Nachbarn
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NACHBARNZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Die Initiative ging von unten ausVor 50 Jahren wurde die Euregio gegründet
Zur Behandlung über die GrenzeMarktwirtschaft im Gesundheitswesen setzt sich immer mehr durch
Hier Diesel, dort BenzinEinkaufen jenseits der Grenze ist heute nichts Besonderes mehr
Integration ist das SchlagwortImmer mehr Niederländer zieht es über die Grenze
Vater nahm mir den Pass wegLiebe über die Grenzen hinweg hatte schon früher ihre Tücken
Guten Morgen, Herr ProfessorDas D-Team überspült die niederländischen Universitäten undHochschulen
Mit dem Zug zum WochenmarktBahnverbindung zwischen Gronau und Enschede wird gut angenommen
Dienstag, 23. September 2008
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NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 3
Das deutsch-niederländische Redaktionsteam der gemeinsamen Zeitung „Nachbarn – Zusammenleben im Grenzgebiet“ (vonlinks): Julia Henkel, Redakteurin der in Enschede erscheinenden Tageszeitung „De Twentsche Courant Tubantia“, FreimuthSchulze, Redakteur der „Grafschafter Nachrichten“, Martin Borck, Redakteur der „Westfälischen Nachrichten“, und Jan Haverka-te, Redakteur „De Twentsche Courant Tubantia“. Die vier Journalisten haben in vielen gemeinsamen Redaktionsbesprechungenin den Räumen der Euregio in Gronau und Glanerbrug das Konzept für dieses bisher einmalige grenzüberschreitende Projekterabeitet und selber den größten Teil der auf den nachfolgenden Seiten veröffentlichten Reportagen und Kolumnen geschrieben.
Für Sammler von Raritä-
ten ist diese Zeitung eine
Ausgabe zum Aufbewahren.
Es ist die erste Zeitung in
der Geschichte, die von nie-
derländischen und deut-
schen Journalisten für ihre
jeweiligen Leser gemacht
wurde. Sie erscheint heute
in einer Auflage von ca.
420 000 Exemplaren in den
niederländischen Grenzre-
gionen Twente und Achter-
hoek, im Münsterland und
in der Grafschaft Bentheim.
Der Inhalt ist der gleiche,
nur die Sprache ist verschie-
den.
Die Idee für diese Zeitung
entstand vor einem Jahr.
Rob Meijer, Sprecher der Eu-
regio, fragte damals bei den
Redaktionen von „De Twent-
sche Courant Tubantia“,
„Westfälische Nachrichten“
und „Grafschafter Nachrich-
ten“ an, ob wir im Jahr 2008
bereit seien, das 50-jährige
Bestehen der Euregio, des
Zusammenarbeitsverbandes
deutscher und niederländi-
scher Grenzgemeinden, ent-
sprechend zu würdigen.
Der Plan reifte damals
schnell. Es war in den zu-
rückliegenden 50 Jahren viel
passiert, alte Feindschaften
waren beseitigt worden.
Aber anstatt eine Zeitung
über Unterschiede zu ma-
chen, entschieden wir uns
für eine Zeitung über Ge-
meinsamkeiten. Wenn die
Grenze zwischen den Nie-
derlanden und Deutschland
denn tatsächlich ihre Bedeu-
tung verloren hatte, so frag-
ten wir uns, müsste es dann
nicht möglich sein, für das
gesamte Verbreitungsgebiet
unserer Tageszeitungen die
gleiche Zeitung zu machen?
Wir beschlossen, die Pro-
be aufs Exempel zu machen.
Die Zeitung kam in ein-
trächtiger Zusammenarbeit
zwischen den Redaktionen
unserer Tageszeitungen zu-
stande. Ob wir mit unserem
Auftrage erfolgreich waren,
können nur Sie als Leser be-
urteilen. Lassen Sie es uns
bitte wissen. Wir hoffen,
dass Sie ebenso viel Spaß
beim Lesen dieser Zeitung
haben wie wir ihn beim Ma-
chen hatten.
Reagieren? Schicken Sie
dann eine E-Mail an redakti-
Martin BorkJan HaverkateJulia HenkelFreimuth Schulze
Eine historische Zeitung
I N H A LT
Die Initiative ging von unten aus 3
Wenn die Euregio ein eigener Staat wäre 6
„Sch . . . Bürokratie! Siesind ein Grenzfall“ 8
Zur Behandlung über die Grenze 10/11
Auf deutsche Patienten eingestellt 12
KonkurrenzGesundheitswesen 13
Augenklinik Ahaus: 9000 Operationen jährlich 14
Grenzgänger haben es heute leichter 15
Am Fußball schiedensich die Geister 17
Hier Diesel,dort Benzin 18/19
Die Landschaft fasziniert 18
Trip über die Grenze längstselbstverständlich 19
Oranje war zum Füchten 20
Filiale jenseits der Grenze 21
Integration ist das Schlagwort 22/23
Der ganz große Boom ist erst einmal vorbei 22
Ein Dirigent aus Eggerode 23
Vater nahm mir den Pass weg 25/26/27
Holländischer Abend – deutscher Abend 25
Auf Holländisch trauen auf der Burgin Bad Bentheim 27
„Man spricht Deutsch“ 28
Guten Morgen,Herr Professor 29/31/32
Niederländisch eine Art Deutsch für Anfänger 31
Mit dem Zug zumWochenmarkt 33/34/35
Ein halber Deutscher 35
Der Verkehr rollt 36
Halt! 37
FMO zählt immer mehr Niederländer 38
Lederhosen 39
Gesamtauflage
ca. 420.000 Exemplare
Dieses Produkt ist die Teil-ausgabe für den Landkreis Grafschaft Bentheim
HerausgeberGrafschafter Nachrichten GmbH & Co. KG,
Coesfelder Hof 2,48527 Nordhorn,Tel. +49 (05921) 707-0
RedaktionMartin Bork, Westfälische Nachrichten
Jan Haverkate, De Twentsche Courant Tubantia
Julia Henkel, De Twentsche Courant Tubantia
Freimuth Schulze, Grafschafter Nachrichten
Guntram Dörr, Grafschafter Nachrichten (verantwortlich)
AnzeigenUlrich Schläger, Grafschafter Nachrichten
Matthias Richter, Grafschafter Nachrichten (verantwortlich)
Technische HerstellungGrafschafter Nachrichten GmbH & Co. KG
Coesfelder Hof 2, 48527 Nordhorn
I M P R E S S U M
NACHBARN ZUSAMMENLEBENIM GRENZGEBIETEine Koproduktion aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Euregio
• De Twentsche Courant Tubantia (Enschede)• Westfälische Nachrichten & Partner (Münster)• Grafschafter Nachrichten (Nordhorn)
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NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 5
Von Martin Borck
GRONAU. 1958: Der Zweite
Weltkrieg ist seit 13 Jahren
vorbei. Man pfeift den River-
Kwai-Marsch, „Sputnik I“
verglüht beim Wiederein-
tritt in die Erdatmosphäre,
die Römischen Verträge zur
Europäischen Wirtschafts-
gemeinschaft treten in Kraft
– und die erste grenzüber-
greifende Organisation auf
regionaler Ebene in Europa
entsteht: die Euregio.
Die Idee war beim Neu-
jahrsempfang der Stadt
Münster ausgebrütet wor-
den. Der damalige Ensche-
der Bürgermeister Van Veen
regte beiderseitige Kontakte
an. Damit rannte er offene
Türen bei den Mitgliedern
der Interessengemeinschaft
(später Kommunalgemein-
schaft) Rhein-Ems ein. In
dieser Organisation hatten
sich vier Jahre zuvor Kom-
munen aus dem deutschen
Grenzgebiet zusammenge-
schlossen, um ihre gemein-
samen Interessen gegenüber
Land und Bund zu vertre-
ten. Auf niederländischer
Seite bildeten sich zwei Inte-
ressengemeinschaften in En-
schede und Doetinchem. Die
Euregio bestand zunächst
aus diesen drei kommuna-
len Zusammenschlüssen.
Die Zeit für grenzüber-
schreitende Kooperationen
war reif. Dennoch war die
Art und Weise, wie sie zu-
stande kam, etwas Besonde-
res. Die Initiative ging von
unten aus, von den Kommu-
nen. Sie wurde nicht von
oben aufgestülpt. Die Betei-
ligten wussten genau, wo der
Schuh drückte, hatten sie
doch hautnah mit den Nach-
teilen zu kämpfen, die die
Grenzlage mit sich brachte.
Dementsprechend setzten
sich die ersten „Euregianer“
für die Öffnung von Grenz-
übergängen ein, sie machten
sich stark für eine bessere
Anbindung an die Autobahn-
netze und kümmerten sich
um die Probleme von Grenz-
gängern.
Dass der Region dabei
nichts geschenkt würde, war
den Initiatoren schnell klar.
Der damalige Euregiorats-
Präsident Hans Poetschki
sagte 1980: „Bereits Anfang
der 60er-Jahre setzte sich
die Auffassung durch, dass
Hilfen von außen für diesen
Raum und seine Zielsetzun-
gen nur zu erwarten sind,
wenn die Region zur Eigen-
leistung und Selbsthilfe
schreitet.“
Die 60er-Jahre müssen
als Vorbereitungsphase für
die systematische Zusam-
menarbeit gesehen werden.
Es gab kleine, greifbare Er-
folge, zum Beispiel die (zu-
mindest vorübergehende)
Erhaltung von Bahnlinien in
Zeiten von Streckenstillle-
gungen. Noch we-
sentlicher aber
muss ein ganz an-
derer Aspekt ge-
wichtet werden:
das Zusammen-
bringen von Men-
schen. Damit
wurde eine Ver-
trauensbasis ge-
legt, auf der die
anderen Erfolge
aufbauen konn-
ten.
„Ich habe An-
fang der 60er-
Jahre – damals
noch von der
Stadt Rheine aus
– Jugendbegeg-
nungen geleitet“,
erinnert sich In-
geborg Hoffkamp,
spätere Mitarbei-
terin des ersten
Geschäftsführers
der Euregio-Kommunalge-
meinschaft Rhein-Ems, Au-
gust Kersting. „Erst fuhren
wir Deutschen für ein paar
Tage über die Grenze, an-
schließend kamen die nie-
derländischen Jugendlichen
in deutsche Familien.“ Spä-
ter gab es riesige grenzüber-
schreitende Sportfeste,
Kommunalbeamte unter-
nahmen gemeinsame Studi-
enfahrten, Seniorenbegeg-
nungen fanden statt. Jähr-
lich begegneten sich auf die-
se Weise bis zu 300 000
Menschen. Gerade in den
Grenzgebieten müsse eine
enge Zusammenarbeit statt-
finden, um bürgernah dem
künftigen Europa ein Profil
zu geben, sagte auch Eure-
gio-Mentor Alfred Mozer:
„Wenn es hier nicht funktio-
niert, funktioniert es nir-
gendwo.“
Der Begriff „Euregio“
wurde übrigens 1965 erst-
mals für eine deutsch-nie-
derländische Wanderaus-
stellung verwendet. „Das
Wort hatte August Kersting
eingeführt“, erinnert sich
Hoffkamp. Kersting war wie
Mozer unermüdlich in Sa-
chen grenzüberschreitender
Arbeit unterwegs, und das
zunächst ehrenamtlich.
Raumordnung, Arbeits-
markt, Verkehr und die Re-
gelung alltäglicher Grenzfra-
gen blieben die Hauptthe-
men. Aber auch auf anderen
Arbeitsfeldern wurde die
Euregio immer aktiver. Das
erforderte eine stärkere Pro-
fessionalisierung. 1971 er-
hielt die Euregio-Kommu-
nalgesellschaft Rhein-Ems
ihre erste Geschäftsstelle in
Rheine. „Wir waren zu zweit:
August Kersting und ich“,
erinnert sich Ingeborg Hoff-
kamp. Sie kam wenige Mo-
nate später bei einem Unfall
ums Leben.
Ein politischer Meilen-
stein und eine Pioniertat auf
europäischer Ebene war
1978 die Gründung des pari-
tätisch deutsch-niederlän-
disch besetzten Euregiorats.
Die Region erhielt damit ein
politisches Beratungs- und
Koordinierungsorgan.
Seit den 90er-Jahren ste-
hen Mittel aus dem Europäi-
schen Strukturfonds für Pro-
jekte in der Region zur Ver-
fügung. Im Rahmen des In-
terreg-Programms flossen
-zig Millionen Euro ins Eu-
regio-Gebiet. Die Wirt-
schaftsministerien von
Nordrhein-Westfalen, Nie-
dersachsen und den Nieder-
landen sowie die Provinzen
Overijssel und Gelderland
beteiligen sich an der Pro-
jektförderung. Das ermög-
lichte fast 300 grenzüber-
schreitende Projekte – vom
Niederländisch-Lehrbuch
für den Unterricht an allge-
mein bildenden Schulen bis
hin zum Technologietransfer
zwischen Hochschulen und
kleinen und mittelständi-
schen Betrieben.
Nicht zuletzt durch be-
harrliche Arbeit der Euregio
kann das Gebiet erhebliche
Fortschritte verbuchen. Die
West-Ost-Autobahn E 30
und die A 31 wurden fertig
gestellt, die Bahnverbindung
zwischen Enschede und
Gronau wurde wieder in Be-
trieb genommen. Kleine und
mittelständische Unterneh-
men arbeiten ebenso zusam-
men wie Hochschulen.
Grenzüberschreitender Wis-
senstransfer hilft den Unter-
nehmen, sich besser auf dem
internationalen Markt zu be-
haupten.
Ein grenzüberschreiten-
der Gefahrenabwehrplan er-
höht den Schutz der Bürger
im Katastrophenfall, für den
grenzüberschreitenden Ju-
gendaustausch wurde das
Servicebüro Diabolo einge-
richtet. Grenzpendler finden
Hilfe in der Eures-Bera-
tungsstelle.
Doch den größten Erfolg
sah der langjährige Euregio-
rats-Präsident Wim Schel-
berg darin, dass im Laufe
der Jahre „das deutsch-nie-
derländische Miteinander zu
einer Selbstverständlichkeit
geworden ist und Offenheit,
Respekt und Verständnis
vorherrschen“.
Die Initiative ging von unten ausVor 50 Jahren wurde die Euregio gegründet – Erste Geschäftsstelle in Rheine
Hoher Besuch: Im Herbst 2007 waren die niederländische Königin Beatrix und Bundespräsi-dent Horst Köhler (Bildmitte) zu Gast bei der Euregio. Rechts Euregiorats-Präsident FransWilleme aus Denekamp.
Euregio-Mentor Alfred Mozer: „Wennes hier nicht funktioniert, funktioniert esnirgendwo.
6 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Von Martin Borck
Die Euregio ist nicht nur
eine Organisation; der
Begriff bezeichnet eine Re-
gion mit immerhin einer
Fläche von rund 13 000
Quadratkilometern. Fast
3,4 Millionen Einwohner
leben hier. Etwa zwei Drit-
tel der Fläche und der Be-
völkerung gehören zum
deutschen und ein Drittel
zum niederländischen
Staatsgebiet. Wo würde die
Euregio stehen, wenn sie
ein unabhängiger Staat wä-
re? Ein rein spekulatives
Gedankenspiel, das aber
das Potenzial der Region
verdeutlicht.
Flächenmäßig läge die
Euregio auf Platz 157 aller
Länder weltweit (zwischen
den Bahamas und Vanua-
tu). Oder, um es ein biss-
chen anschaulicher zu ma-
chen: Die Euregio ist grö-
ßer als die EU-Mitglieds-
staaten Zypern, Malta oder
Luxemburg.
Die 3,4 Millionen Ein-
wohner würden Rang 128
auf der Liste der 193 Staa-
ten der Welt bedeuten. In
der Euregio wohnen somit
mehr Menschen als in den
baltischen Staaten Estland
oder Lettland.
Nun werden in der Eure-
gio zwei Sprachen gespro-
chen. Das wäre nicht so un-
gewöhnlich. In Belgien, der
Schweiz und in zahlreichen
anderen Ländern gibt es
ebenfalls mehrere Amts-
sprachen. In der Euregio
würde sich als dritte Amts-
sprache vielleicht Platt an-
bieten.
In der Frage der Staats-
form müssten sich die Eu-
regianer einigen, ob sie als
Staatsoberhaupt einen Prä-
sidenten oder einen Monar-
chen wollten. Adelsge-
schlechter existieren in der
Region durchaus. Obwohl:
Eine Wahl zum Präsidenten
würde sich wahrscheinlich
einfacher gestalten. Die Ab-
geordneten des Euregio-
rats, der betroffenen Pro-
vinz- und Regionalparla-
mente und Kreistage könn-
ten in einer „Euregio-Ver-
sammlung“ den künftigen
Präsidenten wählen. Der
wäre vermutlich aus christ-
demokratischem Hause, da
sowohl im deutschen als
auch im niederländischen
Teil der Euregio die CDU
beziehungsweise CDA bei
den jüngsten Wahlen die
meisten Stimmen auf sich
vereinigen konnten. Aus-
sichtsreiche Kandidaten
wären zum Beispiel der
derzeitige Euregio-Chef
Frans Willeme aus Dene-
kamp oder auch Bart van
Winsen (Haaksbergen), der
die Mozer-Kommission lei-
tet. Oder der Mann mit der
wohl meisten Europa-Er-
fahrung: Hans-Gert Pötte-
ring, der in Bersenbrück
geborene Präsident des Eu-
ropäischen Parlaments.
Als Hauptstadt oder zu-
mindest Regierungssitz
würde sich die zentral gele-
gene „Doppelstadt“ Gro-
nau-Enschede anbieten.
Von der Infrastruktur
her steht die Euregio gut
da: Der große Flughafen
Münster-Osnabrück, dazu
mehrere kleine Landeplät-
ze, gute Straßen- und
Bahnverbindungen. Auch
per Schiff kann man auf
den Kanälen der Region die
wichtigsten Städte errei-
chen. Noch fehlt allerdings
eine Verbindung zwischen
Twente- und Mittellandka-
nal . . .
Universitäten und Fach-
hochschulen sind in den
Oberzentren Münster, Os-
nabrück und Enschede so-
wie in kleineren Städten
wie Steinfurt vorhanden.
Die Wirtschaft der Euregio
ist geprägt von gesunden,
innovativen mittelständi-
schen Unternehmen, die
Landwirtschaft spielt wei-
terhin eine große Rolle. Die
Arbeitslosigkeit ist unter-
durchschnittlich. Boden-
schätze sind eher rar: Es
existieren ergiebige Salz-
vorkommen, am Rande der
Euregio wird in Ibbenbü-
ren und im Bereich Ahlen
Kohle gefördert. Richtung
Emsland/Grafschaft Bent-
heim gibt es Öl.
Was berühmte Einwoh-
ner angeht, bräuchte sich
die Euregio nicht zu verste-
cken. Zum Beispiel stammt
ein Oscar-Preisträger aus
der Region: Bert Haanstra
(1916-1979), geboren in Es-
pelo und in Twente aufge-
wachsen, erhielt 1959 für
seinen Film „Glas“ die Aus-
zeichnung für den besten
Dokumentar-Kurzfilm.
Zahlreiche Olympia-Ge-
winner stammen aus der
Euregio: Eine der derzeit
besten Schwimmerinnen
der Welt kommt aus Borne:
Marleen Veldhuis (geboren
1979), Weltrekordhalterin
und gerade erst mit Staffel-
gold aus Peking zurückge-
kehrt. Ellen van Langen
(1966), 1992 Olympiasiege-
rin über 800 Meter, wurde
in Oldenzaal geboren. Rei-
ter Ulrich Kirchhoff (1967
in Lohne) war mehrfacher
Olympiasieger und lebt im
Münsterland, ebenso Klaus
Balkenhol, der bei den
Olympischen Spielen 1992
und 1996 Gold holte, und
Otto Becker, 2000 in Syd-
ney erfolgreich. Die Müns-
teraner Rainer Klimke
(1938-1999) und seine Toch-
ter Ingrid (1968) sind eben-
falls mit olympischen Edel-
metall ausgezeichnet.
Die auch in Deutschland
bekannten Schriftsteller
Jan Cremer (1940) und
Marcel Möring (1957) wur-
den in Enschede geboren,
die auch in Hollywood akti-
ve Schauspielerin Johanna
ter Steege kam 1961 in
Wierden zur Welt. Ihre Kol-
legin Franka Potente
stammt aus dem Münster-
land, ebenso Sängerin Ute
Lemper. Der erste nieder-
ländische Astronaut, Wub-
bo Ockels, wurde 1946 in
Almelo geboren.
Sogar mit Nobelpreisträ-
gern kann sich die Euregio
schmücken: Johannes
Georg Bednorz, geboren
1950 in Neuenkirchen, er-
hielt 1987 den Nobelpreis
für Physik. Klaus Klitzing
(Nobelpreis für Physik
1985) hat in Quakenbrück
sein Abitur gemacht.
Ein Fußballer, der 1954
in Bern Furore machte, als
er das Siegtor im Fußball-
WM-Finale für Deutsch-
land schoss, war später in
der Region aktiv: Helmut
Rahn spielte von 1960 bis
1963 beim SC Enschede.
Wenn die Euregio ein eigener Staat wäre...Flächenmäßig größer als Zypern, Malta und Luxemburg
Schauspielerin Franka Potente stammt gebürtig ausdem Münsterland.
Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parla-ments, wurde ebenfalls in der Euregio (Bersenbrück) geboren.
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8 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Von Freimuth Schulze
Wie oft habe ich die
Grenze in der Vergan-
genheit verflucht, wenn ich
wieder einmal zum Warten
verurteilt war. Eine Stunde
und 50 Minuten habe ich
einmal in der Schlange vor
dem ehemaligen Übergang
Nordhorn-Frensdorferhaar
gestanden, einen wichtigen
Termin verpasst. Aber auch
20 Minuten Stillstand kön-
nen einem auf die Nerven
gehen, wenn man es eilig
hat. Und eilig hat ein Jour-
nalist es eigentlich immer.
Kilometerlange Autorei-
hen vor der Grenze waren
vor 20, 30 Jahren gang und
gäbe, die Ursachen unter-
schiedlicher Art: Feiertags-
ausflugsverkehr, Terroris-
tenfahndung. Bauernauf-
stand, Streikaktionen der
Trucker. Als so genannter
Grenzgänger, mit Wohnsitz
im niederländischen
Grenzort Denekamp und
Arbeitsplatz in Nordhorn,
profitiere ich heute natür-
lich vom Wegfall der Gren-
zen. Aber das war nicht im-
mer so. Mindestens viermal
am Tag „pendele“ ich zwi-
schen Holland und
Deutschland hin und her.
Dabei wurde ich in der Ver-
gangenheit oftmals zum
„Grenzfall“.
Mit europäischer Grenz-
bürokratie bekam ich
schon unmittelbar nach
meiner Übersiedlung von
Schüttorf ins Land der
Mühlen, der Blumen, der
Kanäle und des Käses zu
tun. Als Neubürger Hol-
lands musste ich meinen
Manta GT umschreiben
und mit einem niederländi-
schen Kennzeichen verse-
hen lassen. Offenbar eine
schnell zu erledigende
Pflichtübung. Wenn da
nicht die Vorschriften wä-
ren . . . Wohlweislich hatte
ich mir schon einen Ur-
laubstag genommen. Ich
wollte alles in Ruhe regeln.
