Napoleon DebakelRusslandfeldzug1812| IwanGontscharow...

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Napoleon Debakel Russlandfeldzug 1812 | Iwan Gontscharow Oblomow | Katrin Seddig Eheroman | Friederike Kretzen Erinnerungen an Woodstock | Ferientipps Kinder- und Jugendbuch | Ronald Dworkin Gerechtigkeit für Igel | Neue Bücher zu China | Porträt Baobab Verlag | Weitere Rezensionen zu Donna Leon, George Soros und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Nr. 6 | 24. Juni 2012

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Nr. 6 | 24. Juni 2012

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Inhalt

24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 3

Belletristik4 Iwan Gontscharow: Oblomow

VonManfred Papst6 Hanna Krall: Rosa Straussenfedern

Von Stefana Sabin7 Katrin Seddig: Eheroman

VonAngelika Overath8 Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der

Birken liebtVon Sandra Leis

9 Friederike Kretzen: Natascha, Véronique undPaulVonAndreas NentwichTurner, Monet, TwomblyVonGerhardMack

10 Zachary Mason: Die verlorenen Bücher derOdysseeVonMartin Zingg

11 E-Krimi des MonatsDonna Leon: Reiches ErbeVonChristine Brand

Kurzkritiken Belletristik11 Virginie Despentes: Apokalypse Baby

Von Regula FreulerWulf Kirsten: Fliehende AnsichtVonManfred PapstJoseph Mitchell: Zwischen den FlüssenVon Regula FreulerJürg Halter, Tanikawa Shuntaro: SprechendesWasserVonManfred Papst

Kinder- und Jugendbuch12 Annette Pehnt: Brennnesselsommer

VonAndrea LüthiGill Lewis: Der Ruf des KulanjangoVonVerenaHoenigTamara Bach: Was vom Sommer übrig istVonChristine KnödlerManfred Theisen: Wake upVonDaniel Ammann

Rafik Schami: Das Herz der PuppeVonHans ten Doornkat

13 Joke van Leeuwen: Augenblick malVon Sabine SütterlinTim Cooke: Wie manmit einem Bindfadendie Welt verändertVonChristine KnödlerAlexandra Maxeiner, Horst Klein: Lexikon derLästigkeitenVonVerenaHoenigAnke Bär:Wilhelms ReiseVonChristineKnödlerRoland Knauer,Kerstin Viering:Wie viel Tiersteckt in dir?VonAndrea Lüthi

Porträt14 «So schön, das muss ein Buch werden»

Besuch beimKinder- und Jugendbuch-Verlag Baobab BooksVonGeneviève Lüscher

Kolumne17 Charles Lewinsky

Das Zitat vonWilhelm Busch

Kurzkritiken Sachbuch17 Steven Cave: Unsterblich. Die Sehnsucht nach

dem ewigen LebenVonKathrinMeier-RustKarl-WilhelmWeeber: Auf einen Wein mitSenecaVonGeneviève LüscherSusanna Schwager: Das halbe LebenVonUrs RauberGottfried Honegger: 34699 Tage gelebtVonUrs Rauber

Sachbuch18 Kai Vogelsang: Geschichte Chinas

Yang Jisheng: Grabstein – MùbeiLoretta Napoleoni: China – der bessereKapitalismusVonHarro von Senger

20 Adam Zamoyski: 1812Günter Müchler: 1813VonKathrinMeier-Rust

21 Hans-Ulrich Doerig: So gewinnt die SchweizVonMarkus SchärRalph Hug: Eine andere Wahl ist möglichVonUrs Rauber

22 Insa Fooken: Puppen – heimlicheMenschenflüstererVon IrmgardMatthesDieter Steiner: Die Universität der WildnisVon Simone Schmid

23 Uwe C. Steiner: Ohrenrausch undGötterstimmenVon Sieglinde Geisel

24 George Soros: Gedanken undLösungsvorschläge zum Finanzchaos in EuropaundAmerikaVon Sebastian BräuerIgor Mukhin: Mein MoskauVonKathrinMeier-Rust

25 Ronald Dworkin: Gerechtigkeit für IgelVonKirsten Voigt

26 Peter Haupt: LandschaftsarchäologieVonGeneviève LüscherDas amerikanische BuchRobert Caro: The Passage of PowerVonAndreasMink

Agenda27 Mathieu Lommen: Das Buch der schönsten

BücherVonManfred PapstBestseller Juni 2012Belletristik und SachbuchAgenda Juli 2012Veranstaltungshinweise

Sie ist Russin aus Aserbaidschan und floh als Kind nach Deutschland.Die 28-jährige Olga Grjasnowa hat mit ihrem Roman-Debüt an derdiesjährigen Leipziger Buchmesse Aufsehen erregt. «Der Russe isteiner, der Birken liebt» gehört zur Art Migrationsliteratur, die nicht imOpferstatus verharrt undMitleid heischt, sondern aufWachheit undAnpassungsfähigkeit setzt. Die autobiografisch gefärbte Geschichte,radikal in der Sache und sprachlich zupackend, «entwickelt einen Sog,der mitreisst», schreibt Rezensentin Sandra Leis (Seite 8).Nach Russland führt auch der neuübersetzte Roman «Oblomow» vonIwan Gontscharow, einMeisterwerk derWeltliteratur (S. 4). Warumnicht den 800-Seiten-Wälzer voller Esprit in den Ferienkoffer packen,um ein paar Tage Leseglück zu geniessen? Exakt im Geburtsmonat vonGontscharow – im Juni 1812 – überquerte Napoleonmit seiner grossenArmee die Grenze zu Russland. Es war der Beginn eines gigantischenFeldzuges, der schliesslich imDesaster der Beresina-Schlacht endete.Eine ausgezeichnete Neuerscheinung schildert das grandios-schreckliche Kriegsabenteuer (S. 20).Diese und vierzig weitere Titel besprechen wir in der vorliegendenAusgabe. Ferientipps finden Sie wie immer auf der Doppelseite Kinder-und Jugendbuch (S. 12). Wir freuen uns auf IhrWiederlesen in derNummer 7 von Ende August.Urs Rauber

ReisenSienachRussland–miteinpaarBüchern

Napoleon(Seite 20).Illustration vonAndré Carrilho

NapoleonDebakel Russlandfeldzug 1812 | Iwan GontscharowOblomow |Katrin Seddig Eheroman |Friederike KretzenErinnerungenanWoodstock |FerientippsKinder- und Jugendbuch | Ronald DworkinGerechtigkeit fürIgel | Neue Bücher zuChina | PorträtBaobab Verlag |Weitere RezensionenzuDonna Leon, George Soros und anderen |Charles LewinskyZitatenlese

Nr. 6 | 24. Juni 2012

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), KathrinMeier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)Ständige MitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, BeatrixMesmer, AndreasMink, Klara Obermüller, Angelika Overath,Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AGVerlagNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 04425811 11, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]

SUSANNEGÖHLICH

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Belletristik

4 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

IwanA. Go

Iwan Gontscharow: Oblomow.Neuübersetzt von Vera Bischitzky. Hanser,München 2012. 840 Seiten, Fr. 49.90.

VonManfred Papst

«Der Handelnde ist immer gewissenlos;es hat niemand Gewissen als der Be-trachtende», heisst es in Goethes «Ma-ximen und Reflexionen». Der Satz lässtsich exakt auf Iwan Gontscharows Hel-den Ilja Iljitsch Oblomow anwenden.Dieser tut sein Leben lang lieber garnichts, als etwas Falsches zu tun.

Oblomow zählt zu jenen Figuren derWeltliteratur, die längst aus ihren Bü-chern herausspaziert sind und als Ar-chetypen menschlichen Verhaltens un-sere Phantasie bevölkern. In zahllosenVarianten und Adaptionen tritt er unsentgegen. Er steht für den Typus des trä-gen Menschen, der sich zu nichts ent-schliessen kann und damit nicht nur diewohlmeinenden Freunde, sondern auchseine weltweite Leserschaft zur Ver-zweiflung bringt.

Zu Beginn des Romans ist er einMann von dreissig Jahren, der seineTage in Sankt Petersburg verbringt. Als

Gutsbesitzer lebt er von den Abgaben,die ihm aus einem entlegenen Dorf mit300 Leibeigenen zufliessen. Er könntediese Einkünfte vervielfachen, wenn ersich um das Gut kümmern würde, dochdas Reisen liegt ihm so wenig wie dasNachrechnen. Lieber liegt er tagelangauf dem Diwan, liest ein bisschen, döst,trinkt Tee oder Wein, empfängt allerleiTaugenichtse aus seinem Bekannten-kreis, versucht vergeblich, seinenwider-spenstigen und betrügerischen DienerSachar, mit dem er ausufernde Diskussi-onen führt, an seine Pflichten zu erin-nern. Er fürchtet sich vor jeder Aktivi-tät, jedem Entschluss, jedem erstenSchritt: Sicherer ist es alleweil, garnichts zu tun und den zunehmend löch-rigen Morgenmantel auch nachmittagsnicht abzulegen.

Vielstimmiger RomanZwar hat auch Oblomow einmal voneinem anderen Leben geträumt: VonKarriere, reicher Heirat, standesgemäs-ser Familie, künstlerischem Zeitver-treib. Zwei Jahre lang ist er als Beamterbrav in die Verwaltung gegangen. Dochrasch hat er die Lust am Gerangel in derstädtischen Gesellschaft verloren: anden Intrigen, der Heuchelei, den Zwän-gen der Etikette, dem Kleinkrieg um Ge-winne und Privilegien im Russland kurzvor demKrimkrieg, in dem das alte stän-dische System allmählich vom Gründer-zeitkapitalismus infiltriert wird. Er ziehtsich lieber zurück und hängt seinenTräumereien nach.

So könnte es seinethalben immerwei-tergehen. Doch Ungemach meldet sichvon verschiedenen Seiten. Oblomowsoll seine Stadtwohnung räumen, weilder Besitzer für seinen frisch verheirate-ten Sohn Eigenbedarf anmeldet. Zudemsetzt ihm sein treuer deutschstämmigerFreund Andrej Stolz, ein tüchtiger undaufrechter Mann, unentwegt zu, demSchlendrian Lebewohl zu sagen und inein erwachsenes, verantwortliches Le-ben zu finden. Oblomow sieht alles ein,fasst gute Vorsätze, kann sich aber dochnicht aufraffen. Hilft vielleicht die Liebeihm aus seiner Lethargie heraus? Langescheint es so. Er verguckt sich in die

schöne Olga, die so betörend Bellinis«Casta Diva» singt, sucht ihr zu gefallen,geht mit ihr in Gesellschaft, führt mit ihrendlose Gespräche über die Liebe unddas wahre Leben, schreibt ihr Briefe,sehnt sich nach ihr. Dochwenn es darumgeht, dass er aktiv würde, etwa auf sei-nem Gut nach dem Rechten sähe unddie für eine gemeinsame Zukunft not-wendigen Papiere besorgte, schiebt erwieder alles vor sich her und von sichweg. Derweilen wird er von falschenFreunden ausgenommen wie eineWeih-nachtsgans, tut nichts dagegen, zieht inein bescheidenes Logis bei einer Witweam Stadtrand, und es kommt, wie eskommen muss: Der zielstrebige Andrejund die bezaubernde Olga werden einPaar, und Oblomow versinkt vollends insich selbst.

Mit «Oblomow», dem mittleren sei-ner drei grossen Romane, ist Gontscha-row vieles auf einmal gelungen. Erzeichnet das Psychogramm einer Figur,die uns nicht mehr loslässt, und stellt siein den Kontext einer Zeit, die scheinbarstillsteht, in der sich die russische Ge-sellschaft aber entscheidend wandelt.Man kannOblomow als Individuum ver-stehen, aber auch als Allegorie der alten,erstarrten Adelsschicht.

Das Buch wartet mit einer überwälti-genden Polyphonie der Stimmen auf.Figuren- und Milieuzeichnung überzeu-gen. Viele Dialoge, besonders die derHauptfigur mit ihrem Diener, sind vonabgründigem Humor; sie weisen auf dieCommedia dell’arte zurück und schonauf Beckett voraus. Andere Gespräche,so die des verliebten Oblomowmit Olga,sind von einem psychologischen Raffi-nement, das uns verblüffend modernanmutet. Ist dieser Roman wirklichschon gut 150 Jahre alt?, fragen wir unsein ums andere Mal – auch deshalb, weilGontscharow alles andere ist als ein ge-mächlicher, behäbiger Autor. Er variiertdie Rhythmen seines Erzählens virtuos.Ein Drittel des Buchs spielt an einemeinzigen Tag, und auf Seite 143 findenwir den Satz: «Einer der klaren, bewuss-ten Augenblicke in Oblomows Lebenwar angebrochen.» Der «Anbruch einesAugenblicks» als Zeiteinheit: Virtuoser

Klassiker IwanGontscharows «Oblomow» ist ein Jahrhundertwerk. In der neuenÜbersetzungvonVera Bischitzky überzeugt esmehr denn je – sowohl durch seinenWitzwie durch seineTiefe

ImKampfzwischenTrägheit undLiebe

Iwan Alexandrowitsch Gontscharow(1812–1891) zählt zu den bedeutendstenrussischen Schriftstellern des 19. Jahr-hunderts. Im Zentrum seines Werksstehen die Romane «Eine einfache Ge-schichte» (1847), «Oblomow» (1859)und «Die Schlucht» (1869). Sie schilderndie russische Gesellschaft imWiderstreitvon altem Adel und aufstrebendemUnternehmertum. Gontscharow wurde ineine wohlhabende, geadelte Familie vonGetreidehändlern hineingeboren, stu-dierte in Moskau und arbeitete dreissigJahre lang in Sankt Petersburg alszunehmend einflussreicher Beamter(Zensor, Leiter der Pressebehörde).1852 bis 1855 bereiste er als Sekretärdes Admirals Putjatin England, Afrikaund Japan.

Autor undBeamter

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24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 5

A. Gontscharow (1812–1891), hier auf einemPorträt von 1886, schriebmit «Oblomow» einenWeltbestseller.

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kann man die Dauer des Erzählens nichtdehnen. Umgekehrt versteht sich Gont-scharow aber auch aufs Raffen: Die Bei-läufigkeit, mit der er auf Seite 734 mit-teilt, sein Held liege inzwischen übri-gens auf dem Friedhof, ist eine Antikli-max sondergleichen.

Entscheidend ist aber noch etwas an-deres: Oblomow ist kein Stereotyp, son-dern eine Figur, die sich entwickelt, undzwar ganz ähnlich wie der Don Quijotevon Cervantes. Beide werden uns alslächerliche Figuren vorgestellt, und inmancher Hinsicht sind sie das auch.Doch dann gewinnen sie an Würde,Ernst, Bedeutung. Sie werden vonkomischen zu tragischen Gestalten. DonQuijote wird mit seinem verqueren anti-quierten Ritter-Weltbild der Einzige inseinem Umfeld, der moralisch verant-wortungsvoll handelt.

Und Oblomow? Gewiss, er ist faul. Erist ein Parasit der Feudalgesellschaft,der Gott dafür dankt, dass er noch nieim Leben einen Strumpf selber anziehenmusste, und für den es selbstverständ-lich ist, dass ihm zu jeder Stunde dieerlesensten Köstlichkeiten aufgetischtwerden. Einer, der nur nimmt und nichtsgibt, könnten wir denken. Ein verwöhn-tes Kind. Aber so einfach ist es nicht.Oblomow ist eine verlorene, aber aucheine reine Seele. Er ist ohne Falsch. Sei-nen Mitmenschen begegnet er mit Res-pekt. Die Nachsicht, auf die er angewie-sen ist, übt er auch gegenüber anderen.Er erträgt die Marotten seines Dienersund später seinerWirtsleute mit Engels-geduld. Im Lauf des Romans treibt eruns mit seiner Unentschlossenheit oftzumWahnsinn, aber er wächst uns auchans Herz. Er zeigt uns mit sanfter Hart-näckigkeit, dass Effizienz nicht alles ist.Man kann ihn durchaus auch als Kritikerunserer modernen Leistungsgesell-schaft verstehen.

Meisterwerk in neuen Farben«Oblomow» erschien 1859 – geschlage-ne zehn Jahre nach dem Vorabdruck desberühmten neunten Kapitels «Oblo-mows Traum» – und wurde sofort eindurchschlagender Erfolg, auch interna-tional. Nicht weniger als achtMal wurdedas Werk bisher ins Deutsche übertra-gen. Die jüngste Übersetzung stammtvon Vera Bischitzky, die uns 2010 schonmir ihrer Neuübertragung von Gogols«Toten Seelen» beglückt hat. Ihre Fas-sung liest sich leicht und fast ohne Wi-derstände. Wir stehen einem sorgsamrestaurierten Gemälde gegenüber. DieSprache lebt und atmet. Die ausführli-chen Anmerkungen sind hilfreich. Scha-de nur, dass Vera Bischitzky glaubt, beiheiklen Stellen die Lösungsvorschlägeihrer Vorgänger herabsetzen zu müssen.Lob überlässt man besser anderen. Dochdiese kleinen Eitelkeiten können die Le-sefreude kaum trüben. Denn Gontscha-rows Meisterwerk begegnet uns hier inschlanker, ranker Gestalt, in frischenFarben und mit perlendem Esprit. DassTolstoi dieses Buch geliebt hat, verwun-dert uns nicht. Was Leseglück ist, überdem man alle Zeit vergisst: Hier erfährtman es wieder einmal aufs Neue. ●

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Belletristik

6 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

Hanna Krall: Rosa Straussenfedern.Ausdem Polnischen von BernhardHartmann. Neue Kritik, Frankfurt a. M.2012. 208 Seiten, Fr. 27.90.

Von Stefana Sabin

Da sind Notizen, die zur Alltagskommu-nikation in der Familie gehörten; Auszü-ge aus Briefen, die Freunde geschriebenhaben, oder Passagen aus Leserbriefen;ferner sind da Zitate aus den Berichtendes Sicherheitsdienstes oder aus derKorrespondenz mit Verlegern und Erin-nerungen an Ereignisse, die die eigeneBiografie bestimmt haben – zusammenrekonstruieren diese Episoden ein Stückeuropäisch(polnisch)er Geschichte vomHolocaust über den Alltagskommunis-mus bis zum Zusammenbruch des Ost-blocks und zugleich eine individuelleGeschichte vom Überleben, die pro-grammatisch nicht als Lebensgeschichteausgegeben wird.

Denn die polnische SchriftstellerinHanna Krall, am 20. Mai 1935 in War-schau geboren und seit den achtzigerJahren auch im deutschsprachigenRaum für ihre literarischen Reportagenund ihre Romane bekannt, hat keine Au-tobiografie geschrieben, sondern einen

narrativen Versuch, wie eine Autobio-grafie geschrieben werden könnte – ge-nauer: wie die Geschichte eines Lebensaus Reminiszenzen anderer, die grossenoder aber nur geringen Anteil daran hat-ten, und aus eigenen Erinnerungen zu-sammengefügt werden kann.

Immer wieder hat Krall reale Biogra-fien und Ereignisse als literarisches Ma-terial benutzt, hat fremde Geschichtenals Ausgangspunkt für Erzählungen ver-wendet. In ihrer Dankesrede anlässlichder Verleihung des Würth-Preises fürEuropäische Literatur im Frühjahr 2012hat sie sich bei allen, die ihr Geschichtenerzählt haben, bedankt: «Sie haben mirihre Schicksale anvertraut», sagte sie.

In diesem neuen Buch nun legt Kralldie Fiktionsleistung bloss, indem sie diefremden Geschichten quasi unbearbei-tet übernimmt. Auch das alphabetischeNamenverzeichnis und die Fussnoten,mit denen sie den Text versieht, sugge-rieren eine Sachlichkeit, die dann dochständig durch das empathische Erzählenkonterkariert wird. Nicht zuletzt in die-ser strukturellen Spannung liegt das Be-sondere von Kralls Erzählexperiment.

