MR 2013 09 Eva Geulen Uber Biografie Jacques Derrida

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820 Kritik Vitam instituere Die erste Biografie Jacques Derridas Von Eva Geulen Biografien berühmter Intellektueller verkaufen sich gut und haben einen schweren Stand bei denen, die glauben, etwas von der Sache, also dem Werk, zu verstehen. Im Fall Jacques Derridas, den der zwölf Jahre ältere Althusser »den einzigen Großen unserer Gegenwart und vielleicht den letzten für lange Zeit« genannt hat, stellt sich rasch fros- tige Skepsis ein. Das könne ja nur schiefgegangen sein, wird allenthalben geunkt, denn zur Größe dieses Derrida gehöre schließlich, sich den Verflech- tungen und Verknotungen von Werk und Leben mit äußerster Radikalität und Konsequenz weniger gewidmet als ausgesetzt zu haben. Diskreditierung einer Biografie, bloß weil sie Biografie ist, wird allerdings frag- würdig, wenn man aus der vorliegenden erfährt, mit welch obsessiver Leidenschaft Derrida die Selbstarchivierung zeitlebens betrieben hat. 1 So etwas kennt man eigentlich nur vom alten Goethe, und es bleibt nicht ungestraft. Wer so viel sam- melt, wer in dieser Mischung aus scho- nungsloser Selbstoffenbarung und Ge- heimniskrämerei von und über sich ver- öffentlicht und genug geschrieben hat, um am Ende gleich zwei Archive mit Nachlässen zu bestücken, dem bleibt seine Biografie à la longue nicht erspart. (Eigentlich überraschend, dass sie fast ein Jahrzehnt auf sich hat warten lassen.) Der Wert dieser ersten, die die letzte nicht sein wird, aber längerfristig die beste blei- ben könnte, bemisst sich auch an dem Ge- spür ihres Verfassers für die Differenz zwi- schen der besonderen Qualität von Der- ridas vielfältigen, verstreuten und (auch wie bei Goethe) an Gelegenheiten gebun- denen Texten und deren Transformation »in eine Art universaler Methode«. Dass sich Derrida der Unterscheidung von Werk und Leben im Werk und zu Lebzeiten verweigert und dieses Problem gleichwohl insistierend bis zuletzt um- kreist hat, ist und bleibt Teil seiner He- rausforderung, nicht nur für Biografen. Eine Möglichkeit, sich ihr zu stellen, hat Geoffrey Bennington erprobt, als er 1991 eine Gesamtdarstellung versucht hat, die auf dem unteren Drittel der Seiten von Derridas autobiografischem Text Circon- fession gespiegelt und konterkariert wird. Benningtons und Derridas Koproduktion war damals schon Teil eines Persönlich- keitskults mit Rückkoppelungseffekten, denen Derrida nicht immer widerstanden hat; ob dabei Eitelkeit oder anderes im Spiel war, hat man sich im Stillen durch- aus gefragt. 2 Im Unterschied zu Benning- ton war Benoît Peeters klug und un- abhängig genug, sich den sehr wohl erkannten Herausforderungen gar nicht erst zu stellen, sondern beim Handwerk des Biografen zu bleiben. Dazu gehört die Tugend, den Tod desjenigen abzuwarten, dessen Leben zu erzählen man sich an- schickt: »Biographie gibt es nur von To- ten.« Chronologisch noch vor der Geburt mit Derridas Eltern und Großeltern »Un- ter der Sonne Algeriens« beginnend, läuft die Erzählung auf sein Sterben als ihr Ende zu, von dem aus die Geschichte 1 Benoît Peeters, Jacques Derrida. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Horst Brüh- mann. Berlin: Suhrkamp 2013. 2 Jacques Derrida / Geoffrey Bennington, Jacques Derrida. Ein Porträt. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Frankfurt: Suhrkamp 2001. Kostenlose Leseprobe - http://volltext.online-merkur.de © Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

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820 Kritik

Vitam instituereDie erste Biografie Jacques Derridas

Von Eva Geulen

Biografien berühmter Intellektuellerverkaufen sich gut und haben einenschweren Stand bei denen, die glauben,etwas von der Sache, also dem Werk, zuverstehen. Im Fall Jacques Derridas, dender zwölf Jahre ältere Althusser »deneinzigen Großen unserer Gegenwartund vielleicht den letzten für langeZeit« genannt hat, stellt sich rasch fros-tige Skepsis ein. Das könne ja nurschiefgegangen sein, wird allenthalbengeunkt, denn zur Größe dieses Derridagehöre schließlich, sich den Verflech-tungen und Verknotungen von Werkund Leben mit äußerster Radikalitätund Konsequenz weniger gewidmet alsausgesetzt zu haben.