Frühmorgens um acht
stand ich mit meinem gelb-
orangefarbenen Manta –
mein ganzer Stolz – am
Grenzübergang Nordhorn-
Frensdorferhaar. Und ich
hatte auch schnell einen
Zollbeamten gefunden, der
mich darüber aufklärte,
dass Kraftfahrzeuge nur
über den A 30-Grenzüber-
gang Springbiel/De Poppe
bei Bad Bentheim in die
Niederlande eingeführt
werden können.
Also meldete ich mich ei-
ne halbe Stunde später in
De Poppe bei der holländi-
schen Douane mit der Bitte,
die Formalitäten zu regeln
und mir eine Einfuhrbe-
scheinigung auszustellen,
ohne die – das hatte ich be-
reits erfahren –, der Wagen
beim niederländischen Stra-
ßenverkehrsamt nicht ange-
meldet werden konnte. Und
ich wusste inzwischen auch,
dass zwischen Anmeldung
und Erteilung des neuen
Kennzeichens einige Wo-
chen vergehen können. Der
holländische Zollbeamte
wies mich freundlich, aber
bestimmt daraufhin, dass
ich das Auto nicht einfüh-
ren könne, bevor es nicht
ausgeführt sei. Und für die
Ausfuhr seien die deutschen
Kollegen zuständig.
Also suchte ich einige
Türen weiter meine Lands-
leute auf. Aber auch da war
ich zunächst einmal an der
falschen Adresse: „Als Pri-
vatmann können Sie kein
Kraftfahrzeug ausführen.
Das geht nur über eine Spe-
dition.“ Die gab es damals
an den Grenzübergängen
in Hülle und Fülle. So
stand ich schon bald am
Tresen einer bekannten Fir-
ma, die Ein- und Ausfuhren
regelt. Der Papierkram war
schnell erledigt, die Gebühr
bezahlt. Mein nächster
Gang führte mich wieder
zum deutschen Zoll.
Der hatte nun die vorge-
schriebenen Papiere, ich
aber noch nicht den Stem-
pel, der die Ausfuhr des
Fahrzeugs bescheinigt.
„Dann werden wir erst ein-
mal das Kennzeichen ver-
nichten“, erklärte mir der
deutsche Zöllner. Mir be-
gannen die Knie zu schlot-
tern. Was sollte ich wo-
chenlang mit einem Auto,
das keine Nummernschil-
der mehr hat. „Die Kenn-
zeichen sind Eigentum der
Bundesrepublik Deutsch-
land. Wenn das Auto aus-
geführt wird, bleiben die
Nummernschilder hier“ –
ich ließ mir die Papiere
wiedergeben und fuhr erst
einmal nach Hause.
Am Nachmittag suchte
ich das für mich zuständi-
ge holländische Finanzamt
in Enschede auf. Auch dort
wusste man sich keinen
Rat, schickte mich zu den
Kollegen nach Oldenzaal.
Die wiederum verwiesen
mich an den Zoll auf dem
Bahnhof: „Vielleicht haben
die eine Lösung.“
Ich sehe den Douane-
Beamten noch genau vor
mir. Er saß im Büro eines
alten Lagerschuppens.
Links auf dem Schreibtisch
eine Tasse Kaffee, im
Mundwinkel eine selbst
gedrehte Zigarette. Das
Thema kam zunächst ein-
mal auf die deutsch-hol-
ländischen Beziehungen in
der Vergangenheit. Wäh-
rend des Krieges hatte sich
der niederländische Zoll-
beamte längere Zeit in
Schüttorf aufgehalten,
meiner Geburtsstadt. Er
schwärmte vom guten Es-
sen bei „Pus“ – einer uri-
gen Kneipe, die auch heute
noch für ihre deftigen
Mahlzeiten bekannt ist.
Natürlich bot mir der Be-
amte das in Holland obli-
gatorische „kopje koffie“
an. Nach längerer Unter-
haltung fand ich dann Ge-
legenheit, mein Anliegen
vorzubringen. Mit wenigen
Worten in bestem Deutsch
gab mein Visavis seine
Antwort auf mein Prob-
lem: „Sch . . . Bürokratie!
Sie sind ein Grenzfall!“
Packte einen Stempel,
drückte ihn auf eine Ein-
fuhrerklärung und mir da-
nach die Papiere in die
Hand. Mein Manta war da-
mit „offiziell“ ein „Hollän-
der“.
„Sch...Bürokratie! Sie sind ein Grenzfall“Wie ein Manta GT auf nicht ganz legale Weise den Weg
von Deutschland nach Holland fand
Er kennt dieGrenze in derEuregio wiekaum ein an-derer Journa-list. UnzähligeGeschichtenhat der seit 33Jahren in De-nekamp woh-nende GN-Re-dakteur Frei-muth Schulzein der Vergan-genheit vonseinen tägli-chen Grenz-übertrittenmitgebracht.Bis dieSchlagbäume1993 fielen.
Freimuth Schulze
Auf zwei Rädern unterwegsParadies für Radwanderer: Die östlichen Grenzregionen der Niederlande mit ihren fl achen We-gen und den gut ausgeschilderten Radrouten sind das ideale Ziel für einen Urlaub/Ausfl ug auf zwei Rädern. Zahlreiche deutschsprachige Routenbeschreibungen und Fahrradkarten stellen die Schönheiten vor. Besonders zu empfehlen sind die 22 Radwanderrouten in der Broschüre „Radeln in der Grenzregion“, die Sie auf der Internetseite bestellen können. Wer den Ausfl ug mit einem kleinen Stadtbummel verbinden möchte, der kann „Von Hansestadt zu Hansestadt“ radeln.www.niederlande.de/grenzregion
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5. OktoberWeinfestival in Zwolle www.wijnfestivalzwolle.nl
9. – 12. OktoberMilitarywoche, Boekelowww.military-boekelo.nl
16. – 21. OktoberLEGO WORLD 2008, Zwollewww.legoworld.nl
17. – 19. Oktober“Schlacht um Grolle”, Groenlowww.slagomgrolle.nl
18. – 26. OktoberHerbstkirmis, Enschedewww.vvvenschede.nl
19. OktoberTag der alten Fahrzeuge, Boekelowww.vvvenschede.nl
19. OktoberHerbstliche Messe für Dampf- und Modelleisenbahnen, Boekelowww.museumbuurtspoorweg.nl
25. – 26. OktoberLandgoed Twente Fair, De Luttewww.landgoedtwentefair.nl
5.-9. NovemberHoliday on Ice Mystery, Zwollewww.ijsselhallen.nl
Mehr Veranstaltungen unter www.niederlande.de/grenzregion
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10 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Zur Behandlung über die GrenzeMarktwirtschaft im Gesundheitswesen setzt sich immer stärker durch
Bislang haben zwei Hälf-
ten noch kein Ganzes ge-
macht. Eine Trennungs-
linie – die Landesgrenze
– ging immer mitten hin-
durch. Somit war auch
das Versorgungsgebiet
der Krankenhäuser im
deutschen und nieder-
ländischen Grenzgebiet
jahrelang halbiert: Es
hörte an der Grenze auf.
Von Rindert Paalman
NORDHORN/ENSCHEDE.
„Wenn nur diese Trennungs-
linie nicht wäre. Wenn die
andere Seite nur auch dazu
gehören würde“, hörte man
regelmäßig Seufzer im Me-
disch Spectrum Twente
(MST) in Enschede, dem
Krankenhaus mit einer Spit-
zenversorgung in den Berei-
chen Kardiologie, Onkolo-
gie, Neurochirurgie und Ge-
fäßchirurgie. Genau das
Gleiche war aus der Fachkli-
nik Bad Bentheim, speziali-
siert auf Rheumatologie,
chronische Erkrankungen
und Dermatologie zu hören:
„Hätten wir nur mehr nie-
derländische Patienten.“
Ja natürlich, die Kranken-
häuser in Twente und dem
Achterhoek, im Münster-
land und der Grafschaft
Bentheim haben immer
schon Patienten von jenseits
der Grenze versorgt. Es han-
delte sich aber nie um spek-
takuläre Zahlen, höchstens
um einige Dutzend Patien-
ten pro Jahr. Erst seit eini-
gen Jahren verstärkt sich all-
mählich der Zustrom vor al-
lem aus den Niederlanden
nach Deutschland; auf etwa
600, schätzt das Euregio Ser-
vicezentrum für Gesundheit
(ESG).
In die andere Richtung
sind es weniger. Doch sei die
Tendenz steigend, sagt An-
nette Dwars, die niederländi-
sche Geschäftsführerin des
ESG. Die Erwartung geht
denn auch dahin, dass in den
nächsten Jahren immer
mehr Niederländer und
Deutsche jenseits der Grenze
die jeweiligen Krankenhaus-
einrichtungen in Anspruch
nehmen werden. Die Einrich-
tungen selbst seien darauf
vorbereitet, sagen sie. Sie
sehnen es sogar herbei und
fürchten die Konkurrenz der
anderen Seite überhaupt
nicht. In den Niederlanden
dürfte Marktwirtschaft im
Gesundheitswesen mittler-
weile ein bekannter Begriff
sein, aber auch in Deutsch-
land setzt sich dieses Phäno-
men immer stärker durch.
Beim ESG handelt es sich
um ein grenzüberschreiten-
des Netzwerk mit etwa 30
großen Partnern aus dem
Gesundheitswesen. Nicht
nur die Universitäten und
Hochschulen sind beteiligt,
sondern auch Krankenversi-
cherungen, Krankenhäuser
und Gesundheitsämter ge-
nauso wie Ärzte- und Patien-
tenverbände. Das Netzwerk
hat inzwischen einen guten
Überblick, wie es im Bereich
Gesundheit auf beiden Sei-
ten der Grenze aussieht. Wo
befindet sich welche Ein-
richtung und wo fehlt ein
Angebot? Wo kann ein Pa-
tient so schnell wie möglich
und so wohnortnah wie
möglich die für ihn beste
Versorgung erhalten? „Nicht
unwichtig, so ein Versor-
gungsaltas“, sagt Annette
Dwars, denn Patienten, Ärz-
te und Krankenversicherun-
gen hätten bis vor Kurzem
kaum gewusst, was jenseits
der Grenze machbar ist.
EU-Bürger dürfen sich
unter bestimmten Umstän-
den in einem anderen Mit-
gliedsland behandeln lassen.
Das gilt auf jeden Fall, wenn
es im eigenen Land für die
Behandlung eine Warteliste
gibt. Im Prinzip herrsche
Wahlfreiheit, praktisch gehe
es aber noch recht unflexibel
zu, so die Erfahrung der
Krankenhäuser in der Eure-
gio. Es gibt also immer noch
Barrieren. Damit müsse
Schluss sein, sagte die EU-
Kommission kürzlich. Bevor
es jedoch so weit ist, werden
wohl noch Jahre ins Land
gehen.
Die Krankenversicherun-
gen werden jedoch entge-
genkommender. „Sie ma-
chen längst nicht mehr sol-
che Schwierigkeiten“, sagt
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 11
A. Steinkamp, Direktions-
mitglied der Euregio-Klinik
in Nordhorn. „Die niederlän-
dischen Versicherungen sind
auf jeden Fall bereit, sich
mit der Materie auseinander
zu setzen. Versicherungen –
und darin unterscheiden
sich die niederländischen
nicht von den deutschen –
interessieren sich für drei
Fragen: Was kostet es? Wie
ist die Qualität? Wie ist der
Service? Wenn sich dann he-
rausstellt, dass etwas auf der
anderen Seite der Grenze
günstiger zu haben ist, ge-
ben sie zügig ihre Zustim-
mung zu einer Behandlung.“
Auch Dwars (ESG) stellt
fest, dass die Krankenversi-
cherungen nicht mehr so
unzugänglich sind wie noch
vor wenigen Jahren und sich
jetzt immer aufgeschlosse-
ner geben. „Lange Zeit wur-
de behauptet, dass lediglich
fünf Prozent der Grenzbe-
völkerung an einer Behand-
lung jenseits der Grenze in-
teressiert seien. Aber das
war nur so über den Dau-
men gepeilt. Zudem konnte
auch die Qualität der Versor-
gung jenseits der Grenze
nicht zufrieden stellend ein-
geschätzt werden.“
Ausführliche ESG-Befra-
gungen unter den Bewoh-
nern und Ärzten in der
Grenzregion haben jedoch
erwiesen, dass rund 60 Pro-
zent der Niederländer und
ein etwas geringerer Pro-
zentsatz der Deutschen er-
wägen, für eine zukünftige
Behandlung die Grenze zu
überqueren. „Also deutlich
mehr als fünf Prozent“, so
Dwars. „Wenn man berück-
sichtigt, dass im Euregioge-
biet ungefähr 3,5 Millionen
Menschen leben, dann hat
man es mit einem enormen
Potenzial zu tun.“
Niederländer sind in ers-
ter Linie an einer deutschen
Behandlung im Bereich der
Orthopädie (Bad Bentheim
und Gronau), der Augenheil-
kunde (Ahaus) sowie der Ge-
fäßchirurgie und der Urolo-
gie (Gronau) interessiert.
Großes Interesse besteht
auch an der so genannten
Onestop-Untersuchung (Nord-
horn und Gronau): Alle Un-
tersuchungen erfolgen an ei-
nem Tag, und zum Schluss
erhält man die Diagnose
und die Behandlungsemp-
fehlung. Und das alles lässt
sich kurzfristig realisieren.
Ganz anders als in den Nie-
derlanden, wo der Patient
immer wieder neue Termine
machen muss und wo er erst
nach Monaten weiß, wie es
um ihn steht.
Die Deutschen suchen
gern die Einrichtungen für
Rehabilitation („Het Roes-
singh“ in Enschede), Kardio-
logie (MST Enschede) und
Psychologie/Geriatrie (Brug-
gerbosch Enschede) in den
Niederlanden auf. Teilweise
ist das durch vorhandene
spezialisierte Therapiezen-
tren nah der Grenze zu er-
klären. Es hat aber auch mit
den bestehenden Wartelis-
ten sowohl auf deutscher als
auch auf niederländischer
Seite zu tun. Während die
Niederländer vor allem nach
Möglichkeiten suchen, sich
schneller behandeln zu las-
sen, ist für die Deutschen
die wohnortnahe Behand-
lungsmöglichkeit wichtig.
Auch die Krankenversi-
cherungen erkennen, dass
sich die Situation gegenüber
der Zeit von vor etwa zehn
Jahren drastisch verändert
hat. Patienten sind mündi-
ger geworden. Sie suchen
über das Internet heraus, wo
sie die beste und schnellste
Behandlung erhalten kön-
nen und konfrontieren ihre
Versicherung mit diesem
Wissen. „Warum soll ich 150
Kilometer fahren und Mona-
te auf eine Herzoperation
warten, wenn mir direkt jen-
seits der Grenze in Enschede
geholfen werden kann“,
fragt sich ein Deutscher,
während sich ein Niederlän-
der fragt: „Warum muss ich
in Enschede monatelang auf
eine neue Hüfte warten,
wenn ich in einem Spezial-
krankenhaus in Bad Bent-
heim nach wenigen Wochen
Wartezeit operiert werden
kann?“
„Als Krankenversiche-
rung“, sagt Dwars, „ist man
verpflichtet, die beste Be-
handlung zu ermöglichen,
auch wenn sie im Ausland
erfolgen muss. Deutsche
Versicherungen sind da, fin-
de ich, schon viel weiter als
die niederländischen. Sie
sind wirklich bereit, den
Markt zu öffnen.“
Aber, wo drückt denn nun
der Schuh? Sind niederlän-
dische Krankenhäuser teu-
rer als deutsche? Dwars ver-
mutet es, kann es aber nicht
mit Sicherheit sagen. Das
hänge von der Art der Be-
handlung ab. Bei einigen
Eingriffen sind deutsche
Krankenhäuser teurer. Es
hat vor allem mit dem kom-
plizierten Tarifsystem zu
tun. Auf die niederländi-
schen Endpreise wird vieles
aufgeschlagen, auch die In-
vestitionen in Gebäude und
Apparaturen, was man in
Deutschland so nicht kennt.
Dass sich in den nächsten
Jahren immer mehr Patien-
ten bei den Nachbarn jen-
seits der Grenze behandeln
lassen werden, darüber ist
man sich einig. Dass es je-
doch zu großen Verschie-
bungen bei den Patienten-
strömen kommen wird, ist
zu bezweifeln. „Wir brau-
chen wirklich nicht in Grö-
ßenordnungen von tausen-
den von Patienten zu den-
ken“, sagt Dwars.
Die Sprachbarriere sollte
dabei kein Problem darstel-
len. In Bad Bentheim, Nord-
horn, Gronau und Ahaus
wurden niederländische
Mitarbeiter eingestellt, au-
ßerdem sprechen viele deut-
sche Mitarbeiter Niederlän-
disch. Auf der anderen Seite
der Grenze, bei „Het Roes-
singh“ und am MST in En-
schede ist es genauso: Es
gibt Mitarbeiter mit einem
deutschen Pass, und es gibt
Personal, das Deutsch
spricht. „Als wir vor vier
Jahren das Thoraxzentrum
eröffneten“, sagt Clusterma-
nager Henny Voss, „haben
wir viel zusätzliches Perso-
nal eingestellt. Eine der Ein-
stellungsvoraussetzungen
war, dass deutsche Sprach-
kenntnisse vorhanden sein
mussten beziehungsweise
Deutsch gelernt werden
musste.“
Das Thoraxzentrum in Enschede zählt heute zur Spitze der niederländischen Herzzentren.
Rehabilitation im Ausland: das Reha-Zentrum „Het Roessingh“ in Enschede sieht das deutsche Grenzgebiet als interessan-ten Markt.
12 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Erwartungsvoll sieht
man im Thoraxzentrum
Twente in Enschede der
Ankunft des ersten deut-
schen Herzpatienten ent-
gegen, der ganz normal
korrekt von seinem deut-
schen Arzt überwiesen
worden ist und dessen
Krankenkasse die Kosten
der Behandlung über-
nimmt. „Dann werden
wir zur Feier des Tages
flaggen“, sagt Cluster-
Manager Henny Voss.
„Wir werden sogar zwei
Fahnen aushängen, die
deutsche und die nieder-
ländische.“
Von Rindert Paalman
ENSCHEDE. Der „Debütant“
wird nicht mehr lange auf
sich warten lassen, prophe-
zeit das Krankenhaus Me-
disch Spectrum Twente
(MST), dem das Thoraxzen-
trum angegliedert ist. Und
wenn der Damm erst ein-
mal gebrochen ist, wird es
einen Strom von Herzpa-
tienten aus dem deutschen
Grenzgebiet geben, erwar-
tet – und hofft – man. Eini-
ge Hundert sollen es pro
Jahr sein. „Wir sind bereit
dafür“, so Voss.
Deutsche Patienten sind
an und für sich nichts Be-
sonderes im MST. Das
Krankenhaus hat, vor allem
wenn es um Traumatologie
(Unfallmedizin) geht, eine
grenzüberschreitende Funk-
tion. Im vergangenen Jahr
wurden – verteilt auf alle
Abteilungen – nahezu 300
Patienten aufgenommen,
über 900 suchten die Poli-
klinik auf. In Enschede hat
man schon immer begierige
Blicke auf das potenzielle
Versorgungsgebiet jenseits
der Grenze geworfen. Doch
dabei blieb es auch – vor al-
lem wegen der Hürden, die
vor allem die Krankenkas-
sen aufbauten.
Jetzt hat sich die Situati-
on erheblich verändert, sagt
Voss. Umfragen des Eure-
gionalen Servicezentrums
Gesundheit (ESG) ergaben,
dass sich 60 Prozent der
Deutschen im Grenzgebiet
auf den Gebieten der Reha-
bilitation, Psychologie/Ger-
iatrie, aber vor allem der
Kardiologie, gerne in den
Niederlanden behandeln
lassen würden. Für sie
spielt die Nähe zum Be-
handlungsort eine wichtige
Rolle.
Herzpatienten aus Nord-
horn oder Gronau, Ahaus
oder Vreden sind derzeit
auf Behandlungen in Müns-
ter, Bad Rothenfelde oder
Bad Oeynhausen angewie-
sen; allesamt nicht um die
Ecke gelegene Kliniken.
Doch gerade im akuten Not-
fall ist die räumliche Nähe
zu einem Herzzentrum von
ausschlaggebender Bedeu-
tung. Außerdem bestehen
für bestimmte Eingriffe in
den deutschen Kliniken lan-
ge Wartezeiten. Im Thorax-
zentrum in Enschede kom-
men Patienten meistens
schon innerhalb von drei
Wochen an die Reihe.
Das Thoraxzentrum mit
seinen elf Kardiologen und
fünf Herzchirurgen existiert
seit vier Jahren und hat in
dieser Zeit, so Voss, „einen
Spitzenplatz in der Liga der
niederländischen Herzzen-
tren erobert“. Neben kar-
diologischen wie zum Bei-
spiel elektrophysiologische
und Herzkatheter-Untersu-
chungen sowie Behandlun-
gen wie dem Einsetzen von
Herzschrittmachern und
Defibrillatoren werden
auch PTCA (Aufdehnung ei-
nes verengten Herzkranzge-
fäßes) und Operationen an
Herzklappen ausgeführt so-
wie Bypässe gelegt.
„Bei uns läuft es mittler-
weile rund. Wir können die
Kosten für die einzelnen
Eingriffe gut beziffern, so-
dass wir uns weiter auf den
Markt vorwagen können.
Wir können jetzt über die
Grenzen unseres Versor-
gungsgebiets Twente und
Achterhoek hinaus blicken.“
Kürzlich hatte das Zen-
trum deutsche Ärzte, Ver-
treter von Krankenkassen
und andere Gesundheitsex-
perten zu einer Informati-
onsveranstaltung eingela-
den. Die Zusammenkunft,
von einem der Herzchirur-
gen, einem Deutschen, ge-
leitet, sei ein großer Erfolg
gewesen, so Voss. Die Ver-
handlungen mit der Bar-
mer-Ersatzkasse befinden
sich in einem weit fortge-
schrittenen Stadium. „Des-
halb erwarten wir den ers-
ten Patienten schon in die-
sem Jahr.“
So weit ist „Het Roes-
singh“ in Enschede noch
nicht. Das Reha-Zentrum,
das in den Niederlanden
den Ruf einer Spitzen-Ein-
richtung hat, bietet eine in-
tegrierte Verfahrensweise
mit neurologischer, ortho-
pädischer, traumatologi-
scher, Schmerz- und Kin-
derrehabilitation an. Eine
Kombination, die es so in
Deutschland offenbar nicht
gibt, zumindest nicht unter
einem Dach. Dabei geht es
nicht nur um Behandlun-
gen in der Klinik, sondern
auch um ortsnahe, ergän-
zende ambulante Behand-
lungen.
Auch „Het Roessingh“
betrachtet das deutsche
Grenzgebiet als einen inte-
ressanten Markt, so Reha-
Arzt Dr. Govert Snoek. Er
hat in der Vergangenheit,
was bemerkenswert ist, vie-
le deutsche Patienten be-
handelt. Ein anderer der
dort tätigen Reha-Ärzte
hielt mehrere Jahre in deut-
schen Krankenhäusern
Sprechstunden ab und fun-
gierte als Berater. In seinem
Kielwasser begaben sich et-
liche deutsche Patienten zur
weiterführenden Reha nach
Enschede. „Aber Mitte der
90er-Jahre hörte das auf.
Die deutschen Kassen
machten immer häufiger
Schwierigkeiten bei der
Kostenübernahme. Jetzt
aber stellen wir wieder ei-
nen allmählichen Um-
schwung fest. Das liegt, ver-
mute ich, daran, dass der
Patient mündiger wird. Er
meldet sich bei seiner Kas-
se, wenn er etwas möchte.