So verwebt Krall eigene mit fremdenErinnerungen, fügt erzählende oder re-flexive Kommentare hinzu und schafftein vielstimmiges, vielschichtiges Text-

gewebe. Darin tauchen viele Figurenauf: Freunde und Lebensbegleiter, die anihren Vornamen leicht erkennbar sind,wie zum Beispielt der Literaturwissen-schafter Jan Kott oder der FilmkünstlerKrzysztof Kieslowski, aber auch Zufalls-bekanntschaften, Lehrerinnen, Studien-freundinnen, Arbeitskollegen. Sie allestecken den biografischen Rahmen abund werden von einer starken Erzähler-figur ebenso behutsam wie entschiedengelenkt.

Krall verzichtet auf eine herkömmli-che Handlung. Indem sie die Episodendatiert, überlässt sie es dem Leser, dar-aus eine Geschichte zu machen, diechronologisch verläuft: Sie setzt mit derGeburt der Tochter ein, führt über dasHeranwachsen des Mädchens und dieAlltagswirklichkeit im kommunisti-schen Polen zu dem schwierigen Berufs-weg der Erzählerin zwischen erlittenerZensur und organisiertem Protest undmündet schliesslich in eine wie selbst-verständlich gelebte Internationalität.

Immer wieder kreist diese Lebens-geschichte um die traumatischen Erleb-nisse des Holocausts und um die Ver-hältnisse im Realkommunismus – beideThemen verleihen dem individuellenSchicksal ein historisches Fundamentund dem Buch Welthaltigkeit. ●

ErinnerungenGelungenes Erzählexperiment der polnischen SchriftstellerinHannaKrall

Alltag imkommunistischenPolen

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Bücher am Sonntag

Offizielle Sondermünze 2012

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24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 7

Ehe und Familie alsLebensprojekt sowieFreundinnenliebe sindThemen von KatrinSeddigs Roman.

MARCUSVOGEL/LA

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Katrin Seddig: Eheroman. Berlin-Verlag,Berlin 2012. 447 S., Fr. 28.50, E-Book 25.90.

VonAngelika Overath

Es beginnt und endet in einem kleinenDorf nahe Buxtehude hinterm Deich,beim rituellen Osterfeuer mit Bier undWürstchen. Zwischen dem frühen undspäten Flammenspiel liegen 24 Jahre. AmAnfang ist Ava (nach Ava Gardner) 16und trifft auf den 12-jährigen kroatischenDanilo, den sie nicht ernst nimmt, ob-wohl oder gerade weil der Bub mit demLockenkopf ihr ins Gesicht sagt, dass ersie liebe. 19-jährig in Lüneburg, wo sieals lernende Krankenschwester miteinem Assistenzarzt lebt (der «Mausel,wollen wir kuscheln?» sagt und mit dem«Sex einfach nett ist und der Orgasmuswie ein schöner kleiner Schluckauf»),trifft sie erneut auf den Schüler Danilo.Sie feiern seinen 15. Geburtstag zusam-men – eine Liebesgeschichte beginnt.

Die beiden bleiben zusammen. Baldteilen sie in Hamburg ein ungleichesLeben. Danilo wird studieren und eineWissenschaftskarriere machen; Avakümmert sich um zwei Kinder und denHaushalt, arbeitet wieder im Kranken-haus, später in einer Einrichtung derhäuslichen Altenpflege. Sie wird in einerLaien-Theatergruppe spielen und in klei-neLiebschaften taumeln,weil siemanch-mal Sehnsucht und Sex verwechselt.

Ein Hauch von JugendbuchDas klingt weiter nicht spektakulär. Unddoch zoomt die 1969 im Brandenburgi-schen geborene Katrin Seddig, die heutein Hamburg lebt, in ihrem zweitenRoman unerschrocken nah in den Alltagihrer Protagonisten: Krankenstation derPalliativmedizin; ärmliche Mietwoh-nung; der türkische Feinkostladen desschönen Fadil; das traurige Wohnzim-mer der lieben, alten Eltern; Bars mitFreundinnen (der irrlichternden, dün-nen Merve und Beate, «der kleinenHure»); windelschwangere Kinderkrip-pen; die grossbürgerliche Villa einersterbenden Schauspielerin, und einStück Roadmovie im LKW RichtungPortugal ist auch dabei. Im schnellenWechsel intensiver Szenen entwickeltdas Buch einen Sog, dem man sichschwer entziehen kann. Man schmökertweiter, immer auf Augenhöhe mit derunbestechlichen Ava, die um das wahreLeben im falschen kämpft. Da stört esauch nicht, wenn manchmal ein Hauchvon Jugendbuch durch die Seiten weht.

Fraglos ist Katrin Seddig eine hinreis-sende Erzählerin, die aus winzigen, sehrgenau beobachteten Details atmosphäri-sche Grossleinwände öffnet. Ob diese

Literatur zur Gattung der Eheromane zurechnen wäre, bleibt fragwürdig. DerText kennt schwache Männer und stär-kere Frauen und zeigt, wie Ava vor allemmit ihren Freundinnen die Pubertät undfrühe, dann mittlere Frauenjahre lebt,während Danilo selbstgenügsam als einkluges, immer weniger ansprechbaresHaustier den Alltagmit den Kindern nurstreift.

Das wäre kein Argument gegen dasehrwürdige Genre, wenn diese Lage re-flektiert würde. Aber Avas Problem liegtnicht in ihrer Ehe mit Danilo. Ava möch-te kein kleines Ziel: guter Ehemann,schöne Wohnung und am Wochenendegrillen. Sie will das grosse Glück, dieherzzerreissende Leidenschaft. DennAva ist tatsächlich etwas Besonderes,«irgendwie magisch», sagt Beate, vonnatürlichemGlamour, geschaffen für dieletzte Sehnsucht. Aber es fehlt ihr etwasEntscheidendes: die Härte zur Exzent-rik. Man müsste für sie das Wort «men-schenlieb» erfinden. Dauernd stolpertsie in die Falle der Empathie. Sie nimmtdie Kranken ernst, ist abhängig vonihren Kindern, während Danilo, vielfreier, ein Baby schreien lassen kannoder ein Kind am Rand einer stark be-fahrenen Strasse hinter sich vergisst.Ava ist immer verantwortlich; das machtmüde. Umso mehr, als Danilo sie nur alsgefälligen Rahmen braucht, nicht alsGefährtin, die er auch stützt.

So sucht Ava die Erfrischung, denTrost in fremder Nähe. Zuletzt, sie istvierzig, schläft sie mit einem noblensiebzigjährigen Anwalt – und verliert so-

fort die Leidenschaft und momenthafteLiebessicherheit, als sie sich seinerLiebe gewiss ist. «Nicht Werbung umein endlich noch Erreichtes» hat Rilkediesen kreativen Zustand des dauerndenEntzugs genannt. Aber ein Dichter hatdas Schreiben. Was hat Ava? Sie empfin-det eine «stete süsse Traurigkeit», diesie begleitet, «von der sie nicht weiss, obsie eine gewöhnliche Begleiterin des Er-wachsenseins ist oder ein Fehler ihreseigenen speziellen Lebens».

Lesegenuss garantiertDas Grundmotiv von Tod und Vergäng-lichkeit durchzieht den Roman: Gleichzu Anfang verbrennen kleine Tiereschreiend im Osterfeuer, in einer späte-ren Szene weinen Schweine vor demSchlachthof, Ava arbeitet mit moribun-den Menschen. So liebt Ava auch gegendas Alter an, gegen das Sterben. Ihr Seh-nen ist ein Sehnen nach Ewigkeit (undsei sie im erfüllten Augenblick). Sieempfindet den Skandal der Endlichkeitund mag sich nicht bescheiden; dasmacht sie verletzlich und sympathisch.

Der Schluss, der, weil das Buch biszum Ende spannend bleibt, nicht verra-ten wird, ist psychologisch nicht plausi-bel. Aber da der schöne Roman letztlichsein Thema (Ehe als Lebensprojekt)verfehlt und seinen Gegenstand (Freun-dinnenliebe) nicht ernst genug nimmt,war wohl kein wirklich stimmiges Endemöglich. Den Lesegenussmuss das nichtstören, im Gegenteil, es fördert dasNachdenken über einen intensiven undeigenwilligen Text. ●

Roman InKatrin Seddigs neuemBuch kämpft eine Frau umdaswahre Leben im falschen. Einintensiverwie eigenwilliger Text

IhrEinfühlungsvermögenist grenzenlos

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Belletristik

8 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

Die in Berlin lebendeOlga Grjasnowa setztdie Tradition derMigrationsliteraturkraftvoll fort.

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Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, derBirken liebt.Hanser,München 2012.285 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 17.90.

Von Sandra Leis

«Wer kein Deutsch sprach, hatte keineStimme, undwer bruchstückhaft sprach,wurde überhört. Anträge wurden ent-sprechend der Schwere der Akzente be-willigt», heisst es im Romandebüt «DerRusse ist einer, der Birken liebt» vonOlga Grjasnowa. Ihre Heldin und Ich-Erzählerin Mascha Kogan realisiert sehrschnell, dass Sprachen Macht bedeuten.Und so verwundert es nicht, dass sie alsehrgeizige Mitzwanzigerin nicht nurfliessend fünf Sprachen spricht, sondernauch noch Dolmetscherin werden willbei den Vereinten Nationen.

Sprache als Schlüssel zu dem Land, indem man lebt. Das haben eindringlichund literarisch feinsinnig Autorinnenwie Emine Sevgi Özdamar, Ilma Rakusaoder Melinda Nadj Abonji beschriebenund Wladimir Kaminer oder AlinaBronsky mit der Lust an schnoddrigerZuspitzung zu Papier gebracht. OlgaGrjasnowa setzt die Tradition der soge-nannten deutschsprachigen Migrations-literatur fort, allerdings auf ihre ganzeigene Weise. Sie schreibt keinen Fami-lienroman, auch wenn Familie freilich inträfen, wunderbar unsentimentalen Re-miniszenzen durchaus vorkommt.

Sie schreibt von jungen, gut ausgebil-deten und politisch hellwachen Men-schen, die wegen eines fremdländischenNamens oder Aussehens gegen den all-täglichen Rassismus kämpfen. Sieschreibt vom Bürgerkrieg in Aserbaid-schan, den ihre Heldin als Kind miter-lebt hat und der sie auch in Deutschlandheimsucht; sie schreibt von Liebe, Todund Freundschaft und von einer Fluchtnach Israel, an der Mascha kläglichscheitert. Der Begriff Heimat verkommtzu einer leerenWorthülse, das Leben imTransit wird zum Dauerzustand.

Autobiografische EckpunkteDas klingt nach einer Überfülle an Stoffund ist es bisweilen auch. Insbesondereim zweiten Teil des Romans, wenn dieAutorin den israelisch-palästinenischenKonflikt en détail beleuchtet und darobbeinahe Mascha aus dem Blick verliert.Diese flieht nachTel Aviv, weil sie wederden Tod ihres Freundes Elias überwin-den noch das Kriegstrauma ihrer Kind-heit verarbeiten kann. Doch Israel alsLand der Zugehörigkeit funktioniert beiMascha nicht – im Gegenteil, ihre Panik-attacken und Halluzinationen nehmenzu, und schliesslich ruft sie ihren Ex-Freund an und bittet ihn, sie abzuholen.

Er verspricht, am nächsten Tag zu kom-men, und sie ist sich eines Gedankensplötzlich sicher: Wenn etwas zählt, dannFreundschaft.

Genau wie ihre Heldin ist auch OlgaGrjasnowa eine Kosmopolitin, die alsjunge Frau bereits mehr erlebt hat alsandere während eines ganzen Lebens.1984 als Tochter einer Klavierlehrerinund eines Anwalts in Baku geboren, kamsie 1996 als sogenannter jüdischer Kon-tingentflüchtling in die hessische Pro-vinz und sprach kein Wort Deutsch.Doch sie lernte schnell, machte das Abi-tur in Frankfurt am Main, studierte zu-nächst Kunstgeschichte und Slawistik inGöttingen, wechselte dann nach Leipzig,wo sie am Deutschen Literaturinstitutdas Fach «Literarisches Schreiben» be-legte und 2010 erfolgreich abschloss. Esfolgten Studienaufenthalte in Polen,Russland und Israel; seither studiert sieTanzwissenschaften an der FU Berlin.

Die biografischen Eckdaten von Au-torin und Romanheldin stimmen über-ein, vieles andere ist frei erfunden oderklug nacherzählt aus Berichten anderer.Als literarische Figur ist Mascha immerdann überwältigend, wenn sie ganz sieselbst ist. Etwa als sie sich daran erin-nert, wie sie das erste Mal in ihremLeben einen Knaben in ihrem Alter ge-sehen hat, der bettelte und statt Beinenzwei Stümpfe hatte: «Ich war ausser mir,denn ich verstand, dass er weder einenUnfall gehabt hatte noch so geborenworden war.» Oder wenn sie trotzig undstolz für sich behalten will, was nur sie

etwas angeht. So hat sie sich standhaftgeweigert, mit ihrem Freund Elias überihr Kriegstrauma zu sprechen: «Er dach-te, ich würde ihm nicht vertrauen, aberich war einfach der Meinung, dass dieskeine Rolle für uns spielte. Ich wolltenicht, dass ein Genozid nötig ist, ummich zu verstehen.»

Zupackend und ungebügeltKompromisslos in der Sache und radikalin der Dringlichkeit, glasklar in der Ana-lyse, zupackend und ungebügelt in dersprachlichen Form, gewandt im Schrei-ben von Dialogen – das ist bereits sehrviel für eine Debütantin. Doch OlgaGrjasnowa kann noch mehr: Sie schreibtüber den sinnlosen Tod des jungen Ost-deutschen Elias Angermann, des Freun-des von Mascha, und schlägt dabeiüberraschend zarte Saiten an. BeimFussballspielen zieht Elias sich einenOberschenkelbruch zu, an dem erschliesslich stirbt. Mascha, die ihn überWochen gepflegt hat, macht sich bittereVorwürfe, überlegt, wie sie seinen Todhätte verhindern können, und fällt intiefe Trauer.

Der Roman «Der Russe ist einer, derBirken liebt» – die Referenz an Tsche-chow wird mit einem Motto deutlichgemacht – ist ein aussergewöhnlichesDebüt. Szenisch stark, wort- und bild-mächtig entwickelt Olga Grjasnowaeinen Sog, der mitreisst in eine globali-sierte Welt, die immer wieder explosivauf eine von Kleingeistigkeit und Miss-trauen beherrschte Enge prallt. ●

DebütromanOlgaGrjasnowa floh 11-jährig ausAserbaidschan nachDeutschland.Mit «Der Russe isteiner, der Birken liebt» gelingt ihr ein pralles Erstlingswerk

WerkeinDeutsch spricht,hat keineStimme

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24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 9

Friederike Kretzen: Natascha, Véroniqueund Paul. Stroemfeld, Frankfurt a. M.2012. 210 Seiten, Fr. 28.90.

VonAndreas Nentwich

Sie träumen von einer Welt, die durchDialoge in französischen Filmen umge-schrieben werden kann und in der dasTheater alle Verhältnisse utopischdurchdringt. Sie sindMitte Zwanzig undwie alle, die zum ersten Mal an dieFleischtöpfe des Kulturbetriebs gelas-sen werden: berauscht von der eigenenJugend, Schönheit, Kraft und Intelli-genz. Und sie sind traumwandlerischentschlossen, die politische und kultu-relle Deutungshoheit zu erobern.

Drei von ihnen hat die 1956 geboreneFriederike Kretzen, die schon lange alsfreie Schriftstellerin in Basel lebt, in den

Kölner Sommer des Jahres 1982 ge-schickt: Natascha, Paul und Véronique,letztere als ein Alter Ego, das gerne zart-knochig wäre, schwarzäugig und franzö-sisch leicht, was sie in diesem Sommerder erfüllten Imaginationen auch ist.Aber in Véronique steckt eben aucheine deutsche Friederike, der die Hoch-gestimmtheit von damals immer Richt-mass der wahren Empfindung war. Siewill es ja festhalten, das «Etwas» diesesSommers, «ohne das wir nicht würdenleben können». Aber dann leben siedoch, machen Karriere oder keine, undbeinah dreissig Jahre vergehen, bis dieInitialzündung sich einstellt als Begräb-nis erster Klasse.

BegrabenwirdWoodstock, in den Ge-denksendungen zum vierzigsten Jahres-tag im August 2009. Plötzlich lässt sichantrailern, in Geschichtchen zerlegenund verschulfunken, was das «Wir»

einer ganzen Generation ausmacht, weiles ihr die Luft zum Atmen und denSound der Freiheit gegeben hat: «Hen-drix und Joplin, die beide schon totwaren, als ich ihre Musik das erste Malhörte, das waren eben wir, das hörtenwir sofort.» Damit ist klar, wohin dieserSommer geschrieben werden muss: hin-ein ins Nicht-Endende, um die tödlichenFallen des Anekdotischen herum, undzugleich irgendwie doch auf einen kla-ren Abschluss hin, damit sein Bann ge-brochen wird.

Und so setzt ein Erzählen ein, dasalles will, nur nicht im «So war es» ver-karsten. Es fliegt mit den Vögeln undden Wolken, setzt sich rasch entschlos-sen – schnell mal Frankreich tanken! –auf Autobahnen und ins Flugzeug: nachWoodstock! In der Flucht der Wörtersinken die Schwellen zwischen KinoundWohnküche, Engeln und armen Jun-kies, verzittertem Schwimmbadgeschreiund de Chirico-Traum, romantischdurchdringen einander die Sphären.Wind, Licht, Tauben, Spatzen, Flimmernüber der Rheinebene und die orangenLeuchten der belgischen Autobahn übereiner nächtlichen Fahrt nach Paris, siesagen: «Sommer».

Véronique, eine Scheherazade derWiederholungen, greift nach allem, wasklingt, um in die Tonspur von damalszurückzufinden, in die beflügelte Unrastdreier Mittzwanziger und dem, was hin-ter ihr war: das Nichteinverstandenseinmit allem, was vor ihren Augen resig-nierte, ihre Utopien verriet, ja in gewis-ser Weise sie selbst, die nun einmal zuspät geboren waren für die Aufbrüche,die unter der grossen Flammenschrift«68» standen. Ein Verrat war der Todihres Idols Rainer Werner Fassbinder;ein Verrat waren die Tode, sowohl jene,die in den Theaterstücken gestorbenwurden, die sie probten, wie auch jenein den Filmen, die die ihren waren: WimWenders’ «Stand der Dinge», Chabrols«Elf Uhr nachts», der nicht genanntwird, aber erzählt und zitiert.

Zitiert wird überhaupt ohne Ende, di-rekt und indirekt, Rekurse stecken indiesem Buch wie in einer Schachtelpup-pe. Es ist randvoll mit der linken Ikono-grafie der alten Bundesrepublik. Undwenn Véronique einmal nicht aufpasst,verheddert sie sich als Friederike in Flü-gelkämpfe von 1982, leitartikelt und teiltZensuren aus. Aber meistens macht ihrErzählen doch eine schöne Figur, aucham Ende, wenn das Trio das realeWood-stock – zum Glück – nicht erreicht hat,und in New York eine Realität sich sei-ner bemächtigt, die nicht artistisch, son-dern durch Handeln und politische Ein-mischung verändert sein will.