Diskreditierung einer Biografie, bloßweil sie Biografie ist, wird allerdings frag-würdig, wenn man aus der vorliegendenerfährt, mit welch obsessiver LeidenschaftDerrida die Selbstarchivierung zeitlebensbetrieben hat.1 So etwas kennt maneigentlich nur vom alten Goethe, und esbleibt nicht ungestraft. Wer so viel sam-melt, wer in dieser Mischung aus scho-nungsloser Selbstoffenbarung und Ge-heimniskrämerei von und über sich ver-öffentlicht und genug geschrieben hat,um am Ende gleich zwei Archive mitNachlässen zu bestücken, dem bleibtseine Biografie à la longue nicht erspart.(Eigentlich überraschend, dass sie fast einJahrzehnt auf sich hat warten lassen.) DerWert dieser ersten, die die letzte nichtsein wird, aber längerfristig die beste blei-ben könnte, bemisst sich auch an dem Ge-spür ihres Verfassers für die Differenz zwi-

schen der besonderen Qualität von Der-ridas vielfältigen, verstreuten und (auchwie bei Goethe) an Gelegenheiten gebun-denen Texten und deren Transformation»in eine Art universaler Methode«.

Dass sich Derrida der Unterscheidungvon Werk und Leben im Werk und zuLebzeiten verweigert und dieses Problemgleichwohl insistierend bis zuletzt um-kreist hat, ist und bleibt Teil seiner He-rausforderung, nicht nur für Biografen.Eine Möglichkeit, sich ihr zu stellen, hatGeoffrey Bennington erprobt, als er 1991eine Gesamtdarstellung versucht hat, dieauf dem unteren Drittel der Seiten vonDerridas autobiografischem Text Circon-fession gespiegelt und konterkariert wird.Benningtons und Derridas Koproduktionwar damals schon Teil eines Persönlich-keitskults mit Rückkoppelungseffekten,denen Derrida nicht immer widerstandenhat; ob dabei Eitelkeit oder anderes imSpiel war, hat man sich im Stillen durch-aus gefragt.2 Im Unterschied zu Benning-ton war Benoît Peeters klug und un-abhängig genug, sich den sehr wohlerkannten Herausforderungen gar nichterst zu stellen, sondern beim Handwerkdes Biografen zu bleiben. Dazu gehört dieTugend, den Tod desjenigen abzuwarten,dessen Leben zu erzählen man sich an-schickt: »Biographie gibt es nur von To-ten.«

Chronologisch noch vor der Geburtmit Derridas Eltern und Großeltern »Un-ter der Sonne Algeriens« beginnend, läuftdie Erzählung auf sein Sterben als ihrEnde zu, von dem aus die Geschichte

1 Benoît Peeters, Jacques Derrida. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Horst Brüh-mann. Berlin: Suhrkamp 2013.

2 Jacques Derrida /Geoffrey Bennington, Jacques Derrida. Ein Porträt. Aus dem Französischenvon Stefan Lorenzer. Frankfurt: Suhrkamp 2001.

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rückblickend entfaltet wird, ganz klas-sisch und denkbar konventionell also.Dass Peeters gar nicht den Anspruch er-hebt, eine Werkbiografie vorzulegen, hatals Verdienst zu gelten. Gelassen erzählter dieses zum Ende hin immer hektischerund unruhiger werdende Leben eines»Handlungsreisenden des Denkens«.Dabei kommen auch die Bücher und ihreSchicksale (ausführlich etwa das der Dis-sertation) zur Sprache, aber im Vorder-grund steht, wie es sich für Biografien ge-hört, die Person, über die man hier einigeserfährt, was man noch nicht wusste.

