Nachhaltigkeit stellt neue Anforderungen an die Forschung

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Editorial Wege zur Nachhaltigkeit Editorial: Wege zur Nachhaltigkeit Enquete-Kommission ,,Schutz des Menschen und der Umwelt" Nachhaltigkeit die Forschung stellt neue Anforderungen an An deutschen Hochschulen, in vielen wissenschaftlichen Instituten und in anwendungsorientierten Forschungseinrichtungen wird zur Nachhal- tigkeit geforscht. In zahlreichen Einzelprojekten wird Grundlagenwissen zusammengetragen oder die Umsetzung konkreter Aktivit~iten wissen- schaftlich begleitet. Alle diese Einzelanstrengungen sind sinnvoll und notwendig, aber sie mtinden nicht in einem organisierten Austausch tiber gangbare Wege zur Nachhaltigkeit. Wenn die Enquete-Kommission ,,Schutz des Menschen und der Umwelt" den ihr vom Deutschen Bundestag erteilten Auftrag erfiillen will, fiir eine nachhaltig zukunftsvertr/igli- che Entwicklung Ziele aufzustellen, dann ist sie darauf an- gewiesen, bereits vorhandenes Wissen zu b0ndeln und in ihre Zielformulierungen einzubeziehen. Aufgrund ihrer in- terdisziplin/iren Zusammensetzung ist die Enquete-Kom- mission prinzipiell dazu pr/idestiniert, den Zugang zu ent- sprechenden Wissensquellen zu gew~ihrleisten. Dennoch st6f~t sie bei den Bemiihungen um wissenschaftliche Unter- stiitzung und Untermauerung ihrer Empfehlungen auf ein grundlegendes Problem: Zwar wird in Deutschland vielerorts zum Thema Nachhal- tigkeit geforscht, oft werden die Einzelaktivit~iten jedoch gar nicht im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitskonzep- ten gesehen. Hinzu kommt, daft offensichtlich die Kommu- nikation zwischen einzelnen Forschungsdisziplinen bislang als ausgesprochen mager bezeichnet werden muff. Definition von Umweltqualit/its- und Umwelthandlungszielen Im vergangenen halben Jahr hat die Kommission begonnen Umweltqualit/its- und Umwelthandlungsziele zu erarbei- ten. Zun/ichst ging der Formulierung konkreter Ziele fiir den Problembereich ,,B6den" ein Abstimmungsprozefl iiber die Definition dieser Begriffe voraus: Grundlage fiir Umweltqualitdtsziele sind der naturwissen- schaftliche Erkenntnisstand fiber den derzeitigen Zustand bzw. absehbare Ver~inderungen der Umwelt und das Wis- sen um qualitative und, soweit verfiigbar, quantitative Ursachen-Wirkungs-Zusammenh~inge. Die naturwissen- schaftlichen Erkenntnisse sind die Voraussetzungen f~ir die Wahrnehmung eines Problems. Umweltqualit~itsziele beschreiben angestrebte Zust~inde oder Eigenschaften der Umwelt. Sie beziehen sich auf Sy- sterne, Medien oder Objekte. Ausgehend vom Leitbild der nachhaltig zukunftsvertr/iglichen Entwicklung, orientieren sich die Umweltqualit~itsziele an den vier grundlegenden Regeln zum Erhalt der natiirlichen Funktionsf/ihigkeit 1. Fiir die Erhaltung oder die Ver/inderung von Umwelteigen- schaften oder -zust/inden auf lokaler, regionaler oder glo- baler Ebene werden Sollwerte aufgestellt. Werte nicht im Sinne harter Zahlen, sondern als grunds~itzliche Orientie- rungslinien. Beispiel: ,,Sorgsamer Umgang mit B6den als endliche Ressource --) Reduzierung des Fl~ichenver- brauchs." Allerdings sind Umweltqualit/itsziele nicht ausschliet~lich naturwissenschaftlich abzuleiten. Bereits in die ,,Wunsch- vorstellung", was in unserer Umwelt erhahen bzw. ver~in- dert werden soil, flieigen gesellschaftliche Werte ein. Aus- gabe der Naturwissenschaft ist es in erster Linie, for die Entwicklung dieser gesellschaftlichen Wertvorstellungen eine begriindete Orientierung zu liefern. (Daft seit l~ingerem berechtigterweise dari~ber diskutiert wird, ob die Natur- wissenschaft als solche ,,wertfrei" sein kann, sei hier nur am Rande angemerkt. Auch sie wird von Menschen betrie- ben, die ihre eigenen Wertvorstellungen nicht vollkommen beiseite legen k6nnen.) Der Formulierung von Umweltqualit~itszielen schliefgt sich die Priifung der Handlungsoptionen an, die sich schliefllich zur Formulierung von Umwelthandlungszielen verdichtet. Umwelthandlungsziele geben die Schritte an, die notwen- dig sind, um die in Umweltqualit/itszielen beschriebenen Zust~inde oder Eigenschaften der Umwelt zu erreichen. Sie enthalten quantifizierte Vorgaben fi~r notwendige Entla- stungen und miissen meflbar oder anderweitig iiberpriifbar sein. Um bei obigem Beispiel zu bleiben, lautet das entspre- chende Umwelthandlungsziel for die Reduktion des F1/ichenverbrauchs: ,,Entkopplung des Fl~ichenverbrauchs yon Wirtschafts- und Bev61kerungswachstum sowie Re- duktion des Fl~ichenverbrauchs auf maximal 10 % des der- zeitigen F1/ichenverbrauchs bis zum Jahre 2010." Neben dem anzustrebenden Zahlenwert ist vor allem die Angabe 1 UWSF 1196, Editorial, S. 1 UWSF - Z. Umweltchem. Okotox. 8 (6) 301-302 (1996) © ecomed verlagsgesellschaft AG & Co.KG Landsberg 301