Für einen Querschnittsge-
lähmten aus Gronau befin-
det sich die nächstgelegene
deutsche Reha-Klinik ir-
gendwo im Ruhrgebiet oder
im Sauerland. Aber so weit
weg will der Patient nicht,
und seine Familie auch
nicht. Also fragt er seine
Kasse: Warum kann ich
nicht nach Enschede?“
Deutsche Krankenversi-
cherungen tun sich mit der
Kostenübernahme schwer,
so Snoek, weil die Rehabili-
tation anders verlaufe und
die Kosten auf andere Art
berechnet würden. „Auch
die Kassen wissen, dass wir
qualitativ hochwertige Ar-
beit leisten; gleichzeitig
aber finden sie, dass wir,
was die Tarife betrifft, im
hohen Preissegment ange-
siedelt sind. Ja, dass wir zu
teuer sind. Wir handhaben
sozusagen einen All-inklusi-
ve-Preis. Dadurch ist es
schwierig, die Behandlung
in beiden Ländern zu ver-
gleichen. Unterm Strich
kann ich nicht ausschlie-
ßen, dass wir sogar günsti-
ger sind.“
Wie groß der potenzielle
deutsche Markt für „Het
Roessingh“ ist, vermag die
Einrichtung nicht einzu-
schätzen. Das Reha-Zen-
trum wirbt bislang noch
nicht aktiv auf dem deut-
schen Markt – etwas, was
das Thoraxzentrum durch-
aus konkret plant. „Aber
wir wissen, dass wir aktiv
werden müssen. Die Zeiten,
dass der Patient – gleich ob
Deutscher oder Niederlän-
der – wie selbstverständlich
von sich aus zu uns kommt,
sind vorbei. Man muss in al-
len Bereichen konkurrenz-
fähig sein: Qualität, Preis
und Service. Aber was das
angeht, brauchen wir uns
keine Sorgen zu machen.“
Auf deutsche Patienten eingestelltThoraxzentrum Twente und Reha-Zentrum „Het Roessingh“ schielen über die Grenze
Elf Kardiologen und fünf Herzchirurgen sind derzeit im Thoraxzentrum in Enschede be-schäftigt.
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 13
Fürchten die Kranken-
häuser im deutschen
Grenzgebiet die nieder-
ländische Konkurrenz?
Betrachten sie Spitzen-
einrichtungen wie das
Medisch Spectrum
Twente (MST) mit sei-
nem Thoraxzentrum
und das Rehabilitations-
zentrum „Het Roes-
singh“ in Enschede als
eine Bedrohung? Über-
haupt nicht, ertönt es
fast im Chor. Aber was
denn dann?
Von Rindert Paalman
NORDHORN/ENSCHEDE.
Genauso wie in den Nieder-
landen sehen sich auch in
Deutschland immer mehr
Krankenhäuser dazu genö-
tigt, den Konkurrenzkampf
aufzunehmen, zudem wer-
den sie immer stärker nach
den Kriterien Qualität,
Preis und Service beurteilt.
Die Euregio-Klinik in
Nordhorn, in der im ver-
gangenen Jahr mehr als 150
niederländische Patienten
behandelt worden sind, hat
kürzlich eine halbseitige
Anzeige in der niederländi-
schen Tageszeitung „De
Twentsche Courant Tuban-
tia“ aufgegeben. Eine Auf-
sehen erregende Aktion,
nicht nur für niederländi-
sche, sondern auch für
deutsche Begriffe. Das
Krankenhaus pries sich be-
wusst selbst als Einrich-
tung an, die Niederländern
viel zu bieten habe: kurze
Wartezeiten für radiologi-
sche und MRT-Aufnahmen,
spezialisiert auf Knie- und
Hüftoperationen mit mini-
malinvasiver Chirurgie, zer-
tifiziertes Zentrum für Vor-
sorgeuntersuchungen nach
Brustkrebs usw.
„Wir hatten“, sagt Direk-
tionsmitglied A. Steinkamp,
„das Bedürfnis, die nieder-
ländische Bevölkerung zu
informieren. Nicht um zu
betonen, dass wir die Bes-
ten seien, sondern um auf-
zuzeigen, was wir alles zu
bieten haben. Wir haben
festgestellt, dass man nicht
einmal in den Orten unmit-
telbar jenseits der Grenze
wie in der Gemeinde Din-
kelland genau weiß, was
wir hier so alles machen
und können.“
Für die Euregio-Klinik
ist klar wie Kloßbrühe, dass
sie sich dem Wettbewerb
stellen muss. „Die Situati-
on, dass sich Krankenhäu-
ser bequem zurücklehnen
konnten nach dem Motto:
die Patienten kommen ja
doch, ist vorbei. Wir müs-
sen uns anstrengen – nicht
nur im Hinblick auf die nie-
derländischen, sondern
auch auf die anderen deut-
schen Krankenhäuser.“
Das St.-Antonius-Hospital
in Gronau, das in Nord-
rhein-Westfalen unter ande-
rem für seine Verwendung
der 3D-Navigation bei der
Implantation künstlicher
Gelenke bekannt ist, be-
hauptet, keinerlei Probleme
mit dem medizinischen Tou-
rismus über die Grenze zu
haben. Das ist nicht verwun-
derlich. Mit jährlich 600 am-
bulanten und 250 stationä-
ren niederländischen Pa-
tienten ist es bei seinen
Nachbarn recht beliebt.
„Wir betrachten das
MST, das keine zehn Kilo-
meter von Gronau entfernt
ist, absolut nicht als Kon-
kurrenz“, so Xenia Lorenz-
Rebers, Mitarbeiterin für
Öffentlichkeitsarbeit im
Antonius-Hospital, „son-
dern eher als Partner. Es ist
doch wunderbar, dass sich
hiesige Herzpatienten zur
Behandlung ins Thoraxzen-
trum in Enschede begeben
können.“
Im Bereich der Urologie
arbeitet das Antonius-Hos-
pital recht intensiv mit dem
MST zusammen. „Wir wür-
den am liebsten auch in an-
deren Bereichen die Zu-
sammenarbeit verstärken.“
Verwaltungsleiter Gert
de Groot vom Paulinen-
krankenhaus in Bad Bent-
heim fürchtet die nieder-
ländische Konkurrenz
ebenfalls nicht. Zum Pauli-
nenkrankenhaus gehört ein
großes Orthopädiezentrum,
das wegen seiner Hüft- und
Knieoperationen sowie der
Implantation künstlicher
Gelenke hohes Ansehen ge-
nießt. Bei der Rehabilitati-
on der Patienten arbeitet es
eng mit der Fachklinik Bad
Bentheim zusammen, die
ebenfalls in dem Kurort an-
gesiedelt ist. „Ich betrachte
die niederländischen Kran-
kenhäuser absolut nicht als
Konkurrenz“, sagt er. „Ich
würde mir eine gute Zu-
sammenarbeit wünschen.“
Groot weiß auch, dass auf
Grund der beschränkten
OP-Kapazitäten die Warte-
listen bei orthopädischen
Eingriffen in den Nieder-
landen lang sind. Er könnte
sich deshalb vorstellen,
„um nur ein Beispiel he-
rauszugreifen“, dass ein
Arzt aus Hengelo alle zwei
Wochen oder einmal im
Monat einige seiner Patien-
ten in Bad Bentheim ope-
riert. „Warum eigentlich
nicht?“
Konkurrenz GesundheitswesenNordhorner Euregio-Klinik wirbt mit Anzeigen in den Niederlanden
Die Nordhorner Euregio-Klinik wirbt mit Tageszeitungsanzeigen in den Niederlanden umPatienten.
Das Paulinenkrankenhaus in Bad Bentheim fürchtet die niederländische Konkurrenznicht.
14 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Die Krankenhäuser im
deutsch-niederländi-
schen Grenzgebiet kön-
nen vom „ausländischen“
Erfolg der Augenklinik
in Ahaus nur träumen.
Jährlich finden sich
2000 Niederländer in
den Sprechstunden zu
Beratungen, Kontrollen
oder zur Einholung einer
zweiten Meinung ein.
Von Rindert Paalman
AHAUS. In jedem Jahr wer-
den dort mehr als 300 nie-
derländische Patienten
operiert. Und die Zahlen
würden noch weiter stei-
gen, meint Betty Graauw,
niederländische Mitarbei-
terin der Klinik. „Die Nie-
derlande sind für uns ein
Wachstumsmarkt, sie wer-
den für uns immer wichti-
ger.“
Die Augenklinik in Ahaus
ist die drittgrößte ihrer Art
in Deutschland. Sie ist eine
der modernsten und nimmt
eine Vorreiterrolle bei der
Anwendung neuer Entwick-
lungen ein. 13 Ärzte, jeder
mit eigenem Spezialgebiet,
von denen acht operieren,
arbeiten an der Klinik.
30 000 Patienten, nicht nur
aus Nordrhein-Westfalen
oder Niedersachsen sondern
aus ganz Deutschland, kom-
men jährlich in die Sprech-
stunden; 9000 Operationen
werden vorgenommen.
Was die Krankenhäuser in
der Grenzregion regelrecht
neidisch macht, ist die Tatsa-
che, dass die Augenklinik für
die Behandlung niederländi-
scher Patienten feste Verträ-
ge mit einigen großen nie-
derländischen Krankenversi-
cherungen wie Menzis, Ach-
mea und Ohra Delta Lloyd
abgeschlossen hat. „Zu den
anderen Krankenversiche-
rungen haben
wir ein gutes
Verhältnis“, so
Betty Graauw.
„Das ist aber
nicht reibungs-
los über die
Bühne gegan-
gen. Wir
brauchten
schon einen
langen Atem.
Es lief darauf
hinaus, dass
wir uns dem
niederländi-
schen Kran-
kenkassenver-
gütungssystem
angenähert ha-
ben.“ Nieder-
ländische
Krankenversi-
cherungen seien nicht einfa-
cher oder schwieriger als
deutsche, sagt sie. „Nieder-
ländische Versicherungen
sind pragmatisch, deutsche
halten sich stärker an die
Vorschriften.“
Die Augenklinik gilt als
kommerzielle Einrichtung,
mehr oder weniger als Pri-
vatklinik. „Wir sind hier alle
daran interessiert, dass die
Klinik gut läuft. Denn wenn
es gut läuft, kann man auch
wieder in neue Geräte und
neue Entwicklungen inves-
tieren. Ich glaube, dass wir
uns hierin auch von vielen
niederländischen Kranken-
häusern unterscheiden. Wir
haben die Erfahrung ge-
macht, dass es den nieder-
ländischen Krankenhäusern
egal ist, ob ein Patient bei
der Sprechstunde eine War-
tezeit von 90 Minuten und
mehr in Kauf nehmen muss
oder dass es monatelang
dauert, bevor ihm geholfen
wird. Das können wir uns
nicht erlauben.“
9000 Operationen jährlichAuch immer mehr Niederländer kommen in die Augenklinik in Ahaus
9000 Augenoperationen werden jährlichin der Augenklinik in Ahaus vorgenommen.
Die Augenklinik in Gronau ist längst eine grenzüberschreitend ausgerichtete Einrichtung. Immer mehr Niederländer kommen in die Sprechstunden, mehrals 300 von ihnen lassen sich derzeit jährlich in Ahaus auch operieren.
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 15
Die Staatsgrenze ist wie
ein Tellerrand. Wer es
schafft, darüber zu bli-
cken, dem eröffnet sich
eine neue Welt. Mit He-
rausforderungen, Risi-
ken, aber auch unver-
hofften Chancen.
Von Martin Borck
GRONAU/LOSSER. So war es
vor 23 Jahren bei Werner
Ostendorff. Der Gronauer
hatte als Techniker in einer
Spinnerei in Gronau gear-
beitet, als die Textilkrise zu-
schlug. Er fand einen neuen
Job bei einem Pumpenher-
steller. Doch auch der mach-
te pleite. „Ich war also ar-
beitslos. Aber dann bekam
ich vom Gronauer Arbeits-
amt den Hinweis, dass die
Firma Johma in Losser eine
Stelle frei habe. Ich habe an-
genommen. Eigentlich woll-
te ich nur zwei Monate blei-
ben. Tja – und nun bin ich
immer noch hier. Die Arbeit
macht mir einfach Spaß“,
sagt Ostendorff, der zum
Leiter Instandhaltung bei
dem niederländischen Un-
ternehmen aufgestiegen ist.
Johma, von zwei Glanerb-
rückern vor 40 Jahren ge-
gründet und jetzt Teil der
englischen Uniq-Holding,
beschäftigt in zwei benach-
barten Betrieben in Losser
rund 400 feste Mitarbeiter.
Das Unternehmen kreiert
Salate und Sandwiches in
zahllosen Variationen und
für alle Gelegenheiten: Joh-
ma-Produkte sind in Super-
märkten ebenso zu finden
wie in Gaststätten und bei
Cateringfirmen.
„Neben den 400 festen
stellen wir viele Mitarbeiter
befristet ein, um Produkti-
onsspitzen aufzufangen“, er-
läutert Personalleiter Peter
Davids. „Meistens sind es 70
bis 80, in Topzeiten können
es aber auch 250 sein.“ Ge-
nügend geeignete Arbeits-
kräfte ließen und lassen sich
nicht immer auf dem nieder-
ländischen Arbeitsmarkt fin-
den. Das Unternehmen hat
seinen Sitz gerade mal drei
Kilometer von der Grenze
entfernt – da lag es auf der
Hand, auch in Deutschland
zu suchen. „Wir arbeiten vor
allem eng mit spezialisierten
Zeitarbeitsfirmen zusam-
men“, sagt Davids.
Bedeutet die Einstellung
von deutschen Arbeitneh-
mern nicht einen Haufen
bürokratischer Mehrarbeit
für einen Arbeitgeber? „Je-
der unserer Arbeitnehmer –
bei uns sind 25 Nationalitä-
ten vertreten – wird nach
niederländischem Recht ver-
sichert und steuerlich be-
handelt“, sagt Davids. Für
den Arbeitgeber stellen Na-
tionalität und Wohnort der
Angestellten sozialversiche-
rungstechnisch oder fiska-
lisch also keine Probleme
dar. Für Arbeitnehmer dage-
gen bringt ein grenzüber-
schreitendes Arbeitsverhält-
nis viel Lauferei mit sich.
Grenzgänger Werner Os-
tendorff musste sich in den
80er-Jahren bei den Behör-
den beiderseits der Grenze
noch durchbeißen. „Zum
Beispiel in Sachen Einkom-
mensteuer: Das niederländi-
sche Finanzamt wollte zu-
erst von mir
keine Steuer-
erklärung,
weil ich in
Deutschland
wohnte – und
in Deutsch-
land hatte ich
ja kein Ein-
kommen, da-
rum fühlte
sich auch die
hiesige Steuer-
behörde nicht
zuständig.“ Es
dauerte, bis
sich das fiska-
lische Durch-
einander klär-
te. Ostendorff
zahlt seine
Einkommen-
steuer in den
Niederlanden
– und setzt wie
seine nieder-
ländischen
Kollegen die
Hypotheken-
zinsen für sein
Haus von der
Steuer ab. Ob-
wohl das Haus
in Deutsch-
land steht. Ei-
ne Regelung,
von der das
niederländi-
sche Finanz-
amt erst über-
zeugt werden
musste.
„Als ich an-
fing, gab es
nur wenig In-
formationen
über Steuern
und Sozialver-
sicherungen
für Grenz-
pendler“, sagt
Ostendorff.
„Das ist durch
die Arbeit der
Euregio deut-
lich besser ge-
worden. Europäischer.“ Be-
hörden, Krankenkassen
wurden für die Probleme der
Grenzgänger sensibilisiert.
Mittlerweile weiß jeder
Krankenkassen-Mitarbeiter,
was es mit dem für Grenz-
pendler wichtige Formular
„E 106“ auf sich hat.
Diese bürokratischen Er-
leichterungen führen dazu,
dass die Grenze immer sel-
tener ein Hindernis für Ar-
beit suchende darstellt. „Na-
türlich muss man immer
noch die Fallstricke ken-
nen“, meint Ostendorff. Als
„alter Hase“ gilt er im Un-
ternehmen mittlerweile
selbst als Experte für Grenz-
pendler-Fragen. „Zum Bei-
spiel die Altersrente. Wer in
den Niederlanden wohnt
oder arbeitet und 65 wird,
bekommt automatisch die
Altersrente, die AOW. Doch
die Ehefrau, die in Deutsch-
land lebt, erhält aus dieser
Kasse keinen Cent. Für sie
muss man also auf andere
Art und Weise für das Alter
vorsorgen.“ Das ist nicht op-
timal, aber durchaus mach-
bar.
Was sich Ostendorff und
Davids wünschen, ist ein
Ansprechpartner in
Deutschland, der Stellenan-
gebote niederländischer Be-
triebe annimmt. „In der Be-
ziehung gibt es noch zu we-
nig Kontakt untereinander“,
meint Ostendorff. Manch-
mal existiert die Grenze also
doch noch.
Und die Barriere in den
Köpfen der Bewohner? Gibt
es die? „Die Twenter sind
ziemlich nüchterne Leute.
Die Mentalität unterschie-
det sich nicht großartig von
der der Menschen aus der
deutschen Grenzregion“,
findet Davids. „Ich habe
noch nie erlebt, dass die
Herkunft eines Mitarbeiters
eine Rolle gespielt hätte.“
Ostendorff bestätigt den
Eindruck. „Die niederländi-
schen Kollegen machen es
den deutschen wirklich
nicht schwer. Sie sind sehr
offen und gehen auf einen
zu.“ Auch wer zunächst
sprachlich nicht zurecht-
kommt, braucht nicht zu
verzweifeln. Die Niederlän-
der kramen ihre Deutsch-
Kenntnisse hervor, zur Not
behilft man sich mit Platt.
Dank der deutlich verbes-
serten schulischen Angebo-
te verfügen immer mehr
Deutsche über Niederlän-
disch-Kenntnisse, die sich
mit der Zeit im Kontakt mit
niederländischen Kollegen
automatisch verbessern.
Ostendorff ist das beste
Beispiel: Als er Mitte der
80er-Jahre anfing, konnte
er kein Wort Niederlän-
disch. „Und jetzt“, scherzt
Davids anerkennend,
„spricht er besser Nieder-
ländisch als Deutsch.“
Grenzgänger haben es heute leichterAus ursprünglich geplanten zwei Monaten wurden für den Gronauer Werner Ostendorff 23 Jahre
„Natürlich muss man immer noch die Fallstricke kennen“ – der Gro-nauer Werner Ostendorff (rechts) arbeitet jetzt schon seit 23 Jahren beiJohma in Losser. Darüber freut sich Peter Davids, Personalleiter des nie-derländischen Produzenten von Salaten aller Art.
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Am Fußball schieden sich die GeisterInzwischen laufen die Duelle zwischen Holland und Deutschland längst friedlich ab
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 17
Von Martin Borck
Deutsch-niederländische
Zusammenarbeit zwi-
schen Unternehmen und
Behörden, grenzübergrei-
fende Schulkontakte oder
auch wiederhergestellte
Bahnverbindungen – alles
gut und schön. Hat die Eu-
regio gut gemacht. Keine
Frage. Aber haben sich die
Mühen und der finanzielle
Aufwand auch gelohnt?
Wie sieht es mit den
Schlagbäumen in den Köp-
fen der Euregio-Bewohner
aus? Darüber geben weder
der Höhe der ausgegebe-
nen Interreg-Millionen
noch Euregiorats-Protokol-
le Auskunft. Wer in Kopf
und Herz der Euregianer
schauen will, wer wissen
will, wie es um die deutsch-
niederländischen Befind-
lichkeiten wirklich bestellt
ist, braucht einen anderen
Gradmesser: Fußball.
Länderspiele zwischen
Deutschland und Holland.
Und da scheint sich in den
vergangenen gut 20 Jahren
doch eine ganze Menge
zum Positiven gewendet zu
haben.
Rückblick: 24. Juni 1990.
Deutschland hat das Ach-
telfinale der Fußball-WM in
Mailand gegen die Nieder-
lande gewonnen. Nichts
Gutes ahnend, stehe ich als
Reporter am Grenzüber-
gang Gronau-Glanerbrug
Tatsächlich versammeln
sich hier kurz nach dem
Schlusspfiff an beiden Sei-
ten Menschen. Reinier, ein
Niederländer, überschreitet
die Grenze, geht auf die
verdutzten deutschen Fans
zu und gratuliert ihnen
zum Sieg ihrer Mannschaft.
Doch leider bleibt das ei-
ne Einzelaktion. Wenn
auch der Großteil der Fans
einfach nur gut drauf ist,
kommt es kurz darauf zu
Provokationen. Niederlän-
dische Lastkraftwagen wer-
den blockiert, von nieder-
ländischer Seite fliegen Fla-
schen und Steine, wenig
später wird ein Auto auf
die Seite gekippt und de-
moliert. Es herrscht Eises-
kälte im Verhältnis zwi-
schen den meisten deut-
schen und niederländi-
schen „Fans“.
Zwei Jahre später. Bei der
Europameisterschaft in Gö-
teborg treffen beide Mann-
schaften wieder aufeinan-
der. Ich berichte vom Oude
Markt in Enschede, der sich
in ein Oranje-Meer verwan-
delt hat. Um mich herum
Niederländer, die ihr Team
anfeuern. Sobald ich mich
als Deutscher zu erkennen
gebe, beteuern die Fans,
dass sie ihre Schlachtgesän-
ge nun wahrlich nicht per-
sönlich meinen . . . Aber ich
gebe meine deutsche Staats-
angehörigkeit nicht allen
preis. Vor allem nicht denen,
die sich nach dem 3:1-Sieg
der Niederlande („Schade,
Deutschland, alles ist vor-
bei!“) an der Grenze in Gla-
nerbrug zusammenrotten.
Wieder kommt es zu Ausein-
andersetzungen. Der Grenz-
übergang wird gesperrt. Die
Polizei – sie hat von den Vor-
fällen zwei Jahre zuvor ge-
lernt – hält Hunderte rivali-
sierende Fans auseinander.
Trotzdem fliegen wieder Fla-
schen und Steine. Ein deut-
sches Reporter-Fahrzeug
bleibt in den Menschenmas-
sen auf Glanerbrücker Seite
stecken. In Enschede wer-
den trotz des niederländi-
schen Erfolgs Wagen mit
deutschen Kennzeichen zer-
kratzt. Ein weiterer Tief-
punkt.
23. Februar 2000, Ams-
terdam. In der Arena
kommt es zum Freund-
schaftsspiel zwischen Hol-
land und Deutschland. In
der Amsterdamer Innen-
stadt sind deutsche Fans
auszumachen. Aber – welch
Wunder – es kommt zu kei-
nerlei Zwischenfällen. Vor
der Arena spreche ich mit
dem Amsterdamer Polizei-
chef, der sich selbst zu
wundern scheint, dass alles
so friedlich abgelaufen ist.
Auch an der Grenze Gro-
nau-Glanerbrug bleibt es
ruhig, genauso wie bei den
Duellen 2002, 2004 und
2005. Die paar Leutchen,
die möglicherweise darauf
aus sind zu provozieren,
finden keinen Widerpart.
Das Verhältnis zwischen
Deutschen und Niederlän-
dern scheint sich zu nor-
malisieren.
2006 und 2008 bei der
WM beziehungsweise bei
der EM treffen Mannschaft
und Elftal nicht aufeinan-
der. Aber die in Deutsch-
land lebenden Niederländer
zeigten Flagge. Und zwar
Oranje. Und was passiert?