Da ist dieses kleine Abenteuer derSprache allerdings schon an sein Ziel ge-kommen, und wir wissen, dass es in derKunst nur darum gehen kann, aus demVergänglichen das Glück, die Wut unddie Sehnsucht zu lösen und unsterblichzu halten. ●

RomanGedenksendungen zum40. Jahrestag vonWoodstock lassen bei einemFreundestrioErinnerungen aufkommen – ein zitatenreiches, kluges Buch

Indie frühereTonspurzurückfinden

THEARTARCHIVE/ALA

MY

Malerei aus200JahrenDieVorzüge desAlters

Wer älter wird, kann gelassener werden, heisst es.Das gilt auch für die Kunst. Die Positionen sindabgesteckt, was noch kommen mag, ist Zugabe. Dasschafft Freiraum, Neues zu wagen. Wie sich dieLockerheit auswirken kann, zeigen die Spätwerke vondrei Malern aus 200 Jahren. William TurnersFarbnebel werden zunehmend atmosphärischer undöffnen das Bildfenster zur Abstraktion. Claude Moneterobert mit den Bildern seines Seerosenteiches derLandschaftsdarstellung das grosse Format der altenHistorienmalerei und weitet das einzelne Bild zueinem installativen Panorama. Cy Twombly lässt inseinen emphatischen Farberuptionen das Explosive

des Abstrakten Expressionismus nachklingen undschafft atmosphärische Räume für Landschaft undGeschichte der antiken mittelmeerischenWelt. SeinGemälde «Ohne Titel» (siehe oben), Porto Ercole1987, ist so ein Werk voller subtiler Farbkontraste unddramatischer Bewegungen. Der Engländer, derFranzose und der Amerikaner finden in diesem Bandzusammen und profilieren die Unterschiedemindestens so sehr wie die Gemeinsamkeiten ihrerKunst. Wo Malerei Souveränität gewinnt, verbindetsie ammeisten. Gerhard MackTurner, Monet, Twombly. Hatje Cantz, Ostfildern2012. 272 Seiten, 151 Abbildungen, Fr. 53.90.

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Belletristik

10 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

Griechische Vase,(um 420 v. Chr.):Sie zeigt Odysseusund seine Gefährtenbei der Blendungdes einäugigenMenschenfressersPolyphem.

Zachary Mason:Die verlorenen Bücherder Odyssee.Aus demAmerikanischen vonMartina Tichy. Suhrkamp,Berlin 2012. 230 S., Fr. 32.90,E-Book Fr. 23.90.

VonMartin Zingg

Am Ende ist Odysseus heimge-kehrt, das wissen wir. Und wirwissen, dass in Ithaka seine FrauPenelope auf ihn gewartethat, zusammen mit SohnTelemachos, beide inSorge um den Herr-scher, der seinerzeitvon König Agamemnonzur Teilnahme an einemKrieg gegen Troja ge-drängt worden war. ZehnJahre hat der Krieg der Grie-chen gegen die mächtige Stadtgedauert, von dem die «Ilias»erzählt, weitere zehn Jahre dauer-te danach die Heimfahrt des HeldenOdysseus, die im Zentrum der «Odys-see» steht.

Zehn Jahre, die voller Ungewissheitensind. Und als Odysseus seine heimatli-che Insel endlich erreicht hat, ist ernoch lange nicht zu Hause. Erst muss erdie lästigen Freier loswerden, die seineGattin seit Jahren bedrängen und diealle auf den Königsthron hoffen, der seitseiner Abfahrt verwaist ist. Dann willdie Gattin auch sicher sein, dass er wirk-lich ihr Gatte ist. Und sie will alles überseine lange Reise wissen.

Hinreissender ErzählerWissen wir denn alles über die Irrfahrtdes Odysseus? Wir bekommen die ein-zelnen Stationen in 24 Gesängen vonHomer erzählt, aber über ihn, über denErzähler, haben wir wenige verlässlicheInformationen. Fest steht in jedem Fall:Wer immer das war und wo immer ergelebt haben mag, dieser Homer, er warein hinreissender Erzähler, einer, derwusste, wie man mit Verzögerungen,Einschüben und Rückblenden erzählt,mit raschem Wechsel von Perspektiveund Erzähler und unter Verzicht aufChronologie.

Die «Odyssee» ist ein Flickenteppich,zusammengesetzt aus vielen Geschich-ten, die über lange Zeit mündlich wei-tergereicht worden sind. Und genau hiersetzt Zachary Mason ein, mit seinemErstling «Die verlorenen Bücher derOdyssee». Im knappen Vorwort sprichter von einem «präptolemäischen Papy-rus (…), der in den staubtrockenen Ab-fallhügeln von Oxyrhynchos ausgegra-

ben wurde» – vierundvierzig Variatio-nen über die Geschichte des Odysseusseien darin festgehalten, das vorliegen-de Werk wird nun als deren Überset-zung ausgegeben.

Natürlich ist die Herausgeberfiktionschnell durchschaut. Zachary Mason –Jahrgang 1974, kalifornischer Informati-ker mit Spezialisierung in künstlicherIntelligenz – inszeniert in den 44 unter-schiedlich langen Texten lauter Varian-ten einer Geschichte, die man zu kennenglaubt. Auch er nimmt sich die Freihei-ten heraus, die Homer genutzt hat, undvor allem stellt er öfter die Frage, werdie Geschichten erfunden hat.

Brennt mit Helena durchBereits in der ersten Geschichte gehtetwas schief. Odysseus ist zwar wohlbe-halten heimgekommen, er muss jedochfeststellen, dass seine Frau Penelopekeineswegs auf ihn gewartet hat. Aller-dings ist der «Neue», das sieht er gleich,gar kein Held – der «hätte keine Stundein dem gleissenden Licht vor den Mau-

ern Trojas überstanden».Die Mühen der Heimfahrtwaren also vergeblich:

«Solch eine lange Reise»,denkt er, «und so viele Orte, an

denen ich hätte bleiben können.»«Flüchtig» heisst jene Geschichte,

die ein anderes mögliches Schicksalbe-schreibt. Darin brennt Odysseus mitHelena durch, mit jener Frau also, derengewaltsame Entführung durch Paris denleidvollen Krieg um Troja erst ausgelösthat. Aus ei-nem Buch, das «Ilias» heisstund auf das er zufällig gestossen ist,

weiss Odysseus schon, wie die Ge-schichte ausgehen wird, daswill er lieber nicht erleben.Die beiden ziehen sich in eineFischerhütte zurück: er gibtder neuen Liebe vorerst malzehn Jahre, «dann würden sieweitersehen».Denkbar ist auch – Mason

schlägt es zumindest vor –, dassOdysseus, einmal zu Ruhm gelangt,

auf eigene Faust Geschichten über sei-nen Listenreichtum erfindet und gezieltverbreitet. Er ist als Sänger unterwegs,womit er sich dem anstrengenden Hel-dendasein erfolgreich entzieht; er arbei-tet gleichsam als Entertainer. Als er des-sen überdrüssig ist, will er doch nachHause, mit einem phönizischen Han-delsschiff: «Während der Überfahrt lagich rücklings auf dem Deck, starrte inden grauen Himmel und fabulierte mireine Schilderung der vergangenen fünfJahre zurecht. Aus einem muskelbe-packten skythischen Wegelagerer, dermich beim Diebstahl von Käse aus einerHöhle ertappt hatte, machte ich eineneinäugigen Menschenfresser. Aus denkalten Wintern auf Chios, in denen ichnur mit meiner Geliebten sprach, mach-te ich Gefangenschaften auf Inseln mitwohlgesinnten Zauberinnen (soweit ichgesehen habe, und ich habe viel gese-hen, gibt es weder Götter noch Geisteroder so etwas wie Zauberinnen, dochoffenbar bin ich der Einzige, der diesweiss – das Beste, was sich über dieMächte der Finsternis sagen lässt, ist,dass man gute Geschichten aus ihnenspinnen kann).»

Odysseus als Autor der «Odyssee»?Natürlich darf man hier an Jorge LuisBorges denken oder an Italo Calvino, anderen postmodernen Spiele mit der Fik-tionalität. Erstaunlicherweise machtMason auch das Umgekehrte möglich,er zeigt nämlich ganz nebenbei, wie vielModernität in der «Odyssee» steckt,wie viel darin immer noch aktuell ist –wenn man erzählend ein klein bisschendaran zupft. Und gerade das machtZachary Mason auf höchst unterhaltsa-me Weise. ●

RomanHomers grosses Epos ist ein Flickenteppich ausmündlich tradiertenGeschichten. Hier setztZacharyMasonmit seinen 44Variationen über den Stoff an

WasesüberOdysseusneuzuberichtengibt

THETRUSTEESOFTHEBRITISCHMUSEUM

/BPK

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24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 11

KurzkritikenBelletristikE-Krimi desMonatsTod inVenedig

Donna Leon: Reiches Erbe.CommissarioBrunettis 20. Fall. Diogenes, Zürich 2012.320 Seiten, Fr. 32.90. E-Book 20,99 €.

Eine alte Frau liegt tot in ihrer Woh-nung in Venedig. Ein kleiner Blutfleck,der entstand, als sie sich beim Sturz amRadiator den Kopf anschlug. Ein kaumwahrnehmbares Hämatom am Hals,dessen Herkunft unbekannt ist. Dochdie Todesursache ist eindeutig: Die alteFrau starb, weil ihr krankes Herz ver-sagte. Ein Todesfall also, der zwar inder «Gazetta» auf die Seiten mit denTodesanzeigen gehört, der aber in derQuestura der venezianischen Polizeinichts zu suchen hat.

Das finden fast alle. Alle ausser derskeptische Commissario Brunetti – wasman ihm übel nimmt, nachdem mansich durch die 316 Seiten von DonnaLeons «Reiches Erbe» gekämpft hat,auf denen er den Grund für den Herz-stillstand der alten Frau sucht. Um esvorweg zu nehmen: Wer Krimis liest,weil er Krimis liebt, lässt diesen wohlbesser beiseite.

Der Fall, der ein bisschen, aber nichtso richtig ein Kriminalfall ist, ist GuidoBrunettis Zwanzigster. Seit 1992 stelltdie in Venedig wohnhafte Amerikane-rin Donna Leon den brav-biederenCommissario Jahr für Jahr vor eineneue Aufgabe. Die Brunetti-Fälle sindleise, nicht laut, sie drehen sich um dassubtile Böse, nicht um blutige Verbre-chen. «Ich mag keine Gewalt, ich kannnicht diesen amerikanischen blutrüns-tigen Stoff lesen», sagt die Autorin.

«Es ärgert mich, dass so viele Men-schen sich für diesen Kram interessie-ren.» Das merkt man ihrer Geschichtean, die sich auch dieses Mal in ersterLinie um politische und gesellschaftli-che Themen dreht, die die Autorinstreift, aber nicht vertieft. Es geht zumBeispiel um geschlagene Frauen undum die prekäre Altersfürsorge in Itali-en. Leons neuester Roman lässt denLeser zwar erneut eintauchen in dasvenezianische Alltagsleben, nur plät-schert er allzu seicht dahin. Er ist zu

detailreich gezeichnet, ist mehrBeschrieb als Erzählung, ohneWortwitz und ohne Schlag-abtausch. Die Längen quä-len, zum Beispiel, wennGuido Brunetti seitenlangmit seiner Paola diskutiert,warum er lieber gedruckteals Online-Zeitungen liest;

wenn er auf dem Blumen-markt jede Blumenartstudiert; oder wenn erüber seine fast schonkitschig-glücklicheEhe sinniert. Und vie-les erscheint repetitiv,wenn man die frü-heren Fälle gele-sen hat.

Guido Brunettiist in den zwanzig

Jahren nicht wirklichgealtert – aber er ist lang-weilig geworden. ●VonChristine Brand

Jürg Halter, Tanikawa Shuntaro:Sprechendes Wasser. EinKettengedicht.Secession, Zürich 2012. Unpag., Fr. 34.90.

Der 1980 in Bern geborene Dichter undMundart-Rapper Jürg Halter alias KuttiMC überrascht uns mit einem exzellentgestalteten bibliophilen, auf Anregungvon Okuda Osamu entstandenen Band.Er enthält ein Kettengedicht, das derjunge Schweizer und der berühmte, 1931in Tokio geborene Schriftsteller Tanika-wa Shuntaro gemeinsam verfasst haben.Über vier Jahre spannte sich ihr E-Mail-Austausch, mit folgenden Spielregeln:Jeder schreibt maximal fünf Zeilen, derText darf nur auf die letzte Strophe desanderen reagieren. Entstanden ist einelebhafte Wechselrede über das Wasserund den Menschen als Sinnbilder desAugenblicks und der Dauer, des Wan-dels und der Beständigkeit, und so oftder eine Dichter einen hohen Ton an-schlägt, wird dieser vom anderen mitWitz und Ironie gebrochen. Ein faszinie-rendes Sprachspiel.Manfred Papst

Wulf Kirsten: Fliehende Ansicht.Gedichte. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2012.80 Seiten, Fr. 27.90.

Der 1934 in Klipphausen bei Meissen ge-borene Schriftsteller Wulf Kirsten hatseit 1968 hauptsächlich Lyrik veröffent-licht, daneben auch Erzählungen, Redenund Essays. 1965 bis 1987 war er Lektorfür den Aufbau-Verlag; seither lebt er alsvielfach ausgezeichneter freier Autor inWeimar. Er ist ein eminenter Naturlyri-ker, der immer wieder auf die Land-schaft seiner sächsischen Dorfkindheitzurückkommt und gern selten geworde-ne Wörter verwendet. Dadurch gewin-nen seine meist reimlosen Gedichteeine besondere Intensität. Sie sind un-prätentiös, aber dicht, unsentimental,aber innig. Man denkt bei ihrer Lektüreunwillkürlich daran, dass Wulf KirstensVater Steinmetz war. Hier ist alles greif-bare Gegenständlichkeit. Schön, dassder Dichter, der lange zu den Stamm-autoren des Zürcher Ammann-Verlagsgehörte, nach dessen Ende bei S. Fischereine neue Bleibe gefunden hat.Manfred Papst

Joseph Mitchell: Zwischen den Flüssen.NewYorkerHafengeschichten. Diaphanes,Zürich 2012. 267 Seiten, Fr. 32.90.

Von 1938 bis 1964 legte Joseph Mitchellmit seinen Texten für den «New Yor-ker», in denen er die Grenze zwischenReportage und Literatur auflöste, denGrundstein für den New Journalism.1964 erschien sein letzter nennenswer-ter Text, obwohl er bis zu seinem Tod1996 täglich in die Redaktion ging. Sei-nem Ruhm tat das keinen Abbruch. EinHoch auf den Diaphanes-Verlag, der mit«McSorley's Wonderful Saloon» (2011)und «Zwischen den Flüssen» diesenAutor endlich auf Deutsch zugänglichmacht. Die Präzision und die enormenbiologischen und botanischen Kenntnis-se, mit der Mitchell Natur und Men-schen in der sich rasant wandelndenMetropole New York betrachtet, suchenvergeblich ihresgleichen. Diese Fähig-keit und die radikal unelitäre Perspekti-ve versöhnt uns auch mit Mitchells un-verhohlener Fortschrittsfeindlichkeit.Regula Freuler

Virginie Despentes: Apokalypse Baby.Roman. Berlin-Verlag, Berlin 2012.383 Seiten, Fr. 28.50, E-Book 22.90.

Mit Virginie Despentes und MichelHouellebecq wurden 2010 gleich zweiEnfants terribles des französischen Lite-raturbetriebs nobilitiert: mit dem PrixRenaudot und dem Prix Goncourt. Dasolche Preise die Ankunft im Establish-ment bedeuten – wie liest man da einBuch wie «Apokalypse Baby», eine Mé-lange aus Detektivroman, Roadmovie,Hardcore-Lesben-Sexszenen und Kritikam Establishment? Im neusten Buch der43-jährigen Autorin, deren sex- und ge-waltgetränktes Debüt «Baise-moi» sie1994 schlagartig berühmt gemacht hatte,geht es gewohnt deftig zu. Aber nichtdas ist die Hauptsache, sondern die wü-tende Sozialkritik in Gestalt einer 15-Jäh-rigen: Valentine verlässt ihre reichen,kaltherzigen (Stief-)Eltern, um als Rä-cherin zurückzukehren. Einige Charak-tere traf Despentes im Kern, andere sindpure Klischees. Schade, denn das Buchböte viel Stoff zum Nachdenken.Regula Freuler

M.V

OGEL/BRAUERPHOTO

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Kinder-undJugendbuch

12 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

KAT

HRIN

SCHÄRER

Rafik Schami: Das Herz der Puppe.Hanser, München 2012. 192 Seiten,Fr. 18.90, E-Book 11.90.Hörbuch, Hörcompany, Hamburg 2012.2 CD, Fr. 22.90 (ab 9 Jahren).

VonHans ten Doornkaat

Ein Mädchen entdeckt auf dem Floh-markt eine Puppe. Bald merkt es, dasssie sprechen kann – und zwar ohne dassandere sie hören. Wer jetzt denkt, dasgibt es dutzendfach, der liegt richtig …und doch falsch, denn diese Puppe über-rascht. Wenn Nina sie fest an sichdrückt, saugt die kleine Widu Ängsteweg. Und wenn das nicht hilft, erzähltsie eine Geschichte oder sie kommen-tiert die Welt der Erwachsenen so poin-tiert, dass Nina nicht anders kann, alslachend weiterzudenken, weiterzukom-men. Eines Nachmittags will Nina fern-sehen, Widu aber kritisiert Grinsgesich-ter und unechtes Lachen. Zornig ver-bannt das Mädchen ihre Puppe insSchlafzimmer. Dort spielt diese mit an-dern Kuscheltieren Theater, und locktNina an, mit dem ehrlichen Spielen.

Wenn der Erzähler Rafik Schami einePuppe zur Erzählerin macht, dann liestman sie unweigerlich auch als sein AlterEgo. Es gibt zwar Episoden, in denenNinas Alltag mit ihrer magischen Ge-fährtin in erwarteten Bahnen verläuft.Aber nach und nach erweist sich diedurchgehende Handlung als kluge Kom-position aus Weisheitsgeschichten. Ja,ausgerechnet hier, wo Schami alles Ori-entalische aussen vor lässt, breitet ereine gelassen kritische Weltsicht aus,die an Khalil Gibrans Propheten erin-nert und ebenso an das Plädoyer desKleinen Prinzen für Menschlichkeitund Freundschaft.

Kinderbücher, die mit solcherPoetik auch Erwachsene anspre-chen, etablieren sich leicht als Vor-lesebücher. Der Schauspieler StefanKaminski gibt Widu einen herbenCharakter. Das überrascht – und istgenial! Denn wo die Weisheit derPuppe Erwachsene in eine Sinnsuch-stimmung versetzen könnte, intensi-viert der Sprecher jene Reibung, dieSchami Kindern wünscht; ein Wider-part, der nicht alles hinnimmt und kon-sumiert, sondern Fragen aufwirft unddie Eigenständigkeit stärkt. Wenn zumSchluss aber Widu ihre Puppenexis-tenz aufgibt, um mit einem sterblichenHerzen fühlen zu können, dann stelltSchami Empathie über Verstehen,dann kommen Fantasie undWahrheitauf traurig-schöne Art zusammen. ●

BuchundHörbuchMit einer sprechendenPuppe kommentiert Rafik SchamidieWelt ausKindersicht

WitzundWeisheiteinerPuppe

Annette Pehnt: Brennnesselsommer.Bilder SusanneGöhlich. Carlsen, Hamburg2012. 128 Seiten, Fr. 11.90 (ab 8 Jahren).

Die Nachbarin sei eine Träumerin mitHippie-Ansichten, finden die Eltern vonAnja und Flitzi. Die behüteten Mädchenaber sind begeistert von Fränzi, die Last-wagen fährt, sagt, was sie denkt, und dasHaus zu einemGnadenhof für Tiere um-baut. Sie füttern gerettete Kaninchenund befreienmit Fränzi Vögel aus einemNobelrestaurant. Aber plötzlich will derBesitzer den Hof verkaufen. Anja lerntbei Demonstrationen und Rettungsein-sätzen, wie man sich gegen Ungerech-tigkeit und Missstände wehrt. Und siemerkt, dass man einander helfen kann,auch wenn man komplett verschiedenist. Annette Pehnt – soeben mit dem So-lothurner Literaturpreis ausgezeichnet– verherrlicht oder verurteilt keine derLebensweisen und versetzt sich glaub-haft in die Neunjährige, die anfängt, sicheine eigene Meinung zu bilden.Andrea Lüthi

Kurzkritiken

Gill Lewis: Der Ruf des Kulanjango.dtv junior,München 2012. 236 Seiten,Fr. 18.90, E-Book 11.90 (ab 10 Jahren).

