualde succincte posui, sicut est liberde infirmitatibus, et tiber de arboribus, de quibus notabiliora extraxi, magisuero communia dereliqui. Multa enim sunt ibi, quae magis visa sunt mibipertinere ad recepta medicorum, quam ad dicta Pbilosopborum; quaproprer deistis me breuiter expedioi. S7

Im Einflußbereich solcher arabisch-medizinischen Quellen entsteht inder Mitte des 12. Jahrhunderts Hildegards von Bingen kosmologisch-phar-makologische Summe ,Physic a' oder - nach den besten Handschriften undHildegards eigenem Werkkatalog - ,Liber subtilitatum diversarum natura-rum creaturarurn'?", Das Werk behandelt in enzyklopädischer Art die Ele-mente und die großen Gattungen der natürlichen Welt: Pflanzen, Bäume,Steine, Metalle, Fische, Vögel, Landtiere, Reptilien in je eigenen Büchern.Die Prologe der Bücher erläutern die Prämissen dieser medizinischen Na-turkunde in theologisch-kosmologischer Grundlegung: den Ausgang allerGattungen des anorganischen und organischen Seins vom Schöpfer und sei-nem Schöpfungswerk, in dem jedem Sektor Ort und Funktionen zugewiesenwerden. Das Werk - dessen nähere Erforschung übrigens erst seit kurzemin vollem Gange ist - vermittelt zusammen mit den Kenntnissen von denSimplizien also auch ein Schema der Weltordnung und das im einzelnenausgebreitete Wissen von der Interdependenz von Makro- und Mikrokos-mos; der Zusammenhang wird aus der Erschaffung der Welt, das heißt ausder Herkunft begründet.

Der ,Hortus sanitatis' des Mainzer Druckers Jakob Meydenbach von1491 zeigt den Fall, wie der Fachtraktat in eine Enzyklopädie überführtwird, die aber fachlich gebunden bleibt. Konzeption und Aufbau des Bu-ches unterscheiden sich von seinen unmittelbaren Vorgängern manifest.Denn der lateinische ,Hortus' zeigt nach den Büchern ,Gart der Gesund-heit' und ,Herbarius Moguntinus' einen dispositionellen und inhaltlichenRückgriff auf die Ordnungsprinzipien und Materien der hochmittelalterli-chen Enzyklopädie: Er gliedert die Simplizien nicht nach medizinisch-phar-mazeutischen Gesichtspunkten oder nach Krankheitsarten u. ä., sondern

17 Petrus Berchorius, Reductorium morale (wie Anm. 54) S. 2a.58 Hildegard von Bingen, Physica, MIGNE,PL 197, Sp, 1117-1352; weitere Untersu-

chungen auf diesem Gebiet werden nach den jüngsten Entdeckungen bisher unbe-kannter Manuskripte durchgeführt; vgl. IRMGARDMOLLER,Zur Verfasserfrage dermedizinisch-naturwissenschaftlichen Schriften Hildegards von Bingen, in: Tiefe desGotteswissens - Schönheit der Sprachgestalt bei Hildegard von Bingen, hrsg. vonMARGOTSCHMIDT,Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 1-17; DIES., Die Bedeutungder lateinischen Handschrift Ms. Laur. Ashb. 1323 (Florenz, Biblioteca MediceaLaurenziana) für die Rekonstruktion der .Physica' Hildegards von Bingen und ihreLehre von natürlichen Wirkkräften, in: Hildegard von Bingen in ihrem historischenUmfeld, hrsg. von ALFREDHAVERKAMP,Mainz 2000, S. 421-440 (mit Lir.),

528 Christel Meier

ordnet in den Großteilen, den fünf Traktaten, nach den vier Elementen,unter denen die Dinge der geschaffenen Welt und ihre Temperamenten-mischung behandelt werden. Daß diese Transformation nicht eine zufällig-äußerliche ist, bezeugen das Proömium des Gesamtwerkes wie die Einfüh-rungen in die einzelnen Werkteile mit ihrem wiederholten Rückverweis aufdas Schöpfungswerk".