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Editorial Wege zur Nachhaltigkeit

Editorial: Wege zur Nachhaltigkeit

Enquete-Kommission ,,Schutz des Menschen und der Umwelt"

Nachhaltigkeit die Forschung

stellt neue Anforderungen an

An deutschen Hochschulen, in vielen wissenschaftlichen Instituten und in anwendungsorientierten Forschungseinrichtungen wird zur Nachhal- tigkeit geforscht. In zahlreichen Einzelprojekten wird Grundlagenwissen zusammengetragen oder die Umsetzung konkreter Aktivit~iten wissen- schaftlich begleitet. Alle diese Einzelanstrengungen sind sinnvoll und notwendig, aber sie mtinden nicht in einem organisierten Austausch tiber gangbare Wege zur Nachhaltigkeit.

Wenn die Enquete-Kommission ,,Schutz des Menschen und der Umwelt" den ihr vom Deutschen Bundestag erteilten Auftrag erfiillen will, fiir eine nachhaltig zukunftsvertr/igli- che Entwicklung Ziele aufzustellen, dann ist sie darauf an- gewiesen, bereits vorhandenes Wissen zu b0ndeln und in ihre Zielformulierungen einzubeziehen. Aufgrund ihrer in- terdisziplin/iren Zusammensetzung ist die Enquete-Kom- mission prinzipiell dazu pr/idestiniert, den Zugang zu ent- sprechenden Wissensquellen zu gew~ihrleisten. Dennoch st6f~t sie bei den Bemiihungen um wissenschaftliche Unter- stiitzung und Untermauerung ihrer Empfehlungen auf ein grundlegendes Problem: Zwar wird in Deutschland vielerorts zum Thema Nachhal- tigkeit geforscht, oft werden die Einzelaktivit~iten jedoch gar nicht im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitskonzep- ten gesehen. Hinzu kommt, daft offensichtlich die Kommu- nikation zwischen einzelnen Forschungsdisziplinen bislang als ausgesprochen mager bezeichnet werden muff.

Definition von Umweltqualit/its- und Umwelthandlungszielen

Im vergangenen halben Jahr hat die Kommission begonnen Umweltqualit/its- und Umwelthandlungsziele zu erarbei- ten. Zun/ichst ging der Formulierung konkreter Ziele fiir den Problembereich ,,B6den" ein Abstimmungsprozefl iiber die Definition dieser Begriffe voraus:

Grundlage fiir Umweltqualitdtsziele sind der naturwissen- schaftliche Erkenntnisstand fiber den derzeitigen Zustand bzw. absehbare Ver~inderungen der Umwelt und das Wis- sen um qualitative und, soweit verfiigbar, quantitative Ursachen-Wirkungs-Zusammenh~inge. Die naturwissen- schaftlichen Erkenntnisse sind die Voraussetzungen f~ir die Wahrnehmung eines Problems.