Callum und Iona entdecken ein seltenesFischadlerpärchen. Von einem Baum-haus aus beobachten die beiden schotti-schen Kinder die Wildvögel. Doch dannstirbt Iona plötzlich, und die Sorge umdas Adlerweibchen Iris wird für den elf-jährigen Callum zu einer Obsession. Soverfolgt er den Flug des Vogels, der miteinem Sender ausgestattet ist, in Rich-tung Afrika. Als sich die Spur in Gambiaverliert, setzt der Junge Himmel undHölle in Bewegung, um Hilfe für Iris zuorganisieren. Er bekommt Unterstüt-zung von Jeneba, die ihm aus Gambiazurückmailt. Da, mitten in der Tierret-tung, beginnt Callum zu realisieren, dassJeneba selbst Hilfe braucht … Die Tier-ärztin Gill Lewis überrascht in ihremersten Roman mit einem packenden Stilund zugleich glückt ihr eine poetischeVerneigung vorNatur und Freundschaft.Verena Hoenig

Tamara Bach: Was vom Sommer übrig ist.Carlsen, Hamburg 2012. 144 Seiten, Fr. 18.90(ab 14 Jahren).

Louise, 17, hat Schluss gemacht mitihrem Freund und bekämpft die Einsam-keit mit einem Plan für den Sommer:zwei Jobs, Führerschein, Hund ausfüh-ren – da bleibt keine Zeit für Liebeskum-mer. Jana, fast 13, ist eine Katastrophewiderfahren: Ihr Bruder hat sich von derBrücke gestürzt. Seit er im Koma liegt,dreht sich alles um den verlorenen Sohn– da bleibt keine Zeit für Jana. In sorgfäl-tiger Komposition lässt Tamara Bach diejungen Frauen aufeinander treffen.Klang, Rhythmus und das Hin und Herzwischen Louises und Janas Sicht, allesspielt mit. Die beiden werden Freundin-nen und fahren los, als ob sie Ferien ma-chen würden. Sich verlieren und wie-derfinden, das sind die Themen diesesJugendromans. Selten war so anrührendund so radikal ehrlich über Schmerz undHoffnung zu lesen.Christine Knödler

Manfred Theisen: Wake up. Boje,Köln 2012. 191 Seiten, Fr. 19.50, E-Book beiLübbe (Köln) 11.90 (ab 12 Jahren).

Ist die Welt noch mit legalen Mitteln zuretten? Josh, Frederike und Sybille lebenin der städtischen Öko-Siedlung wie imParadies. Gegen Atomkraft und globaleUmweltzerstörung scheint der grüneWohlstand der Eltern jedoch wenig aus-zurichten. Nachdem Sybilles neuerFreund dazu stösst, läuft es plötzlich wieim Kino: Als Profihacker legt Filinto maleben die Ampelanlage des Quartierslahm und bringt in Wien das Riesenradzum Stehen. Sie nennen sich «Wake up»und fordern in einem Bekennerschrei-ben die Abschaltung aller AKWs. Dasböse Erwachen kommt für Josh spätes-tens, als Filinto tatsächlich einen Störfallprovoziert. Die temporeiche Geschichtewirkt zwar etwas überdreht und unwirk-lich. Aber wie war das mit der Unwahr-scheinlichkeit der Reaktorkatastrophein Fukushima?Daniel Ammann

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24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 13

Joke van Leeuwen: Augenblick mal.Waswir sehen, wennwir sehen, undwarum. Gerstenberg, Hildesheim 2012.128 Seiten, Fr. 21.90 (ab 10 Jahren).

Von Sabine Sütterlin

Videos können lügen undmit Fotos lässtsich trefflich tricksen. Manipulation undTäuschung erkennt jedoch nur, wer ge-lernt hat, genau hinzusehen. Das istkeine Selbstverständlichkeit angesichtsder optischen Dauerberieselung durchWerbung, Medien, Internet. Seit die ers-ten menschlichen Wesen Wisente anHöhlenwände malten, waren wir nochnie so vielen Bildern ausgesetzt.

Da kommt das Buch gerade richtig,das die niederländische Autorin undIllustratorin Joke van Leeuwen geschrie-ben hat: «Augenblick mal» nimmt auchLeser über dieser Altersgrenze mit aufeinen kurzweiligen Spaziergang durchdie Welt der Bilder und Zeichen, derverblüffende Einsichten bietet.

Zum Beispiel, dass Uhren auf Rekla-mefotos fast immer auf zehn nach zehnstehen. Van Leeuwen erklärt dies im Ka-pitel über «sichtbare und unsichtbareLinien» so: «Wenn man sich über dieZeiger hinweg Hilfslinien denkt, die wiePfeile auf die Ziffern weisen, sieht das(…) wie zwei jubelnd hochgerisseneArme aus» – und zeichnet dazu einStrichmännchen in entsprechenderPose. Als es um Bildkomposition geht,rückt die Autorin wieder eine Anzeigefür Uhren in den Blick: Da nehmen diekussbereiten Antlitze eines Paares bei-nahe den ganzen Raum ein, während dieZeitmessgeräte an den Armen der Ver-liebten nur am Rande sichtbar sind –und nicht dieselbe Zeit zeigen. Diesesbefremdliche Detail entdeckt aber nur,wer genau hinsieht. Oder den Hinweisder Verfasserin gelesen hat.

«Warum wir mehr sehen als wirsehen oder wie wir uns einen halbenHund ganz denken», so beginnt dasBuch: mit philosophischen Betrachtun-gen dazu, dass längst nicht jederMenschdasselbe sieht, auch wenn die biologi-schen Voraussetzungen bei allen diegleichen sind. Der Text ist unaufgeregt,trocken der Humor, und die zahlreichenZeichnungen und Bildbeispiele sindhilfreich; einzig die wenig lesefreundli-che Schrift, in der das Buch gesetzt ist,trübt den guten Gesamteindruck. Jokevan Leeuwen erzählt von Formen undFarben, von Licht und Schatten, von op-tischen Täuschungen oder davon, wasman mit Photoshop alles anstellen kann.Das Schlusskapitel über Ideen und Ins-pirationen öffnet Raum für die eigenenFantasien. ●

Bildersprache JokevanLeeuwenschärftdenBlick inder visuellenFlut

WarumUhrzeigerauf 10nach 10 stehen

Kurzkritiken

Tim Cooke: Wie man mit einem Bind-faden die Welt verändert. Bloomsbury,Berlin 2012. 96 S., Fr. 24.50 (ab 12 Jahren).

Bücher, die Superlative, Kurioses ausder Wissenschaft oder spektakuläre Er-findungen zusammenstellen, gibt esviele. Dieses Buch wechselt die Pers-pektive. Es folgt dem Prinzip des legen-dären Schlags eines Schmetterlingflü-gels, der Orkane auslösen kann, undzeigt, welche enorme Wirkung ver-meintliche Kleinigkeiten hatten. Bindfä-den zum Beispiel. Die sind nicht nurdazu gut, Knoten zu machen, um sich zumerken, was wichtig ist – die Inkashaben damit Steuereinnahmen gezählt.Wie etwa aus Schlamm eine ganze Zivi-lisation entstand, aus Bohnen eine Phi-losophie und vieles mehr, ist von Dop-pelseite zu Doppelseite kunterbunt undabwechslungsreich nachzulesen. Wis-senswertes wie am Schnürchen zu einerungewöhnlichen Kulturgeschichte auf-gereiht – Knoten machen und merken!Christine Knödler

Alexandra Maxeiner, Horst Klein: Lexikonder Lästigkeiten.Klett Kinderbuch, Berlin2012. 74 Seiten, Fr. 14.90 (ab 7 Jahren).

Wie das nervt! Ins Bett gehen müssen,Kleider von Geschwistern anziehenoder Playstationverbot haben. Undmeist soll man – «Wie heisst das Zau-berwort?» – sich bedanken. Ständig sindKinder Unannehmlichkeiten ausgesetzt.Dinge, die Spass machen, sollen sie da-gegen erstaunlich oft lassen. Die Auto-rin hat die Zielgruppe danach gefragt,was sie nicht ausstehen kann und dieZumutungen von A wie Aufessen-müs-sen bis Z wie Zimmer-aufräumen genauund witzig beschrieben. Das so entstan-dene Lexikon spricht Kindern aus derSeele, umso mehr, als es ihre Perspekti-ve einnimmt. Endlich versteht sie je-mand! Und Cartoons setzen freche Ak-zente: Der Spielverderber beisst vorWut ins Spielbrett, und einemMädchen,das gezwungen wird, rohe Karotten zuessen, sind Hasenzähne gewachsen.Verena Hoenig

Anke Bär: Wilhelms Reise. EineAuswanderergeschichte. Gerstenberg,Hildesheim 2012. 64 S., Fr. 21.90 (ab 9 J.).

Mit einer Ahnengalerie fängt alles an:Weil der Junge auf dem Foto Annas Inte-resse weckt, fragt sie ihre Oma überUrahn Wilhelm aus, der 1872 in Bremer-haven an Bord der Columbia ging, um inAmerika neu anzufangen. «WilhelmsReise» verbindet Rahmenhandlung undSachinformation spannend miteinander.Anke Bär baut mit sparsamen Farbenstarke Szenen auf, erklärt in detailliertenBleistiftzeichnungen und berichtet vonden Glückssuchern des 19. Jahrhunderts,vom Leben auf einem Segelschiff, vonUngeziefer, Unwetter und Hoffnungen.Abbildungen aus Wilhelms (fiktivem)Skizzenbuch, Info-Kästen und eineChronik liefern weitere Details. AmEnde des klug komponierten Buches istes in Grossmutters Zimmer dunkel ge-worden, aber der Band hat das Themafaszinierend erhellt.Christine Knödler

Roland Knauer, Kerstin Viering: Wie vielTier steckt in dir?Bloomsbury, Berlin 2012.224 Seiten, Fr. 21.90 (ab 12 Jahren).

Bienen erklären einander den Weg,Krebse helfen Nachbarn, sich gegen Ein-dringlinge zu verteidigen, und wenn Bo-nobos einen Bananenhaufen sehen, um-armen sie sich wie Fussballfans nacheinem Sieg. Die Biologen Roland Knauerund Kerstin Vierling zeigen in ihremübersichtlich gegliederten Buch, dassTiere viele Eigenschaften haben, die alstypisch menschlich gelten. Ein Themaführt zum nächsten; von Gesundheitüber Spiel, Krieg und Frieden, Politik bisArbeitsmarkt. Mit einfachen – teils be-rühmten – Beispielen wird auch erklärt,wie tierisches Verhalten erforscht wird.Darunter gibt es viel Verblüffendes, unddas liest sich äusserst unterhaltsam. Ne-benbei lernt man einiges über die Ent-wicklung des Menschen und was heutenoch an Instinkten und Reflexen aus derSteinzeit in ihm ist.Andrea Lüthi

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Porträt

14 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

Kinder- und Jugendbücher aus fremdenWelten undKulturen – das istdas ProgrammvonBaobab Books. Ein Besuch beim etwas anderenVerlag in Basel. VonGeneviève Lüscher

«Soschön,dasmusseinBuchwerden!»Baobab Books, der Kinder- und Jugendbuchver-lag in Basel, befindet sich am richtigen Ort: imGundeldinger Feld, das längst kein Feld mehrist, sondern ein alternatives Quartierzentrumhinter dem Bahnhof. Dort, wo einst die SulzerMaschinenfabrik Kompressoren herstellte, hatsich vor rund 10 Jahren ein buntgemischtesVölklein eingenistet. Ateliers, Bibliotheken,Bars und Restaurants haben hier ein Zuhausegefunden, auch Büros und eine Kletterhalle.

Das «Gundeli», wie das Quartier in Baselliebevoll genannt wird, ist kein gutbürgerlichesStadtviertel mit grünen Vorgärten. Strassen-schluchten mit Mietshäusern prägen das Bild.Hier wohnen Migranten, man sieht viel dunkleHaut und Kopftuch. Aber das passt. Denn Bao-bab Books verlegt nicht irgendwelche Kinder-bücher, sondern explizit solche aus fernenWel-ten, aus Afrika, Lateinamerika und Asien.

«Aber wir sind flexibel, unsere Grenzen sindoffen», sagt Sonja Matheson, die Geschäftslei-terin, «wir haben auch Literatur aus der Türkeiund Japan im Programm.» Wir sitzen imhellen, schmucklos-funktional eingerichtetenBüro der Chefin und trinken Tee, Kaffee gibt eshier keinen. Dennoch kommt während desGesprächs nie ein alternatives «Kupfer-Wolle-Bast»-Feeling auf. Man spürt: Hier wird hartgearbeitet, mit professionellem Einsatz und vielBegeisterung.

Fremde Kulturen neu gesehenIn den Regalen stehen, fein säuberlich nachLändern geordnet, Bücher: Kinderbücher, Bil-derbücher, Comics, Romane für Jugendlicheaus aller Welt. An der Wand hängt eine grosseLandkarte, die ist nützlich, denn mit Baobabkommt man weit in der Welt herum.

Wie ist der Verlag entstanden? Baobab – sobenannt nach dem Affenbrotbaum, unter demsich in Afrika die Menschen versammeln, umGeschichten zu erzählen – sei ein Kind der68er-Jahre, also etwas älter als sie selbst. Ma-theson, grossgewachsen mit aparter Kurzhaar-frisur, fasst zusammen: Baobab Books hat seineWurzeln in der «Erklärung von Bern» (EvB).Dort stellte man sich damals die Frage: «Wel-ches Bild von anderen Kulturen transportierenunsere Kinderbücher?» Es existierten GlobisWeltreise, 10 kleine Negerlein, Pipi Lang-strumpf im Taka-Tuka-Land . . . Eine Arbeits-gruppe stellte daraufhin eine Empfehlungslistezusammen, die erste erschien 1975. «Und dieseListe – sie heisst heute ‹Fremde Welten› – ma-chen wir noch immer», sagt Matheson undfächert ein Handbuch mit 180 Buchtipps zudeutschsprachigen Kinderbüchern auf. Es er-scheint alle zwei Jahre mit der stolzen Auflagevon 2000 Exemplaren. «Diese Dienstleistung

ist die einzige ihrer Art im deutschen Sprach-raum und sehr gefragt.» Schulen, Bibliotheken,Ämter und interessierte Eltern sind Abnehmer.In der Liste stecke die Arbeit von 25 ehrenamt-lichen Mitarbeiterinnen – Männer habe eskaum. In je einer Lesegruppe in Zürich undBasel wird jedes Buch von drei Personen gele-sen und streng beurteilt. Begutachtet werdenneben der literarischen Qualität, ob und aufwelche Art Themen wie kulturelle Vielfalt,Rassismus, Diskriminierung behandelt werden.«Mir genügt nicht, dass ein Buch spannend undder Autor ein Afrikaner ist. Es gibt auch dortviel Schrott! Ein gutes Kinderbuch muss einenProzess in Gang setzen, die Wahrnehmung ver-

ändern, Bilder wecken; ein Kind muss sich imBuch wiedererkennen.»

Zurück zu den Anfängen: In den 80er-Jahrenwandelte sich die Arbeitsgruppe bei der EvB zueiner Fachstelle, die nun auch vom Hilfswerkterre des hommes schweiz unterstützt wurde.Immer deutlicher kam zutage, dass unter denBüchern etwas Entscheidendes fehlte: dieauthentische Stimme aus den fernen Ländernselbst. So entstand die Idee, selber solcheBücher vor Ort zu suchen, zu übersetzen undherauszugeben: 1989 war der «Kinderbuch-

fonds Baobab» geboren. Zwei Jahre später er-schien das erste Buch der Reihe Baobab, die nurWerke von aussereuropäischen Autorinnenund Illustratoren aufnimmt.

«Ein selbständiger Verlag sind wir erst seit2011», erklärt Matheson. Diese Neuerung hatauch mit ihr zu tun. Sonja Matheson, die seit 20Jahren in Basel lebt, führt die Fachstelle seit2007. Vorher war sie bei terre des hommesschweiz in der Entwicklungsarbeit tätig undhatte dort als gelernte Verlagsbuchhändlerinauch das Dossier Baobab betreut. 2004 wech-selte sie ganz zur Fachstelle. «Als ich dann dieLeitung übernahm, war für mich klar, dass eineneue Struktur geschaffen werden musste; dejure existierten wir damals noch nicht. Unterdem Namen Baobab Books haben wir uns dannvon der EvB und terre des hommes schweiz ge-löst und zu einem Verein konstituiert.»

Immer auf SponsorensucheAls gemeinnützige Institution ist Baobab Booksauf Spenden angewiesen. Die grössten Brockenkommen noch immer von EvB und terre deshommes, in den letzten Jahren haben die Direk-tion für Entwicklung und Zusammenarbeitsowie das Bundesamt für Kultur namhafte Bei-träge beigesteuert, auch der Lotteriefonds undverschiedene Stiftungen. «Aber wir müssenJahr für Jahr zusätzliche Gelder einwerben, unddas ist mühsam. Es bedeutet sehr viel Papier-kram für manchmal sehr wenig Geld. Wir sindnur drei Mitarbeiterinnen und teilen uns 190Stellenprozente.» Fast unglaublich, wenn manbedenkt, was der Verein alles leistet. Man kannes Matheson deshalb nicht verargen, wenn sievon einem grosszügigen Sponsor träumt, derfür ein paar Jahre Beiträge spricht. Baobab

Der Baobab-Baum ist dasSinnbild des Verlags. Unterdem Baobab versammelnsich in Afrika dieMenschen,umGeschichten zu erzählen.

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Porträt

24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 15

Im Basler Baobab-Verlag: Die drei Mitarbeiterinnen (von links) Chantal Deuss, SonjaMatheson und Cyrilla Gadient bereiten die neuen Bücher für den Verkauf vor.

CHRISTIANFL

IERL

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Porträt

16 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

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● Jenny Robson: TommyMütze. Eine Erzählungaus Südafrika. 2012. 88 Seiten, Fr. 24.80(ab 9 Jahren).Dumisani und Doogal besuchen die 4. Klasseder Colliery-Grundschule. Sie sind dickeFreunde. Als der Direktor einen neuen Schülervorstellt, ist plötzlich nichts mehr, wie es war.Tommy, der Neue, trägt zum Erstaunen derganzen Klasse immer eine Mütze.

● Henri Mbarga (Text), Billy Djité (Illustration):Warum das Schwein keine Hörner hat. Undandere Geschichten aus Kamerun. 2012 (Hrsg.Museum Rietberg Zürich). 40 Seiten, Fr. 24.80(ab 6 Jahren).Die Tiere in diesen Geschichten habenmenschliche Eigenschaften: Sie sind klug,mutig oder eigennützig, aber auch übermütig,vorwitzig oder verträumt.

● Kagiso Lesego Molope: Im Schatten desZitronenbaums. Roman aus Südafrika. 2. Aufl.2012. 192 S., Fr. 23.80 (ab 12 Jahren).Die Apartheid trennt Schwarze undWeisse.1990 bröckelt das System, Nelson Mandela wirdaus dem Gefängnis entlassen, es gibt die ersten«gemischten» Schulen. Tshidiso ist stolz undverunsichert, als ihr erster Schultag auf demGymnasium in der Stadt beginnt.

Neuste Baobab-TitelBooks funktioniert in erster Linie als Fachstelle,die auch Bücher herausgibt. Ziele des Vereinssind die Förderung der kulturellen Vielfalt inder Kinder- und Jugendliteratur, dasWissen umfremde Kulturen, der kritische Blick hinaus indie Welt. Sie sei, sagt Matheson, wirklichmanchmal erschüttert darüber, was noch heutein diesem Bereich publiziert werde: Kinderbü-cher über ein armes Strassenkind in Afrikaetwa, geschrieben von einer Autorin, die niedort gewesen sei. Zweifellos sei immer alles«gut gemeint», aber das genüge heute nichtmehr, habe im Gegenteil fatale Folgen, weil fal-sche Bilder entstünden. «Wir gehen einen an-derenWeg: Unsere Bücher sind immer von denMenschen dort geschrieben und illustriert.»