Natürlich gibt es Fehler im Detail(was auch an der etwas lieblosen Überset-zung liegen mag), aber sie sind nicht gra-vierend. Schwerer wiegt, dass man unterden zahlreichen Personen, die Peeters ne-ben dem umfangreichen, hier zum Teilerstmalig gesichteten Nachlassmaterialkonsultiert hat, eine ganze Reihe vonStimmen vermisst. Mit einiger Regel-mäßigkeit meldet sich die amerikanischeLiteraturwissenschaftlerin Avital Ronellzu Wort beziehungsweise wird ausführ-lich zitiert, häufiger auch Jean-Luc Nancyoder Alexander Garcia Düttmann, gele-gentlich Samuel Weber. Dagegen fehlendirekte Äußerungen Rodolphe Gaschés,Werner Hamachers, Anselm Haverkampsoder Giorgio Agambens.

Sollte Peeters das Gespräch auch mitihnen gesucht haben, werden sie sich ausinstinktiver Skepsis dem Unternehmendieser Biografie gegenüber zurückgehal-ten und dabei wohl auch an Derridasnotorische, von Peeters ebenfalls aus-führlich dargestellte Schwierigkeitenmit der Presse und anderen Organeneiner größeren Öffentlichkeit gedachthaben. Wer etwas über Derridas Denkenerfahren will, sollte die Publikationender Genannten lesen und natürlich zu-allererst die Texte Derridas selbst, derenals Autobiografie identifizierbare An-teile seit der Publikation des philosophi-schen Briefromans La carte postale (1980)wachsenden Raum beanspruchten. Werstattdessen oder zusätzlich diese Biogra-fie liest, hat weder Indiskretionen nochintellektuelle Ausfälle zu befürchten

und ist vor Huldigungen ebenso sicherwie vor Häme.

Enttäuscht oder beunruhigt werdennur die sein, denen Biografien prinzi-piell verhasst sind, weil sie ihren Ge-genstand in die vermeintlichen Niede-rungen dessen herabziehen, was kleineund große Tiere, nahe und ferne Ver-wandte zwangsläufig teilen: beruflicheProbleme, die nie nur berufliche sindoder bleiben, Liebes- und Familienge-schichten, die nie nur privat sind oderbleiben.

Gleichwohl markiert diese schlichte, umAusgleich und Fairness bemühte, dabeidoch unangestrengte und in privatenDingen mindestens für den Außenste-henden behutsam anmutende Biografieeine Zäsur. Nicht mit Derridas Tod imOktober 2004, sondern erst jetzt mitdieser ersten, zunächst auf Französisch,dann auf Englisch und nun auf Deutscherschienenen Biografie ist etwas zu Endegegangen. Ihr bloßes Faktum zeitigteinen Historisierungsschub. Nun erstdrängen sich Fragen auf, die bislangnicht ernsthaft gestellt wurden, vor al-lem jene, die eine Biografie unabweislichaufwirft: Was bleibt? Was war, und wasist geblieben, von Derrida, von der De-konstruktion und von deconstruction? Sichdieser Frage zu stellen, bedeutet fortannicht mehr automatisch, Stellung zu be-ziehen in einem Streit für oder gegenMannschaften oder Lager. Aber es be-deutet die Chance, etwas herauszufindenüber das Vergehen von Gegenwarten, ih-ren Übergang in jene unmittelbar ver-gangene Geschichte, die HistorikerZeitgeschichte nennen.

In Derridas letztem, bei seinem Be-gräbnis verlesenen Text, mit dessenWortlaut diese Biografie endet, heißt esbeschwörend: »Ziehen Sie immer das Le-ben vor, bejahen Sie stets das Überle-ben.« Mit der ihm eigenen Insistenz undIntensität hat Derrida in einem spätenGespräch mit Jean Birnbaum in Le Mondeversucht, die Frage nach dem, was bleibt,vorwegzunehmen, gleichsam selbst Handanlegend an die Unverfügbarkeit dessen,

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was irgendwann Wirkungs- oder Rezep-tionsgeschichte heißt. Unmittelbar nachseinem Tod sind jene Sätze häufig zitiertworden, auf die auch Peeters nicht ver-zichtet. Dezent abgesetzt von Derridasallerletztem Text einerseits und dem Ap-parat mit den Anhängen andererseits, hater ihnen eine eigene Seite eingeräumt.