Anhänger beider Teams
frotzeln fröhlich übereinan-
der, amüsieren sich über
die Kids, die in viel zu gro-
ßen Fan-Shirts über die
Straße laufen. Selbst einge-
fleischte Fans der deut-
schen Mannschaft geben
zu, dass die Holländer bei
der WM toll gespielt haben
und trösten ihre holländi-
schen Nachbarn nach dem
Ausscheiden der Oranjes.
Fans ihrer jeweiligen
Mannschaft bleiben sie al-
lemal – aber Randale zu
machen, kommt offenbar
keinem Menschen mehr in
den Sinn. Und wenn das
schon im Fußball so ist,
lässt das doch sehr darauf
schließen, dass es mit dem
Verhältnis zwischen Deut-
schen und Niederländern
in der Euregio so ganz
schlecht nicht bestellt sein
kann . . .Martin Borck
„Fußball ist eigentlich Krieg“ sagte einst der niederländische Trainer Rinus Michels, der 1974 mit der holländische Na-tionalmannschaft Vize-Weltmeister und 1988 Europameister wurde. Hier haben niederländische Fußballfans am Grenz-übergang Gronau-Glanerbrug nach einem Sieg des Oranje-Teams über den Nachbarn ein deutsches Auto demoliert.
18 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Von Freimuth Schulze
Mit der Einführung des
Euro zu Beginn des
Jahres 2002 ist alles ganz
einfach geworden: Einkau-
fen jenseits der Grenze ist
heute nichts Besonderes
mehr. Schließlich stehen ja
auch schon lange die früher
so lästigen Zollkontrollen
nicht mehr im Wege. Die
Deutschen besorgen sich
zwischen Frühstück und
Mittagessen schnell noch ein
Paar Pfund Kaffee im hollän-
dischen Supermarkt an der
Grenze, decken sich mit Zi-
garetten und „geele vla“ ein
(„Diesen Vanillepudding im
Liter-Pack kennt man bei
uns so nicht. Schmeckt köst-
lich!“) und füllen vor der
Rückfahrt den Tank mit
günstigem Diesel. Die Nie-
derländer zieht es regelmä-
ßig in die großen deutschen
Verbrauchermärkte entlang
der Grenze. Aldi, Lidl und
K & K sind bei ihnen beson-
ders beliebt. Hier sind viele
Lebensmittel günstiger als
im eigenen Land. Dazu Spi-
rituosen – wer hat nicht im-
mer seine Flasche „Müm-
melmann“ in der Hausbar –
und Drogerieartikel. Und
dann wird noch schnell ge-
tankt, denn in Deutschland
ist Benzin wiederum billiger.
Zu Attraktionen haben
sich in den vergangenen
Jahren vor allem an den Wo-
chenenden einige ehemalige
Grenzübergänge entwickelt.
Der Hollandmarkt Ter Huur-
ne zwischen Ahaus und
Buurse ist ein beliebtes Ziel
für ganze Familien – mit
Spielgarten, Livemusik und
Amüsement; selbst Radtou-
ren werden angeboten. Und
an der Rammelbecke zwi-
schen Nordhorn und Dene-
kamp ist nach dem Wegfall
der Grenzkontrollen rund
um den Supermarkt Tensun-
dern sogar ein kleines Ein-
kaufszentrum entstanden –
mit unter anderem Restau-
rant, Obst- und Gemüsela-
den, Fischgeschäft und so-
gar Apotheke.
Drei Einkaufsziele auf nie-
derländischer Seite der
Grenze sind bei den Deut-
schen besonders beliebt: der
Sonnabend-Markt in En-
schede, Ikea mit den umlie-
genden großen Fachgeschäf-
ten in Hengelo und – allen
voran – das Gartencenter
Oosterik in Denekamp. „Ich
komme hier bereits zum
zweiten Mal mit dem Bus. So
etwas habe ich noch nie ge-
sehen“, berichtet eine ältere
Dame auf dem Weg zum Ein-
gang des Gartencenters. Sie
Hier Diesel, dort BenzinEinkaufen jenseits der Grenze ist heute nichts Besonderes mehr
Fest in deutscher Hand ist an bestimmten Tagen des Gartencenter Oosterik in Denekamp. Die Autokennzeichen auf demriesigen Parkplatz sind der Beweis dafür. Foto: Freimuth Schulze
Die Landschaft genießen
– die Bewohner von bei-
derseits der Grenze begeg-
nen sich immer häufiger auf
den inzwischen unzähligen
Rad- und Wanderrouten im
Euregio-Gebiet. Dabei zieht
es die Niederländer noch
weitaus häufiger über die
Grenze als die Deutschen.
Das belegen aktuelle Statis-
tiken. Die schöne Land-
schaft, die attraktiven Aktiv-
angebote, der ländliche
Charme sowie die interes-
santen Städte und Kultur-
schätze – das sind die
Hauptmotive niederländi-
scher Gäste für einen Tages-
trip oder einen Kurzurlaub
im Münsterland, im Osna-
brücker Land oder in der
Grafschaft Bentheim. Diese
Regionen präsentieren sich
seit Mitte 2002 im Benelux-
Gebiet unter dem gemeinsa-
men Nenner „Geheimnis
hinter der Grenze“ (Geheim
over de grens“).
47 Prozent der niederlän-
dischen Gäste im deutschen
Teil der Euregio stammen
aus den Grenzprovinzen
Overijssel und Gelderland.
Besonders beliebt sind bei
ihnen die bekannten Rad-
wanderrouten wie die „100
Schlösser Route – Entde-
ckungsreise durch die Park-
landschaft des Münsterlan-
des“ und die „Friedensroute
– Auf den Spuren des West-
fälischen Friedens“.
Aber es gibt auch viele
grenzüberschreitende Routen
wie die von Zwolle entlang
der Vechte bis ins münster-
ländisch Darfeld führend
Vechtetalroute. Ein grenzen-
loses Wandervergnügen bie-
tet auch der Handelsweg von
Osnabrück über Rheine und
Oldenzaal bis nach Deventer.
Neu für das Grenzgebiet
sind die „Touristischen Ori-
entierungspunkte“ – kurz
TOPs genannt. Für jeden der
13 TOPs in den Regionen
Münsterland, Grafschaft
Bentheim, Achterhoek,
Twente und Vechtdal wurde
jeweils mindestens eine
Route für Rad- und Wander-
touren entwickelt, zum Teil
auch mit Strecken für Inline-
skater und Kanuten.
Die Landschaft fasziniert
Immer ein beliebtes Ziel von Radwanderern: die Burg inBad Bentheim.
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 19
Als es die Schlagbäume noch
gab, war die Fahrt über die
Grenze doch immer etwas Be-
sonderes – egal, ob für Deutsche
oder für Niederländer. Schließ-
lich mussten bei der Rückfahrt
immer die Zollkontrollen pas-
siert werden. „Haben Sie etwas
anzugeben? – wer von den älte-
ren Grenzbewohnern kann sich
an diese immer wiederkehrende
Frage nicht mehr erinnern.
Heute ist dies längst Ge-
schichte. Für die Bewohner des
deutschen Teils der Euregio ist
der wöchentliche oder gar tägli-
che Trip über die Grenze zu den
westlichen Nachbarn inzwi-
schen ebenso selbstverständlich
wie für die niederländischen
Grenzbewohner die Fahrt zu
den „buren“ auf östlicher Seite.
Und dabei sind die Gründe
so vielfältig und unterschied-
lich, wie nie zuvor. „Wir fuhren
früher mit unseren Kindern
einmal im Jahr zur Sommerro-
delbahn nach Ibbenbüren, das
war’s“, so eine Frau um die 60
aus Ootmarsum. Die Kinder ih-
rer Kinder waren zwar auch
schon einmal auf der Sommer-
rodelbahn, für sie gehören Be-
suche im Wellenfreibad in
Nordhorn oder in den Diskothe-
ken „Zak“ in Uelsen, „Index“ in
Schüttorf oder „Aura“ in Ibben-
büren aber längst zum Alltag,
ebenso wie für viele Familien
aus dem niederländischen
Grenzgebiet der Tagesausflug
zu den Zoos in Osnabrück und
Münster und natürlich zum
Nordhorner Tierpark. „Etwa die
Hälfte unserer jährlich inzwi-
schen rund 300 000 Besucher
sind Holländer“, so Tierpark-
Geschäftsführer Thomas Ber-
ling. Auch die deutschen Weih-
nachtsmärkte wie die in Nord-
horn, Münster und Osnabrück
üben alljährlich auf die Nieder-
länder eine große Anziehungs-
kraft aus.
Und die deutschen Grenzbe-
wohner? Sie fahren nicht selten
der Geselligkeit und der vielen
Terrassen wegen ins Nachbar-
land. Im Galerienstädtchen
Ootmarsum wimmelt es sonn-
tags von Besuchern aus
Deutschland, die auch gerne die
Konzerte im Musikzentrum in
Enschede und die Opern im
„Muziekkwartier“ der Grenz-
stadt besuchen. In den Som-
mermonaten sind die grenzna-
hen Erholungsgebiete mit ihren
Badeseen wie „het Rutbeek“,
„het Hulsbeek“ und Hilgelo bei
den Deutschen besonders be-
liebt. Und natürlich die Freizeit-
parks wie Hellendoorn und
Slagharen.
Der Trip über die Grenzeist längst selbstverständlich
Janna – Seehundbaby im Nord-horner Tierpark.
ist bereits um 7 Uhr in Bielefeld in
den Bus eines Reisebüros gestiegen,
das allein in diesem Jahr zehn Mal
von Ostwestfalen aus in die Twente
fährt. 23 Euro hat die allein stehen-
de Dame für den Tagesausflug nach
Holland bezahlt: „Dafür bin ich
aber auch den ganzen Tag unter-
wegs. Von Oosterik aus geht es
nämlich auch noch zum Wochen-
markt nach Enschede.“
„Diese Kombination bieten ver-
schiedene Busunternehmen aus dem
nordwestdeutschen Raum an“, be-
richtet Marcel Reinders, Clusterma-
nager des Denekamper Gartencen-
ters, nach dessen Auskunft etwa 60
Prozent der Kunden aus Deutsch-
land kommen: „Unser Einzugsgebiet
reicht bis Hamburg, Hannover und
an den Rand des Ruhrgebietes.“ An
manchen Tagen wird Oosterik von
bis zu 15 Bussen und mehr angesteu-
ert, an Spitzentagen werden an die
20 000 Kunden in dem mehr als
40 000 Quadratmeter großen Ein-
kaufsparadies gezählt.
„Die Deutschen sind dabei die
Ersten, die vor der Eingangstür ste-
hen, oftmals schon um 8 Uhr“,
weiß Reinders zu berichten. Sie
müssen bis 9 Uhr warten, um Ein-
lass zu finden. Wenn Busgesell-
schaften kommen, ist der erste
Gang der überwiegend älteren Rei-
senden der zur Toilette. Danach
geht es ins Gartencenter-Café, um
anschließend gestärkt einige Stun-
den lang durch die Einkaufswelt zu
bummeln.
Für den jungen Mann aus Wa-
rendorf führt der erste Gang auf
dem Enscheder Wochenmarkt zur
Imbiss-Bude: „Original holländi-
sche Pommes mit Majo, Gewürz-
ketschup und rohen Zwiebeln – im-
mer wieder Spitze“. Etwas später
lässt sich der Münsterländer noch
einen Backfisch und frische Scam-
pis schmecken. Und dann werden
Käse („Schön, dass man fast alles
erst probieren kann“) und noch ei-
nige Süßigkeiten eingekauft, wobei
„drop“ (Lakritz) natürlich nicht
fehlen darf.
Tausende deutsche Tagesausflüg-
ler bevölkern sonnabends den En-
scheder Wochenmarkt, vor allem in
den Sommermonaten, wenn es wie-
der den „Hollandse Nieuwe“ gibt,
die neuen Matjesheringe. Dafür
fahren Liebhaber kilometerweit.
Der Enscheder Wochenmarkt ist je-
den Sonnabend bis 17 Uhr geöffnet
– viel Zeit also, um das besondere
Flair zu genießen und sich unter
anderem auch mit frischem Obst
und Gemüse einzudecken.
Die Deutschen machen nach
Auskunft der Stadt Enschede der-
zeit ein Viertel der Wochenmarkt-
Besucher aus: gut 13 000 kommen
dafür jeden Sonnabend in die
Grenzstadt. Dabei ist die Tendenz
allerdings leicht rückläufig: Vor
drei Jahren machten die Deutschen
noch mehr als 16 500 oder 31 Pro-
zent aller Markt-Besucher aus.
Und was zieht den niederländi-
schen Verbraucher außer zum Ein-
kauf in den Verbraucher-, Drogerie
und Getränkemärkten nach
Deutschland? Zum Beispiel die gro-
ßen Elektro- und Elektronikfach-
märkte und natürlich die Möbel-
häuser im Münsterland und in der
Grafschaft Bentheim. Ein beson-
ders beliebtes Ziel sind XXXLutz
und der angrenzende Media-Markt
in Nordhorn, – der rote „größte
Stuhl der Welt“ macht schon an der
Grenze auf dieses Einkaufszentrum
aufmerksam. „Wir sind hier heute
mit der ganzen Familie und haben
uns bereits in der Wohnwelt und
im Media-Markt umgesehen. Jetzt
geht es zum Essen ins Restaurant“,
so ein junges Ehepaar aus Almelo,
das schon häufiger zum Einkauf in
Nordhorn war und vor allem von
der Innenstadt mit dem angrenzen-
den Vechtesee begeistert ist: „Hier
kann man unbeschwert bummeln
und einkaufen.“
In den Niederlanden einen Na-
men hat Nordhorn als Küchen-
stadt. Aus ganz Holland kommen
die Küchenkäufer, verbinden dies
nicht selten mit einem Einkaufs-
bummel oder einem Abstecher zur
Burg in Bad Bentheim. Selbst Groß-
städte haben im Verhältnis zur Ein-
wohnerzahl und zur Grundfläche
nicht so viel Ausstellungsfläche für
Küchen zu bieten wie die vielen
Fachgeschäfte zwischen Bad Bent-
heim und Emlichheim – an die
25 000 Quadratmeter.
Nur klein hinsichtlich der Aus-
stellungsfläche ist die Firma Kü-
chen Heilig im südlichen Nordhor-
ner Stadtteil Blanke, auf holländi-
scher Seite der Grenze aber ist die-
ses Fachgeschäft ein Begriff. „Für
manche Neubaugebiete in den
grenznahen Orten liefern wir bis zu
50 Prozent aller Küchen, richten
dort die neuen Wohnungen ganzer
Straßenzüge mit unseren Küchen
ein“, so Inhaber Manfred Heilig:
„Die Niederländer lieben gerade
bei Küchen und Einbaugeräten
deutsche Wertarbeit. Und schielen
natürlich immer auf den Preis.“
Und auch „uit eten“ im deut-
schen Grenzgebiet steht bei den
Niederländern hoch im Kurs. Dabei
ist es nicht nur die „gutbürgerliche“
deutsche Küche, die die Nachbarn
lockt, sondern vor allem auch der
günstige Preis. Ein komplettes Me-
nü für unter zehn Euro ist hier
noch ganz normal, und auch beim
Bierpreis haben die deutschen Gas-
tronomen noch lange nicht das Ni-
veau ihrer niederländischen Kolle-
gen erreicht. Und dann sind die
Restaurants zwischen Münster, Os-
nabrück, Gronau und Nordhorn
natürlich für ihre großen Portionen
bekannt. „Das Schnitzel reicht
nicht selten über den Tellerrand hi-
naus“, so ein Winterswijker, der re-
gelmäßig mit der Familie oder mit
Bekannten zum Essen über die
Grenze fährt.
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Von Guntram Dörr
Klar, ich kannte Frau Ant-
je mit dem Käse aus der
Fernsehwerbung. Und Rudi
Carell, der König des Sams-
tagabends, war Stammgast
im elterlichen Wohnzimmer
– via TV, versteht sich. Die
dralle Blonde und der char-
mante Schlaks mit der Stirn-
locke sprachen dieses lustig
akzentuierte Deutsch,
brachten locker und unver-
krampft ihre Botschaften
unters Volk. Ganz im Gegen-
satz zu den immer ernst-
haft-bemüht wirkenden
Fernsehfiguren diesseits der
Grenze, die damals, ich war
gerade 13, noch einige hun-
dert Kilometer von zu Hau-
se entfernt lag. Von einer
echten Berührung, gar einer
Nähe zu Holland, konnte
nicht die Rede sein. Das än-
derte sich 1974 deutlich und
– später mehr – 1993 grund-
legend.
Zunächst zum ersten Jah-
resdatum, das allen Sport-
fans unvergessen bleiben
wird und oranje durch die
leuchtenden Fußballtrikots
der niederländischen Natio-
nalmannschaft zur gefürch-
teten Farbe machte. Ich hat-
te mir wenige Wochen vor
Beginn der Weltmeister-
schaft einiges anzuhören,
weil ich eines Tages zum
Punktspiel meiner Jugend-
mannschaft mit Schuhen
der Marke „Puma Cruyff “
auftauchte. Die schwarz-
orangen Treter gefielen mir
eben besser als die Adidas-
Modelle mit den Schriftzü-
gen „Müller“ oder „Becken-
bauer“, die meine Mitspieler
trugen. Als der geniale „Kö-
nig Johan“ während des
Turniers die Fußballwelt
verzauberte, fühlte ich mich
durchaus nicht bestätigt,
sondern fieberte mit den
deutschen Helden. Doch ha-
ben wir uns mehr als einmal
zugeraunt: Donnerwetter,
können die spielen – die
Holländer!
Knapp 20 Jahre später
rückte ich den Niederlanden
auf den Leib. Von Nordhorn
aus erfuhr und erlebte ich,
dass die Leichtigkeit und
Unverkrampftheit der le-
gendären 74er Elf durchaus
die Lebenseinstellung der
Niederländer widerspiegelt.
Vieles von dem, was die
Oranjeteams auf dem grü-
nen Rasen zelebrieren, fin-
det sich im Alltag dieser Ge-
sellschaft wieder – Improvi-
sationstalent, Freude am
Augenblick, Fehler zu tole-
rieren und neue zu wagen,
Zusammenrücken auf en-
gem Raum – gleichzeitig
Sehnsucht nach Weite. Und
nach Land, das dieses Volk
dem Wasser abtrotzte, um es
gleichzeitig mit den Kanälen
in einem Maße zu nutzen,
von dem man, beispielswei-
se in Nordhorn, gerade erst
zu träumen beginnt.
Die Grenze ist, zum
Glück, längst gefallen, wir
sind beiderseits mitten in
Europa angekommen. Wir
sind Nachbarn, und wir hel-
fen einander, wenn es nötig
ist. 600 000 (damals noch)
Mark spendeten die Graf-
schafter im Rahmen einer
großen Hilfsaktion der Graf-
schafter Nachrichten für die
Opfer der Explosionskata-
strophe in Enschede – ganz
selbstverständlich.
Im Alltag schwindet das
Trennende mehr und mehr,
doch dürfen Eigenarten er-
halten bleiben. Ich werde
mich nie anfreunden mit
„frikandel uit de muur“ oder
getarnten Radarblitzgeräten
in Abfallbehältern. Ich stau-
ne über Weltläufigkeit,
Sprachgewandtheit und
Kinderfreundlichkeit. Und
über die folkloristische Be-
geisterung für ein Königs-
haus, das Identität stiftet.
Ich tröste mich damit, dass
die Nachbarn in der Twente
tagtäglich mit ähnlichen All-
tagssorgen zu kämpfen ha-
ben wie die Grafschafter
und dies bei Bier oder Gene-
ver, einander zunickend,
erörtern. Wenn es nicht ge-
rade um Fußball geht.
„König Johan“ und „Kaiser Franz“: Das holländische Team um den genialen SpielmacherCruyff beeindruckte bei der Fußballweltmeisterschaft 1974 – auch Guntram Dörr, damals 13Jahre alt, heute Chefredakteur der Grafschafter Nachrichten. „Du Beckenbauer!“ soll in Tei-len der Niederlande hingegen als Schimpfwort gebraucht worden sein. Und heute? Über vie-les lässt sich im Grenzgebiet inzwischen reden – gelegentlich sogar über Fußball. Foto: dpa
Guntram Dörr
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 21
Ohne die Anregung sei-
ner niederländischen An-
gestellten hätte der Eper
Bäckermeister Hermann
Dust vielleicht nie den
Sprung über die Grenze
gewagt. „Carla hat mir
immer wieder erzählt,
wie gern ihre Nachbarn
Brötchen von deutschen
Bäckern mögen. Und sie
war sich sicher, dass sich
eine Filiale in Glanerbrug
bestimmt lohnen würde.“
Von Martin Borck
GRONAU/GLANERBRUG. Nun:
Dass Niederländer deutsche
Backwaren mögen, war dem
Bäckermeister nicht neu: „In
einigen grenznahen Filialen
in Gronau kommen, schätze
ich, 40 Prozent der Kunden
aus den Niederlanden.“ Bröt-
chen hatte er schon vor Jah-
ren, noch zu Schlagbaum-Zei-
ten, an ein Geschäft nach
Overdinkel liefert. Aber eine
eigene Filiale – das war doch
eine ganz neue Herausforde-
rung. Zumal er unterschiedli-
che Signale erhielt: „Der Be-
triebsberater meiner Ein-
kaufsgenossenschaft sagte:
Holland – das ist hopp oder
topp. Einige Bäcker seien gar
nicht glücklich geworden, an-
dere dagegen kriegten das La-
chen nicht mehr aus dem Ge-
sicht.“
Den Knoten hackte Dust
durch, als er eine deutsche
Filiale aufgab – und er somit
eine Inneneinrichtung übrig
hatte. Dust ging das Risiko
ein und begab sich ernsthaft
auf die Suche nach einem ge-
eigneten Geschäftsraum jen-
seits der Grenze. „Das war
gar nicht so einfach“, erzählt
der Bäckermeister. Zunächst
gab es in Glanerbrug keinen
freien Laden. Und als ein Ge-
schäft frei wurde, fing der
Genehmigungsreigen an.
„Zum Glück hat mir die
Kreishandwerkerschaft Bor-
ken geholfen“, sagt Dust. Die
hat nämlich ein eigenes EU-
Referat. Das angeschlossene
Inter-Ned Beratungscenter
unterstützt kleine und mitt-
lere Unternehmen bei ihren
Auslandsaktivitäten. Mitfi-
nanziert wird es aus Inter-
reg-Mitteln.
Mit den niederländischen
Behörden machte Dust unter-
schiedliche Erfahrungen. Die
einen waren äußerst hilfsbe-
reit, andere dagegen ließen
ihn mit ihren Formularen al-
lein. „Ich spreche leider kein
Niederländisch. Das machte
die Abwicklung natürlich
nicht einfacher.“ Zum Glück
hatte er seine Mitarbeiterin
Carla, die einiges an Schrift-
verkehr übersetzte . . .
Der neue Konkurrent be-
hagte den eingesessenen Be-
trieben in Glanerbrug ver-
ständlicherweise nicht be-
sonders. Dust musste sich
daher durchsetzen. „Zum
Beispiel war das Rot meiner
Außenwerbung den Kollegen
des Einzelhändlerverbandes
zuerst zu grell.“ Aber schließ-
lich ging es doch. Dafür hatte
Dust kurz nach der Eröff-
nung die ersten Lebensmit-
telprüfer im Geschäft, die
sich davon überzeugen woll-
ten, dass die Kühlkette bei
den angebotenen Waren
nicht unterbrochen wurde.