6. Handels- und Gewerbeenzyklopädieversus

7. Universitätsenzyklopädie

Ein Beispiel für die Ökonomisierung der Enzyklopädie findet sich erst imspäten 16. Jahrhundert: in der ,Cyclopaedia Paracelsica Christiana' des Sa-muel Siderocrates von 1585. Als einziges deutschsprachiges Werk seinesJahrhunderts, das den Enzyklopädie-Titel führt, stellt es auch im übrigen indieser Phase der Neuorientierung und des Experimentierens eine erstaunli-che Transformation der mittelalterlichen Modelle von ordo rerum oder ar-tium dar; es bleibt aber auf diese bezogen. ,Enzyklopädie als anti-humanisti-sche Kampfschrift' hat man seine Intention und Leistung jüngst zusammen-gefaßt60•

Sein Bemühen, den mittelständischen praktischen Bildungsbedürfnissenzu entsprechen, äußert sich in seinem prononciert pädagogischen Ansatz,der sich auch in der Wahl der deutschen statt der lateinischen Sprache nie-derschlägt. Die drei Bücher behandeln nach dem aristotelischen Schema inKombination mit dem Artes-Modell, anscheinend konservativ, die Künste,die Physik und die Metaphysik (Theorik), entfalten ihre Intention aber imGegenbild, in der polemischen Auseinandersetzung mit dieser traditionellenVorgabe der Organisation. Das erste Buch geht über die sprachlichen Tri-viumskünste in Kapiteln zu ,Buchstaben', ,Schreibkunst', ,Büchern', ,Red-

59 Ortus sanitatis, hrsg. von BERNARDINUSBENALIUS- JOHANNES TACUINUS, 2 Bde.,Venedig 1511 (Nachdruck Würzburg 1978), S. 1 "Prohemium": Primus [tractatus]itaque tractat de herbis ceterisque que ad usum medicine concurrunt. In quo etiamherbarum aptas figuras comperies. Secundus de natura complexioneque multorumanimalium vitam in terris ducentium. Tertius de avibus earumque naturis. Quartusde piscibus earumque proprietatibus et naturis. Quintus de /apidibus preciosiseorumque virtutibus. CHRISTEL MEIER, Der ,Hortus sanitatis' als enzyklopädischesBuch. Zur Pragmatisierung traditionellen Wissens und ihrer Realisierung in der Il-lustration, in: Alles was Recht war. Rechtsliteratur und literarisches Recht. Fest-schrift für Ruth Schmidt-Wiegand, Düsseldorf 1996, S. 191-200, hier S. 192 f.GUNDOLF KEIL, Hortus san ita tis, in: Die deutsehe Literatur des Mittelalters.Verfasserlexikon 4, 21983, Sp. 154-164.

60 Samuel Siderocrates (Eisenmenger), Cyclopaedia Paracelsica Christiana. Drey Bü-cher von dem waren ursprung und herkommen der freyen Künsten, auch der Phy-siognomia, obern Wunderwercken unn Witterungen, Straßburg 1585; dazu RHEIN(wie Anm. 39).

Enzyklopädischer Ordo und sozialer Gebrauchsraum 529

nerkunsr', ,Zungen und Sprachen' und das mathematische Quadrivium inKapiteln wie ,Zahlkunst', ,Meßkunst', ,Gestirnskunst'. Die Ausführung ent-wirft aber ein didaktisches Curriculum, das im Widerspruch zum Ideal deshumanistischen Lateinunterrichts innovativ das Ebenbild von den TeutscbenKauffleuten61, eine enzyklopädische Wissenssumme also für Handel- undGewerbetreibende, anmahnt und daher die Artes nicht normativ über-nimmt, sondern pragmatisch entwickelt, ja ihr System dabei im Kern destru-iert. Sprachkenntnisse für Auslandsaufenthalte und Geldwirtschaft sollenohn alle Grammatico, Dialectica und Poeterey gelernt werden. Im zweitenBuch über Naturkunde und Medizin, wo die Bibel, von der Genesis her be-trachtet, und schließlich Paracelsus die Autoritäten sind und auch dieStruktur der Abhandlung bestimmen, sind vorrangig Ärzte und Apothekerangesprochen, und ihnen wird - analog der Stoßrichtung des ersten Buches- ein pragmatisches Berufsbild entworfen, in dem naturkundliche Kenner-schaft gefordert ist, ohne daß diese aber ins medizinische Fachstudium zuführen hätte.