Jährlich publiziert der Verlag drei bis vierneue Titel mit einer Auflage von bis zu 3000Exemplaren. Viele Bücher erreichen eine zwei-te und dritte Auflage. Bis heute hat er 60 Titel

herausgebracht. Daneben organisieren BaobabBooks Lesereisen, geben Kurse an pädagogi-schen Hochschulen und Bibliotheken und erar-beiten Unterrichtsmaterial zu ausgewähltenBüchern. «Wir liefern Mappen mit Hinter-grundinformationen zum Land, zur Kultur, zumAutor, zur Illustratorin – alles kostenlos.»

«Ein weiteres wichtiges Standbein von Bao-bab ist die Leseförderung», sagt Matheson. DasProjekt «Geita» in Tansania ist letztes Jahr vomVerlag abgeschlossen worden und steht jetztauf eigenen Füssen. Geita ist eine Häusergrup-pe um eine Goldmine herum. «Es gibt dortnichts, kaum staatliche Infrastrukturen, schongar keine Bibliotheken.» Gemeinsam mit terredes hommes schweiz hat Baobab Books dieKinder animiert, selber «Bücher» zu schreibenund zu produzieren. «Es existieren mündlichtradierte Geschichten. Durch den Strukturwan-del, die Abwanderung, Aids oder weil Elternfehlen, gehen sie aber langsam verloren.»

Die Kinder haben aber auch ganz persönli-che Erfahrungen und Erlebnisse aufgeschrie-ben und die losen Seiten mit Nadel und Fadengeheftet. Entstanden ist eine Bibliothek mit3000 «Büchern», die jetzt als «Geita mobile li-brary» in einem Bastkorb in der Region zirku-

liert. Matheson ist aufgestanden, hat rasch denComputer angeworfen, und wir klicken durcheine Bilderserie mit schwarzen Schulkindernbeim Lesen und Schreiben. «Wichtig ist, dassdie Kinder erfahren, dass Bücher auch für sieerreichbar sind, dass sie selber Geschichten er-zählen, schreiben und lesen können.» Das Pi-lotprojekt wird jetzt zu einem standardisiertenModul aufbereitet, das unter einheimischerLeitung an andern Orten in Afrika umgesetztwerden kann. «Zurzeit ist ein zweites, ähnli-ches Pilotprojekt im Entstehen, das wir in La-teinamerika durchführen wollen.»

Und wie kommt der Verlag zu seinen Bü-chern? Matheson lacht. «Jedes Buch hat seineganz eigene Geschichte. Vielleicht erkläre iches am besten an einem aktuellen Beispiel.» Zur-zeit arbeitet sie an zwei Buchprojekten aus Tai-wan. Auf der kleinen Insel Lanyu leben die Tau,eine indigene Bevölkerung. Durch eine Agentinist Matheson auf das Jugendbuch eines Tau-Autors gestossen, der sich als Brückenbauerzwischen den Kulturen versteht. Ihr hat dasBuch sehr gefallen. Hier geht es also «nur»darum, einen Übersetzer, eine Übersetzerin fürein bereits existierendes Buch zu finden.

Das andere Projekt ist komplizierter: DieTaus versehen ihre Fischerboote mit wunder-baren Zeichnungen. «Als ich bei meiner Re-cherche Fotos davon gesehen habe, wusste ichsofort: Das ist so schön, das muss ein Baobab-Buch werden!» Aber in Taiwan existiert nichtsDerartiges. Niemand ist bis jetzt auf die Ideegekommen, diese Kunstform zwischen zweiBuchdeckel zu bannen. Matheson muss einenIllustrator finden, dann einen Autor, eine Auto-rin, welche die Geschichten, die hinter diesenMotiven stecken, in kindergerechte Worte fas-sen kann. «Ein weiter Weg», sagt Matheson lä-chelnd, «es wird noch Jahre dauern, bis dasBuch hier auf dem Tisch liegt.»

Andere Werke beweisen, dass es geht. Ma-theson zieht aus einem Stapel auf dem Tischein Bilderbuch aus Indien, Titel: «Das machenwir». Liebevoll blättert sie durch das von zweiKünstlern der Warli, einer indigenen EthnieZentralindiens, illustrierte Werk. Es ist von Abis Z handgemacht; lustige weisse Gestaltenwimmeln auf hellbraunem Grund und zeigen,was tagein, tagaus im Dorf getan wird: fischen,ernten, reden, lesen. Oder «Der weise HaseIsopo», eine von holzschnittartigen Bildern be-gleitete Geschichte der indigenen Ainu ausJapan. Fast ohne Text kommt auch das indischeBilderbuch «Das Geheimnis der Bäume» aus(siehe Bild rechts). Seine Illustrationen sind sowunderbar, dass man bei jeder Seite innehaltenmöchte, um sich im Geäst der Fantasiebäumezu verlieren – ein Kunstwerk! Es erscheint die-ses Jahr in der vierten Auflage. ●

«Wichtig ist, dass die Kindererfahren, dass die Bücherauch für sie erreichbar sind.Dass sie selber Geschichtenerzählen, schreiben undlesen können.»

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Kolumne

24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 17

KurzkritikenSachbuchCharlesLewinskysZitatenlese

GAËTA

NBALLY/KEY

STO

NE

Musik wird oft nichtschön gefunden,weil sie stets mitGeräusch verbunden.

Wilhelm Busch

Adolph Sax ist schuld. Hätte er vorhundertsiebzig Jahren nicht die Militär-musik um ein besonders lautstarkes In-strument bereichern wollen und dafürdas Saxophon erfunden, würde heutekein Veranstalter auf die Idee kommen,literarische Lesungen durch einen Sa-xophonisten bereichern zu lassen.

Bereichern? Habe ich eben berei-chern geschrieben? Zutröten, wollte ichschreiben. In Stücke blasen, wollte ichschreiben. In Grund und Boden jaulen.

Denn Saxophonisten, vor allem wennsie als Einzelkämpfer auftreten, sinderbarmungslose Gesellen. Wenn sieeinmal losgelegt haben, kennen sie keinErbarmen. Da können die wehrlosenZuhörer noch so verzweifelt die weisseFahne schwenken und um Gnadeflehen. Wenn so einer einmal seinRohrblatt angefeuchtet hat, nützt er esschamlos aus, dass Ohren keine Liderhaben. Und es ist ihm völlig egal, dassseine Opfer eigentlich zu einer Lesunggehen wollten.

Pech gehabt. Jetzt ist erst mal der Sa-xophonist dran. (Oder die Saxophonis-tin. Ich habe auch schon unter derweiblichen Variante gelitten.)

Der Fairness halber: Es ist nichtimmer ein Saxophon, das die Veran-stalter aufs Podium schicken. Abermeistens. Ich weiss auch nicht warum.Vielleicht weil Bill Clinton dasselbeInstrument spielt. Aber mit dem hattenja auch schon andere Leute meinesNamens Probleme.

Bevor mir jetzt die Musikliebhaberunter den «Bücher am Sonntag»-Lesernböse Mails schicken: Eigentlich mag ichja Saxophon-Musik. Cannonball Adder-ley war neben Coleman Hawkins einesmeiner ersten Jazz-Idole. Aber wennich eine Lesung habe – danke, nein. Ichmag auch kein Marzipan zum Cervelatvom Grill.

Liebe, hoch verehrte Veranstalter!Eine Lesung ist eine Lesung ist eine Le-sung, so wie eine Rose eine Rose eineRose ist. Kein Podium für musikalischeSelbstverwirklichungsakrobaten. Esmacht den Abend nicht schöner, runderoder kultureller, wenn da auch nocheiner seine teure Selmer aus dem Inst-rumentenkoffer holt. Mich mit Tönenberieseln lassen kann ich auch in derWarteschlaufe jeder Helpline. Alsoladen Sie zu meiner nächsten Lesungbitte keinen Saxophonisten ein. KeinenSologeiger und keinen Triangelspieler.Und – auch wenn ich aus «Melnitz»lesen sollte – bitte, bitte keineKlezmer-Band.

Als Gegenleistung verpflichte ichmich hoch und heilig,beim nächsten Klavier-konzert keine Geschichtevorzulesen. GrossesSchriftsteller-Ehrenwort.

Der Autor CharlesLewinsky arbeitet inden verschiedenstenSparten. SeineZitatenlese für«Bücher am Sonntag»ist kürzlich als Buch«Falscher Mao, echterGoethe» bei NZZLibro erschienen.

Susanna Schwager: Das halbe Leben.JungeMänner erzählen.Wörterseh,Gockhausen 2012. 383 Seiten, Fr. 44.–.

Zweimal hat Susanna Schwager bereitsdas «volle Leben» geschildert, indem sieFrauen und Männer über 80 erzählenliess. Nach dem gleichen Rezept stricktsie nun ihr neuestes Buch: Elf Männerunter 40 parlieren, kichern, legen ihr In-nerstes frei. Von Zoff, Bluff und Jugend-streichen ist die Rede. Von Frauenbezie-hungen, Nöten, Träumen und vom le-gendären Schweigen der Männer. Essind – mit Ausnahme des Politikers Céd-ric Wermuth – Nicht-Prominente: einSlammer, ein Senn, ein Kickboxer, einMönch und andere Individuen. In kerni-ger Sprache mit Dialekt-Einsprengselnmäandern die Texte vor sich hin undwerden verzuckert mit andeutungsvol-len Kommentaren der Autorin. Wer dasmag, ist mit der neuen Schwager gut be-dient und erhält Einblick in das Seelen-leben einer Männergeneration, die nochnicht ganz zur Reife gelangt ist.Urs Rauber

Karl-WilhelmWeeber: Auf einen Wein mitSeneca.Gespräche über Gott und dieWelt.Primus, Darmstadt 2012. 176 S., Fr. 28.40.

DerVielschreiberKarl-WilhelmWeeber,Honorarprofessor für Alte Geschichte,hat wieder zugeschlagen. Diesmal spielter den Journalisten und setzt uns Kurz-interviews mit Seneca vor, die er zu mo-dernen Themenblöcken gruppiert hat.Weeber stellt Fragen beispielsweise zuSport, Erziehung, Mobbing, Börsen-crash. Seneca antwortet auf Latein mitdeutscher Übersetzung. Das tönt so:Weeber: «Gehört Bodybuilding zu ihrenSportfavoriten?». Seneca: «Es ist einetörichte und für einen geistig interes-sierten Menschen gänzlich unangemes-sene Tätigkeit, seine Arme zu stählen,seinen Nacken zu verbreitern und seineBrust zu stärken». Seneca lebte im 1. Jh.n. Chr., war römischer Philosoph, Staats-mann und selber Schriftsteller. Die Dia-loge zwischen heute und vorgesternwirken bisweilen etwas bemüht, zeigenaber, dass die Kluft zwischen den Zeitennicht gar so gross ist.Geneviève Lüscher

Steven Cave: Unsterblich. Die Sehnsuchtnach dem ewigen Leben. S. Fischer,Frankfurt a.M. 2012. 366 Seiten, Fr. 32.90.

Der Wunsch nach Unsterblichkeit alsMotor und Grundlage aller menschli-chen Errungenschaften – auf diesen Ge-danken stützt der Journalist und Philo-sophie-Dozent Stephen Cave eine Geis-tesgeschichte von den alten Ägypternbis zur modernsten Medizin. Er unter-scheidet vier Wege auf denen die Men-schen das ewige Leben suchen: Nebstdem Bestreben möglichst lange amLeben zu bleiben sind es der Glaube andie Auferstehung des Körpers oder andas Weiterleben der Seele, und schliess-lich das Bestreben über ein Vermächtnis– seien dies eine Ruhmestat, ein Werkoder einfach die eigenen Nachkommen– Unsterblichkeit zu erlangen. Religion,Philosophie, Kultur und letztlich die ge-samte Zivilisation erklärt Cave auf die-ser Grundlage. Flüssig geschrieben undmit wunderbaren Zitaten gespickt, prä-sentiert sich diese Welt-Geistesge-schichte durchaus überzeugend.Kathrin Meier-Rust

Gottfried Honegger: 34699 Tage gelebt.Eine autobiografische Skizze. Limmat,Zürich 2012. 151 Seiten, Fr. 44.–.

Zu seinem 95. Geburtstag am 12. Junischenkt uns der Zürcher Künstler Gott-fried Honegger eine wunderschöne Au-tobiografie. In knappen lyrischen Sätzenerzählt der Ästhet von seiner Heimat inden Bündner Bergen, seiner Lehre alsSchaufensterdekorateur, von Freundenund Vorbildern. Honegger war über 30Jahre beruflich und privat liiert mit derGrafikerin Warja Lavater. Seit 1971 lebter mit der Kunstsammlerin Sybil Alberszusammen, mit der er eine grossartigeSammlung konkreter Kunst aufbaute,die beide 1997 dem französischen Staatschenkten. Für den gesellschaftspoli-tisch engagierten Maler und Bildhauerist Kunst eine «Waffe gegen das Böse».Nach Jahren des Exils in NewYork, Parisund Cannes lebt er heute wieder in Zü-rich, wo auch sein neuestes Werk beimParkhaus Opéra steht: elegant und ei-genwillig wie die Geburtstagsgabe.Urs Rauber

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Sachbuch

18 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

Kai Vogelsang: Geschichte Chinas.Reclam, Ditzingen 2012. 646 S., Fr. 53.90.Yang Jisheng: Grabstein – Mùbei.Diegrosse chinesische Hungerkatastrophe1958–1962. Aus demChinesischen vonHans Peter Hoffmann. S. Fischer,Frankfurt a. M. 2012. 792 Seiten, Fr. 39.90.Loretta Napoleoni: China – der bessereKapitalismus.Was derWesten vomReich derMitte lernen kann. OrellFüssli, Zürich 2012. 320 Seiten, Fr. 28.50.

VonHarro von Senger

«China ist das Land mit der ältesten Zi-vilisation der Welt . . . Es hat eine vier-tausendjährige kontinuierliche Ge-schichte . . . eine dreitausendjährigeschriftliche Überlieferung». Von sol-chen Schwärmereien, wie sie im Jahr1904 der chinesische Intellektuelle WeiZhong von sich gab, hält der HamburgerSinologe Kai Vogelsang in seinem Werk«Geschichte Chinas» nichts. Den «altenTopos vom ‹ewigen China›» weist erebenso von sich wie das von der chine-sischen Geschichtsschreibung seit 2000Jahren vermittelte «Bild einer homoge-nen Hochkultur, die sich im Rahmeneines mächtigen Einheitsreichs entfaltethat». Das China, wie es sich in landläu-figen Vorstellungen darstellt, gibt esnach seiner Ansicht nicht.

Vogelsangs Perspektive «will fragloseKontinuitäten auflösen und zugleich

den Blick auf Zusammenhänge lenken,die durch herkömmliche Untersuchun-gen allzu leicht verdeckt werden». DasGrundproblem der chinesischen Ge-schichte sei die Ordnung einer hetero-genen Gesellschaft. Auf jede Steigerungsozialer Optionen habe die chinesischeGesellschaft mit neuen Ordnungsmus-tern reagiert. So bildet denn der Zusam-menhang zwischen kulturellen Formenund den zugrunde liegenden Problemeneiner ständig komplexer werdenden Ge-sellschaft das Leitmotiv des Buches. FürVogelsang ist längst nicht alles in derGeschichte durch menschliches Tun zuerklären: «Ja, der Mensch ist, wie aufeiner chinesischen Landschaftsmalerei,nur ein kleines Element im Zusammen-spiel der historischen Kräfte.» Ihn inte-ressieren China und die Chinesen nichtals Ethnie, sondern als soziale Konstruk-tion. Demgemäss dienen ihm zur Orien-tierung etwas blutleer anmutende sozio-logische Gesetzmässigkeiten, klimati-sche und geographische Einflüsse sowieThesen wie jene von der «Achsenzeit».

Imponierende GeschichteIndemVogelsang die Entstehung Chinasauf das 13. bis 6. Jahrhundert v. Chr. an-setzt und von «den 2200 Jahren des chi-nesischen Kaiserreichs» spricht, kann ersich letztlich der Kontinuität der chine-sischen Geschichte, wie wechselhaft sieauch gewesen sein mag, nicht entziehen.Mag er auch im Endergebnis die Dauer

der chinesische Geschichte von den oftbehaupteten 5000 Jahren auf 3200 Jahreverringern, so ändert dies nichts daran,dass die Chinesen auf eine verglichenetwamit den USA oder Deutschland im-ponierend lange und stets um ein be-stimmtes Kerngebiet kreisende Ge-schichte zurückblicken können.

Eine die chinesische Geschichteheimsuchende Kontinuität sind Katast-rophen, oft verbunden mit Kannibalis-mus. Die grösste Hungersnot der Welt-geschichte ereilte China in den Jahren1959–62 während der Mao-Zeit. Die oftzu hörende Klage, die Chinesen hättensich nie an die Aufarbeitung dieser trau-matischen Epoche gemacht, trifft nichtzu, kündigte doch etwa der zentrale chi-nesische «Katalog gesellschaftswissen-schaftlicher Bücher» am 1. 8. 1989 eineBroschüre mit dem Hinweis an, 1961seien allein in der Provinz Anhui «meh-rere Millionen Menschen an Hunger ge-storben». Das Buch kam im Dezember1989 in Peking heraus. Und im Jahr 2008erschien in Hongkong – einem Gebietder Volksrepublik China mit weitgehen-der Publikationsfreiheit – in zwei Bän-den ein Werk über die grosse chinesi-sche Hungerkatastrophe 1958–1962.

Dem Tübinger Sinologen Hans PeterHoffmann ist nun mit «Grabstein –Mùbei» eine gut gelungene, stark ge-kürzte Übersetzung dieser erschüttern-den Dokumentation zu verdanken. De-ren Verfasser Yang Jisheng, ein Mitglied

ChinaMit demReich derMitte befasst sich eineReihe neuer Bücher – darunter eine kritischeGesamtdarstellung und eine erschütternde Insider-Publikation

KatastrophenalshistorischeKontinuität

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Zwischen Qualitätund Quote

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24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 19

Propagandabildwährend derHungerjahre: Mao(1893–1976), umringtvon lächelndenKindern, um 1960.

SELV

A/LE

EMAGE

der Kommunistischen Partei Chinas undoffenbar unbehelligt im chinesischenKernland lebend, spricht von 36 Millio-nen Menschen, die in der genanntenZeitspanne verhungert seien: «Es sindmehr als alle Toten des gesamten ErstenWeltkriegs.» Als Hauptverantwortli-chen bezeichnet er Mao. Nicht zuletztunter dem Einfluss stalinistischer Vor-gehensweisen wähnte dieser, mittels des«Klassenkampfes» als des «Hauptket-tenglieds» und Methoden wie Planwirt-schaft, Errichtung von Volkskommunen,Vernichtung der Familie sowie Abschaf-fung des Privateigentums einen «mög-lichst schnellen Übergang Chinas zumKommunismus» herbeiführen zu kön-nen. Mit dem «Grossen Sprung nachvorn» sollte China von einem Land derDritten Welt zu einer Industrienation

werden. «Wenn wir den Kommunismushaben, sind wir reich», zitiert Yang Ji-sheng aus einer Verlautbarung der da-maligen Zeit. Die Rede war von einem«Paradies, in dem Essen, Trinken undKleidung umsonst sind».

Nicht Maos Ziel, sondern seine Mass-nahmen führten ins Verderben. Das Zielder Schaffung einer von allgemeinemWohlstand geprägten kommunistischenGesellschaft übernahmen Deng Xiao-ping und seine Nachfolger von Mao,aber dessen fieberhafte Hast ersetztensie durch langfristige Planungen. Vieleseiner Methoden änderten sie. So er-gänzten sie die stark zurückgenommenePlanwirtschaft durch eine «sozialisti-sche Marktwirtschaft», der aber unteranderem die EU die Anerkennung alsMarktwirtschaft versagt. Die grundle-

gendste Methode Maos benutzten Dengund seine Nachfolger freilich weiter:den Einsatz des Milliardenvolkes zurLösung eines «Hauptwiderspruchs».Anstelle des Widerspruchs zwischenProletariat und Bourgeoisie ist es seit1978, vereinfacht gesagt, jener zwischenRückständigkeit und Modernisierungs-bedürfnis.