Dort heißt es unter anderem: »Werwird erben, und wie? Wird es überhauptErben geben? ... Ich habe – und ich bitteSie, mir das zu glauben – das doppelte Ge-fühl, daß man einerseits – um es etwasscherzhaft und unbescheiden zu sagen –noch gar nicht begonnen hat, mich zu le-sen ... gleichzeitig habe ich andererseitsdas Gefühl, daß zwei Wochen oder einenMonat nach meinem Tod nichts mehr blei-ben wird.«

Nicht nur die Antwort, sondern schondie Frage ist eigentlich Angelegenheitder Nachwelt, also vorläufig unsere.Dass er sie in dieser radikalen Alterna-tive selbst formuliert und uns als Teilseines Erbes hinterlassen hat, ist un-heimlich – und eine Zumutung. Jeden-falls fordert ein solcher Vor- und Aus-griff des damals noch Lebenden auf dieihn Überlebenden und ihre Rezeptionzur Selbstbehauptung heraus, um anallen fromm fälligen und unter Umstän-den auch objektiv weiterhin drängendenTheoremen Derridas vorbei diese Frageselbst zu stellen: Was ist angesichts desAbschlusses, den diese Biografie dar-stellt, für uns geblieben?

»Uns« meint zunächst die nicht We-nigen, deren intellektuelle und wissen-schaftliche Sozialisation parallel mit undin vielen Fällen unter dem Einfluss vonDerridas Texten und seiner Präsenz anzahlreichen akademischen Institutionenüberall auf der Welt sich vollzog. Denenfällt bei der Lektüre der Biografie zu-nächst einmal auf, was nicht gebliebenist. Deshalb können sie sich ziemlich altvorkommen, sind aber doch nicht alt ge-nug, um zuverlässig zu wissen, ob die un-glaubliche Ermächtigung, die von denbei Derrida und in seinem Umkreis prak-tizierten Lektüren lange ausging, lebens-weltliche Gründe des Jungseins hatte –

oder ob die als Lektürepraxis verstandeneDekonstruktion tatsächlich eine nahezupräzedenzlose und vielleicht die letzteErmächtigung der Geisteswissenschaftendarstellte, insbesondere der an Literaturund Philosophie interessierten.

Diese Ermächtigung verdankte sichdem Gefühl, dass vor einer bestimmtenLektürepraxis kein Text – literarischer,philosophischer oder politischer Prove-nienz, Zeitungsartikel, Einkaufslisten,Filme, Werbung, Dylan oder Pop – sicheroder gefeit wäre; die Qualität der Gegen-stände erwies sich an der Komplexität derLektüren, die sie zuließen und forderten.Dieses Gefühl hat sich mit den Jahrenverloren. Nicht dass der Objektivität derGegenstände nun größerer Respekt ge-zollt würde, nicht dass man die Technikenund entsprechende Sensibilitäten verlernthätte oder es Anlass zu ihrer Diskreditie-rung gäbe (der große Schock der Enthül-lungen von Paul de Mans während deut-scher Besatzung in Belgien entstandenenTexte 1987 fällt ja noch in die fraglicheZeit des Hochgefühls).

Suspekt geworden ist einem vielmehrnur, aber gründlich, jenes Ermächti-gungsgefühl selbst. Die Schlachten umText und Kontext, cultural studies und de-construction, Feminismus und postcolonialstudies sind geschlagen; rückblickend istman überrascht, wie viele Energien dortinvestiert wurden, muss aber nach derLektüre dieser Biografie auch einsehen,dass die Debatte tatsächlich das Elementwar, in dem Derrida selbst bevorzugtagiert hat. Bernard Stiegler erinnert sichan eine besonders intensive Diskussionmit Derrida auf einem Kolloquium inBrasilien, zu dem der schon schwerkrankeDerrida angereist war: »Vielleicht konn-te es für ihn wahre Diskussionen nur öf-fentlich geben.«