„Der Mann hat sich vor Ort
davon überzeugen können,
dass unsere Produkte keine
Zeit hatten, schlecht zu wer-
den“, schmunzelt Dust.
Der grenzenlose EU-Bin-
nenmarkt hat dem Bäcker
unterm Strich Vorteile ge-
bracht. „Früher, als ich Bröt-
chen nach Overdinkel gelie-
fert habe, musste ich noch je-
des Mal den Lieferschein bei
einem Büro abgeben, das
dann die Zollangelegenheiten
regelte. Heutzutage fährt
man einfach so über die
Grenze – eine Erleichterung.
Und erstmal das einheitliche
Geld. Seit Einführung des
Euro gibt es keine Wechsel-
kursverluste mehr zwischen
Gulden und Mark.“
Dennoch ist nicht alles
Gold, was glänzt: „Ohne
niederländischen Steuerbe-
rater käme ich nicht zu-
recht“, gibt Dust zu. Eine
Fachfrau hat er über seinen
deutschen Steuerberater in
Gronau gefunden. „Natür-
lich kostet die Beratung in
Steuerfragen Geld. Auch
sind die Tariflöhne in den
Niederlanden spürbar hö-
her. Für die Lohnfortzah-
lung an seine Angestellten
im Krankheitsfall muss ich
eine eigene Versicherung ab-
schließen. Die niederländi-
sche Krankenkasse bezahlt
das nämlich nicht.“
Trotz dieser Mehrkosten
hat sich der Schritt über die
Grenze gelohnt. „Ich habe in
keiner einzigen Filiale in
Deutschland einen so hohen
Umsatz.“ Vor allem die klei-
nen Mahlzeiten wie Mett-
brötchen oder „broodjes ge-
zond“ (mit Salat und Schin-
ken) gehen weg – eben wie
die sprichwörtlichen warmen
Semmeln. Woran es liegt?
„Die Niederländer essen ja
erst abends eine warme
Mahlzeit. Unser Angebot
zum mittäglichen Lunch
kommt ihnen da sehr entge-
gen.“ Ganze Belegschaften
von Betrieben aus dem In-
dustriegebiet am Ortsrand
geben telefonisch ihre Bestel-
lungen durch.
Sein Verhältnis zu Nieder-
ländern war sowieso stets
gut. Die Kunden sind nett.
„Unterm Strich“, sagt Her-
mann Dust daher, „würde ich
es sofort wieder machen.“
Filiale jenseits der GrenzeBäckermeister aus Epe macht in Holland hervorragende Geschäfte
Der Eper Bäckermeister Hermann Dust – hier mit zwei Mitarbeiterinnen in seiner Filiale in der niederländischen Grenzge-meinde Glanerbrug – lieferte schon zu Schlagbaum-Zeiten frische Brötchen ins Nachbarland.
Der Handel im Raum Münster-
land/Grafschaft Bentheim/Twente/
Achterhoek hat sich sich von Grenzen nie
ernsthaft aufhalten lassen. Marskramer,
Tödden und Kiepenkerle, Tuchhändler
und Hausierer, waren schon im 19. Jahr-
hundert in diesem Raum unterwegs. Je
nachdem, wo die Wirtschaft florierte, zo-
gen auch Arbeitskräfte über die Grenze.
Grenzorte wie Glanerbrug oder Overdin-
kel wären ohne die florierenden Textilfa-
briken in Gronau nicht entstanden. In
den kleinen Orten siedelten sich nieder-
ländische Arbeiter an, die täglich zur Ar-
beit nach Deutschland gingen.
Die Textilindustriellen in den deut-
schen Grenzstädten waren übrigens
zum größten Teil Niederländer, die ab
etwa dem Jahr 1840 den preußischen
Markt erobern wollten. Den „grenzenlo-
sen Wirtschaftsraum“ hat es schon im
19. Jahrhundert gegeben. Die Etablie-
rung der Nationalstaaten und erst recht
der Zweite Weltkrieg machten die Gren-
zen undurchlässiger. Unterschiedliche
Sozial- und Steuersysteme erschweren
heutzutage die Arbeitsaufnahme im
Nachbarland. Die Euregio gibt Grenz-
gängern Hilfe bei Fragen und Proble-
men.
Von Grenzen nie aufhalten lassen
22 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Zwischen den Jahren 2000
und 2005 stieg die Zahl
der im deutschen Grenzge-
biet wohnenden Niederlän-
der um rund 10 000. Derzeit
haben etwa 30 000 Nieder-
länder ihren Wohnsitz auf
deutscher Seite der Grenze.
Bis 1999 war diese Zahl über
viele Jahre hinweg mit etwa
14 000 stabil geblieben, ehe
der große Auswanderer-
Boom einsetzte.
Unterschiedlich ist die
Entwicklung in den einzel-
nen deutschen Kommunen
entlang der Grenze. Als ei-
nes der beliebtesten Ziele
der Niederländer gilt Bad
Bentheim. Hier hat sich ihre
Zahl allein zwischen 2000
und 2004 mehr als verdrei-
facht. Im August 2008
wohnten exakt 1854 Nieder-
länder in der Burgstadt.
1991 waren es noch 293 ge-
wesen, im Jahr 2000 insge-
samt 414. „Aber die Zahl der
Holländer, die sich bei uns
ansiedeln, steigt derzeit nur
noch gering“, so ein Spre-
cher des Bad Bentheimer
Einwohnermeldeamtes.
Die Landkreise Graf-
schaft Bentheim und Bor-
ken zählen zu den beliebtes-
ten bei den ausreisewilligen
Niederländern. Nach einer
Erhebung des Statistischen
Bundesamtes wohnten in
der Grafschaft im August
genau 9256 Niederländer –
fast drei Mal so viele wie
1997 (3481). Im Jahr 2002
waren es 5245, 2006 insge-
samt 8083 und ein Jahr spä-
ter 8590.
Im Landkreis Borken
verlief die Entwicklung
ähnlich. Dort waren Ende
Juli 6120 Niederländer ge-
meldet, die meisten davon
in Gronau. Am 31. Dezem-
ber 2002 hatte die Zahl
noch bei 3206 gelegen,
2003 bei 3688, 2004 über-
stieg sie mit 4212 erstmals
die Grenze von 4000 nie-
derländischen Einwohnern
und zwei Jahre später dann
die Grenze von 5000 Ein-
wohnern (5184).
Auffallend groß im Ver-
hältnis zur Gesamteinwoh-
nerzahl ist der Anteil der
Niederländer in den relativ
kleinen Grafschafter Ge-
meinden Uelsen und Em-
lichheim, die im Vergleich
aller deutschen Städte und
Gemeinden zwischen Em-
lichheim und Emmerich
beide unter den ersten
Sechs liegen. In der Samtge-
meinde Uelsen waren am 1.
August 1801 der insgesamt
11 397 Einwohner niederlän-
discher Herkunft, in der
Samtgemeinde Emlichheim
waren es 1995 bei 14 348
Einwohnern.
In den niederländischen
Grenzregionen Twente und
Achterhoek bleibt die An-
zahl der dort gemeldeten
Deutschen schon seit mehr
als 15 Jahren weitgehend
stabil beziehungsweise ist
sogar leicht rückläufig. Wa-
ren hier 1996 insgesamt
41 915 Deutsche gemeldet,
so waren es laut der letzten
Erhebung von I&Q Re-
search im Jahr 2002 exakt
40 240. Die meisten Deut-
schen wohnen danach in
Enschede. Hier melden sich
derzeit jährlich mehr als
500 Deutsche neu an. Einer
der Gründe dafür ist die Tat-
sache, dass sich immer
mehr junge Deutsche für
ein Studium in der Grenz-
stadt entscheiden.
Der ganz große Boom ist erst einmal vorbeiDeutsches Grenzgebiet bei Niederländern aber immer noch sehr beliebt
Die Studenten aus dem Nachbarland sorgen in Enschededafür, dass der Anteil der Deutschen unter den Einwohnernder niederländischen Grenzstadt stetig wächst. Foto: dpa
Die Anzahl der im deut-
schen Grenzgebiet woh-
nenden Niederländer hat
sich in vergangenen zehn
Jahren verdoppelt: von
knapp 15 000 auf mittler-
weile rund 30 000. Dage-
gen ist die Anzahl der in
den holländischen Grenz-
regionen Twente und
Achterhoek lebenden
Deutschen seit 1996 nahe-
zu unverändert geblieben:
insgesamt knapp 40 000.
Von Freimuth Schulze
NORDHORN/ENSCHEDE.Ulrike Wilbers-Luckman
war eine der ersten Nieder-
länderinnen der vor acht
Jahren so richtig in Fahrt
gekommenen Emigrations-
welle Richtung Deutsch-
land. In Denekamp geboren,
ließ sie sich vor 15 Jahren
als damals 23-Jährige in
Hannover nieder und eröff-
nete dort einige Jahre spä-
ter das Blumen- und Floris-
tikfachgeschäft „Artfleur“.
Vor vier Jahren bezog sie
dann mit ihrem aus Henge-
lo stammenden Ehemann
Marc im Bad Bentheimer
Neubaugebiet Pieper-Wer-
ning einen schmucken Neu-
bau und spricht heute von
völliger Integration. „Der
Umgang mit den Nachbarn
ist super. Wir unternehmen
viel gemeinsam; Grillen ist
dabei besonders beliebt“, so
die engagierte Geschäfts-
frau.
Gemeinsam mit Ehemann
Marc spielt Ulrike Wilbers-
Luckman seit drei Jahren
Tennis bei TuS Gildehaus. Die
beiden genießen das deut-
sche Vereinsleben, würden es
aber begrüßen, wenn die Nie-
derländer noch etwas mehr
Geselligkeit mit in den Klub
bringen würden. Sohn Tim,
in Bad Bentheim geboren, ist
inzwischen dreieinhalb und
besucht mit Begeisterung den
Gildehauser Kindergarten
„Regenbogen“. „Ein sehr ge-
mütlicher Kindergarten“, be-
findet Mutter Ulrike. Vieles
Integration ist das SchlagwortImmer mehr Niederländer zieht es über die Grenze,
nur noch wenige Deutsche nach Holland
Einmal wöchentlich kauft Ulrike Wilbers-Luckman Blumen beim Oldenzaaler Großhänd-ler W. Kempers ein. Die engagierte Geschäftsfrau stammt gebürtig aus Denekamp, wohntseit einigen Jahren in Gildehaus und betreibt schon seit längerem erfolgreich ein Blumen-und Floristikfachgeschäft in Hannover – eine echte Europäerin. Foto: Freimuth Schulze
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 23
Ein Dirigent aus EggerodeSein jährlicher Ausflug mit dem Jungenchor führte immer ins Münsterland
Von Jan Haverkate
August Vörding stammte
aus dem Wallfahrtsort
Eggerode bei Schöppingen
und wurde 1923, nach dem
Studium der Kirchenmusik
in Münster, Dirigent des
Kirchenchors der St.-Lam-
bertus-Kirche im nieder-
ländischen Hengelo, etwa
15 Kilometer von der Gren-
ze entfernt. Dort lernte ich
ihn 1953 kennen, nachdem
er mich als Sopran in sei-
nen Jungenchor aufgenom-
men hatte.
Das Repertoire, das er
mit uns einstudierte, hätte
auch einem professionellen
Chor zur Ehre gereicht. Pa-
lestrina, Des Prez, Swee-
linck, Bruckner – wir san-
gen alles. Aber dafür muss-
te geprobt werden – und
zwar richtig. Mit viel Dis-
ziplin und dafür mit wenig
Humor – aber das tat dem
Spaß keinen Abbruch. Er
gab uns das Gefühl, dass
wir gemeinsam mit ihm et-
was Großes auf die Beine
stellten.
Mindestens zwei Mal pro
Woche, an den freien Mitt-
woch- und Sonnabendnach-
mittagen, probten wir. Dazu
kamen die Aufführungen in
der Kirche einschließlich
der alljährlichen Matthäus-
Passion. Bis zu dem Zeit-
punkt, als ich wegen Stimm-
bruchs den Chor verlassen
musste, bestimmten die Pro-
ben den Rhythmus meiner
Kindheit. So müssen es auch
die anderen Jungs empfun-
den haben. In dem halben
Jahrhundert, in dem Vör-
ding Chorleiter war, – er
starb 1973 – sind es Hunder-
te gewesen.
Er sang nicht nur mit
seinen Jungs, er unter-
nahm mit ihnen auch Aus-
flüge. Mindestens ein Mal
jährlich lud er seine klei-
nen Sänger in einen Bus.
Das Ziel stand immer fest:
eine Tour durch das Müns-
terland, vor allem in die
Baumberge. Denn: Auch
wenn er seinen Beruf in
den Niederlanden ausübte
– sein Herz schlug für
Westfalen, eine Liebe, die
er in all den Jahren auch
auf seine jungen Schüler zu
übertragen versuchte. In
meinem Fall mit Erfolg.
Das Deutschland, durch
das wir mit ihm fuhren,
verkörperte für uns den
Reiz des Fremden. Es war
Mitte der 50er-Jahre, und
Reisen ins Ausland waren
für die meisten Jungen
meines Alters noch eine
Ausnahme. Wir waren un-
befangen. Es müssen da-
mals noch Spuren des Krie-
ges zu sehen gewesen sein,
aber die bemerkten wir
nicht. Ich kann mich auf je-
den Fall nicht daran erin-
nern.
Woran ich allerdings
noch sehr gute Erinnerun-
gen habe, sind die Straßen-
bauarbeiten. Immer wur-
den irgendwo Fahrbahnen
aufgebrochen, sodass der
Bus Umwege fahren muss-
te. Das erste deutsche Wort,
das ich kannte, hieß „Um-
leitung“.
Außerdem weiß ich
noch, dass das Deutsch-
land, durch das wir abends
unterwegs waren, dunkel
war, sehr dunkel. Die Stra-
ßen waren nur sparsam er-
leuchtet, die Läden an den
Häusern geschlossen, und
Schaufenster sahen wir kei-
ne. Nur über den Eingän-
gen der Dorfkneipen
brannten helle Leuchtre-
klamen. Meistens von der
Biermarke, die drinnen ge-
zapft wurde. Das verlieh
den Dörfern eine seltsame
Art von Behaglichkeit.
Das Münsterland hat
sich seitdem so verändert,
dass es kaum wiederzuer-
kennen ist, genauso wie die
Region in den Niederlan-
den, aus der ich stamme.
Aber die Faszination, die
das erste Stückchen Aus-
land auf mich ausübte, hat
das Münsterland stets be-
halten. 50 Jahre später
komme ich noch regelmä-
ßig hierhin. Wie viele ande-
re Jungen, die Mitglied des
Chors waren. Dank unseres
deutschen Dirigenten.
Jan Haverkate
erinnert sie dort an ihre eige-
ne Kindergartenzeit.
Den Kontakt zu ihren nie-
derländischen Kollegen hat
Ulrike Wilbers-Luckman nie
verloren. „Selbst von Hanno-
ver aus ist man über die Au-
tobahn schnell in Alsmeer
und noch schneller in Olden-
zaal“, so die Floristin, die ein
Mal wöchentlich ihren Be-
darf an frischen Blumen in
der Blumengroßhandlung W.
Kempers B.V. in Oldenzaal
deckt.
Ulrike Wilbers-Luckman
und Ehemann Marc sind
zwei von rund 15 000 Nieder-
ländern, die in den vergange-
nen 15 Jahren ihr Heimatland
Richtung Deutschland verlas-
sen haben. Die großen Unter-
schiede bei den Preisen für
das Wohnen in den Nieder-
landen und in Deutschland
sind nach einer von der Regio
Twente in Auftrag gegebenen
Untersuchung die wichtigste
Ursache für diesen Umzug,
Integration ist das Schlag-
wort. Für die meisten nieder-
ländischen Familien ist die
Integration laut Untersu-
chungsbericht völlig unprob-
lematisch. Und auch das
Schulproblem stellt sich
längst nicht mehr so schwie-
rig dar wie noch vor einigen
Jahren.
Noch 2004 platzte die
Grundschule Sint Plechelmus
in De Lutte aus allen Nähten.
Der Großteil der Niederlän-
der, die sich inzwischen in
Bad Bentheim und Umge-
bung angesiedelt hatte,
schickte seine Kinder zum
Schulunterricht in den klei-
nen, zur Gemeinde Losser ge-
hörenden Ort unweit der
Grenze bei Gildehaus. „In der
Spitze hatten wir 43 Schüler
aus Deutschland“, berichtet
Gerard Pross, Leiter der
Grundschule Sint Plechel-
mus. Damals musste sogar
Unterrichtsraum in einer
Gaststätte angemietet wer-
den. Inzwischen hat sich das
Blatt deutlich gewendet – für
Pross eine „äußerst positive
Entwicklung“: „Für die Kin-
der ist es besser, dass sie in
ihrer eigenen Wohnumge-
bung auch zur Schule gehen.“
Sint Plechelmus zählt heute
nur noch knapp 20 Schüler,
die täglich aus Deutschland
nach De Lutte kommen.
Ganz anders sieht es dage-
gen an der Grund- und
Hauptschule in Gildehaus
aus. Die Anzahl der Schüler
mit niederländischer Natio-
nalität hat hier von Jahr zu
Jahr zugenommen. 60 sind es
aktuell – mehr als zehn Pro-
zent der gesamten Schüler-
zahl. „Ohne die niederländi-
schen Schüler hätten wir heu-
te einige Klassen weniger“, so
Schulleiter Fritz Niemeyer,
der mit seinem persönlichen
Engagement sehr viel zur In-
tegration holländischer Fami-
lien in Bad Bentheim und
Umgebung beigetragen hat.
Niemeyer hat sogar festge-
stellt, dass sich viele über-
siedlungswillige niederländi-
sche Familien heute erst ein-
mal über die Schule informie-
ren, die ihre Kinder besuchen
könnten. Erst dann entschei-
den sie sich für den Kauf ei-
ner Wohnung oder den Bau
eines Hauses bei den östli-
chen Nachbarn.
Die Grund- und Haupt-
schule in Gildehaus arbeitet
intensiv daran, den nieder-
ländischen Schülern die best-
mögliche Schulausbildung
bieten zu können. Die Kinder
erhalten heute nicht nur
Deutsch-, sondern auch Nie-
derländisch-Unterricht – fi-
nanziert von der Stichting
Nederlandse taal en cultuur
(NTC). Fritz Niemeyer: „Das
heißt, zwei Stunden Sprache
und zwei Stunden Kultur.“
Nach einer Bestandsauf-
nahme des Landkreises Graf-
schaft Bentheim lebten im
Schuljahr 2003/2004 in der
Grafschaft insgesamt 570 nie-
derländische Kinder im Alter
von sechs bis 16 Jahren, über-
wiegend in den Kommunen
Uelsen, Emlichheim und Bad
Bentheim. 57 Prozent davon
besuchten schon damals eine
deutsche Schule, in Uelsen
waren es von 150 niederländi-
schen Kindern sogar 89 Pro-
zent. Besonders stark gestie-
gen ist in den vergangenen
Jahren entlang der gesamten
Grenze im Bereich der Eure-
gio die Zahl der Kinder nie-
derländischer Abstammung,
die einen deutschen Kinder-
garten besuchen.
Der Besuch eines deut-
schen Kindergartens oder ei-
ner deutschen Schule trägt
maßgeblich zu einer erfolg-
reichen Integration bei. Das
sieht auch die deutsche Be-
völkerung so. Aber: „Im An-
schluss an die weiterführen-
de Schule bietet Enschede
mehr Möglichkeiten als das
deutsche Grenzgebiet. Viele
deutsche Schüler absolvieren
deshalb zum Beispiel eine
Ausbildung an der Saxion
Hogeschool in Enschede. Sie
sehen Enschede vielfach
nicht als Stadt in einem ande-
ren Land, sondern als eine
Großstadt mit den dazugehö-
rigen Einrichtungen für die
Bewohner der Euregio“, heißt
es in einer vor einiger Zeit
von der Regio Twente, der
Provinz Overijssel, den Land-
kreisen Grafschaft Bentheim
und Borken sowie der Be-
zirksregierung in Münster
und der Euregio bei I&Q Re-
search in Enschede in Auf-
trag gegebenen Untersu-
chung.
Während Deutsche heute
vornehmlich aus schulischen
oder beruflichen Gründen
oder auch der Liebe wegen
ins Nachbarland übersiedeln,
entscheiden sich Niederlän-
der in erster Linie aus wirt-
schaftlichen Überwägungen
dazu, ihr Heimatland zu ver-
lassen. Viele haben sich be-
reits seit längerem auf dem
Grundstücks- und Woh-
nungsmarkt im eigenen
Land umgesehen, schrecken
dann aber vor den hohen
Kosten zurück und sehen
sich lieber auf dem deut-
schen Markt um. Makler bei-
derseits der Grenze haben al-
lerdings festgestellt, dass sich
potenzielle niederländische
Wohnungskäufer heute bes-
ser auf eine Umsiedlung
nach Deutschland vorberei-
ten als zu Beginn des Aus-
wanderungsbooms vor sechs
bis acht Jahren. Sie analysie-
ren zunächst die Vor- und
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Möbeldesign
Ecksofa Hindeloopen
Ausführung: Leder.
VGI-0054
VERKAUFSOFFENER
SONNTAG 5 OKTOBER
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 25
Auf dem Tisch liegt „De
Twentsche Courant Tu-
bantia“ neben den „West-
fälischen Nachrichten“,
und Truus Dropmann
serviert gefüllte Spekula-
tius zum deutschen Kaf-
fee. Für Fritz (75) und
Truus (72) Dropmann
aus Gronau ist das Leben
an beiden Seiten der
Grenze die normalste Sa-
che der Welt – und das
schon seit über 50 Jah-
ren.
Von Julia Henkel
GRONAU/AALTEN. In dem
Jahr, in dem die Euregio aus
der Taufe gehoben wurde,
fuhr das deutsch-niederlän-
dische Paar in den Hafen der
Ehe ein. Wenn es nach Vater
Stuivenberg in Glanerbrug
gegangen wäre, dann wäre
aus der Hochzeit seiner
Truus mit dem deutschen
Jungen nichts geworden.
„Mein Vater war gar nicht
glücklich über unsere
Freundschaft“, erzählt Truus
Dropmann. „Er nahm mir
sogar meinen Pass weg. Mei-
ne Mutter war anders, die
gab ihn mir wieder zurück.
Ach ja, die Vergangenheit
war noch frisch, sie hatten
eine Menge durchgemacht.
Andererseits: Man kann
doch nicht ewig nachtra-
gend sein.”
Die beiden hatten sich bei
Engels in Enschede getrof-
fen. Dahin kamen auch Ju-
gendliche aus Gronau zum
Tanzen. Fritz Dropmann: „In
dem Imbiss nebenan haben
wir uns kennen gelernt.” –
„Ja, wir kamen ins Ge-
spräch. Na ja, sozusagen. Ich
konnte ja kein Deutsch und
du kein Holländisch.“ –
„Nein, aber wir haben uns
trotzdem verstanden. Mit
ein bisschen Deutsch, ein
bisschen Holländisch und
ein bisschen Dialekt.“
Mit den beiden wurde es
ernst, und auch Vater Stui-
venberg begann sich an den
Gedanken zu gewöhnen, ei-
nen Schwiegersohn aus
Deutschland zu bekommen.