Umweltqualit~itsziele beschreiben angestrebte Zust~inde oder Eigenschaften der Umwelt. Sie beziehen sich auf Sy- sterne, Medien oder Objekte. Ausgehend vom Leitbild der nachhaltig zukunftsvertr/iglichen Entwicklung, orientieren sich die Umweltqualit~itsziele an den vier grundlegenden

Regeln zum Erhalt der natiirlichen Funktionsf/ihigkeit 1. Fiir die Erhaltung oder die Ver/inderung von Umwelteigen- schaften oder -zust/inden auf lokaler, regionaler oder glo- baler Ebene werden Sollwerte aufgestellt. Werte nicht im Sinne harter Zahlen, sondern als grunds~itzliche Orientie- rungslinien. Beispiel: ,,Sorgsamer Umgang mit B6den als endliche Ressource --) Reduzierung des Fl~ichenver- brauchs."

Allerdings sind Umweltqualit/itsziele nicht ausschliet~lich naturwissenschaftlich abzuleiten. Bereits in die ,,Wunsch- vorstellung", was in unserer Umwelt erhahen bzw. ver~in- dert werden soil, flieigen gesellschaftliche Werte ein. Aus- gabe der Naturwissenschaft ist es in erster Linie, for die Entwicklung dieser gesellschaftlichen Wertvorstellungen eine begriindete Orientierung zu liefern. (Daft seit l~ingerem berechtigterweise dari~ber diskutiert wird, ob die Natur- wissenschaft als solche ,,wertfrei" sein kann, sei hier nur am Rande angemerkt. Auch sie wird von Menschen betrie- ben, die ihre eigenen Wertvorstellungen nicht vollkommen beiseite legen k6nnen.)

Der Formulierung von Umweltqualit~itszielen schliefgt sich die Priifung der Handlungsoptionen an, die sich schliefllich zur Formulierung von Umwelthandlungszielen verdichtet.

Umwelthandlungsziele geben die Schritte an, die notwen- dig sind, um die in Umweltqualit/itszielen beschriebenen Zust~inde oder Eigenschaften der Umwelt zu erreichen. Sie enthalten quantifizierte Vorgaben fi~r notwendige Entla- stungen und miissen meflbar oder anderweitig iiberpriifbar sein. Um bei obigem Beispiel zu bleiben, lautet das entspre- chende Umwelthandlungsziel for die Reduktion des F1/ichenverbrauchs: ,,Entkopplung des Fl~ichenverbrauchs yon Wirtschafts- und Bev61kerungswachstum sowie Re- duktion des Fl~ichenverbrauchs auf maximal 10 % des der- zeitigen F1/ichenverbrauchs bis zum Jahre 2010." Neben dem anzustrebenden Zahlenwert ist vor allem die Angabe

1 UWSF 1196, Editorial, S. 1

UWSF - Z. Umweltchem. Okotox. 8 (6) 301-302 (1996) © ecomed verlagsgesellschaft AG & Co.KG Landsberg

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Wege zur Nachhaltigkeit Editorial

des entsprechenden Zeitraumes von zentraler Bedeutung. Es liegt auf der Hand, daft bei der Formulierung dieser Zeitvorgabe iiberpriift werden muff, welche sozialen und 6konomischen Rahmenbedingungen relevant und welche Nebenwirkungen zu erwarten sind.

N e u e Anforderungen an die Forschung

Unbestritten ist, daft die naturwissenschaftlichen Grundla- genkenntnisse fiber den Zustand, die Belastbarkeit und m6gliche Entlastungen der Umwelt weiterhin unentbehr- lich sind. Allerdings klafft zwischen der naturwissenschaft- lichen Erkenntnis und der Ableitung konkreter Handlungs- optionen eine grof~e Liicke. Die klassische Aufgabenteilung - die Wissenschaft liefert die Daten, die Politik mutg ent- scheiden - ist zwar prinzipiell weiterhin gi~ltig, aber mit der Ver/inderung der Entscheidungszusammenhfinge, die mit einer Politik der Nachhaltigkeit verbunden ist, haben sich auch die Anforderungen an die wissenschaftlichen Grund- lagen politischer Entscheidungen ver~indert.