«Wir wollen keine Werkzeuge derModernisierung sein», sagte im Jahr1978 Wei Jingsheng, ein heute im Exillebender Vorläufer des Friedensnobel-preisträgers Liu Xiaobo. Aus dem Satzwird ersichtlich, dass die von Mao Ze-dong 1937 in seiner Abhandlung «Überden Widerspruch» eingeführte Füh-rungsmethode der Instrumentalisierungdes ganzen Volkes seit 1978 unverändertumgesetzt wurde: nämlich durch die Fo-kussierung aller Energien auf die Lö-sung eines Hauptwiderspruchs. In denJahren 1958–1962 und bis zu Maos Tod(1976) geschah dies, wie Yang Jishenghervorhebt, in Form des «Klassenkamp-fes», danach in Form der «Modernisie-rung».

China mit Demut betrachtenAuf diese Kontinuität der Wirkweisedes Sinomarxismus als einer Richt-schnur des Handelns, wie es in der Sat-zung der Kommunistischen Partei Chi-nas heisst, weisen weder Yang Jishengnoch Kai Vogelsang noch Loretta Napo-leoni in ihremWerk «China: der bessereKapitalismus» hin. «China ist nicht un-bedingt ein Vorbild, dem man folgensollte», stellt sie fest. Warum dann derUntertitel «Was der Westen vom Reichder Mitte lernen kann»? NapoleonisBuch krankt an zahlreichen Oberfläch-lichkeiten. So behauptet sie etwa, derShanghaier Transrapid fahre «mit Über-schallgeschwindigkeit», und die chine-sische Buchautorin Yu Dan bezeichnetsie als Mann. Aber sie liefert auch wert-volle Ratschläge wie: Man solle «Chinaund Asien mit Demut und Hoffnung be-trachten, nicht mit Überheblichkeit undSelbstgerechtigkeit», und bevor man be-werte, solle man verstehen.

Aus den drei Büchern ragt jenes vonVogelsang heraus. Es ist als historischesStandardwerk zu empfehlen, auch wennimmer wieder Einzelheiten irritieren.So schafft es zwar der Buddhismus ineine der zehn Kapitelüberschriften,nicht aber der Konfuzianismus. Vogel-sang legt grosses Gewicht auf Riten,«einen Kernbegriff des Konfuzianis-mus», aber das bedeutendste Ritenwerkder Kaiserzeit, den «Ritenkodex aus derRegierungsperiode Kaiyuan der grossenTang-Dynastie» von 732 n. Chr., über-geht er. Als «taiwanesischen Dialekt»bezeichnet er die keineswegs auf Tai-wan beschränkte «Südliche Fujian-Spra-che». Dennoch überwiegen insgesamtdie Kostbarkeiten in dem mitreissendgeschriebenen Werk. So etwa die Ein-sicht, die Geschichte Chinas lasse sich«nicht auf eine einzige, verbindlicheDarstellung reduzieren». ●Harro von Senger ist emeritierterProfessor für Sinologie an der UniversitätFreiburg i. Br.

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Sachbuch

20 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

Ein zeitgenössischesGemälde von JohannAdamKlein zeigt denRückzug der GrandeArmée imWinter1812. Napoleonsdesaströser Feldzugkostete rund 380000Soldaten das Leben.

SELV

A/LE

EMAGE

Adam Zamoyski: 1812.NapoleonsFeldzug in Russland. C. H. Beck,München 2012. 720 Seiten, Fr. 42.90,E-Book 29.90.Günter Müchler: 1813.Napoleon,Metternich und das weltgeschichtlicheDuell von Dresden. Theiss,Stuttgart 2012. 272 Seiten, Fr. 37.90.

VonKathrinMeier-Rust

Heute Sonntag – am 24. Juni 2012 – sindauf den Tag genau 200 Jahre vergangen,seit Napoleon im Morgengrauen aufsPferd stieg und drei Pontonbrückenüber den Njemen inspizierte, den dama-ligen Grenzfluss zum russischen Reich.Vom hohen Ufer sah er dann zu, wieseine Armee in voller Montur und mus-tergültiger Ordnung über die Brückenmarschierte, bevor er selbst den Flussüberquerte. Am östlichen Ufer bestieger ein Pferd namens «Moskau» und liessseine Soldaten, «Vive l’Empereur» ru-fend, an sich vorbeidefilieren.

Fünf Monate später schleppten sichzerlumpte, ausgemergelte Gestalten beiminus 37 Grad über den gefrorenen Nje-men – nun in der Gegenrichtung. Dertapfere Marshall Ney bezeichnete sichselbst als «die Nachhut». Er feuerteeinen letzten Schuss in Richtung der ihnverfolgenden Russen und warf dann diePistole angeekelt fort.

Zwei Perspektiven statt eineVon den nach heutigen Schätzungenetwa 400000 Soldaten der GrandeArmée aus ganz Europa kamen höchs-tens 20000 lebend zurück. Alle Opferauf beiden Seiten eingerechnet war etwaeine Million Menschen durch diesenFeldzug umgekommen. Dazu kommen160000 Pferde. Der Nachschub war vonAnfang an völlig ungenügend, Plündereian der Tagesordnung. Hunger und Ent-behrung hatten die Armee um ein Drit-tel dezimiert, bevor sie ihre ersteSchlacht schlug. Diese, um Smolensk,war ebenso wie Borodino und alle fol-genden ein über alle Massen verlust-reiches Gemetzel. Dann das brennendeMoskau und der viel zu spät angetreteneRückzug, der in die schier unvorstell-bare Katastrophe führte: Gewalt undChaos, Kälte und Kannibalismus, Krank-heit, Verstümmelung und Tod.

Das Debakel der Grande Armée inRussland sei eine Geschichte, von derjeder gehört habe und die doch keinerkenne, schreibt Adam Zamoyski, ein inEngland lebender Historiker polnischerAbstammung, im Vorwort seiner bril-lanten Darstellung des Russlandfeldzu-ges von 1812. Dieser ist schon oft darge-stellt worden, meist jedoch aus französi-scher oder russischer Sicht. Zamoyskiverknüpft die beiden Perspektiven undräumt gründlich mit den auf beiden Sei-ten bis heute geliebten Legenden auf:die napoleonisch-französische, wonach

einzig das Klima für den Untergang derGrande Armée verantwortlich war, wodoch Napoleon geradezu systematischjede Warnung in den Wind geschlagenund selbst offensichtlichste Versäum-nisse und Missstände lieber verdrängtals korrigiert hatte. Und die russische –durch Tolstois «Krieg und Frieden»grossartig kanonisiert –, wonach dasrussische Zurückweichen eine beson-ders listige Strategie des alten GeneralsKutusow gewesen sei, wo es dochschlicht um völliges Unvermögen eineszerstrittenen russischen Generalstabsging und um die banale Furcht vor einerArmee, die bisher immer gesiegt hatte.

Meisterhaft schildert Zamoyski schondie diplomatische Vorgeschichte desKrieges und seiner Protagonisten, Na-poleon und Zar Alexander I. Keiner vonbeiden wollte Krieg, und doch zog sichdas Netz wie von selbst und unaufhalt-sam zusammen. Doch das eigentlicheAnliegen des Autors ist es zu zeigen,was dieser Krieg für die Betroffenen be-deutet hat. Und er breitet deshalb einenormes Quellenmaterial aus: ob Fran-zose, Italiener oder Russe, ob Generaloder Soldat, ob Pfarrer, Arzt oder Pros-tituierte – es sind ihre Erzählungen, ausBriefen und Erinnerungen, Tagebü-chern, Memoranden und Tagesbefehlen,die sich wie Mosaiksteine zum grandio-sen Bild dieses Krieges fügen.

Entsprechend ist das Werk nicht mitden üblichen romantisierenden Schlach-tenbildern illustriert, sondern mit Skiz-zen und Zeichnungen, die allesamt vonTeilnehmern des Feldzuges stammen.Zahlreiche Karten zu den Gefechtensowie eine ausgezeichnete Grafik zurzahlenmässigen Entwicklung derGrande Armée vervollständigen einBuch, das man auch dann nicht aus derHand legen kann, wenn sich die Schil-

derung unerträglicher Qualen schierunerträglich wiederholt.

Warum ist Napoleon trotz einerschon früh und offensichtlich despera-ten Lage geradezu fahrlässig weitermar-schiert? Weil jedes Anhalten, schon gareine Umkehr, seinen Nimbus beschädigthätte und in den Augen der Welt einerNiederlage gleichgekommen wäre, er-klärt Zamoyski. Niederlagen aber konn-ten sich, wie Napoleon oft bitter be-merkt hat, nur legitime Herrscher leis-ten. Der Parvenu war zum Siegen ver-dammt. «Er glaubte an den Sieg, weil erfür ihn unerlässlich war», notierte Na-poleons treuer Adjutant Caulaincourtschon in den ersten Tagen des Russland-feldzugs.

Untergang bahnt sich anDieses psychische Gesetz des Empor-kömmlings untermauert Günter Müch-ler mit seinem Buch «1813» in überzeu-gender Weise. Er beginnt dort, wo Za-moyski aufhört: bei Napoleons 13-tägi-ger Flucht zurück nach Paris. Zielsichersteuert der Autor dann durch die diplo-matischen und militärischen Ereignisseauf das Treffen Napoleons mit dem ös-terreichischen Aussenminister Metter-nich zu, das am 26. Juni 1813 in Dresdenstattfand, über acht Stunden dauerteund keine Zeugen hatte. In dieser be-rühmten «entrevue» sieht der Autoreines jener singulären Ereignisse derGeschichte, das «blitzartig eine diffuseSzenerie erhellt». In diesem Fall die Sze-nerie des sich anbahnenden Untergangsdes Empereurs, dessen Metternich sichgewiss war, als Napoleon in Dresdenjede auch noch so kleine Forderung sei-ner Feinde mit Wutanfällen quittierte.Müchlers «1813» ist nicht nur in chrono-logischer Hinsicht eine ausgezeichneteFortsetzung von Zamoyskis «1812». ●

GeschichteVor 200 Jahren überquerteNapoleon denGrenzfluss zuRussland. Eine grossartige neueDarstellung des Feldzugs räumtmit liebgewonnenen Legenden auf

DasDebakelderGrandeArmée

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24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 21

Der Jurist und BankerHans-Ulrich Doerigerinnert an SchweizerErfolgsfaktoren.

SASKJA

ROSSET/PIXSIL

Ralph Hug: Eine andere Wahl ist möglich.Wie Paul Rechsteiner Ständerat wurde.Rotpunkt, Zürich 2012. 181 S., Fr. 29.90.

VonUrs Rauber

Wie ist es möglich, dass in der konserva-tiven Ostschweiz ein SP-Linker wie PaulRechsteiner Ständerat wird? Um dieseFrage, die sich am Abend des 27. Novem-ber 2011 die halbe politische Schweizstellte, dreht sich das Buch des freienJournalisten und Historikers Ralph Hug.Hug schreibt aus der Sicht eines Insiders,der demWahlkampfteam angehört hatte,das die Kampagne für Rechsteiners über-raschende Wahl ins Stöckli führte.

Überraschend war Rechsteiners Er-folg, weil er im zweiten Wahlgang nichtnur den CVP-Kandidaten aus dem Feldgeschlagen hatte, sondern auch den na-tional bekannten SVP-Präsidenten ToniBrunner. Die CVP-Kandidatur war, wiesich im Nachhinein zeigte, ein Fiasko,weil nach der Niederlage des Bisherigen

Eugen David im ersten Wahlgang einunbekannter Ersatzmann in die Lückegesprungen war. Und die SVP-Kandida-tur litt unter dem grossspurig verkünde-ten Anspruch eines «Sturms aufs Stöck-li» ebenso wie unter dem Stimmenrück-gang der SVP bei den Nationalratswah-len. Die FDP hatte ihrerseits Regie-rungsrätin Karin Keller-Sutter schon imersten Wahlgang mit einer Rekordstim-menzahl ins Ziel gebracht.

Für Rechsteiners Erfolg war aber auchdie eigenständige Wahlkampagne ent-scheidend, die sich bewusst von SP undGewerkschaften absetzte. Dank einpräg-samer Slogans wie «Gute Löhne, guteRenten!» und «Einer für alle», einer klas-sisch linken Polittypografie auf Plakatenund Flugblättern sowie der kompaktenMobilisierung der eigenen Anhänger-schaft gelang es dem klassenkämpferischauftretenden Sozialisten, auch in libera-len und kirchlichen Kreisen zu punkten.Arm gegen reich, unten gegen oben, sozi-al gegen rechtsbürgerlich – das warenRechsteiners Kampflinien, mit denen er

sich auch vom Salon- und Cüplisozialis-mus der eigenen Partei abgrenzte.

Hugs Innensicht vermittelt kaumneue Erkenntnisse und schon gar keineGeheimnisse. Dennoch zeigt sie zweier-lei: Dass Wahlen in der Schweiz immernoch stark persönlichkeitsgeprägt sind,d.h. in der Regel Personen über Pro-gramme siegen, und dass Profil undGlaubwürdigkeit – unabhängig vompoli-tischen Standort – vor Durchschnittlich-keit und Ausgewogenheit gewinnt.

Paul Rechsteiner selbst sieht in sei-nem Erfolg «eine ganz grosse Aufgabe,vor der ich einen grossen Respekt habe»,sowie die Verpflichtung, als Standesver-treter auch die regionale Perspektiveeinzunehmen. Kein Zufall, dass er sich inseinem ersten Vorstoss zusammen mitKeller-Sutter für eine Ostschweizer Ver-kehrspolitik engagiert. Wer genau hin-hörte, stellte fest, dass der hartgesotteneGewerkschafter in seiner Parlamentser-öffnungsrede ebenso wie bei seinerselbstkritischen 1.-Mai-Rede dieses Jahr– leise – neue Töne anklingen liess. ●

PolitikPaul RechsteinersWahl zumSt.Galler Ständerat aus Sicht eines Insiders

Alles andereals einCüplisozialist

Hans-Ulrich Doerig: So gewinnt dieSchweiz. 12 Erfolgsfaktoren und12 Fitnessprogramme. NZZ Libro,Zürich 2012. 245 Seiten, Fr. 44.–.

VonMarkus Schär

Die Schweizer mögen sich nicht mehrvon Managern sagen lassen, wie sieihren Staat führen müssen, schon garnicht von Bankern, die «too big to fail»sind. Bei Hans-Ulrich Doerig aber soll-ten sie eine Ausnahme machen. Denndas «Appenzeller Urgestein» (NZZ) ge-hört zur aussterbenden Gattung derguten alten Schweizer Banquiers: intel-lektuell, kultiviert und kosmopolitisch,aber auch bodenständig, dem Land undseinen Leuten verpflichtet. Nach fastvierzig Jahren bei der SchweizerischenKreditanstalt bzw. Credit Suisse erlebteHans-Ulrich Doerig den kaum noch er-hofften Karrierehöhepunkt, als er nachder globalen Finanzkrise, von 2009 bis2011, die Credit Suisse Group als Verwal-tungsratspräsident wieder in ihrer Hei-mat verwurzelte.

Der promovierte Jurist, der bei derGrossbank die Verantwortung für dasEinschätzen der Länderrisiken trug undsich während seiner ganzen Berufskarri-ere 25 Prozent der Arbeitszeit nahm, umüber Themen nachzudenken, «die erstin den kommenden Jahren wichtig seinwürden», hat den Schweizern wirklichetwas zu sagen. Im Frühling 2011 hielt ereinen stark beachteten Vortrag bei derZürcher Volkswirtschaftlichen Gesell-schaft, was der Standort Schweiz brau-che, um die nächsten zehn Jahre erfolg-

reich zu bleiben. Seine Antwort vertief-te der Ein-Mann-Think-Tank aufWunschdes Publikums in einem schmalen Buch,das jetzt vorliegt: vollgepackt mit Fak-ten, Ideen und Impulsen.

In den letzten zwanzig Jahren forder-ten Wirtschaftsleute den Aufbruch imLand, weil der Schweiz in der schnellenGlobalisierung nach 1989 der Nieder-gang drohte. Vor dieser Gefahr warntauch Hans-Ulrich Doerig, der seit den1980er-Jahren mehrmals jährlich nachChina reist und die «tektonischen Ver-schiebungen in der Weltwirtschaft»sieht. Aber er hütet sich vor Alarmis-mus; er glaubt, die Schweiz könne er-

folgreich bleiben, wenn sie sich auf ihretraditionellen Werte besinne – und dieszügig umsetze: «Extrem dumm wäre es,zu spät das tun zu müssen, was wirheute tun sollten und aus eigener Krafttun können.»

Zu zwölf Werten entwickelt der Re-former Fitnessprogramme mit jeweilszwölf Massnahmen. Dabei setzt er vorallem auf Kommunikation, im Innernund nach aussen. In der Schweiz will erdie Grundlagen des Erfolgs besser erklä-ren, vom Abgabenzwang über die Perso-nenfreizügigkeit bis hin zur Kosten-wahrheit im Gesundheitswesen, wo dieLeistungen «direkt nichts kosten».

Und in der Welt will er den Ruf derSchweiz wieder verbessern, so etwa mitder Idee, jährlich 100 Millionen Frankenan exzellente Studierende aus aufstre-benden Märkten zu vergeben, um diesekünftigen Eliten dann als Freunde zu ge-winnen.

Die zwölfmal zwölf Massnahmen, da-runter auch die Erhöhung des Rentenal-ters auf 68, liessen sich in den nächstenzehn Jahren durchziehen, glaubt Hans-Ulrich Doerig, geprägt vom globalenBusiness, nicht von der nationalen Poli-tik. Das Buch dient aber auch jenen, diedieses allzu ambitiöse Programm belä-cheln oder bekämpfen: Einerseits liefertes auf knappem Raum für alle Politikbe-reiche die wichtigen Fakten, anderseitsbietet es die wertvollen Erfahrungen desManagers, der in seinem akribisch in derAgenda festgehaltenen Berufsleben33000 Gespräche mit Menschen in allerWelt führte – das Vermächtnis eines hei-matverwurzelten Banquiers und weltof-fenen Patrioten. ●

WirtschaftDer frühereCS-PräsidentHans-UlrichDoerig hat Fitnesstipps für die Schweiz

AppenzellerUrgestein

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Sachbuch

22 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

Für Kinder sindPuppen beseelteWesen und einNährboden für diePhantasie. InsaFooken hält sie heutefür eine «bedrohteSpezies».

SCHELL

ER/PLA

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Dieter Steiner: Die Universität derWildnis. JohnMuir und seinWeg zumNaturschutz in denUSA. Oekom,München 2012. 402 Seiten, Fr. 39.90,E-Book 33.90.

Von Simone Schmid

Eigentlich wollte der emeritierte Geo-grafie-Professor Dieter Steiner ein Lehr-buch zur Humanökologie schreiben.Doch nachdem er zehn Jahre lang (!)Material gesammelt hatte, verwarf er dieIdee wieder – er war zum Schluss ge-kommen, dass man Ökologie gar nichtlehren kann. Stattdessen entschied sichSteiner, die Geschichte einer faszinie-renden Persönlichkeit zu erzählen, wel-che die moderne Umweltschutz-Bewe-gung mitbegründet hat: John Muir, dervon 1838 bis 1914 lebte.

John Muir war so etwas wie ein Pro-phet der Wildnis. Der schottisch-ameri-kanische Universalgelehrte konnte wo-chenlang in den Wäldern Kaliforniensabtauchen, er betrachtete die Natur alsLehrmeisterin und Kathedrale und setz-te sich vehement für deren Schutz ein.Zusammen mit anderen Bewegten grün-dete Muir 1892 den Sierra Club, eine derweltweit ersten Naturschutzorganisati-onen überhaupt.

Der «Vater unserer Nationalparks»,wie Muir in den USA auch genanntwird, schlief einst drei Tage lang nebendem Präsidenten Theodore Rooseveltunter freiem Himmel, um ihn von derSchönheit der unberührten Landschaftzu überzeugen. Das Resultat ist der Yo-semite-Nationalpark, der auf BetreibenRoosevelts 1906 unter bundesweitenSchutz gestellt wurde. Heute ist Muirauf Gedenkmünzen und Briefmarken zu

finden, etliche Pflanzen sind nach ihmbenannt.