Die Dropmanns heirateten
1958. Truus zog zu ihrem
Mann nach Gronau, darüber
wurde nicht lange disku-
tiert. Leicht fand sie das an-
fangs nicht. „Ich fuhr wohl
zwei Mal am Tag nach Hause
und wieder zurück“, erzählt
sie lachend. „Jedes Mal
durch die Passkontrolle, mit
Stempeln und allem Drum
und Dran. Vor allem, um mit
Leuten reden zu können. Ich
konnte ja immer noch kein
Deutsch. Dabei waren die
Nachbarn unheimlich nett
zu mir, und Christa, die Frau
eines Freundes von meinem
Mann. Die schleppte mich
überall mit hin.“
Jan (43) und Karin (40)
Westerveld aus Aalten lern-
ten sich in einer Diskothek
in Dinxperlo kennen, die in
den 80er-Jahren auch bei vie-
len deutschen Jugendlichen
beliebt war, auch bei Karin
aus Rhede. „So richtig negati-
ve Reaktionen gab es nicht.
Aber einige Leute wundern
sich, auch heute noch.“
Das Paar ließ sich in den
Niederlanden nieder, vor al-
lem aus wirtschaftlichen
Gründen. „Ein eigenes Haus
in Deutschland war zu der
Zeit sehr teuer, und auch der
Wechselkurs zwischen Gul-
den und D-Mark wirkte sich
sehr ungünstig auf das Ge-
halt meines Mannes aus.“
Zuhause sprach man Nieder-
ländisch, dabei hatten Jan
und Karin zu Beginn ihrer
Freundschaft vor allem
Deutsch miteinander gere-
det. „Ich konnte zwar den
Aaltener Dialekt verstehen,
aber kein Niederländisch.
Als es dann ernster wurde,
habe ich an Niederländisch-
Kursen teilgenommen. Ich
wollte verstehen, worum es
ging, wenn das Telefon klin-
gelte, jemand vor der Tür
stand oder die Post kam.“
Die Westervelds wollten
ihre Kinder Jan (14) und An-
ne (11) eigentlich zweispra-
chig erziehen, aber der Älte-
re hatte Schwierigkeiten da-
mit. „Wir machen es darum
nicht mehr ernsthaft, aber
sie kommen trotzdem gut in
beiden Sprachen zurecht.
Wichtiger finden wir, dass
sie etwas von der deutschen
Fortsetzung auf Seite 26
„Vater nahm mir den Pass weg“Liebe über die Grenze hinweg hatte früher schon ihre Tücken
Von Julia Henkel
Eine bewusste Regelung
steckt nicht dahinter, es
hat sich einfach so ergeben
und zu gegebener Zeit
wusste es jeder: freitags ist
der „deutsche Abend“ in
der Diskothek „Zak“ in Uel-
sen, Sonnabendabend kom-
men die Niederländer.
„Jahrelang ging das auch
nicht anders“, so Betriebs-
leiterin Ingrid Kränzel:
„Der Musikgeschmack und
die Art des Feierns waren
einfach total unterschied-
lich. Bei den Holländern ist
die Stimmung sofort gut,
die Deutschen müssen erst
einmal in Gang kommen.“
Seit einigen Jahren ist
die Trennung weniger
streng. „Heute läuft alles
mehr durcheinander. Die
Deutschen haben erkannt,
dass sie auch mit den Nie-
derländern einen schönen
Abend verleben können“,
so Ingrid Kränzel. Springt
der Funke denn schon ein-
mal über? Bei Niels (22)
aus Geesteren bei Ootmar-
sum schon. Er besucht re-
gelmäßig das „Zak“ und
hat dort seine deutsche
Freundin kennen gelernt.
„Krista aus Uelsen. Wie
das läuft? Prima! Sie ver-
steht Niederländisch und
Twenter Platt und die
Mentalität an beiden Sei-
ten der Grenze ähnelt
sich“, so Niels. Helen (18)
und Kerstin (18) aus Uel-
sen kommen ins „Zak“, um
Spaß zu haben und Men-
schen kennen zu lernen:
„Ja, auch Niederländer.
Die meisten sprechen gut
Deutsch, ansonsten spielt
es keine große Rolle, wo-
her man kommt.“
Für Jan (29) und Rob
(26) aus Nijverdal gibt es
wohl Unterschiede zwi-
schen Deutschen und Nie-
derländern: „Wir sind for-
scher, Deutsche mehr ver-
legen. An der Art des Tan-
zens kann man erkennen,
ob jemand aus Deutsch-
land oder aus den Nieder-
landen kommt. Und an der
Kleidung. Niederländer
sind einfach hipper. Eine
deutsche Freundin? Die
Nationalität spielt keine
Rolle. Hauptsache, sie ist
hübsch.“ Dominik (25) aus
Ahaus genießt häufiger das
Ausgangsleben in Ensche-
de. „Man kann dort besser
feiern“, meint er: „Hollän-
der tun nicht so ver-
krampft.“ Auch mit dem
Musikverein kommt er re-
gelmäßig in den Niederlan-
den: „Eine schwierige Sa-
che? Überhaupt nicht, es
gibt so viele Kontakte. Ein
Freund von mir ist mit ei-
ner Niederländerin verhei-
ratet. Das ist doch ganz
normal.“
Holländischer Abend – deutscher AbendAber was einmal war, ist heute in der Diskothek „Zak“ ganz anders
In der Uelsener Diskothek „Zak“ stehen deutsche und niederländische Jugendliche heu-te friedlich nebeneinander auf der Tanzfläche. Das war nicht immer so. Foto: Karsten Rump
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Fortsetzung
Kultur mitbekommen. Wir
feiern mit unseren nieder-
ländischen Verwandten Sin-
terklaas und mit den deut-
schen Weihnachten. Wir ha-
ben nun mal beide Traditio-
nen, man kann nicht einfach
eine aufgeben.“
Bei den Dropmanns in Gro-
nau wurde im Dezember
ebenfalls regelmäßig zweimal
gefeiert – zur großen Freude
der Kinder. Mit Sohn und
Tochter wurde bei den Drop-
manns Deutsch gesprochen.
„So hatten sie in der Schule
keine Probleme, und auf der
anderen Seite der Grenze ka-
men sie auch zurecht.“
Truus Dropmann ent-
schied sich, ihren niederlän-
dischen Pass gegen einen
Deutschen einzutauschen.
„Im Krieg hatte ich erlebt,
dass die Mutter einer Freun-
din weg musste, weil sie
Deutsche war. Das sollte mir
und meinen Kindern nicht
passieren.“
Im alltäglichen Leben wa-
ren und sind es vor allem die
kleinen Dinge, die Truus
Dropmann und Karin Wes-
terveld daran erinnern, dass
sie in einem anderen Land
aufgewachsen sind. So bege-
ben sich beide Frauen regel-
mäßig zum Einkaufen über
die Grenze. Truus Drop-
mann besorgt sich Joghurt,
Vla (Pudding) und Erdnüsse
in Holland, Karin Wester-
veld fährt für Spezialitäten
wie Spätzle oder Lebkuchen
zum deutschen Supermarkt.
Die Unterschiede zwi-
schen den beiden Ländern
sind anno 2008 bei weitem
nicht mehr so stark wie in
Liebe über die Grenze hinweg: die Eheleute Truus und Fritz Dropmann aus Gronau während ihrer Trauung vor 50 Jahren (links) und heute.
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 27
Von Julia Henkel
Für einige Brautpaare
könnte es nicht ro-
mantischer sein: heiraten
in einem echten Schloss.
Seit etwa acht Jahren ist
dies in den Sommermona-
ten in Bad Bentheim mög-
lich. Paare aus den Nie-
derlanden können daraus
sogar eine Hochzeit in
niederländischem Stil ma-
chen – dank der Euregio.
Die Euregio schlug vor
einigen Jahren Tandem-
Hochzeiten auf der Burg
vor, geschlossen von ei-
nem deutschen und ei-
nem niederländischen
Standesbeamten. „Stan-
desamtliche Trauungen
sind in Deutschland for-
meller als in den Nieder-
landen“, erläutert Heinz-
Gerd Bökenfeld, Standes-
beamter und Leiter des
Ordnungsamtes der Stadt
Bad Bentheim: „In den
Niederlanden ist alles per-
sönlicher, wobei der Le-
bensgeschichte des Braut-
paares viel Aufmerksam-
keit geschenkt wird.“ Eine
derartige Atmosphäre
kann jetzt auch in Bad
Bentheim kreiert werden.
Der Standesbeamte der
Stadt sorgt für die Forma-
litäten, jemand anders für
den persönlichen Touch.
„Das braucht kein nieder-
ländischer Standesbeam-
ter zu sein, auch andere
Personen sind willkom-
men“, so Bökenfeld.
In den Niederlanden ist
eine derartige Trauung
von Ausländern übrigens
nicht möglich; dort kön-
nen Trauungen nur vorge-
nommen werden, wenn
mindestens einer der
Partner die niederländi-
sche Nationalität hat oder
in den Niederlanden
wohnt.
Im Jahr 2007 wurden
in den Niederlanden so-
wie in den beiden deut-
schen Bundesländern Nie-
dersachsen und Nord-
rhein-Westfalen 1559
deutsch-niederländische
Ehen zwischen Männern
und Frauen geschlossen
und in den Niederlanden
zusätzlich noch einmal 34
zwischen zwei Männern
oder zwischen zwei Frau-
en. 1980 zählte die Statis-
tik im gleichen Gebiet
1931 grenzüberschreiten-
de Eheschließungen. Da-
raus Schlüsse zu ziehen,
fällt schwer – es wird im
Allgemeinen weniger ge-
heiratet. In Bad Bentheim
hat Heinz-Gerd Bökenfeld
sogar eine leichte Zunah-
me bei den Trauungen
zwischen Deutschen und
Niederländern registriert.
„Möglicherweise deshalb,
weil hier stets mehr Nie-
derländer wohnen“, so Bö-
kenfeld. Formelle Proble-
me gibt es selten. Trauwil-
lige Paar müssen sich
wohl einiger Dinge be-
wusst sein. Bökenfeld: „In
den Niederlanden behält
man offiziell immer sei-
nen Geburtsnamen, auch
wenn man den Namen
des Partners annehmen
möchte. Entscheidet sich
ein Niederländer in
Deutschland für den Na-
men seines Partners, dann
ist er seinen eigenen Na-
men für immer los. Selbst
die niederländische Ge-
burtsurkunde wird dann
angepasst.“
Auf Holländisch trauen auf derBurg in Bad Bentheim
Sogar ein niederländischer Standesbeamter darf im Ernst-August-Zimmer dabei sein
Trauungen auf der Burg in Bad Bentheim sind seit einigen Jahren möglich. Die Braut-paare geben sich im historischen Ernst-August-Zimmer das Ja-Wort.
den 50er- oder 60er-Jahren.
„In Deutschland ging es zu
der Zeit viel formeller zu.
Die Leute legten großen
Wert auf Titel und darauf,
dass man sie siezte,“ erin-
nert sich Truus Dropmann.
Das gemütliche Kaffee-
trinken ist heute allerdings
immer noch anders. „In
Deutschland wird fast aus-
schließlich nachmittags ge-
trunken, in den Niederlan-
den dagegen den ganzen Tag
über. Und Geburtstage – das
ist auch so ein Thema: Ich
lade Holländer und Deut-
sche immer gemeinsam ein.
In den Niederlanden würde
es reichen, abends ein Schäl-
chen mit Käsehäppchen he-
rumzureichen. Aber in
Deutschland kommt immer
warmes Essen auf den
Tisch.“
„Einige Dinge unter-
scheiden sich völlig“, hat
auch Karin Westerveld er-
fahren. „Die Gesundheits-
fürsorge in den Niederlan-
den ist minimal, vor allem
wenn man den deutschen
Standard gewöhnt ist, und
erst recht wenn man Kinder
bekommt. In Deutschland
geht jede Frau zum Gynäko-
logen. Entbindungen zu
Hause sind eine Seltenheit
und die „kraamzorg“ (ein
Angebot zwischen Haus-
haltshilfe und Hebamme für
Wöchnerinnen, Anm. d.
Red.) ist völlig unbekannt.
Auch in der Schule werden
viele Dinge anders angegan-
gen.“ Schwierig findet sie
das nicht. „Ich muss manch-
mal noch nachfragen, wie es
hier abläuft, aber ich mache
bei allen Aktivitäten mit. So
tolerant muss man doch
sein.“
Und wenn beim Fußball
Oranje gegen die deutsche
Mannschaft spielt? „Die Fra-
ge stellt uns jeder“, meint
Karin Westerveld. „Wir drü-
cken beiden die Daumen.“
Im Hause Dropmann lässt
man sich deswegen auch
nicht verrückt machen. „Der
Bessere soll gewinnen.“
„Dass man gut miteinan-
der auskommt und glücklich
ist, das ist das Allerwichtigs-
te“, findet Karin Westerveld.
„Zwei Kulturen nebeneinan-
der ist nicht immer einfach.
Du kommst in ein Land, in
dem du nicht verwurzelt
bist. Wenn hier mal etwas
völlig anders gehandhabt
wird, denke ich schon:
Mensch, das will ich doch
auf meine gewohnte Weise
machen. Weihnachten zum
Beispiel ist in den Nieder-
landen viel kommerzieller.
Auf der anderen Seite kann
man sich aus beiden Kultu-
ren die Rosinen herauspi-
cken. Dein Blickfeld erwei-
tert sich. Wenn man gegen
alles ankämpft, nur Kritik
hat oder auf Dinge von oben
herabschaut, kannst du dich
nie integrieren. Versuchst du
aber ernsthaft, Fuß zu fas-
sen, haben die Menschen
Respekt vor dir. Anderer-
seits sollen sie mir auch
nicht verbieten, Deutsch zu
sein und mich nicht ver-
pflichten, alles auf die nie-
derländische Art zu tun.“
Auch die Dropmanns le-
ben ihr deutsch-niederländi-
sches Leben mit gegenseiti-
gem Respekt, Toleranz und
Humor. So spannend wie
früher, als noch geschmug-
gelt wurde, ist es an der
Grenze schon lange nicht
mehr. Die Unterschiede ver-
blassen. Truus Dropmann
zeigt das Foto der Volkstanz-
gruppe vom Heimatverein
Gronau. „Fünf Niederländer
machen da mit“, erzählt sie
stolz. Und ihre eigene Hei-
mat? „Die ist hier“, sagt sie.
„Aber auch da.“
Seit 2005 Ratspräsident
Frans Willeme ist seit 2005 Präsident des Euregio-Ra-tes. Er bekleidete fast 20 Jahre lang das Amt des Bürger-meisters der Gemeinde Denekamp und der heutigenGemeinde Dinkelland.
28 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Von Andrea Kutzendörfer
Sprache ist die erfolg-
reichste Kommunikati-
onsform des Menschen,
sagt das Lexikon. Sie för-
dert das Miteinander und
kann Völker verbinden,
dachte ich – und lernte Nie-
derländisch. Denn das ist
die Sprache unserer Nach-
barn. Und mit ihnen will
man sich schließlich auch
unterhalten können. Zum
Beispiel am Wochenende,
wenn man „overstapt“, um
jenseits der Grenze einen
schönen Tag lang zu shop-
pen, das besondere nieder-
ländische Flair zu genießen
oder einfach nur einige
freundliche Worte zu wech-
seln – selbstverständlich in
der Sprache des Landes,
das gebietet schon die Höf-
lichkeit.
Ich wollte es auch an-
ders machen als meine
Mutter. „Zegels erbij . . ?“
höre ich sie noch heute
fröhlich in unserer Küche
flöten. Das war das Einzige,
was sie aus unserem so
heiß geliebten nordhollän-
dischen Urlaubsort mitge-
bracht hatte – die Frage der
netten Verkäuferin an der
Kasse, ob wir Rabattmar-
ken sammelten. Meine
Mutter hatte als Antwort
immer nur ein Kopfschüt-
teln parat, kein einziges
„Nee, bedankt“ war ihr
über die Lippen gekom-
men. „Wieso? Sie können
doch alle Deutsch“, recht-
fertigte sie sich immer. Ich
wollte es, wie gesagt, an-
ders machen und studierte,
vielleicht nicht zuletzt aus
diesem Grund, Niederlän-
disch.
Um es kurz zu machen:
Wirklich geholfen hat es
nicht. Meine Versuche, im
Grenzgebiet mit einem Nie-
derländer in seiner Sprache
in Kontakt zu kommen,
nehmen mittlerweile eher
groteske Züge an. Oder sa-
gen wir: Sie gleichen einer
Komödie. Zum Beispiel auf
dem Markt in Enschede:
Bevor mir nur ein einziges
„Goede morgen!“ über die
Lippen kommen kann,
spricht mich der Obstver-
käufer an: „Erdbeeren, jun-
ge Frau? Lecker, lecker!“
Ich seh’ mich um. Meint
der mich? Ich blicke an mir
herunter. Sehe ich so
Deutsch aus? Ich antworte
ihm kleinlaut in meiner
Muttersprache, schließlich
will ich ihn nicht enttäu-
schen. Und er hat ja Recht:
Ich bin keine von ihnen.
Das nächste Mal bin ich
klüger. Bevor mich über-
haupt jemand ansprechen
kann, presche ich vor. „Een
patat oorlog!“ Das kommt
gut, denke ich. Welcher
Deutsche kennt schon diese
besonders leckere Pommes-
kreation aus harten Zeiten?
Die junge Dame im Imbiss-
wagen lächelt: „Graag.“ Ich
bin erleichtert. „Geht
doch“, denke ich, nehme
die warme Kalorienbombe
entgegen und will gehen.
„Nette Frau“, geht mir noch
durch den Kopf. Sie bestä-
tigt meinen Eindruck.
„Tschüüüss!“, ruft sie hinter
mir her.
Dann kommen die Tage,
an denen ich, des Kampfes
müde, bei jedem Besuch im
Nachbarland nur noch
Deutsch spreche. Wie im
Fahrradgeschäft von En-
schede, in dem ich mir eine
„fiets“ ausgesucht habe. Ich
bleibe stur bei meiner Mut-
tersprache. Auch als der
Verkäufer seiner Kollegin
an der Kasse – natürlich
auf Niederländisch – zu-
ruft, dass ich mich gleich
sicher freuen werde, wenn
ich erfahre, dass ich fünf
Prozent Rabatt auf das Rad
erhalte. „Da freue ich mich
tatsächlich“, rufe ich in
reinstem Hochdeutsch zu-
rück.
Irgendwann habe ich
mit mir und meinen Nach-
barn Frieden geschlossen.
Das war nach folgender Ge-
schichte: In der Boutique
in Winterswijk spricht
mich die Besitzerin an. Auf
Deutsch. „Kann ich Ihnen
helfen?“ Ich sehe sie irri-
tiert an. Worauf sie sich la-
chend entschuldigt. Das sei
so eine dumme Angewohn-
heit, jeden Kunden, gerade
an der Grenze, auf Deutsch
anzusprechen. Bei wie vie-
len Landsleuten sie das
schon gemacht habe, könne
sie gar nicht mehr sagen,
sagt sie, schüttelt über sich
selbst den Kopf und ver-
schwindet hinter den Klei-
derständern. Ich verstehe.
Ich habe längst vollstes
Verständnis für unsere
sprach- und kontaktfreudi-
gen Nachbarn. „Ach, das
macht doch nichts. Das
passiert schon mal,“ rufe
ich ihr fröhlich zu. Selbst-
verständlich auf Deutsch.
„Man spricht Deutsch“Über den verzweifelten Versuch, mit Niederländern in ihrer Heimatsprache zu kommunizieren
Der Obsthändler auf dem Enschede Markt lacht sich kaputt über die deutsche Journalis-tin Andrea Kutzendörfer, die sich alle Mühe gegeben hatte, um sich in Niederländisch mitdem Händler zu unterhalten.
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Mit herzlichen deutsch-niederländischen Grüßen,
2008
2010
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 29
Deutsche Jugendliche
stürmen massenhaft die
niederländischen Univer-
sitäten und Hochschu-
len. Umgekehrt geschieht
dies allenfalls nur tröpf-
chenweise. Deutsche fin-
den jenseits der Grenze,
was sie im eigenen Lan-
de vermissen: schöne
und helle Gebäude, um-
gängliche und offene Do-
zenten sowie ein gutes
und gut organisiertes
Studienangebot. Und ei-
gentlich ist Holland auch
durchaus gesellig.
Von Marten de Jonghund Gerard Lage Venterink
ENSCHEDE. Die erste Über-
raschung war, dass sie prak-
tisch von Anfang an dazuge-
hörten. „Als ich hierher
kam, hatte ich anfangs
schon ein wenig Angst vor
Vorurteilen gegenüber Deut-
schen“, so Dirk Terbahl, im
vierten Jahr Student Kom-
munikationswissenschaften
an der Universität Twente.
„Doch das war nicht so. In
der Twente sind diese ohne-
hin geringer als im Westen
des Landes.“
Zu Beginn seines Studi-
ums gab es eine kurze Zeit
lang zwei Gruppen, berich-
tet Felix Zschockelt, der in
Enschede im dritten Jahr
Psychologie und Business
Administration studiert.
Aber dann liefen Deutsche
und Niederländer schon
schnell durcheinander. „Nie-
derländische Jugendliche
meiden uns absolut nicht.“
Vielleicht auch deshalb
nicht, weil die Universität
erhebliche Anstrengungen
unternimmt, die Integration
zu fördern. Sprachkurse
sind Pflicht. Und eine spe-
zielle „Wurst- und Käse-
Kommission“ fördert von
der Einführung an die ge-
genseitigen Kontakte durch
gemeinsame Film-Besuche
oder kostenlose Essen, wenn
deutsche Studenten einen
niederländischen Freund
mitbringen. Das alles trage
dazu bei, so Terbahl, dass
man sich schon schnell „ein
wenig als Niederländer füh-
le.
Seit etwa sechs Jahren
zieht es immer mehr deut-
sche Studenten über die
Grenze. „Go West, junger
Mann“, ist offenbar die Devi-
se vieler junger Menschen“,
so Studienbegleiter Richter
von der Universität Münster.
Im zurückliegenden Studi-
enjahr waren nahezu 16 000
deutsche Studenten an nie-
derländischen Universitäten
eingetragen. Damit rangiert
das Nachbarland noch vor
den Vereinigten Staaten und
Großbritannien als wichtigs-
ten ausländischen Zielen
deutscher Studenten. Die
Universität und die Hoch-
schulen in Enschede bringen
es zusammen allein bereits
auf rund 3000 deutsche Stu-
denten.
Dem Zustrom deutscher
Studenten nach Holland
steht nur eine Hand voll
Niederländer gegenüber, die
es ebenfalls über die Grenze
zieht. Die Universitäten und
Hochschulen in Münster,
Osnabrück und Steinfurt be-
grüßen jährlich nicht viel
mehr als fünf bis zehn Stu-
denten aus dem Nachbar-
land. Und häufig kommen
diese lediglich für ein oder
zwei Jahre im Rahmen eines
Austauschprogrammes.
„Der Unterricht in den
Niederlanden ist einfach
besser“, erklärt Kim Dum-
pelmann, im dritten Jahr Pä-
dagogik-Student, den enor-
men Unterschied in der An-
ziehungskraft. „Man hat es
hier mit kleinen Gruppen zu
tun – persönliche Aufmerk-
samkeit, die ist viel wert.