Das Buch enthält in den verschiedenen Kapiteln etwas spezifizierte An-reden an die Rezipienten, die ein Bild von dem Benutzerkreis dieser Enzy-klopädie geben. Der Exkurs über die Notwendigkeit des deutschsprachigenUnterrichts wendet sich an die ,Hausväter, Vormünder, Pflegväter' (I,S. 15), die Mahnung zu ehrlichem Umgang mit Geld an ,Seelsorger, Vorste-her, Lehrer, Gesetzler, Richter, Oberkeit, Haußväter, Redner, Beysrunder.Rhatgeber' (1, S. 22), die Anleitung zu rechter Meßkunst nimmt verschiede-ne Berufsgruppen in den Blick: Ihr Lehrmeister, Ihr Kauf/eut, Ihr Schneider,Ihr Maurer62• "Die Rezipienten des Werks sind damit also nicht ein univer-sitäres, humanistisch-akademisch orientiertes Fachpublikum" , folgertRhein, sie sind vielmehr eine gebildete, praxisorientierte Mittelschicht, diein gewisser beruflicher Konkurrenz zu den Universitätsabsolventen stand,akademische Schranken als Ärgernis empfand und eine freie Zulassung zubestimmten Berufen der Freien Künste, Medizin, Theologie forderte: [Greu-liehe Gotteslästerung ist,] daß derselbe zu solcher Meysterscha//t keineswegszugelassen würdet, Er könne dann seine Kunst und H. Schrift auf, demnarrechten Aristotele uertbädige«, die Artzney auß des unbegründten Galenibescbeisserey verfechten unn die [reye Künst mit beydniscber Sopbisterey ver-blümlen.63 Konkret benennen lassen sich als Benutzergruppe: der gehobeneHandwerkerstand, Schreibmeister , Rechenmeister, Meßmeister, Apotheker,die vielen nichtakademischen Ärzte (Bader, Wundärzte, Bruchschneider),

61 Siderocrates, Cyclopaedia (wie Anm. 60) I S. 14 ff. (,Zungen und Sprachen');RHEIN (wie Anm. 39) S. 87 f.

62 Siderocrates, Cyclopaedia (wie Anm. 60) I S. 15 ff., 57 f.; vgl. RHEIN (wie Anm. 39)S. 95 f.

63 Siderocrates, Cyclopaedia (wie Anm. 60) I Bi. A3r/v; vgl. RHEIN (wie Anm. 39) S.96 f.

530 Christel Meier

Angehörige also eines Berufsfeldes zwischen illiteraten Handwerkern undhumanistischen Geleh rten 64.

Die Organisation des Wissens ist mit der Übernahme eines konventio-nell-gültigen Wissenschaftenmodells geleistet, das aber mit der erneutenAnknüpfung an das Sechstagewerk, durch Umakzentuierung, Reduktionund Substitution von Teilen der traditionell-universitären Lehrtotalität aufdie anvisierte soziale Gruppe genau zugeschnitten wird. Beim Vergleich mitder ,Margarita philosophica' Gregor Reischs", die um 1490 aus seinem Un-terricht als Magisters Artium an der Freiburger Universität hervorgeht, er-kennt man in diesem den Gegner; er beginnt gleichfalls mit den Sieben Kün-sten, behandelt dann die pbilosopbia naturalis und Medizin und führt überErkenntnislehre zur Theologie - all dies aber lateinisch und in einem akade-mischen Lehrbuch, das im 16. Jahrhundert sehr verbreitet war (s. o.). Dasinnere Hauptkonzept war das der aristotelischen Wissenschaftsordnungund ihre Form der Naturwissenschaft= - diesen Aristotelismus lehnt Side-rocrates vehement ab bis hin zu so scharfen Formulierungen wie wider ih-ren abgott Narristotelem'".

8. Die Hausenzyklopädie

Auf einen engen, aber in der Gesellschaftsordnung sehr wichtigen Raum istder letzte Typ der Enzyklopädie ausgerichtet, der hier noch en passant hin-zuzufügen ist: die Hausenzyklopädie. Ihre Materien sind vielfältig, nichtstreng geordnet, aber auf die Wissensinteressen des sozialen Raumes .Haus'(Oikos) konzentriert: die personale Ordnung des Hauses, die Pflichten undRechteseiner Mitglieder, dann Gartenbau, Tierhaltung, Insektenbekämpfung,Kochkunst, Jagd, Medizin, Ethik, praktische Glaubenslehre, Arteswissen,Dichtung, Geschichte, Kosmologie, Wetterkunde und dergleichen mehr",

64 RHEIN(wie Anm. 39) S. 96 f.6' VgI. Anm. 36.66 Vgl. Anm. 37; s. ferner GUSTAVMÜNZEL,Der Kartäuserprior Gregor Reisch und

die ,Margarita philosophica', in: Zeitschrift des Freiburger Geschichtsvereins 48,1938, S. 1-87, hier S. 48 ff.

67 Siderocrates, Cyclopaedia (wie Anm. 60) .Drittes Buch. Vorrede", S. II.68 Oeconomica: s. OTTOBRUNNER,Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschich-

te, Göttingen 21968, S. 103 ff. Kap. VI .Das ganze Haus und die alteuropäischeÖkonomik"; MARGARETEZIMMERMANN,Vom Hausbuch zur Novelle. Didaktischeund erzählende Prosa im Frankreich des späten Mittelaters, Düsseldorf 1989, S.4 ff.; BERNHARDSCHNELL,Das Hausbuch als Überlieferungsträger. Zu Michael deLeone und zum Iatromathematischen Hausbuch, in: Würzburger Fachprosa-Srudi-en. Michael Holler zum 60_ Geburtstag, hrsg. von GUNDOLF KEIL, Würzburg1995, S. 118-133.