Doch der Mann, der sich selber einenPoeten, Landstreicher, Botaniker, Geo-logen, Ornithologen und Naturkundlernannte, war auch eine widersprüchlichePersönlichkeit. Während er beispiels-weise die Nutzung der wilden Wälderbekämpfte, wurde er selber mit einerObstplantage reich. Leider kommen sol-che interessanten Widersprüche in derBiografie zu wenig zum Tragen. Steinerscheint etwas gar viel Respekt vor sei-nem Helden zu haben und erzählt ver-dienstvoll jede biografische Veräste-lung. Etwas mehr Mut zur Lücke, zureigenen Deutung und ein kritischererBlick auf Muirs Persönlichkeit hättengut getan. Dennoch: Die Biografie bringtuns einen aussergewöhnlichen Men-schen näher und gibt einen guten Ein-blick in den damaligen Zeitgeist. ●

UmweltschutzFaszinierende Biografie eines legendären amerikanischenNaturschützers

JohnMuir –ProphetderWildnis

Insa Fooken: Puppen – heimlicheMenschenflüsterer. IhreWiederent-deckung als Spielzeug und Kulturgut.Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen2012. 238 Seiten, Fr. 40.90.

Von IrmgardMatthes

Die Notwendigkeit mancher wissen-schaftlichen Untersuchungen mag manmit Fug und Recht bezweifeln. Im Fallder Studie von Insa Fooken über Puppenund ihre Bedeutung im Kinderspiel istdas nicht nötig, enthält sie doch eineFülle interessanter Aspekte zu einemvon der Forschung lange vernachlässig-ten Thema und berührende Dokumentetiefer Verbundenheit mit den einstigenSpielgefährten.

Fooken, Psychologieprofessorin ander Universität Siegen, geht von derThese aus, dass Puppen heutzutage ihrefrühere Vorrangstellung in Kinderzim-mern und -büchern verloren haben undeine «bedrohte Spezies» sind, obwohlsie Eigenschaften von einzigartiger Qua-lität haben. Wenn Klaus Mann 1932 inseiner Autobiografie schreibt: «Wiewunderbar wir gespielt haben! […] diePuppen wurden wirklich lebendig; […]sie hatten sogar die kompliziertestenSchicksale. Sie zankten sich, sie beka-men Kinder, sie erwarben Vermögen,verloren sie, unternahmen Reisen, littenan bösen Krankheiten. Sie hatten Lieb-lingsgerichte […]», dann trifft er damitden Kern dessen, was in unzähligen

Kindheitserinnerungen und Mädchen-büchern zum Ausdruck kommt.

Kinder erleben Puppen als beseeltesGegenüber, sie verleihen ihm eigeneoder fremde Eigenschaften und könnendadurch den gesamten Spielraummenschlicher Handlungsweisen wie mitkeinem anderen Spielzeug ausloten.Diese Feststellung ist ein zentrales Er-gebnis der 1887 von den amerikanischenPsychologen Ellis und Hall durchge-führten ersten wissenschaftlichen Un-tersuchung «A study of dolls» über dieBeziehung von Kindern und Jugendli-chen zu Puppen. Sie findet Bestätigungin den Aussagen junger Erwachsener,die von der Autorin 2009/10 über Spiel-erfahrungen mit Puppen und Kuschel-tieren in der Kindheit befragt wurden.

Fooken verortet diese Aussagen aufdem Hintergrund der Entwicklungspsy-chologie, sie unterzieht die Ergebnissevon Ellis und Hall einer kritischenWür-digung aus heutiger Sicht und richtetdarüber hinaus den Blick auf Kulturge-schichte und pädagogisch-psychologi-sche Praxis. Hier geht es um den Zaubervon Puppen jenseits der Kindheit, umüberlieferte Funktionen und Formenvon Puppen, um die Frage, ob dieseheute von Kuscheltieren verdrängt wer-den und welche Rolle sie im pädagogi-schenunddiagnostisch-therapeutischenBereich für Kinder oder kranke und alteMenschen spielen.

Und nicht zuletzt geht es um Barbieund He-Man: Warum ist die heissgelieb-te Modepuppe so umstritten, was pas-

siert mit dem Action-Helden in Kinder-hand? Trotz der breiten Auffächerungpräsentiert die Autorin ihr Thema soüberschaubar, dass besonders interes-sierende Kapitel leicht herausgegriffenwerden können. Und obwohl sie sich imVorwort dazu bekennt, die Studie auchmit «unwissenschaftlichem Herzblut»verfasst zu haben, fällt die ausgewogeneBeurteilung der Forschungsergebnisseauf. Dies nicht zuletzt bei der Frage, obund inwieweit das Spielen mit Pup-pen geschlechtsspezifische Rollenbilderverfestigt.

Den Schluss des Buches bildet ein en-gagiertes Plädoyer dafür, dass Erwach-sene den Kindern auch heutzutage, trotzder «jederzeit verfügbaren Magie dervirtuellen Welten», eine reale Spielweltals Nährboden der Phantasie anbietensollten mit Puppen, die «nicht nur ste-reotyp vorgestanzt sind, sondern […]vielfältige, lustvolle und durchaus wi-dersprüchliche Formen der Beseelungzulassen». ●

Spielzeug In der Entwicklungspsychologiewird dieRolle vonBarbie neu entdeckt

RettetdiePuppen

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24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 23

Möglicherweiselitt auch der MalerHieronymus Bosch(ca. 1450–1516) anTinnitus. Ausschnittaus seinemGemälde«Garten der Lüste».

BRIDGEMANART

Uwe C. Steiner: Ohrenrausch undGötterstimmen. Eine Kulturgeschichtedes Tinnitus.Wilhelm Fink,München2012. 278 Seiten, Fr. 40.90.

Von Sieglinde Geisel

Fast die Hälfte der Deutschen lebt mitgelegentlichen Ohrgeräuschen: 2,7 Mil-lionen Menschen leiden an behand-lungsbedürftigem, 1,5 Millionen gar anschwerem Tinnitus. In der Schweiz gehtman davon aus, dass rund acht Prozentder Menschen (640000) Tinnitushaben, wovon ein Prozent schwer dar-unter leidet.

Dabei war der Name dieser Krankheitbis vor zwanzig Jahren nur in medizini-schen Fachkreisen geläufig. Die Ohrge-räusche, die unser Gehirn oder – selte-ner – das Innenohr selbst erzeugen, sindin den letzten Jahren zu einer wahrenVolkskrankheit geworden; doch neu istweder das Symptom noch der Name.Wie der Literaturwissenschafter Uwe C.Steiner in seiner Kulturgeschichte desTinnitus zeigt, geht der Begriff auf Plini-us den Älteren zurück, und damit aufdas erste Jahrhundert nach Christi Ge-burt. In seinem Buch geht Steiner derFrage nach, wie undwarum der Tinnitusins gesellschaftliche Bewusstsein tritt.Der Tinnitus sei eine «Epochenkrank-heit», ein Symptom also, das etwas überdie Epoche aussagt, in der es auftritt undwahrgenommen wird.

Heilige KrankheitIn der Antike gab es noch keine Vorstel-lung davon, dass das Ohrgeräusch imInneren desjenigen entsteht, der darun-ter leidet. Was einem in den Ohrenklang, waren die Stimmen der Götter,daher galt der Tinnitus als «heiligeKrankheit», eher ein Faszinosum als einLeiden, denn hier manifestierte sich dieGegenwart göttlicher Mächte. Dass esallerdings durchaus auch im AltertumTinnitus-Leidende gegeben habenmuss,die sich von diesen göttlichen Mächtengern befreit hätten, zeigen die Heilmit-tel, die Plinius aufzählt: Man soll Zwie-belsaft mit Muttermilch und Gänsefettins Ohr träufeln oder es mit Regenwür-mern in Gänseschmalz versuchen.

Mit der Säfte-Medizin, die sich bis indie Neuzeit hielt, begann die Vermu-tung, die Ursache der Ohrgeräuscheliege im Inneren des Menschen. Die Er-klärungen waren allerdings ganz mecha-nisch: Was man höre, sei eine Auswir-kung gestockter Säfte oder blähenderDämpfe, die vom Magen aufstiegen unddas Gehör belasteten. Die eigentliche«Karriere» des Tinnitus begann im 18.Jahrhundert: Der Zeit der Aufklärungund der Romantik widmet Steiner daswichtigste und spannendste Kapitel sei-

ner Untersuchung. Der Tinnitus sei engverbunden mit der Herausbildung desSelbst: «Es gibt gleichsam kein Ich ohneOhrengeräusch», so Steiner.

Philosophen sahen im Ohr «die Türzur Seele» (Herder) oder «den Sinn derreinen Innerlichkeit des Körperlichen»(Hegel). Man wendete sich dem eigenenInneren zu und lauschte in sich hinein,und so erscheint der Tinnitus als «Bin-nenklang der Subjektivität», in dessenGeräusch «die Grenze zwischen Innenund Aussen» kollabiere. Beethoven,Schumann und Lichtenberg litten be-kanntlich Qualen wegen des Ohrentons.Rousseau beschreibt das plötzliche Ein-setzen seines Tinnitus als «ein dumpfes,schweres Brausen, dann ein helleresMurmeln wie von fliessendem Wasser,endlich ein gelles Pfeifen, und dazu tratdann noch das Klopfen, dessen einzelneSchläge ich leicht zählen konnte». Die-ses innere Geräusch habe ihm sein «fei-nes Gehör» fast vollständig geraubt.

Metapher für eine LärmkulturMit der Industrialisierung und ihremflächendeckenden Lärm erhält der Tin-nitus Ende des 19. und Anfang des 20.Jahrhunderts eine neue Bedeutung. Essei, so Steiner, «als ob der Innenklangden Dauerbrumm draussen spiegelte».Der Tinnitus wird zurMetapher für eineganze Kultur, eine Manifestation desLärms, die sich in den Innenraum fort-setzt. Franz Kafka, der sich selbst einmalden «Behorcher allen Lärms» nannte,erscheint als Säulenheiliger aller Tinni-tusleiden. Steiner macht das nicht nuran Brief- und Tagebuchstellen fest, son-dern auch an Kafkas Figuren, derenHören oft mit einer seltsamen Hörigkeit

verbunden ist: «Mit Josef K.s Tinnitustreten wir ein in das Zeitalter der akus-tischen Artefakte», schreibt der Verfas-ser in seiner hellsichtigen Analyse.

Dass das Klingeln im Ohr ausgerech-net im Zeitalter der Mobiltelefone wie-der ins Zentrum der Aufmerksamkeitrückt und zur Volkskrankheit avanciert,erstaunt vor diesem Hintergrund nicht.«So wie datenverarbeitende Rechnersummen, brummen und rauschen, sotönt es auch im zeitgenössischen, unterInformationsstress gesetzten Ich.»

Auch in der Literatur der letzten Jahr-zehnte schlägt sich diese Alltagserfah-rung nieder, bei Clemens J. Setz undThomas Kling kommt der Tinnitusebenso vor wie bei Oskar Pastior unddem längst vergessenen Bestseller«Schlafes Bruder» (1992) von RobertSchneider. Nicht nur die einzelnenMen-schen leiden heute am Tinnitus: Sie re-produzieren die permanente Beschal-lung, der man paradoxerweise nur mitKopfhörern entkommt. «Man taucht einin selbsterzeugte oder besser selbstum-wölbende Klangwelten.»

Was hören wir, wenn nichts zu hörenist? Das Rauschen, das unser Selbst er-zeugt – als Antwort auf die Aussenwelt,mit der wir über die empfindlicheMembran des Ohrs in Verbindung ste-hen. Vorschläge zu einer Therapie desTinnitus liefert Steiner als medizini-scher Laie keine – doch ist das Ohrge-räusch überhaupt ein Fall für die Medi-zin? Lässt man die stupende Fülle vonliterarischen Zeugnissen, die Uwe C.Steiner in seinem Buch zusammenge-tragen hat, auf sich wirken, verliert derTinnitus etwas von der Hysterie, die ihnoft umgibt. ●

TinnitusKulturgeschichte einerVolkskrankheit – von derAntike bis heute

Wenndas innereRauschenunerträglichwird

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Sachbuch

24 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

George Soros: Gedanken und Lösungs-vorschläge zum Finanzchaos in Europaund Amerika. Börsenmedien, Kulmbach2012. 159 Seiten, Fr. 35.40, E-Book 22.90.

Von Sebastian Bräuer

Wenn ein bekannter Investor ein Buchschreibt, setzt er sich stets einem Ver-dacht aus: Seine Analyse könnte von Ei-geninteressen geleitet sein, passend zuraktuellen Ausrichtung des persönlichenPortfolios. Wer auf Konstruktionsfehlerdes Euros hinweise, ergänzt mit teurenVorschlägen zum Ausweg aus der Krise,tue dies sicher nicht aus Altruismus. Erwolle Panik schüren oder zumindest dievorherrschende negative Stimmung anden Märkten verstärken. Soweit das –leider oftmals berechtigte – Vorurteil.

Heisst der Autor auch noch GeorgeSoros, dürfte sichmancher gar nicht erstnäher mit seinen Aussagen beschäfti-

gen. Politische Empfehlungen voneinem Hedge-Fund-Milliardär? Voneinem, der in den 90er-Jahren mit ver-störendem Erfolg erst gegen das briti-sche Pfund und später gegen den thai-ländischen Bath und den malaysischenRinggit gewettet hat? Da könnte man jagleich einen Serienmörder bei der Kri-minalpolizei einstellen.

Es wäre ein schwerer Fehler, das Buchvon Soros so abzutun. Der Gründer desQuantum Fund ist alles andere als eingewöhnlicher Investor, der nur seinejährlichen Erträge im Blick hat. Schon1987 bewies Soros mit seinem Buch«Die Alchemie der Finanzen», dass ermehr analytischen Scharfsinn besitzt alsmanch renommierter Wirtschaftspro-fessor. Er entlarvte in seinem Erstlings-werk die lange vorherrschende ökono-mische Theorie, Märkte seien effizientund bewegten sich stets in Richtungeines Gleichgewichts, als Ideologieohne praktische Relevanz. Es war eine

Abrechnung mit dem ökonomischenMainstream. Erst seit einigen Jahrengerät die Theorie auch an konservativenUni-Lehrstühlen ins Wanken. Soros warseiner Zeit weit voraus.

Das aktuelle Buch ist eine Sammlungaktueller Essays aus den Jahren 2008 bis2011, die als Gastbeiträge in der «Finan-cial Times» und anderen Medien er-schienen sind, ergänzt um eine Aussagevor einem Senatsausschuss und um einumfangreiches Einleitungskapitel. «Ge-danken und Lösungsvorschläge zum Fi-nanzchaos in Europa und Amerika» be-steht aus vier Teilen: Die Eskalation derFinanzkrise im Jahr 2008, die folgendenRegulierungsversuche, die globale Aus-breitung der Krise sowie die Verwerfun-gen in der Eurozone.

Soros ist unbequem, vor allem gegen-über Politikern. Aber keineswegs aus-schliesslich. Das Buch dokumentiertetwa, wie vehement er im August 2008auf die Blasenbildung beim Ölpreis hin-wies: Er warf den Anlegern vor, blind ineine Richtung zu rennen, «ein durchund durch reflexives Phänomen». Derunmittelbar folgende Kurssturz gab ihmrecht, was seiner Forderung nach einerschärferen Regulierung der Rohstoff-märkte umso mehr Gewicht verleiht.Wenn es nicht ein linker Systemkritikerist, der die Zähmung der Spekulantenfordert, sondern ein Spekulant selbst, istdas bemerkenswert.

Nach wie vor hochaktuell sind Soros'Gedanken zur Eurokrise. Schon im Feb-ruar 2010, als die Probleme Griechen-lands in den Fokus rückten, war er sichberechtigterweise sicher, dass es dabeinicht bleiben würde: «Bleiben nochSpanien, Italien, Portugal und Irland.»Mehrfach kritisiert George Soros dieStrategie Deutschlands, die Sparbemü-hungen in den Mittelpunkt zu stellen,statt sich gegen den unmittelbar dro-henden Bond-Run zu stemmen. SeinVorschlag lautet, die Kompetenzen desRettungsfonds EFSF auszuweiten. Die-ser solle, unterstützt mit der Liquiditätder Europäischen Zentralbank, als letz-ter Kreditgeber fungieren und so nichtnur das Vertrauen in die Krisenstaaten,sondern auch in deren strauchelndeBanken wieder herstellen. Eine derarti-ge Massnahme wird immer wahr-scheinlicher.

Der Autor George Soros spricht anmehreren Stellen unbescheiden vom«Soros-Plan». Sein grösster Wunschwäre wohl, dass sein Name eines Tagesnicht mehr intuitiv mit der Pfund-Wet-te in Verbindung gebracht wird, son-dern mit einem wirtschaftspolitischenBefreiungsschlag. Aber dafür hat ereinfach zu viel Geld verdient.

Das Buch ist aus akademischer Pers-pektive kein so grosser Wurf wie «DieAlchemie der Finanzen», was es auchgar nicht sein will. Aber eine präzise Zu-standsbeschreibung der Weltwirtschaft.Und zwar ohne plumpe Unterstützungeigener Handelspositionen. ●

FinanzkriseDer ungarisch-amerikanischeGrossinvestorGeorge Soros legt seineGastbeiträge in der«Financial Times» als Buch vor. Hochaktuell sind seineGedanken zur Eurokrise

Immerwieder rechtbekommen

SowjetunionBittersüssesMoskau

Schulmädchen mit weissen Schürzen und Schleifenim Haar – das war doch einmal der real existierendeSozialismus der Sowjetunion. Auf unserem Bildtragen sie auch noch Ordensbänder und posieren vordem Leninmausoleum auf dem Roten Platz. Doch dieAssoziation trügt – das Foto entstand 2006, volle 15Jahre nachdem die Sowjetunion kollabierte. Es isteines der wenigen Bilder, auf denen die Menschenfröhlich dreinschauen, die der 50-jährige FotografIgor Mukhin präsentiert. Mukhin bewegt sich imGrenzland zwischen Kunst, Fotoreportage und – wie

viele Bilder andeuten – auch zum Film. Er rückt dasGewöhnliche ins Rätselhafte und das Mysteriöse insganz Alltägliche. «Sein» Moskau aber bleibtskeptisch, oft düster und manchmal sehr schrill.Denn, so der Schriftsteller-Bürgerrechtler ZakharPrilepin in seinem kurzen, bitteren Text zum Band:«Wir haben kein anderes Moskau für Euch. Auch keinanderes Russland.» Kathrin Meier-RustIgor Mukhin: Mein Moskau. Fotografien 1985–2010.Mit einem Essay von Zakhar Prilepin. Benteli,Bern 2012. 195 Seiten, Fr. 59.90.

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24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 25

RonaldM. Dworkin,81, unterrichtete alsPhilosophieprofessoran den UniversitätenYale, Oxford, Londonund New York.

RUBENWYTTENBACH/13

PHOTO

Ronald Dworkin: Gerechtigkeit für Igel.Suhrkamp, Berlin 2012 (erscheint am27. Juni). 813 Seiten, Fr. 69.90.

VonKirsten Voigt

«Gerechtigkeit für Igel» – das klingtnach Naturethik und hat damit rein garnichts zu tun. Der ambitionierte Ver-such des US-Rechtsphilosophen RonaldDworkin, eine Ethik des gelungenen Le-bens, eine mit ihr verknüpfte Moral undeine Theorie der politischen Gerechtig-keit zu begründen, zitiert im Titel einWort antiken Ursprungs: «Der Fuchsweiss viele Dinge, aber der Igel weisseine grosse Sache.» Diese grosse Sacheist Dworkins These der Unabhängigkeitmoralischer Werte von metaphysischenAnnahmen und wissenschaftlichen Er-kenntnissen. Er behauptet eine «EinheitderWerte», die nicht in Konflikt mitein-ander stehen, und ihre Objektivität.