Wenn man eine Frage hat,
spricht man ganz einfach
den Dozenten an. Das ist in
Deutschland mit seinen gro-
ßen Universitäten schon an-
ders.“
Es sind stets die gleichen
Argumente, die zum nieder-
ländischen Abenteuer verlei-
ten: Die deutschen Universi-
täten und Hochschulen sind
veraltert, überfüllt, starr
und hierarchisch. Während
niederländische Schulein-
richtungen einen hervorra-
genden Ruf haben: gut orga-
nisiert, kleiner und damit
mit mehr Aufmerksamkeit
für den einzelnen Studen-
ten, informell und leichter
zugänglich.
Es gibt allerdings noch ei-
nen wichtigen Grund: Die
deutsche Nachfrage nach
Studienplätzen im eigenen
Land übersteigt das Angebot
bei weitem. Studenten, die
ein Fach studieren möchte,
für das in Deutschland eine
strenge Zulassungsbe-
schränkung (Numerus clau-
sus) gilt, weichen dann
schon schnell in die Nieder-
lande aus, um ihren Studien-
traum zu verwirklichen. Das
gilt zum Beispiel für Biologie
und Psychologie. An der
Universität Twente (UT) in
Enschede sind deutsche Stu-
denten beim Studiengang
Psychologie inzwischen so-
gar in der Mehrheit. Die Er-
fahrungen mit ihnen sind
ausgesprochen gut. „Sie be-
enden ihr Studien in der Re-
gel mit höheren Noten als
ihre niederländischen Kolle-
gen. Es gehen zum Beispiel
viele Preise für Diplomarbei-
Fortsetzung auf Seite 31
Guten Morgen, Herr ProfessorDas D-Team überspült die niederländischen Universitäten und Hochschulen
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NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 31
Die niederländische
Sprache ist für deut-
sche Studenten so gut wie
keine Barriere, sich für ein
Studium in den Niederlan-
den zu entscheiden. „Sie
betrachten das Fach als
Deutsch für Anfänger“, so
Pollus Fornerod, Projekt-
leiter Deutschland-Wer-
bung an der Universität
Twente (UT) in Enschede.
Deutsche Studenten er-
halten zur Vorbereitung
auf ihr Studium im Nach-
barland einen einen Monat
dauernden Intensivkurs
Niederländisch und legen
anschließend ein spezielles
Staatsexamen ab. Etwa 80
Prozent sind dabei auf An-
hieb erfolgreich. „Der Kur-
sus ist schwer, aber gut zu
absolvieren, wenn man
sich wirklich reinkniet“, so
Felix Zschockelt, der aus
der Nähe von Dortmund
stammt. „Niederländisch
hat viel von einem Ge-
misch aus Deutsch, Nie-
derländisch und Englisch
weg. Man muss ganz ein-
fach wollen, die Sprache zu
lernen. Das erhöht später
auch die Chancen auf ei-
nen Job.“
Viel Studienmaterial ist
zudem in Englisch. Den
Unterricht ganz in Eng-
lisch ablaufen zu lassen,
wie dies zum Beispiel an
der Universität in Maas-
tricht geschieht, hält Felix
Zschockelt nicht für erfor-
derlich: „Wir sind hier
doch eine Art Gast. Dann
muss man auch Niederlän-
disch lernen. Zudem er-
höht dies später die Chan-
cen auf einen Arbeits-
platz.“ Untereinander
sprechen deutsche Studen-
ten in der Regel in ihrer
Landessprache. Zscho-
ckelt: „Man fühlt sich dann
mehr zu Hause, aber für
die Sprachentwicklung ist
es ein Nachteil.“
Umgekehrt ist die Spra-
che vielleicht ein – übri-
gens bescheidener –
Grund, warum so wenige
Niederländer zum Studi-
um nach Deutschland ge-
hen, vermutet Steven Aver-
beck, Studienberater an
der Fachhochschule in
Steinfurt. „Die Kenntnis
der deutschen Sprache ist
in den Niederlanden rück-
läufig. Das macht den
Übergang doch schwieri-
ger. An der Universität
Münster gibt es inzwi-
schen mehr Niederlän-
disch-Studenten als
Deutsch-Studenten im ge-
samten Nachbarland. Das
ist bezeichnen für die der-
zeitige Situation.“
„Niederländisch ist eine Art Deutsch für Anfänger“
Fortsetzung
ten an deutsche Studenten“,
so Sprecher Joop Admiraal
von den Saxion Hochschu-
len.
„Was auffällt, ist ihr Ei-
fer“, bestätigt Pollus Forne-
rod, Projektleiter Deutsch-
land-Werbung der UT. Vor
allem vor einigen Jahren, als
die deutschen Studenten
noch selber ihren Weg zur
UT suchen mussten, waren
sie besonders ehrgeizig. Sie
hatten sich ganz bewusst für
ein anderes Land entschie-
den, wollten unbedingt ei-
nen erfolgreichen Abschluss.
„Jetzt, wo wir Studenten an-
werben, sind die Verhältnis-
se normaler. Es sind nicht
mehr allein Pfiffikusse, die
hierher kommen.“
Sowohl Saxion als auch
die UT werben aktiv Studen-
ten in Deutschland. Auch im
niederländischen Unter-
richtswesen hat die Markt-
werbung Einzug gehalten.
Niederländische Hochschu-
len haben ein Interesse an
einer ständigen Steigerung
der Anzahl ihrer Studenten.
Für jeden zusätzlichen Stu-
denten erhalten sie zusätzli-
ches Geld, während die
deutschen Universitäten
und Hochschulen einen fes-
ten Betrag pro Unterrichts-
sektor erhalten. „Für uns ist
die Grenzregion daher kein
Ausland“, so Joop Admiraal.
„Die niederländischen Re-
gionen Salland und Twente
sowie der deutsche Teil der
Euregio sind unser Kernge-
biet.“
Die UT beschäftigt inzwi-
schen ein spezielles
D(eutschland)-Team, das
von Münster bis Berlin und
von Hamburg bis München
Unterrichtsmessen besucht,
um junge Deutsche dazu zu
bewegen, in die Twente zu
kommen. Vor allem im Um-
kreis von rund 150 Kilome-
tern entscheiden sich junge
Deutsche schneller für En-
schede. Sie kennen die Nie-
derlande von Tagestrips und
Urlaub, haben teilweise in
der Schule Niederländisch-
Unterricht erhalten und die
kulturellen Unterschiede
sind hier nicht so groß. Die
Entscheidung zum Studium
jenseits der Grenze wird da-
durch stets leichter. Die Nie-
derlande bleiben zwar Aus-
land, aber es ist für viele ei-
ne Art „Ausland light“, wie
die Wochenzeitung „Die
Zeit“ unlängst schrieb.
„Der größte Unterschied
ist, das hier abends warm
gegessen wird“, lachen Dirk
Terbahl (aus Gronau-Epe)
und Felix Zschockelt (Wetter
an der Ruhr). „Seitens der
Deutschen heißt es natürlich
auch immer: Unser Brot ist
knuspriger als das Nieder-
ländische. Und Holland ist
Fortsetzung auf Seite 32
Stets mehr deutsche Studenten finden auch den Weg zur Saxion Hochschule in Enschede.
32 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
MARTINUSTURMDer Turm der St. Martinus-kirche ist das älteste baulicheDenkmal, das in Losser anfrühere Zeiten erinnert. Der"alte" Turm ist nur ein Teildes ursprünglichenKirchengebäudes, das sichdamals an dieser Stellebefand. Der Turm misst 22Meter und ist aus Backsteinerbaut. Der Turm ist von Maibis einschl. August amMittwoch und Freitagnachmittag für Besuchergeöffnet. Für weitere Informationen:www.deschatkamervantwente.nl
HOLZSCHUHMUSEUMIn einer Region, wo der Holzschuh (aufHolländisch Klomp genannt) immer noch zumgängigen Schuhwerk gerechnet wird, darf einHolzschuhmuseum mitsamt Holzschuhmachereiselbstverständlich nicht fehlen. Generationen derFamilie Koop aus De Lutte haben seit 1800 vonHand Holzschuhe gefertigt. Alte Anlagen undWerkzeuge wecken Erinnerungen an vergangeneZeiten. Auch jetzt noch zeigt Johnnie Koop Ihnengerne, wie er sich auf dieses edle Handwerk ver-steht. Für weitere Informationen: www.klompenmakerijkoop.nl
SANDSTEINBRUCH DESTARINGGROEVEDer Boden von Losser birgt jede Menge geologi-sche Bodenschätze. Der SandsteinbruchStaringgroeve im Dorf Losser gilt als der bekann-teste Fundort für Fossilien. Für weitereInformationen: www.beleeflosserindediepte.nl
ZIEGELEI ‘DE WERKLUST’Die vormalige Ziegelei De Werklust mit ihrem ein-zigartigen Ringofen sowie Trockenschuppenerfreut sich immer noch einer großen
Bekanntheit, die auf die früher hergestelltenund nach der Familie Osse benannten Osse-Ziegel zurückzuführen ist. Das entsprechendeVerfahren steht in der sorgfältig restauriertenZiegelei zur Besichtigung offen. Für weitereInformationen: www.dewerklust.nl
ZUNFTWERKSTATTAn einem ländlichen Ort in der Nähe vonBeuningen befindet sich die Zunftwerkstatt ‘HetDinkelwerk’, die einen Arbeits- undAusstellungsraum für fünf TwentenerHandwerksleute beherbergt, die in früherenJahrhunderten als Zunftmeister bezeichnet wur-den. Es betrifft einen Kerzenhersteller, einenEdelschmied, einen bildenden Künstler, einenTiffany-Künstler und eine Kunstmalerin. Sie kön-nen ihnen bei der Arbeit zusehen, ihre Werkstückebestaunen und … Sie dürfen das Handwerk auchgerne selbst mal ausprobieren. Für weitereInformationen: www.gildenwerkplaats.nl
FREILUFTMUSEUM ERVEKRAESGENBERGDort wird das Bauernleben vorgeführt, das sichum das 17. Jahrhundert herum im FreiluftmuseumErve Kraesgenberg und Umkreis abgespielt hat.Liebevoll und mit fachlichem Können sind dieGebäude des alten Bauernhofes restauriert undin einem wunderschön ausgestalteten Parkuntergebracht, der außer einem Rosarium mit-samt Skulpturengarten auch einenKräutergarten beherbergt. Für weitereInformationen: www.erve-kraesgenberg.nl
Schätzein Hülleund FülleDie Sehenswürdigkeiten vonLosser werden von Themenwie Gewerbstätigkeit undBauernwirtschaft geprägt,aber auch Geologie undAbenteuer nehmen einenganz besonderen Stellenwertein. Einige Beispiele für dasAngebot aus derSchatzkammer von Twente.
Losser:Die Schatzkammervon TwenteDie Gemeinde Losser gilt mit Fug und Recht als dieSchatzkammer von Twente. Mit ihrer reichen Geschichte,ihren verborgenen Perlen und ihren Bodenreichtümern gibtes Schätze in Hülle und Fülle. Davon kann sich jedermannselbst überzeugen. Die Türen der Schatzkammer sind sperran-gelweit geöffnet. Sie sind herzlich willkommen.
Losser kann sich der Tatsache erfreuen, dass es über die meis-ten und schönsten Landgüter von Twente verfügt, die sichnahtlos in die wunderschönen Naturgebiete wie Lutterzand,der Duivelshof (Teufelshof) und der Tankenberg einbindenund knapp hinter der Grenze fast unmerklich in dasGildehauser Venn und den Bentheimer Wald übergehen. Essind nur einige wenige Beispiele für den Reichtum anNaturschätzen, die sich in Losser und Umkreis zuhauf finden.
In Losser lassen sich die touristischen Wander- undFahrradrouten genießen, die sich gemeinsam über mehr als 500 Kilometer erstrecken.Damit bietet die Gemeinde das größte und abwechslungsreichste Angebot in Twente. AlsBeispiele nennen wir die Böggelpadroute, die Toer d’ Energie und die LutterBergwanderung. Wer ‘kurz’ die Grenze überqueren möchte, entscheidet sich für dieGildehaus Dinkelroute. Sie werden in Erfahrung bringen, dass die deutschen Grenzortemehr als nur ein guter Nachbar von Losser sind.
Die Geschichte von Losser wird aus dem Reichtum an Denkmälern, alten Bauernhöfen,Kirchenpfaden, Markensteinen, Wegekreuzen, Kapellen, Grabhügeln und Urnenfeldernersichtlich. Es gibt noch zahlreiche Traditionen, Heimatprodukte und Legenden, die diekulturhistorische Identität von Losser prägen. Erleben Sie auch die Geschichte desGrenzdorfes im Schmuggler- und Textilmuseum.
Die Schatzkammer bietet Ihnen noch vieles mehr! Das Gebiet im Losser Raum ist in geo-logischer Hinsicht sehr interessant. Die reiche und abwechslungsreiche Geschichte vonLosser reicht bis in die Prähistorie zurück. Das Stromgebiet der Dinkel bietet demBesucher Einblicke in die 30.000 Jahre währende Entstehungsgeschichte. Es betrifft hierdie älteste geschichtliche Region im niederländischen Raum. Werfen Sie einen Blick in dieVergangenheit und besuchen Sie den Sandsteinbruch Staringgroeve oder die alteZiegelei De Werklust.
Die Gemeinde Losser und deren fünf Kirchdörfer laden Sie gerne dazu ein, dieSchatzkammer von Twente zu entdecken. Denn dieser Reichtum gehört jedem. Naturgenießen, Erholung suchen, leckeres Essen, Kraft und Energie tanken, Aktivurlaub; allesist möglich in Losser.
GRENZHISTORISCHES TEXTIL-UND SCHMUGGLER MUSEUMDie Welt der Schmuggler und Zöllner, aberauch die der schwer arbeitendenTextilarbeiter wird im GrenzhistorischenTextil- und Schmugglermuseum in Overdinkelwieder zum Leben erweckt. Aben-teuer ver-flechtet sich dort mit der Erinnerung an dieIndustrie, für die Twente während vielerJahre so bekannt war. Für weitereInformationen: www.smokkelmuseum.nl
Fortsetzung
gesellig. Niederländer finden
es gesellig – ein Ausdruck,
den wir nicht kennen –, viel
miteinander zu unterneh-
men.“ Das Dorf, das der Cam-
pus der UT eigentlich ist, er-
leichtert dadurch die Anpas-
sung. Und es verringert die
Chance, dass Neulinge sich
verloren vorkommen.
Die Niederlande haben
zwar den Ruf, besonders in-
ternational orientiert zu
sein. Doch während nieder-
ländische Studenten lieber
„zu Hause“ bleiben, scheint
Studieren jenseits der Gren-
ze geradezu ein Trend unter
junge Deutschen zu sein. Im
Jahr 2000 zogen noch 52000
Deutsche zum Studieren ins
Ausland, 2006 waren das be-
reits 76000. Die Qualität des
Unterrichts und Neugier
nach der Fremde spielen ei-
ne Rolle. Aber auch die grö-
ßere Chance auf Arbeit. „Ein
ausländisches Studium
macht sich gut im Lebens-
lauf“, meint Felix Zschockelt,
der selber dem D-Team der
UT angehört. „Man zeigt da-
mit zukünftigen Arbeitge-
bern seine Flexibilität.“ Es
ist eines der Argumente, die
stets wieder genannt wer-
den: „Wer hier studiert, hat
später zwei Chancen auf ei-
nen Job.“
Kim Dumpelmann aus
Dortmund würde selber ger-
ne später in den Niederlan-
den hängen bleiben. „Die
Arbeits-Atmosphäre scheint
mir hier besser als in
Deutschland zu sein. Die
Menschen sind doch etwas
geselliger, fröhlicher. Es ist
alles etwas ungezwunge-
ner.“
Dennoch entscheidet sich
bei weitem nicht jeder, der
den niederländischen Unter-
richt mit dem Abschluss in
der Tasche verlässt, für einen
Verbleib im Nachbarland.
Diesbezüglich ist die Angst
vor einem „braindrain“, den
einige Politiker und Unter-
richtswissenschaftler in
Deutschland offenbaren, et-
was übertrieben. Deutsch-
land verliert zwar stets mehr
intelligente Jugendliche an
ausländische Schulen, erhält
dafür aber gut ausgebildete
Erwachsene zurück.
„Denn 50 Prozent der Stu-
denten kehrt schließlich
nach Deutschland zurück“,
so Joop Admiraal von der Sa-
xion Hochschule in Ensche-
de: „Der Rest orientiert sich
auf ein anderes Land, was
nicht unbedingt die Nieder-
lande sein müssen. Sie su-
chen ihr Heil auch in ande-
ren Ländern. Es handelt sich
ganz einfach um eine inter-
national orientierte Gruppe
von Studenten.“
Und lange nach ihrem Ab-
schied von den Hochschulen
und Universitäten profitie-
ren auch die Niederlande
noch von jungen Deutschen,
die sie ausgebildet haben.
Weil die Kenntnis und das
gegenseitige Verständnis zwi-
schen zwei Nachbarländern
größer geworden ist. Und
weil es wirtschaftliche Chan-
cen bietet. Stets mehr zu-
künftige Macher in der deut-
schen Wirtschaft, der Politik
oder der Gesellschaft spre-
chen Niederländisch, kennen
die Niederlande und deren
Kultur.
„Makro-wirtschaftlich ge-
sprochen kommt uns das
entgegen“, meint Pollus For-
nerod von der UT. „Es gibt
wahrscheinlich nur wenige
niederländische Studenten,
die gut Deutsch sprechen
und sich im Nachbarland
auskennen. Dem steht aber
gegenüber, dass es viele deut-
sche Studenten gibt, die gut
Niederländisch sprechen und
hier zu Hause sind. Sie sind
die besten Botschafter der
Niederlande.“
Eingangsbereich der Saxion Hochschule in Enschede.
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 33
Da will man eine Ge-
schichte über den Erfolg
der Bahnstrecke zwi-
schen Gronau und En-
schede schreiben – da
schlägt der Vorführeffekt
erbarmungslos zu. Auf
dem Bahnsteig in Gro-
nau knackt der Lautspre-
cher und die Stimme aus
dem Off ertönt: „Wegen
eines technischen De-
fekts fällt der Zug aus
Dortmund in Richtung
Enschede aus. Nächste
Möglichkeit zur Fahrt
nach Enschede besteht
um 16.09 Uhr.“
Von Martin Borck
GRONAU/ENSCHEDE. In 30
Minuten. Das ist zwar zu
verschmerzen, aber blöd ist
es doch. Dabei sind Ausfälle
der Bahn extrem selten.
Klar: Beim Schneechaos im
November 2005 lagen so vie-
le abgebrochene Äste auf
den Gleisen, dass der Bahn-
verkehr nach Münster für ei-
nige Tage eingestellt wurde.
Aber sonst dieseln die „Ta-
lent“-Züge zuverlässig von
morgens früh bis abends
spät zwischen den beiden
Grenzstädten hin und her.
Im Halb-Stunden-Takt, an
Wochenenden für Nacht-
schwärmer sogar bis 1.30
Uhr.
Doch jetzt ist es Donners-
tagnachmittag. Im Zug sit-
zen gut 50 Personen. Darun-
ter Reinie Cohen aus En-
schede und ihr Sohn Michiel
aus Hengelo. „Wir waren in
Gronau shoppen“, erzählt
sie. Jetzt geht es zurück nach
Hause. „Wir haben kein Au-
to. Für uns ist die Bahnver-
bindung ideal.“ Michiel fin-
det, dass sie bis Hengelo
durchgezogen werden sollte.
In Enschede besteht zwar
ein direkter Anschluss in
Richtung Westen, doch man
muss umsteigen.
Das Gleis am Bahnsteig 5
in Enschede, auf dem die
Züge aus Gronau ankom-
men, endet an einem Prell-
bock. Der Schienenstrang ist
durchtrennt. Konzessions-
rechte und unterschiedliche
Bahnsicherungssysteme ma-
chen Plänen, die Verbindung
bis Hengelo oder gar Almelo
durchzuziehen, einen Strich
durch die Rechnung. Doch
es gibt Hoffnung: Politiker
zweier niederländischer Re-
gierungsfraktionen fordern
mittlerweile, die behindern-
den Vorschriften auf den
Prüfstand zu stellen.
„In Gronau müsste man
deutlicher anzeigen, welcher
Zug in welche Richtung
fährt. Am Bahnsteig stehen
nämlich immer zwei, und
man weiß nie genau, wel-
cher nach Enschede fährt“,
fällt Reinie Cohen noch ein,
bevor der Zug in Enschede
einfährt. Dort warten schon
etwa 40 Passagiere auf die
Fahrt in Richtung Gronau,
die in sechs Minuten be-
ginnt.
Ein Ehepaar aus Köln hat
eine viertägige Radtour von
Köln nach Zwolle unternom-
men. Nun geht es per Zug
und Rädern zurück in die
Stadt am Rhein. Als die Rei-
senden erfahren, dass die
neun Kilometer lange Zug-
verbindung 20 Jahre stilllag,
können sie das kaum glau-
ben. „War denn die Auslas-
tung so schlecht?“
Damals, 1981, durchaus.
Die Deutsche Bundesbahn
Fortsetzung auf Seite 34
Mit dem Zug zum WochenmarktBahnverbindung zwischen Gronau und Enschede wird gut angenommen
Montags bis freitags
sind auf der Bahn-
strecke Gronau-Enschede
täglich 1800 Reisende un-
terwegs – 1200 in den Zü-
gen der Regionalbahn (RB)
64 von beziehungsweise
nach Münster und 600 in
der Regionalbahn 51 von
beziehungsweise nach
Dortmund. Das hat der
Zweckverband Schienen-
personennahverkehr Müns-
terland ermittelt.
Sonnabends beträgt das
gesamte Fahrgastaufkom-
men in den Zügen zwi-
schen den beiden Nachbar-
städten 2800 Reisende
(1800 in der RB 64 und
1000 in der RB 51).
An Sonn- und Feierta-
gen nutzen immerhin noch
1000 Menschen die Züge
auf der 2001 wiedereröff-
neten Strecke (800 in der
RB 64 und 200 RB 51).
Die Pünktlichkeit der
RB 64 liegt für 2008 bisher
bei 96,6 Prozent. Nur 0,2
Prozent der Züge fielen
aus. Der Jahreswert für
2007 lag bei 95,9 Prozent
bei 0,5 Prozent Zugausfäl-
len.
Die Pünktlichkeit der
RB 51 liegt für 2008 bisher
bei 96,2 Prozent bei 0,3
Prozent Zugausfällen. Der
Jahreswert für 2007 lag bei
92,2 Prozent bei 0,6 Pro-
zent Zugausfällen.
Wenig ZugausfälleRund 5600 Reisende wöchentlich
Die Pünktlichkeit der zwischen Enschede und Münster vekehrenden Regionalbahn 64 liegt bei fast 97 Prozent.
34 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Die Wiederaufnahme des Bahnverkehrs zwischen Gronau und Enschede hat sich gelohnt.Die Züge sind gut besetzt.
Fortsetzung
(DB) hatte den Betrieb ein-
gestellt, weil er sich nicht
rentierte. Was allerdings
kein Wunder war: Es gab
seit Ende der 70er-Jahre nur
noch an Vormittagen eine
einzige Alibiverbindung
über die Grenze. Die DB
wollte das Trajekt offenbar
loswerden. Personennahver-
kehr war ihr offenbar zu teu-
er.