Was in dieser Derrida-Biografie mitscharfen Konturen hervortritt, ist in derTat der Rahmen, in den alle Aspekte sei-nes Daseins, auch die Freundschaften(und vor allem die Feindschaften), viel-leicht sogar das Lieben gespannt waren.Das Kreuz dieser Existenz war und blieb:die Institution, also die Familie (»der

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Clan«), die Schulen, die Institute undUniversitäten, aber auch die Reformpro-jekte und Alternativuniversitäten (wiedie Universität Vincennes), die Protestewie die »Generalaufstände der Philoso-phie«, die Parallelinstitutionen wie dasCollège Internationale de Philosophie,aber auch die so geschätzten und vonDerrida sorgfältig gepflegten Gegen-institutionen wie die regelmäßigen Tref-fen in Cerisy-de-la Salle mit denen, diein der Biografie gelegentlich »die Ge-treuen« heißen. Es hat seine eigene Iro-nie, dass die von Derrida immer neu ent-worfenen Modelle einer transversalen,freien Forschung auf Zeit und mit wech-selndem Personal zwischenzeitlich ineinigen Förderformaten der DFG reali-siert wurden und sich diese offiziellenPara-Universitäten im günstigsten Fallefür knapp zehn Jahre großzügiger staat-licher Unterstützung und weitgehenderAutonomie ihrer Forschungen sicher seindürfen.

Zur Institution gehören aber auch dieVerlage und die Zeitschriften, ihre Kon-kurrenzen und Kämpfe, die öffentlichenAuseinandersetzungen und politischenInterventionen wie Derridas Engagementfür Nelson Mandela. Noch DerridasMarkenzeichen der site-specificity, der un-bedingte Wille, im Vortrag oder In-terview auf das Hier und Jetzt zu ant-worten, erscheint in dieser Perspektivesowohl als Institutionalisierung ad hocwie als Versuch, die institutionellenGrenzen zu überschreiten oder zu durch-brechen. Das gequälte Verhältnis zu al-len Institutionen ist der Soundtrack die-ser Lebenserzählung. Natürlich wussteman aus vielen Texten wie Der Streit derFakultäten, Die unbedingte Universitätoder auch Schibboleth, wie sehr ihn dieFrage nach der Institution umgetriebenhat, aber die affektive Aufmerksamkeit,die die Institutionen ihm von Anfang bisEnde abverlangten oder die er ihnenschenken zu müssen glaubte, der riesigeRaum, den sie in seinem Leben behaup-ten konnten oder den er ihnen einge-räumt hat, das erhellt erst die Biografie.

Jedenfalls war es eines ihrer Anliegen,

diese Dimension ins Zentrum zu rücken.Daneben tritt sekundierend und kon-trapunktisch Derridas Befähigung zumeigen-, ja starrsinnigen Schweigen als ex-treme Form der Verweigerung nicht nurder Institutionalisierung, sondern jederForm von Interaktion und Kommunika-tion. Schon früh wird dieses Thema ein-gespielt: »Das Schweigen ist meine ma-jestätischste, meine friedlichste, aberauch meine deutlichste Kriegserklärung,oder Bekundung von Verachtung«, umdann vielfach durch heterogenes Mate-rial hindurch (Heideggers Schweigenüber den Nationalsozialismus, Paul deMans Schweigen über seine journalisti-schen Aktivitäten im besetzten Belgien)variiert zu werden. Fließend sind dieÜbergänge zum dritten Motiv: dem Ge-heimnis als einer vom Schweigen gehü-teten Gegeninstitution, die erst durchdas Schweigen zu einer solchen wird.