Es mangelt an zukunftsorientierten konzeptionellen Arbei- ten, die, fiber die Datenerhebung hinaus, die m6glichen Auswirkungen politischer Entscheidungen mit in ihre For- schung einbeziehen. Schon in der vergangenen Legislatur- periode hat die Enquete-Kommission ,,Schutz des Men- schen und der Umwelt" auf die Notwendigkeit eines ent- sprechenden Paradigmenwechsels hingewiesen, der neue Schwerpunkte verankert und bereits vorhandene Ansfitze aktiviert. ,,Zur Ableitung zukunftsvertr/iglicher L6sungen mi~ssen natur- und ingenieurwissenschaftliche im Verbund mit wirtschafts-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Fra- gestellungen untersucht werden. "2

Nach einer kiirzlich erarbeiteten Studie sei zwar in den ver- gangenen Jahren in allen Sektoren der Forschungsland- schaft versucht worden, 6kologische Problemlagen aufzu- greifen; nach wie vor sei jedoch die zu wenig ausgepr~igte interdisziplin/ire Zusammenarbeit zwischen Natur-, Tech- nik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften eine der zen- tralen Schwfichen der Umweltforschung 3.

2 Enquete-Kommission ,,Schutz des Menschen und der Umwelt", 1994, 66f 3 Institut fiir sozial-6kologische Forschung (ISOE), ,,Forschungspolitik fiir eine

nachhaltige Entwicklung", Frankfurt, 1996

Nachhal t igke i t - Ein gesamtgese l l schaft l icher Prozef~

Nachhaltige Entwicklung ist kein von oben zu verordnen- des Rezept. Nachhaltigkeit kann nur unter Beteiligung aller in einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs erreicht werden. Dies erfordert zum einen die Organisation und Anregung des Diskussionsprozesses von politischer Seite, wie dies bei- spielsweise in den Niederlanden oder in der Schweiz im Rahmen der Erstellung eines nationalen Umweltplanes er- folgt ist. Dazu geh6rt aber auch, dafg die Diskursteilnehmer nicht in Lager eingeteilt sind, die geistig - und sprachlich - nicht miteinander kommunizieren k6nnen. Aus oben zitier- ter Studie m6chte ich drei Punkte aufgreifen, die ich in die- sem Zusammenhang fiir wichtig erachte, da sie die grund- legenden Voraussetzungen pointieren. Eine Politik der Nachhaltigkeit erfordert:

• die Obersetzung wissenschaftlichen Wissens in politische Handlungs- und Entscheidungsgrundlagen

• die fJbersetzung gesellschaftlicher Problemwahrneh- mung in wissenschaftliche Fragestellungen und

• , , 3 • den wechselsemgen Wlssenstransfer.

Die Enquete-Kommission selbst unternimmt als interdiszi- pliniires Gremium den Versuch, gemeinsam getragene Ziele zu formulieren. Im M/irz n~ichsten Jahres wird die Kom- mission ihren Zwischenbericht vorlegen. Hierin werden Umweltqualit/its- und Umwelthandlungsziele im ausge- w/ihlten Problembereich ,,B6den" formuliert sein. Diese sollen auf wissenschaftlichen Grundlagen verschiedener Wissenschaftssektoren basieren. An dem konkreten Bei- spielfeld ,Bauen und Wohnen" wird die Umsetzung der Fl~ichenreduktionsziele exemplarisch gepriift werden. Die Kommission wird darum bemiiht sein, die komplexen Zu- sammenh/inge einer Politik der Nachhaltigkeit nachvoll- ziehbar darzustellen. Die dem deutschen Bundestag vonder Kommission vorzulegenden Empfehlungen k6nnen ein Bei- trag zu oben angesprochener ,,Obersetzungsarbeit" sein.

Marion Caspers-Merk, MdB Vorsitzende,

Enquete-Kommission ,,Schutz des Menschen und der Umwelt"

Riickschau Stellungnahmen der Enquete-Kommission ,,Schutz des Menschen und der Umwelt" in UWSF 1996

Editorial: Enquete-Kommission ,,Schutz des Menschen und der Umwelt" berichtet regelmfiflig in der UWSF (Marion CASPERS-MERK, MdB, Vorsitzende) (UWSF 1196, S. 1-2)

Nachhaltigkeitskonzepte in der Wirtschaft - Offentliche Anh6rung am 29./30. April 1996 (UWSF 2/96, S. 119)

Soziale Entwicklungen und Innovationen im Lebensbereich Bauen und Wohnen - Offentliche Anh6rung am 3./4. Juni 1996 (UWSF 3/96, S. 179-180)

Editorial: Auf der Suche nach einer kompatiblen Umweltpolitik - Komplexit~it der Entscheidungsfindung (Norbert RI~r)ER, MdB) (UWSF 4/96, S. 181-182)

Lokale Agenda 21 - Leitbegriff der Nachhahigkeit (UWSF 5/96, S. 399)

302 UWSF - Z. Umweltchem. Okotox. 8 (6) 1996