Während die Füchse «ausgefuchst»Spezialfragen verfolgen, weiss der Igelum eine Ganzheit, die Dworkin so be-schreibt: «Die Moral sollte grundsätz-lich als baumartige Struktur verstandenwerden, wobei das Recht ein Zweig derpolitischen Moral ist, die selbst vom Astder allgemeineren persönlichen Moralabgeht, die wiederum aus der noch ab-strakteren Theorie der gelungenen Le-bensführung herauswächst.»

Moral versus EthikAll dies undmehr integriert dieses Opusmagnum des 1931 in Worcester (Massa-chusetts) geborenenGelehrten aufmehrals 800 Seiten, deren erste Kapitel mit-unter überbordend, umständlich undverkantet wirken.

Dworkin unterscheidet Moral, diefragt, wie wir uns anderen gegenüberverhalten sollen, von Ethik, die sich dennötigen Anstrengungen zur Verwirkli-chung eines gelungenen Lebens widmet.Basis seiner Ethik ist die Annahme, dasswir für unser Leben dessen Gelingen alseinzige Aufgabe erkennen, der wir unsmit einer geradezu künstlerischenSchöpferkraft zu widmen haben, die anNietzsches Gebot erinnert: «Der Wertdes Lebens – der Sinn des Lebens – be-steht darin, ein gelungenes Leben zuführen, so wie es uns auch wertvollscheint, gut zu lieben, zu malen, zuschreiben, zu singen oder zu tauchen.Das Leben hat keinen dauerhaften Wertund keinen Sinn, der über diesen Impe-rativ hinausgeht – und mehr brauchenwir auch nicht. Tatsächlich ist das ganzwunderbar.»

In dieser Verantwortung für das eige-ne Sein, das ohne die äquivalente Ach-tung des Seins aller anderen Menscheninkonsequent wäre, besteht die «Ethikder Würde». Auf den Schultern Kants

postuliert Dworkin, eine Person könneSelbstachtung und Authentizität nurwahren und moralisch richtig handeln,wenn sie ihre Handlungen so anlegt,dass die ihr zugrunde liegenden Urteilefür alle Gültigkeit beanspruchen können–Urteile, die jeder frei und selbstständigreflektieren muss.

Basierend auf dem, was er das Hume-sche Prinzip nennt, legt Dworkin dar,dass die Moraltheorie eine unabhängigeSphäre sei. In diesem Punkt mutet es al-lerdings so an, als igelte sich DworkinsGedankenführung gelegentlich kugel-förmig ein.

Für Nicht-Juristen geradezu auf-reizend fällt auch seine Interpretationdes Begriffs «Interpretation» aus. Dennwas Dworkin hier mit manchem eherschräg wirkenden Seitenblick auf Lite-ratur und Kunst bemerkt, scheint denUmgang mit Kunstwerken stark einzu-engen, reduziert Werke auf Werte undderen Validität. Interpretationen hän-gen für Dworkin in ihrem Wahrheits-wert, den er für ermittelbar hält, mass-geblich davon ab, wie ernst wir unsereVerantwortung nehmen, den Wert desjeweiligen Interpretationsobjekts zubestimmen. Für Dworkin basiert Moral– auch dies eine widerborstige These –auf objektiven Wahrheiten über Werte.Relativisten, Realisten, Konstruktivis-ten und Skeptikern erteilt er Absagen.

Im kompaktesten und konkretestenfünften Teil entwickelt Dworkin prakti-sche, politische und rechtliche Konse-quenzen, eine Gerechtigkeitstheorie, dieer nicht als «transzendental» verstan-den wissen will. Er plädiert für einenStaat, der einerseits die Schicksale aller,deren Gleichheit, berücksichtigt, undebenso jedem partizipierenden Bürgerdie Freiheit einräumt, autonom zu ent-scheiden, wie er seinem Leben Wertverleihen will.

Fülle von GedankenspielenSo erweist es sich als ein Grundprinzipder moralischen Urteilsfindung, dassständig «verschiedeneGleichungen par-allel berücksichtigt werden» müssen.Ressourcenumverteilung mahnt erdabei unermüdlich an, denn das Lebender Reichen auf Kosten der Armen kannein materiell gutes, aber kein moralischgeglücktes sein.

Dieses menschenfreundliche Plädo-yer ist nicht immer elegant, sondern inseinen fast schon amüsant häufigen Ver-weisen auf die eigene Beweisführung, inder Fülle an Gedankenspielen und Kon-fliktszenarien strapaziös, sperrig undzuweilen diffus. Gleichwohl löckt essympathisch und triftig wider den Sta-chel grassierender Egoismen. Ob sichdaraus Praktikables herleiten lässt,bleibt eine Frage der Interpretation. ●

PhilosophieRonaldDworkin plädiert dafür, das Recht als Zweig der politischenMoral zu begreifenund die Ressourcen umzuverteilen

VomWert, eingelungenesLebenzu führen

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Sachbuch

26 ❘NZZ amSonntag ❘ 24. Juni 2012

DasamerikanischeBuchMacht undOhnmacht inWashington

PolitischeMacht ist das Lebensthemavon Robert Caro. An Institutionen undMandate gebunden, hängt die Entfal-tung vonMacht in den USA letztlichdoch vomCharakter der Personen ab,die in ihren Besitz kommen. Aus dieserSpannung wächst die Dramatik dermonumentalen Lebensgeschichten vonRobert Moses (1888–1981) und LyndonB. Johnson (1908–1973), die Caro be-rühmt gemacht haben. 1974 gelang demNewYorker mit derMoses-Biografie«The Power Broker» der Übergangvom Journalisten zum Sachbuchautor.Aus Johnsons Vita wurde eine Aufgabe,die Caro bis heute beschäftigt. In-zwischen 76 Jahre alt, legt er nunmitThe Passage of Power (Knopf, 736 Sei-ten) den vierten Band seiner «Years ofLyndon B. Johnson» vor, der die Zeitvon 1958 bis Anfang 1964 behandelt.

Das Buch wird in den USA als literari-sches Ereignis gefeiert. Die «NewYorkTimes» bot für ihre Besprechung sogarden Johnson-Bewunderer Bill Clintonauf. Tatsächlich zeigt «Passage ofPower» den Autor Caro auf der Höheseiner Kunst als Reporter und Analyti-ker, der enormeMengen von Detail-informationen in eine dichte, mit-reissende Erzählung weben kann.

Der Autor konzentriert sich ganz aufseine Protagonisten. So geht RobertCaro der «Blutfehde» auf den Grund,die Robert Kennedy und Johnson ge-geneinander geführt haben. Damit ver-nachlässigt er zwar für akademischeHistoriker bedeutsame, sozio-ökono-mische Entwicklungen. Aber dafür gibter seinen komplexen Figuren eineTiefe, die seine Bücher zu einer ausser-ordentlich lehrreichen Lektüre macht.Robert Moses vollbrachte seine um-

strittene Leistung als NewYorker Stadt-planer, ohne je eineWahl zu gewinnen.JohnsonsMacht hing dagegen bis 1960von der Zustimmung seinerWähler inTexas und dem Einfluss ab, den er dankder ihm eigenen Charaktermischungaus Skrupellosigkeit, Charme und Intui-tion auf seine Kollegen imUS-Kongressauszuüben vermochte. Aber wie Caroschildert, hatte LBJ auf der Höhe seinerMacht als Mehrheitsführer und «Meis-ter des Senats» nicht denMut, John F.Kennedy 1960 offen den Anspruch aufdasWeisse Haus streitig zu machen. Sofiel Johnson aus Angst vor einer Nieder-lage im Vorwahlkampf in eine Hand-lungsunfähigkeit, die deprimierendeJahre als Vizepräsident im SchattenKennedys vorwegnahm. Der Texanerwurde zum SpottWashingtons und vonVertrauten des Präsidenten als peinli-cher Hinterwäldler verhöhnt. Ein Tief-

punkt waren die Kühe von seinerRanch, mit denen Johnson zumindestdie Gunst von Jackie Kennedy gewin-nen wollte. Nachdem jene zu einer klei-nen Herde angewachsen waren, batJackie den Vizepräsidenten von weite-ren, vierbeinigen Gaben abzusehen.LBJ hat sich damals Vertrauten gegen-über als «kastrierten Hund» bezeich-net, so Caro.

Lynden B. Johnson hatte die Vizepräsi-dentschaft angenommen, weil er sichdavon eine Chance auf die Präsident-schaft versprach. Laut Caro wussteJohnson, dass JFK schwer an der Hor-moninsuffizienzMorbus Addison litt.ImHerbst 1963 hatte der Vize jedocherkannt, dass Kennedy ohne ihn in dennächstenWahlkampf ziehen würde.Zudem arbeiteten gleich mehrere Zeit-schriften an Enthüllungsartikeln überKorruptionsaffären in Johnsons engsterUmgebung.

Die Todesschüsse von Dallas am22. November 1963 trugen Johnson des-halb nicht nur unverhofft die höchsteMacht im Lande ein, sondern erspartenihm einen beschämenden Absturz. LBJhat diese Chance auf eineWeise ge-nutzt, die ihresgleichen sucht: Caroschildert mitreissend, wie Johnson bin-nenWochen das Bürgerrechtsgesetzfür Afroamerikaner durch den Kon-gress manövriert hat, das seine einsti-gen Verbündeten im Senat jahrelangblockiert hatten. Hier stellen viele Kri-tiker in den USA den Vergleich mit Ba-rack Obama an. Dieser habe zwar keinegravierenden Charakterschwächen.Dafür könne er von Johnson lernen,seineMacht als Präsident demKon-gress gegenüber effektiv einzusetzen. ●Von AndreasMink

Lyndon B. Johnson imNovember 1963 beiseiner Vereidigung imPräsidentenflugzeug,nach der ErmordungJohn F. Kennedys.Autor Robert Caro(unten).

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AGES

Peter Haupt: Landschaftsarchäologie.Eine Einführung. Theiss, Stuttgart 2012.222 Seiten, Fr. 53.90.

VonGeneviève Lüscher

Was fast wie ein akademisches Lehr-buch aussieht, entpuppt sich beim Blät-tern und Lesen als Augenöffner fürMenschen, die sich auf die eine oder an-dere Weise mit der Landschaft beschäf-tigen, seien das Wanderer, Landwirteoder Raumplaner.

Peter Haupt erläutert in einem erstenTeil des Buches die verschiedenenHilfs-mittel, die ein Landschaftsarchäologeeinsetzt: Luftbilder, Bodenkunde, Pol-lenanalyse, Datierungsmethoden, Flur-namen, Karten und andere mehr. Aucharchäologische Ausgrabungen gehörendazu, sind aber nur ein kleiner Teil derstark interdisziplinär ausgerichtetenWissenschaft.

Der Landschaftsarchäologe erforschtmit Hilfe dieser Methoden den Wandelder Kulturlandschaft. Dieser manifes-tiert sich in der Gestalt der Landschaft,der Vegetation, der Bodenbeschaffen-heit. Das heutige Erscheinungsbild, vondem man oft meint, es sei uralt undschon immer da gewesen, ist meist dasResultat einer bereits Jahrtausende dau-ernden «Bearbeitung» durch den Men-schen. Sogenannte «natürliche» Land-schaften, also von den Menschen unbe-einflusste, gibt es laut Haupt in Mittel-europa kaum noch.

Ziel der Arbeit eines Landschaftsar-chäologen ist es zu erklären, warum eineLandschaft so ist, wie sie ist. Das kannEntscheidungshilfen bieten, wenn esdarum geht, die Landschaft erneut zuverändern, zum Beispiel für die Anlageeines Golfplatzes, für die Streckenfüh-rung einer Strasse, eines Wanderweges.

Besonders instruktiv sind die detail-liert beschriebenen Fallbeispiele im

zweiten Teil des Buches. Eines be-schreibt den alten Bergbau amDonners-berg in der Pfalz, wo Erze schon in derEisenzeit abgebaut wurden. Der Berg-bau hat mit seinen Abraumhalden, Ver-hüttungsplätzen und der weiträumigenAbholzung des Waldes tief in die Kul-turlandschaft eingegriffen. Aufschluss-reich sind in einem anderen Beispieldie Überlegungen zu sogenanntenWüs-tungsprozessen, also zur Auflassung vonSiedlungen, auf die heute oft nur nochFlurnamen hindeuten. Schliesslich gehtder Autor der Deutung von «Linienin der Landschaft» nach, die bis auf rö-mische Parzellierungen, Grenzen oderWege zurückverfolgt werden können.

So wird man sich in Zukunft bei jederWanderung fragen, worauf diese schein-bar unmotivierte Hecke im Feld, dieseGruben imWald oder diese merkwürdiggeformten Hügel zurückgehen: «Natür-lich» entstanden sind sie nämlich in denwenigsten Fällen. ●

ArchäologieEine neue Forschungsrichtung befasst sichmit demBoden unter unseren Füssen

Woher stammtdiesermerkwürdigeHügel?

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Agenda

24. Juni 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 27

BernDonnerstag, 19.Juli, 20 UhrThomas Kowa: Das letzte Sakrament.Lesung, Fr. 25.−. ONO Bühne,Kramgasse 6. Info: www.onobern.ch.

GrimselSonntag, 29.Juli, 17 UhrPhilipMaloney. Szenische LesungmitMichael Schacht und Jodoc Seidel. Le-sung Fr. 29.–; mit Abendessen in denGrimselhotels Fr. 89.–; mit Übernach-tung Fr. 169.–. Anmeldung erforderlich:[email protected].

LeukerbadFreitag, 6., bis Sonntag, 8. Juli17. Internationales Literatur-festival mit Ilija Troja-now, Peter Bichsel,Navid Kermani, SibylleLewitscharoff, EvaMattes, MoniqueSchwitter und anderen.Infos, Programm undTickets: www.literaturfestival.ch.

St. GallenDonnerstag, 5.Juli, 19.30 UhrSandra Hughes: Zimmer 307. Lesung.Bibliothek Universität, Dufourstrasse 50.Info: www.biblio.unisg.ch.

St.MoritzMontag, 16.Juli, 20.30 UhrMaryam Sachs: Ohne Abschied. Lesung.Hotel Laudinelle, Via Tegiatscha 17.Vorverkauf. www.laudinella.ch.

ZürichSonntag, 1.Juli, 18 UhrHermannHesses Leidenschaft für RuthWenger: Szenische Lesungmit CorneliaBernoulli und Peter Holliger;MusikEriko Kagawa undDaniel Fueter, Fr. 25.–.Theater Rigiblick, Germaniastrasse 99,Tel. 044 361 83 38.

Donnerstag, 5.Juli, 20 UhrFranzobel:Was dieMänner so treiben,wenn die Frauen imBadezimmer sind.Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten, Festsaal,Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.

Mittwoch, 18.Juli, 20 UhrJudith Schalansky: DerHals der Giraffe. Lesung,Fr. 28.–. Kaufleuten,Festsaal (siehe oben).Tel. 044 225 33 77.

Bestseller Juni 2012

Bücher amSonntag Nr.7erscheint am26. 8. 2012

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher amSonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solangeVorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,8001 Zürich, erhältlich.

CHRISTO

PHRUCKSTUHL

ErhebungMedia Control imAuftrag des SBVV; 12. 6. 2012. Preise laut Angaben vonwww.buch.ch.

SachbuchBelletristik

1 Philippe Pozzo di Borgo: Ziemlich besteFreunde.Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.

2 Thilo Sarrazin: Europa braucht den Euronicht.DVA. 461 Seiten, Fr. 32.90.

3 Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90.

4 Christoph Fasel: Samuel Koch –Zwei Leben.Adeo. 205 Seiten, Fr. 26.90.

5 Peter vonMatt: DasKalb vor derGotthard-post.Hanser. 368 Seiten, Fr. 29.90.

6 Diccon Bewes: Der Schweizversteher.Malik. 336 Seiten, Fr. 24.90.

7 Kurt Lauber: Der Wächter des Matterhorns.Droemer/Knaur. 248 Seiten, Fr. 34.90.

8 Daniel Kahneman: Schnelles Denken, lang-sames Denken. Siedler. 621 Seiten, Fr. 37.90.

9 UweBöschemeyer: Machen Sie sich bittefrei.Ecowin. 223 Seiten, Fr. 31.40.

10 David Graeber: Schulden.Klett-Cotta. 536 Seiten, Fr. 39.90.

1 Donna Leon: Reiches Erbe.Diogenes. 316 Seiten, Fr. 32.90.

2 Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 19.90.

3 Nicholas Sparks: MeinWeg zu dir.Heyne. 399 Seiten, Fr. 24.90.

4 Franz Hohler: Spaziergänge.Luchterhand. 153 Seiten, Fr. 27.50.

5 Martin Walker: Delikatessen.Diogenes. 403 Seiten, Fr. 29.90.

6 Karen Rose: Todesherz.Droemer/Knaur. 621 Seiten, Fr. 24.50.

7 Jussi Adler-Olsen: Das Alphabethaus.Dtv. 588 Seiten, Fr. 17.90.

8 Sarah Lark: Die Tränen der Maori-Göttin.Bastei Lübbe. 894 Seiten, Fr. 23.50.

9 Lisa Jackson: Desire.Droemer/Knaur. 554 Seiten, Fr. 21.90.

10 Viveca Sten: Die Toten von Sandhamn.Kiepenheuer&Witsch. 348 Seiten, Fr. 19.90.

Agenda Juli 2012

JÜRGENBAUER

THEARTARCHIVE/ALA

MY

BibliophilieSchöneBücher aus sechs Jahrhunderten

Schön gestaltete, reich illustrierte Bücher gibt es inallen Epochen der Kulturgeschichte und zu allenWissens- und Sammelgebieten. Es gibt illuminiertegeistliche Werke und Atlanten mit minuziös gezeich-neten Karten, kolorierte Sammelwerke zur Flora undFauna der Welt, köstlich illustrierte Kinderbücher,Künstlerbücher mit kostbarer Grafik, überraschendenIllustrationen, innovativer Typografie. Ein unter derÄgide von Mathieu Lommen entstandener Pracht-band stellt etliche dieser Werke in Text und Bild vor.

Das reichhaltige Schaubuch lädt zum Blättern undTräumen ein. Von den phantastischen Tierdar-stellungen des 16. Jahrhunderts bis zur Letternkunstder russischen Moderne, vom kolorierten Holzschnittbis zur Chronofotografie spannt sich der Bogen.Unsere Abbildung zeigt einen 1845 erschienenenKatalog für Zierschriften aus der SchriftgiessereiGottlieb Haase Söhne in Prag. Manfred PapstMathieu Lommen (Hrsg.): Das Buch der schönstenBücher. DuMont, Köln 2012. 463 Seiten, Fr. 74.90.

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«Ein packendes Buch.»Damals

nzz-libro.ch

Napoleons Russlandfeldzug vor 200 Jahren hatsich tief ins kollektive Gedächtnis Europaseingegraben. In der Schweiz z. B. erinnert das«Beresinalied» an Nöte der Schweizer Söldner.

In diesem Buch stehen die Erinnerungen dergemeinen Soldaten – Männer wie Frauen – imBrennpunkt der Aufmerksamkeit. Aufgrund vonTagebüchern und Aufzeichnungen aus der Schweiz,Frankreich und Deutschland wird das Soldaten-leben anschaulich und frei von Verklärungenrekonstruiert.

Daniel FurrerSoldatenleben

Napoleons Russlandfeldzug 18122012. 328 Seiten, 30 farbige Abbildungen

Fr. 48.–*

«All meine Gefühle schienen sich im Wunsch zu überleben zu konzentrieren, um die Erinnerung zu bewahren,was ich erlebt habe. Von diesem unsäglichen Wunsch beseelt, sass ich jede Nacht vor einem schlechtenFeuer, bei Temperaturen von minus zwanzig bis zweiundzwanzig Grad, von Toten und Sterbenden umgeben,und zeichnete die Ereignisse des Tages auf.» Tagebucheintrag eines Offiziers

* Unverbindliche Preisempfehlung

200 JahreRussland-feldzugNapoleons