Kaum aber war die Ver-
bindung tatsächlich einge-
stellt, folgte auch schon das
Bemühen der Euregio, sie
wieder in Betrieb zu neh-
men. Schließlich verbinden
die Linien Enschede-Gro-
nau-Münster beziehungs-
weise -Dortmund die Inter-
citynetze beider Länder mit-
einander. Die Euregio gab
Gutachten in Auftrag, ließ
Fahrgastprognosen erstel-
len, trat Politikern und den
Bahnen auf die Füße. Die
Wiedereröffnung der Bahn-
strecke nach jahrelangem
Dicke-Bretter-Bohren ist
wohl einer der größten Er-
folge der Euregio. „Ich hätte
es fast nicht für möglich ge-
halten“, bekannte der frühe-
re, mittlerweile verstorbene
Euregiorats-Präsident Wim
Schelberg damals. Das Re-
gionalisierungsgesetz in
Deutschland, das den Bun-
desländern Steuermittel für
den Schienennahverkehr zur
Verfügung stellte, kam zur
rechten Zeit.
Nun ist die Wiederinbe-
triebnahme eine Sache – die
Akzeptanz durch die Fahr-
gäste eine andere. So viel
lässt sich sagen: Die Progno-
sen waren falsch. Nämlich
viel zu niedrig. Die Züge
sind besser ausgelastet als
vorhergesagt. Vor allem
sonnabends sind oft kaum
noch Sitzplätze frei, wenn
deutsche Tagesausflügler gut
gelaunt nach Enschede zum
Markt fahren und Nieder-
länder die Baumberge und
Münster erkunden. Die Zah-
len sprechen für sich: Jeden
Werktag nutzen rund 1800
Menschen den Zug zwischen
Gronau und Enschede,
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 35
Von Marten de Jongh
Ein unermesslich großes
Land, mit weiten Wäl-
dern, in denen man stun-
denlang wandern konnte,
ohne jemandem zu begeg-
nen. Die wenigen Leute, auf
die man traf, waren Gast-
wirte, die ihren Gästen die
Wünsche von den Augen ab-
lasen. Das ist das Deutsch-
land, an das ich mich aus
meiner Kinderzeit erinnere.
Ein magisches Land, das da-
zu einlud, sich spannende
Rittergeschichten auszu-
denken. Ein Land, das mei-
ne Eltern gerne in Wander-
schuhen erkundeten. Wir
liefen dann zum Beispiel
durch den Maiglöckchen-
Wald. Die weißen Blümchen
sehe ich noch vor mir, doch
den Wald, den würde ich
nicht mehr wiederfinden.
Ich erinnere mich an ei-
ne Tour, während der wir
immer in Jugendherbergen
übernachteten, die Kaser-
nen glichen. Das tun nie-
derländische Jugendherber-
gen auch, aber aus völlig
dubiosen Gründen ist die
Assoziation deutsch. Eine
Assoziation, deren Kern zu
einer späteren Zeit gelegt
wurde, nachdem Deutsch-
land im Geschichtsunter-
richt ein anderes Gesicht
bekommen hatte. Die Lek-
tionen waren notwendig,
aber sie trübten auch meine
schönen Kindheitserinne-
rungen. Mit deren Un-
schuld war es vorbei.
Welches Bild stimmt?
Was ist die Wahrheit? Das
Bild eines Landes und sei-
ner Einwohner ist eine vage
Mischung aus Erinnerun-
gen, Fakten und (Vor-)Ur-
teilen. Das Bild ändert sich,
je nach Zeitläuften und
dem Ort, in dem man
wohnt. Das Bild, das die
Niederländer derzeit von
Deutschen haben, ist an-
ders, positiver, nuancierter
als vor gut 30 Jahren. Es
wird nicht mehr nur vom
Krieg beherrscht.
Aber auch der Ort, an
dem man selbst lebt, ändert
die Perspektive. Der Durch-
schnitts-Seeländer oder Be-
wohner der Großstädte im
Westen der Niederlande
denkt anders über „den
Deutschen“ als der durch-
schnittliche Bewohner
Twentes. Jahrelang habe ich
in Goes in Seeland gewohnt,
wo die Bewohner geradezu
schizophrene Vorstellungen
über Deutsche hatten. Auf
der einen Seite achteten sie
darauf, besonders freund-
lich zu den deutschen Tou-
risten zu sein, die in jedem
Sommer an die Küste reis-
ten. Es hieß, dass die deut-
schen Urlauber es verdien-
ten, mit Samthandschuhen
angefasst zu werden. Es sei-
en schließlich hart arbeiten-
de Menschen, die sich ihren
Urlaub vom Munde abge-
spart hätten, um wenigs-
tens ein Mal in ihrem Leben
das Meer zu sehen. Sie kä-
men direkt aus dem Ruhr-
gebiet, wo die Sonne nie-
mals scheine. Sie hätten
den Dreck der Kohlenminen
selbst dann noch hinter den
Ohren, wenn sie ihre Hand-
tücher am Strand ausbreite-
ten.
Die Zuvorkommenheit
war natürlich nicht frei von
einer gesunden Dosis Ei-
gennutz: Tourismus bringt
Geld in die Kasse. Die
Freundlichkeit war zwei-
schneidig.
Die andere Seite lernte
ich kennen, als ich ankün-
digte, nach Hengelo umzu-
ziehen. „Nach Hengelo?
Twente?“, fragten Seelän-
der, die es nur gut mit mir
meinten. „Bis du verrückt
geworden? Da wohnen
doch nur halbe Deutsche!“
Die Leute, die das sag-
ten, wussten nicht, dass ich
dort, in Hengelo, aufge-
wachsen bin. Dass dort
meine Wurzeln lagen. Ich
ein halber Deutscher? So
hatte ich das noch nie be-
trachtet. Ach ja, warum
auch nicht. Denn es ist
wahr: Wir sind uns
schrecklich ähnlich, wir
Deutschen und Niederlän-
der in der Grenzregion.
Man braucht sie sich doch
nur anzuschauen, die
Deutschen auf Schnäpp-
chenjagd in Enschede und
bei IKEA in Hengelo. Sind
das nicht halbe Niederlän-
der? Ja, es sind Niederlän-
der so wie ich. Menschen,
die wahrscheinlich genauso
schöne Erinnerungen an
das Nachkriegs-Deutsch-
land ihrer Kinderjahre ha-
ben wie ich auch.
Ein halber DeutscherErinnerungen an spannende Rittergeschichten und den Maiglöckchen-Wald
Marten de Jongh
Seit 2001 verkehren in der Euregio, deren größtes Gebiet auf deutscher Seite der Grenzeliegt (siehe Karte), wieder Züge zwischen Enschede und dem Münsterland.
sonnabends 2800 und sonn-
tags rund 1000. Nach der
Wiederaufnahme des Zug-
verkehrs stieg das Fahrgast-
aufkommen zwischen En-
schede und Münster sprung-
haft an. Zum Erfolg trugen
offenbar auch die modernen
Züge des Typs Talent bei.
Für Tim Enge aus Epe ist
die Zugverbindung ideal.
Der Jugendliche fährt oft
nach Enschede, um dort mit
seinen Kumpels BTX-Rad zu
fahren oder zu skaten. „Ich
hab mir extra eine Fun-Kart
gekauft“, sagt er. Das macht
das Hin- und Herreisen
günstiger. „Nur fürs Fahrrad
müssen die sich noch was
einfallen lassen. Die Mitnah-
me kostet zu viel.“
Dutzende in Gronau woh-
nende Studenten der Saxi-
on-Hogeschool nutzen den
Zug täglich. Die Fahrt dau-
ert schließlich nur elf Minu-
ten. „Mein Fahrrad kann ich
in Gronau am Bahnhof ste-
hen lassen, und in Enschede
laufe ich fünf Minuten bis
zur Saxion“, erzählt eine Stu-
dentin.
Zum ersten Mal ist Bert
Jan Holtenbrink aus Losser
mit Frau und dem sechs
Wochen alten Sohn im Zug
nach Gronau unterwegs. Er
will seine gerade geborene
Nichte im Gronauer Kran-
kenhaus besuchen. „Von
Losser aus lohnt es sich ei-
gentlich nicht, den Zug zu
nehmen. Aber wegen einer
Handverletzung darf ich
nicht Auto fahren.“ Dass er
am Gronauer Bahnhof den
Kinderwagen Treppen he-
runter und wieder herauf
schleppen muss, gefällt ihm
nicht. Doch an dem Prob-
lem arbeiten Bahn und
Stadt gerade. In wenigen
Monaten wird der Bahnhof
behinderten- und damit
auch kinderwagengerecht
sein.
Zwei Tage später: Bärbel
Kreutz aus Lünen will mit
ihrem Mann und zwei
Freunden einen schönen
Sonnabend in Enschede er-
leben. „Sonst sind wir mit
dem Auto gefahren, aber zu
viert für 33 Euro hin und zu-
rück, ohne Parkplatzsuche –
das ist doch viel günstiger.“
Beatrix Wesendrup aus
Berlin besucht ihre Schwes-
ter in Lüdinghausen. Ge-
meinsam machen sie einen
Ausflug nach Enschede, um
die Jacobuskirche und die
Synagoge zu besuchen. „Mir
gefällt vor allem, wie unkon-
ventionell und hilfsbereit
die Angestellten mit den
Fahrgästen umgehen“, sagt
die Lüdinghausenerin. „Gibt
es Probleme beim Fahrkar-
tenautomaten, sagen die:
,Steigen Sie erst mal ein.
Das regeln wir schon‘.“ Und:
„Dass die Ansagen zweispra-
chig sind, das gefällt mir.
Das gibt der Fahrt einen in-
ternationalen Touch.“
36 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
Ab dem 1. April 2008 sind wir in unseren neuen,erweiterten Praxisräumen im Gesundheitszentrum
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Möllenweg 26
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Die Stärken und Schwächen
in Bezug auf das Thema
Verkehr hat die Euregio ständig
im Blick. Die Autobahnverbin-
dungen schätzt sie bis auf ver-
einzelte Lücken und Engpässe
im Autobahn- und Bundesstra-
ßennetz als sehr gut ein. Auch
das regionale Straßennetz wird
insgesamt als ausgewogen und
leistungsfähig beschrieben.
Nachholbedarf gibt es beim
grenzübergreifenden Schienen-
verkehr. Bis auf die DB-Verbin-
dungen zwischen Bad Bent-
heim und Hengelo (Strecke
Berlin-Amsterdam) gibt es nur
die regionale Linie Gronau-En-
schede. Unterschiedliche
Strom- und Bahnsicherungssys-
teme erschweren Fortschritte.
Die Anbindungen ans Was-
serstraßennetz gelten in der
Euregio als gut. Manko: Es exis-
tiert keine leistungsfähige Ver-
bindung zwischen Twenteka-
naal und Mittellandkanal.
Mit dem Flughafen Münster-
Osnabrück verfügt die Euregio
über einen internationalen Ver-
kehrsflughafen. Die Anbindung
an die Flughäfen in Amsterdam
und Düsseldorf gelten ebenfalls
als gut.
Der Verkehr rolltGutes Fernstraßennetz in der Euregio
Das Fernstraßennetz (hier die A 30 bei Gildehaus) in der Euregio ist gut.Foto: Werner Westdörp
NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 37
Von Jan Bengevoord
Es dürfte im Jahr 1972
gewesen sein. Viele klei-
nere Grenzübergänge wa-
ren damals vom späten
Abend bis zum frühen Mor-
gen geschlossen. Auch der
Grenzübergang in der Nähe
des Zwillbrocker Venns, das
sich von Vreden aus bis in
die niederländischen Ge-
meinden Winterswijk,
Groenlo und Eibergen er-
streckt. Das heute von vie-
len Menschen besuchte
Gebiet war damals noch
ein Geheimtipp. Ein Eldo-
rado für Naturforscher. Im
Venn brüteten Bartmeisen,
schwarze Seeschwalben
und Rohrweihen. Von
Lachmöwen und Flamin-
gos – heutzutage eine tou-
ristische Attraktion – gab
es damals noch keine Spur.
Wie in vielen anderen Na-
turschutzgebieten an der
Grenze herrschten hier ab-
solute Ruhe und Unbe-
rührtheit der Natur.
Es war an einem Sonn-
tagmorgen, als ich be-
schloss, mich über den ille-
galen Grenzpfad ins Venn
zu begeben. Ich war mit ein
paar Freunden im Naturre-
servat verabredet. Von
Winterswijk aus war es mir
zu weit, bis zum offiziellen
Grenzübergang in Zwill-
brock zu fahren. Auf mei-
nem ersten Moped, der So-
lex von meinem Opa, tu-
ckerte ich an einem Grenz-
stein aus Sandstein vorbei.
Ich wusste, dass sich direkt
dahinter ein tiefes
Schlammloch im Weg be-
fand. Ich schaltete also den
Motor aus und schob mit
der Solex an der Hand
durchs Strauchwerk und an
Schlammtümpeln vorbei.
Klitschnass erreichte ich
den Sandweg, der zur
prächtigen Kirche von
Zwillbrock führt.
„Halt!“ Von allen Seiten
kamen Männer mit auto-
matischen Waffen aus den
Büschen. Bundesgrenz-
schutz mit Schuhcreme im
Gesicht und Eichenzwei-
gen auf dem Barett. „Hinle-
gen!“
Ab und zu durchlebe ich
diese Situation im Traum
noch einmal, und ich sehe
mich bäuchlings auf dem
schlammigen Weg liegen.
Ich wurde durchsucht und
durfte dann wieder aufste-
hen. Noch schlammbedeckt
wurde ich in einem Bus
verhört, der ein Stück ent-
fernt stand. Was ich hier
täte? Vögel beobachten.
Warum ich illegal die Gren-
ze passiert hätte? Weil das
kürzer war. Ob ich Freunde
in Deutschland hätte? Ja
natürlich. Ob ich politisch
aktiv sei? Nein, eigentlich
nicht.
Wie lange ich in dem
Bus gesessen habe, weiß
ich nicht mehr. Es dauerte
auf jeden Fall lange. Mein
ganzes Sündenregister
wurde durchforstet. Meine
Passnummer durchgege-
ben. Und dann wieder Fra-
gen. Sind Sie Bernard Ben-
gevoord? Nein, ich heiße
Jan. Falsche Antwort. Wie-
der folgten Gespräche
übers Feldtelefon. Was ich
hier mache? Mit Freunden
Vögel beobachten. Wo die
Freunde denn seien?
Wahrscheinlich im Venn,
ich hätte sie noch nicht ge-
troffen. Der Offizier schau-
te mich ungläubig an.
Warum, weiß ich bis
heute nicht, aber auf ein-
mal durfte ich gehen. Ich
wurde bis zum Grenzstein
begleitet. Dort habe ich ei-
ne Zeit lang zitternd ge-
standen, dann die Solex
wieder gestartet und bin
nach Hause gefahren.
Erst viel später wurde
mir bewusst, dass in den
Wochen ganz Deutschland
wegen terroristischer An-
schläge in Aufruhr war. Ich
dagegen hatte von Baader
oder Meinhof zu dem Zeit-
punkt noch nichts gehört.
Inzwischen fahre ich seit
vielen Jahren über den offi-
ziell zum „grünen Grenz-
übergang“ ernannten Patt
nach Zwillbrock. Auf ein
Bier in Ludwigs Kneipe, ins
Restaurant Kloppendiek
oder zum Sonntagnachmit-
tagskonzert in der Kirche.
Ganze Volksstämme sind
mittlerweile auf der „illega-
len Route“ unterwegs, bei
schönem Wetter ist es re-
gelrecht voll.
Als ich meinen Kindern
erzählte, dass man mir mal
kurz hinterm Grenzpfahl
Handschellen angelegt hat,
glaubten sie mir das nicht:
„Vater erzählt mal wieder
Märchen . . .“
Halt!Mit der Solex schnurstracks in die Terroristenfahndung im Zwillbrocker Venn
Jan Bengevoord
Der Euregio
herzlichenGlückwunsch
zum
50.Geburtstag !
38 NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET
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MÜNSTER
Rund 1,6 Millionen
Fluggäste zählte der
Flughafen Münster/Osna-
brück (FMO) im vergange-
nen Jahr. Zehn Prozent
von ihnen, also 160 2000,
stammten aus den Nieder-
landen. „Das ist schon
ganz beachtlich“, findet
Andres Heinemann, Pres-
sesprecher des FMO. „Vor
allem, wenn man die Ent-
wicklung betrachtet: Vor
zehn Jahren kamen nur
drei Prozent der Reisen-
den aus dem Nachbar-
land.“
In allen Bereichen, so-
wohl dem der Geschäfts-
reisenden als auch bei der
Städte- und Pauschaltou-
ristik, steigt der Anteil der
niederländischen Nutzer
in den vergangenen Jah-
ren an. „Und sie fühlen
sich offensichtlich wohl
bei uns“, so Heinemann.
Eine niederländische Web-
site und Broschüren, nie-
derländische Durchsagen
und Beschriftungen wo es
geht und sinnvoll ist – in
Greven ist man bemüht,
dem Anspruch als Flugha-
fen für die gesamte Eure-
gio gerecht zu werden.
Der FMO ist schließlich
keine 50 Kilometer von
der Grenze entfernt. Für
einen großen Teil der nie-
derländischen Euregio-Be-
wohner ist er schneller
und besser zu erreichen
als der Flughafen Schiphol
bei Amsterdam. Auch bei
den niederländischen Rei-
severanstaltern setze sich
dieses Bewusstsein immer
stärker durch, sagt Heine-
mann.
Was, wenn der Flugbe-
trieb am Flughafen Twen-
te wieder aufgenommen
werden sollte? Einer Nut-
zung des Enscheder Air-
ports als Start- und Lan-
deplatz für Geschäftsflug-
zeuge stehe nichts entge-
gen. Doch: „Zwei große
Flughäfen in der Euregio
wären zu viel“, ist sich
Heinemann sicher. „Wir
stehen mit den Verant-
wortlichen in Enschede in
Kontakt und informieren
sie offen und ehrlich.“
FMO zählt immer mehr NiederländerIm vergangenen Jahr bereits 160 000 Fluggäste von jenseits der Grenze
Der Flughafen Münster/Osnabrück (FMO) ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für das gesamte Gebiet der Euregio undselbst darüber hinaus. Auch immer mehr Niederländer nutzen den FMO für Geschäfts- oder Urlaubsflüge.
Auftritte von zwei deutschen Künstlern:Auftritte von zwei deutschen Künstlern: Olaf BergerOlaf Berger und und Gaby BaginskyGaby Baginsky.
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NACHBARN ZUSAMMENLEBEN IM GRENZGEBIET 39
Von Julia Henkel
Die Erinnerung daran ist
noch sehr lebendig: an
die Ferien in Egmond aan
Zee, festgehalten in einigen
Schnappschüssen im Foto-
album. Ich bin ungefähr
drei Jahre alt und stehe in
meiner Lederhose mitten
in einer holländischen
Landschaft, eine Wind-
mühle stolz im Hinter-
grund. Es ist die Geschichte
von dem weichen Weißbrot
mit Streuseln drauf in der
Jugendherberge, wo wir
mit allen Kindern der Kin-
derkrippe ein paar Tage Fe-
rien machten. In den 70er-
Jahren, als unsere Eltern
auf dem Alternativ- und
Gesundheitstrip waren. Zu
Hause in Deutschland wäre
auf keinen Fall Schoko-
creme auf den Tisch ge-
kommen. In Holland dage-
gen schon. Mit skeptischem
Blick sahen sie zu, wie wir
uns die Fruchtstreusel
schmecken ließen.
Jahre später verguckte
ich mich dann richtig in
Holland. Während einer
Radtour mit einer Freundin
begann ich dieses kleine,
nasskalte Land zu lieben.
Es war da so schön, die
Menschen so freundlich
und vor allem diese witzige
Sprache ließ mich nicht
mehr los. Ein Fahrrad –
„fiets“–, das brummte –
„brommen“–, war ganz ein-
fach eine „bromfiets“. Dass
wir da nicht selbst schon
längst drauf gekommen
waren!
Nach meinem Studium
bekam ich einen Job bei ei-
ner Zeitung, in den Nieder-
landen. Ich war überglück-
lich. So hatte ich mir mein
Leben vorgestellt. Auf der
Schule hatte man es uns
schließlich eingeimpft:
lernt Sprachen, seht euch
die Welt an, nutzt eure
Chancen! Die Gelegenheit
war da, jetzt, da die Gren-
zen wirklich offen waren.
Einer Frau von Welt war es
doch einerlei, wo in Europa
sie wohnte und arbeitete!
Es wurde also Holland.
Aber es war nicht ganz so,
wie ich mir das gedacht
hatte. War das das schöne,
nette, tolerante Land? Ich
begann zu zweifeln. Hier
war ich auf einmal nicht
mehr die Frau von Welt,
sondern die Deutsche. Und
das ließen sie mich durch-
aus spüren. Ich musste eine
ganze Menge erklären. Im
Grunde genommen aber
auch wieder nicht. Denn an
ernsthaften Gesprächen
zeigte kaum jemand Inte-
resse. Aber ihre Witze, die
durfte ich mir anhören: Wo
denn im Krieg ihr Fahrrad
geblieben sei. Über Sand-
burgen. Und über Prinz
Bernhard. Wohl hundert
Mal. Und ich musste auch
noch mitlachen, denn, tja,
Deutsche und Humor – das
war auch so‘ne Sache. Ganz
behutsam eine kritische Be-
merkung über die Nieder-
lande machen? Nichts da!
Ich war zwar willkommen,
hatte aber meinen Mund zu
halten. Meinen großen,
deutschen Mund auf jeden
Fall.
Ups! So hatte ich mir
mein Leben in Europa
nicht vorgestellt. Hatte ich
mir dafür ein paar Jahre
Zeit genommen, mir alle
Spitzfindigkeiten der nie-
derländischen Sprache an-
zueignen, mich in die
schwierige Geschichte der
beiden Länder vertieft und
mit offenem Herzen den
Schritt über die Grenze ge-
wagt?
Glücklicherweise begeg-
nete ich auch anderen
Menschen. Die es wagten,
über ihre Nasenspitze hi-
nauszublicken. Die sich ge-
nau wie ich vor allem als
Europäer oder Weltbürger
fühlten, mehr als nur als
Niederländer oder Deut-
scher.
Einige Jahre später ist
nun die naive Ernüchte-
rung in einen entspannten
Realitätssinn umgeschla-
gen. Ich bin in Europa an-
gekommen, wohne in
Deutschland, arbeite in den
Niederlanden, habe einen
deutschen Pass, einen nie-
derländischen Mann und
ein französisches Auto. Ich
spreche Niederländisch mit
einem deutschen und
Deutsch mit einem leicht
niederländischen Akzent.
Und ich esse Streusel,
wann immer ich will, auf
einem leckeren, dunklen
deutschen Butterbrot.
Im Fotoalbum meines
Mannes befindet sich eben-
falls ein über 30 Jahre alter
Schnappschuss. Er lacht
fröhlich in die Kamera, sei-
ne kurzen Beine stecken in
einer Lederhose, im Hinter-
grund ein stolzer Berg. In
den Ferien bei Freunden in
Deutschland bekam der Be-
such aus den Niederlanden
regelmäßig Kaffee mit ei-
nem großen Stück Sahne-
torte aufgetischt. Die Erin-
nerung daran ist noch sehr
lebendig.
LederhosenUnd Streusel auf weichem holländischen Weißbrot
Julia Henkel, deutsche Journalistin in Diensten der nieder-ländischen Tageszeitung „De Twentsche Courant Tuban-tia“, erinnert sich gern an die Ferien in Egmond an Zee, wosie als Dreijährige in Lederhose vor einer Mühle posierte.
Julia Henkel
Historische Steine markieren in der Euregio die Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden (links). Das Bild rechts zeigt das Euregio-Sekretariatin Gronau.
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