Enzyklopädischer Ordo und sozialer Gebrauchsraum 531

Ein gutes Beispiel für diesen Werktyp ist die sogenannte Bayerische Bild-enzyklopädie aus dem frühen 16. jahrhundert".

In seiner Einschränkung auf den Entstehungs- und Gebrauchsraum desHauses ist dieser Typ verwandt mit der Klosterenzyklopädie, in der Mate-rienkombination steht er der Handels- und Gewerbeenzyklopädie nahe. Erist freier in der Wahl und Anordnung der Gegenstände als die von der An-tike beeinflußte Ökonomik, die in festen stofflichen, methodischen undtheoretischen Bahnen bleibt. Über die einfachen Formen des Hausbuchshinausgehend, wird er zur Enzyklopädie durch die Aufnahme von Kosmo-logie, Geschichtswissen und weiteren generellen Wissensbereichen. WieLamberts Klosterenzyklopädie ist er in besonderem Maß ,work in progress',da der zuerst in Rubriken eingeteilte Kodex laufend weiter mit Eintragun-gen vervollständigt wird?", - In der Forschung besteht für diese Werk-formen noch besonderer Erklärungsbedarf.

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Einer Adaptation enzyklopädischen Universalwissens in der Werkkonzep-tion an Gebrauchsräume, wie sie die behandelten Typen und Beispiele ge-zeigt haben, kann eine zweite Stufe solcher Indienstnahme der Enzyklopä-die in der Rezeption folgen, die in Bearbeitungen manifest und interpretier-bar wird. Das muß hier außer Betracht bleiben 71.

Schluß: Die allgemeine Enzyklopädie

Nicht jede mittelalterliche und frühneuzeitliche Enzyklopädie weist Indizi-en einer spezifischen Utilitarität auf. Es gibt Werke, die sich der Zuordnungzu einem engeren Gebrauchsraum entziehen, und solche, die das expressisverbis auch erläutern. Zu diesen möchte ich einerseits die frühen Enzyklo-pädien Isidors, Hrabans, andererseits die Werke des Honorius Augustodu-nensis, Bartholomäus Anglicus und Vinzenz von Beauvais rechnen. Isidorschreibt für das gesamte christliche Spanien (für dessen Kulturträger), Hra-

69 EWACHOJECKA,Bayerische Bild-Enzyklopädie. Das Weltbild eines wissenschaft-lich-magischen Hausbuchs aus dem frühen 16. Jahrhundert, Baden-Baden 1982.

70 CHOJECKA(wie Anm. 69).71 Die Verwendung einer mittelalterlichen Enzyklopädie in ihrer Rezeptionsgeschich-

te wurde untersucht von Heinz Meyer am Beispiel des Bartholomäus Anglicus (wieAnrn. 56); s. ferner MICHAELW. TWOMEY,Towards a Reception History of We-stern Medieval Encyclopaedias in England before 1500, in: Pre-modern Encyclo-paedic Texts. Proceedings of the Second COMERS Congress, Groningen 1-4 July1996, hrsg. von PETERBINKLEY(Brill's Studies in Intellectual History 79) Leiden -New York - Köln 1997, S. 329-362.

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ban für das Karolingerreich und seine zwei bestimmenden Exponenten: Kö-nigtum und Klerus, wie es seine beiden Widmungen an Ludwig den Deut-schen als den rex sapiens und neuen Salomon und den Erzbischof von Mainzdokumentieren", Vinzenz beschreibt die intendierte Multifunktionalität sei-ner Enzyklopädie programmatisch: Außer auf Gott unmittelbar und in sei-ner Schöpfung soll sich der Erkenntnisgewinn richten auf die moralisch-le-benspraktische Vorbildhaftigkeit der Geschichtsexempel, ferner auf Pre-digtunterweisung, auf die Lektüre literarischer Quellen, das wissenschaftli-che Streitgespräch und überhaupt auf mannigfache Problemlösung und Er-klärung erläuterungsbedürftiger Phänomene welcher Kunst oder Wissen-schaft auch immer: ad predicandum, ad legendum, ad soluendum, nee non etgenera/iter ad unumquodque jere materte genus artis cuiuslibet explican-dum,"

72 Hrabanus Maurus, De rerum naturis (wie Anm. 7) S. 9-14.73 Vinzenz von Beauvais, Libellus apologeticus (wie Anm. 32) S. 118.