Zahlreich sind die Belege, die derVerfasser zu Derridas »ständiger Ambi-valenz« gegenüber den Institutionen unddem Instituieren versammelt hat. Dazugehört auch eine Stelle aus der Rede, dieDerrida anlässlich seiner Aufnahme indie Ehrenlegion 1992 gehalten hat: »Seies beim Schreiben oder Denken, beimLehren oder Forschen, im öffentlichenoder privaten Leben: Während ich nie ir-gendetwas gegen die Institution hatte,habe ich immer die Gegeninstitution ge-liebt, sei sie staatlich oder eben nicht-oder antistaatlich. Ich glaube auch, daßman den Krieg gegen die Institutionennur in ihrem Namen führen kann,gleichsam um ihnen Ehre zu erweisen,indem man die Liebe, die man ihnen ent-gegenbringt, in jedem Sinne des Wor-tes verrät ... Die Ironie besteht darin,daß die Institution par excellence, derStaat ... letztlich die Gegeninstitutionenanerkennt, und das ist der Moment, indem sie, gewählt, ausgesucht oder be-stätigt, wieder Ordnung, Orden und Le-gion werden.«

Ein Traumprotokoll aus unveröffent-lichten Notizbüchern zeigt die Kehr-und Gegenseite: »Teilnahme an einernationalen politischen Versammlung.

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Ich ergreife das Wort. Mache allen denProzeß. (Wie gewöhnlich: ich verbündemich nie und schieße nach allen Seiten:ganz allein. Die Angst, das ist die vor derVerbindung und vor diesem Gefühl derSicherheit, das die Verbindung trägt ...Abscheu vor der Gemeinschaft. Schondas Wort ist mir zuwider.)«

Gewiss werden andere Biografien an-ders akzentuieren, anderes auswählen.Aber zum einen hat Peeters wohltu-end davon abgesehen, seine Motive zumaufdringlichen Narrativ auszugestalten.Zum anderen trifft er mit dem vexatori-schen Institutionenverhältnis einen jenerPunkte, an dem der Abstand zwischenDerrida und uns neuralgisch wird. Des-halb kann man als Leser kaum anders, alsüber die Gründe dieser Besessenheit ge-rade dort zu spekulieren, wo der Biografsich als Deutungsinstanz zurückzieht,um sein Material sprechen zu lassen.So liegt beispielsweise die Vermutungnahe, dass das fürchterliche double bindvon Dazugehören-Wollen und Nicht-da-zugehören-Wollen eine Folge der Krän-kungen darstellt, die Derrida von, in unddurch Institutionen erlitten hat. Dasfängt mit dem Rauswurf des Juden ausseiner algerischen Schule an, setzt sich inden grauen Mauern des Lycée, später inden akademischen Blockaden und Intri-gen der Universitäten, insbesondere ander Ecole normale supérieure fort und istmit den Ehren, die Derrida spät (und mitAusnahme der Ehrenlegion vorzugsweiseaußerhalb Frankreichs) zuteil gewordensind, keineswegs behoben.

Neben der psychologisierenden Lesartbietet sich eine historische an, mit dersich unvermittelt eine Kluft auftut, dieDerridas Generation von »uns« trennt.Dazu gehören nicht nur seine Kindheitund Jugend in Algerien, sondern auchdie heute nicht weniger exotisch, abergrotesk anmutende Pariser Polit- und In-tellektuellenszene um 1970. Im Unter-schied zu vielen anderen französischenIntellektuellen (etwa Althusser oder Fou-cault) war Derrida nicht Mitglied derKommunistischen Partei. Aber die Feh-den und Zwiste, die erbitterten Kämpfe

zwischen Leninisten, Trotzkisten undMaoisten sind auch an ihm nicht spurlosvorübergegangen. Stammt das Dazuge-hören-Wollen aus den früh erfahrenenKränkungen, so könnte das Nicht-dazu-gehören-Wollen seine Wurzeln in diesenKontexten haben, dem heute abstrus wir-kenden Sumpf der Parteipolitik der Pari-ser Intellektuellen um 1970.

Ihren Anteil werden diese Erfahrun-gen an Derridas abgründigem und ver-zweifeltem, im Guten wie im Bösen lei-denschaftlich-obsessivem Verhältnis zuallen Institutionen, auch dem Institutseiner eigenen Person, gehabt haben. DerZwang zu Polemik und Debatte gehörtebenso dazu wie das Bündnisse schmie-den und lösen. Jean-Luc Nancy hat inAnspielung auf diese Aktivitäten und In-teressen Derrida in einem Gespräch als»preußischen General« bezeichnet; seineFrau Claire Nancy berichtet, dass ihrDerrida einmal eine Weltkarte gezeich-net habe mit den Gegenden, wo er be-kannt sei, wo angefeindet und wo er be-wundert werde.

Jenseits von Psychologie und Laien-historie geht aber an diesem so bewegen-den wie befremdlichen Institutionen-komplex die Biografie mittelbar inZeitgeschichte über. Denn sich so wieDerrida an der Institution gerieben, auf-gerieben und zerrieben zu haben, unddoch selbst ein Institut und eine Institu-tion gewesen zu sein und gewesen sein zuwollen, ist keine Frage individueller Dis-position oder prägender Erfahrungen.Die Eule der Minerva tritt ihren Flug be-kanntlich bei Dämmerung an. Und demspäter geborenen Leser dieser Biogra-fie dämmert nicht nur, dass viele je-ner Schlachten und Debatten vergangensind, sondern er begreift nun erst, dassdie Institute und Institutionen, mit Staatund Recht als ihrem Inbegriff, selbstverschwinden und zum Teil schon ver-schwunden sind, einschließlich der Uni-versität.

Die deutsche ist ein oft hinderli-cher, ungerechter, in der Evaluierung derEvaluierung sich selbst parodierenderVerwaltungsapparat, der gerne ein Un-

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ternehmen mit Profiten und Gewinn-margen wäre. Unternehmen können sehrverschiedene Aufgaben wahrnehmenund sehr verschieden agieren, sie sindaber keine Institutionen, an denen mansich reiben kann (es sei denn, die Rück-kehr einer Kapitalismustheorie stündezu erwarten, die der Rückkehr diesesInstitutionenbesessenen Derrida voran-zugehen hätte). Gegen- und Parallel-institutionen konkurrieren um Ressour-cen in Gestalt der Drittmittel. Immerwichtiger werden die je neu zu Projekt-zwecken improvisierten Netzwerke, dieaber Gegen- oder Parallelinstitutionenschon deshalb nicht mehr sind, weil ih-nen der Gegner in Gestalt der staatlichenInstitutionen fehlt, denn es sind ja zu-meist staatliche Gelder, um die die un-terfinanzierten Universitäten kämpfen.

Obwohl der Staat sich gerade in dengegenwärtigen Krisenzeiten wieder sehrbemerkbar macht, ist auch dieser Souve-rän nicht mehr das, was man sich untereiner mächtigen Institution vorzustellenhat. Bedarf es noch eines Nachweises ausder Theoriebildung, dass die Institutio-nen und ihre Gegenspieler verkümmertsind, dann darf ihn die Systemtheorie an-treten, die bekanntlich viel mit Derridateilt, der aber Hass und Liebe zur Insti-tution und zu den Instituten ganz fremdsind. Und die Öffentlichkeit, mit der

Derrida so haderte (etwa als die Nou-velles Philosophes ihre Medienpräsenzzu Ungunsten Derridas nutzten), ist auchkeine Institution mehr.

Dass die im Netz entstehende Öffent-lichkeit weder Institution noch Öffent-lichkeit ist, das gehört bereits in und zuunserer Geschichte, an der Derrida nichtmehr teilhat. Das ist weder kulturkri-tisch noch nostalgisch gemeint, sondernein Faktum, wie es der Umstand der vor-liegenden Biografie und ihres Historisie-rungsschubes ist. Ob aus Derridas Tex-ten, jetzt oder später, etwas anderes alsdie Bejahung des Überlebens und dieselbstzerfleischende, allerdings auch un-geheuerlich produktive Auseinanderset-zung mit den Instituten überlebt habenwird, steht auf einem anderen Blatt. Esist nicht ausgeschlossen, dass man sichmit Derrida auf jene absehbar gewordeneZukunft ohne Institutionen im altenSinne einstellen kann, in die unsere Ge-genwart stets genauso übergeht wie indie Zeitgeschichte des jüngst Vergange-nen. Das offenbar noch nicht überlebteInstitut der Biografie hilft da jedochnicht weiter. Dazu bedürfte es der neuer-lichen Lektüre von Derridas Texten.Vielleicht hat man ja das eine oder an-dere überlesen, oder es taucht aus derLatenz der Rezeption erst noch auf.

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