Neue Erkenntnisse zur Festigkeit von Glas unter doppelter Biegung

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365 Fachthemen © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 75 (2006), Heft 5 In vielen Fällen ist in den letzten Jahren durch den vermehrten Einsatz von Glas die Ar- chitektur sehr viel transparenter geworden. In diesem Zusammenhang wurden nicht nur die Glasflächen in den Fassaden immer größer, sondern es stieg auch der Anspruch an die Tragglieder, immer filigraner bzw. „durchsichtiger“ zu werden. Dies mündete in der Forderung, diese selbst aus transparenten Werkstoffen herzustellen. Es bietet sich an, Tragkonstruktionen als Kombinationen der Werkstoffe Stahl und Glas zu erstellen, da sich die hohe Tragfähigkeit des Stahls und die Transparenz des Glases gut ergänzen. Als Erweiterung der größeren Transparenz wird im nächsten Schritt dem Glas auch die Ab- tragung von Lasten zugewiesen. Da der Werkstoff Glas einer linearelastischen Spannungs-Dehnungs-Beziehung folgt, aber leider auch ein sehr sprödes Verhalten aufweist, ist hier eine Schnittgrößenumlage- rung, wie zum Beispiel im Stahl durch den plastischen Abbau von Spannungsspitzen, nicht möglich. Der Festlegung zutreffender Werte für die Festigkeit von Glas und der Er- mittlung der tatsächlich vorhandenen Spannungsverteilung kommt somit eine besondere Bedeutung zu. Speziell bei Glasträgern kann auch der Fall der doppelten Biegung auftre- ten, für den bisher keine Angaben zur Festigkeit bekannt sind. New findings with respect to glass strength under biaxial bending. The architecture of building structures became more transparent in the last years by the use of glass struc- tures. Not only the area of the glass facades became greater but also the expectation in the members to become more filigree and transparent. Finally the demand was made to use the material glass for the members itself. It seems to be obvious that the construc- tions consists of a combination of steel and glass, because the high load capacity of steel and the transparency of glass are added in a very sufficient way. As an enlarge- ment of the transparent behaviour of glass components it is now under discussion to transfer the load by the glass elements itself. bare Mikro- und Makrorisse, die bei derVerarbeitung, dem Transport, dem Einbau und der Nutzung (Reinigung, etc.) entstehen, setzen die Biegezug- festigkeit stark herab. Vom Werkstoff Beton, der auch nur eine geringe Zugfestigkeit auf- weist, ist bekannt, daß diese durch eine Druckvorspannung kompensiert werden kann. Auch bei Glaskonstruk- tionen kann das gemacht werden, wo- bei hier die Vorspannung in der Regel thermisch in die einzelnen Glasschei- ben eingebracht wird und somit Ober- flächendefekte durch die eingepräg- ten, oberflächennahen Druckeigen- spannungen zunächst überdrückt wer- den (Bild 1). Im Gegensatz zum unbe- handelten Floatglas spricht man dann von teilvorgespanntem Glas (TVG) bzw. von Einscheiben-Sicherheitsglas (ESG). Umfangreiche Untersuchungen hierzu, insbesondere über die Vertei- lung der Eigenspannungen, wurden von Laufs angestellt [6]. Aber auch die durch thermische Vorspannung erzielbaren (Biege-)Zug- festigkeiten sind deutlich geringer als die Druckfestigkeit von Glas. Verwie- sen sei hier auf die Druckfestigkeits- prüfungen von Fink [4]. Bei diesen Dauerstandsversuchen an Floatgläsern Joachim Lindner Tobias Holberndt Neue Erkenntnisse zur Festigkeit von Glas unter doppelter Biegung 1 Einflüsse auf die Glasfestigkeit Viele Untersuchungen beschäftigen sich mit der Plattentragfähigkeit von Glas, mit der windbeanspruchten Fensterscheibe liegt hier ein klassi- sches Einsatzgebiet vor. Daher ist be- kannt, daß die Festigkeit des Werk- stoffs Glas charakterisiert wird durch die (Biege-)Zugfestigkeit. Eine wei- tere, wesentliche Erkenntnis ist, daß die Biegezugfestigkeit von Glas keine Materialkonstante ist, sondern von einer Vielzahl von Parametern abhängt [1] bis [5], in erster Linie von der – Belastungsgeschwindigkeit – Lastdauer – Temperatur – Feuchtigkeit – Oberflächenbeschaffenheit. Dabei kommt der Beschaffenheit der zugbeanspruchten Oberfläche eine sehr große Bedeutung zu. Unvermeid- Bild 1. Verlauf thermisch eingebrachter Vorspannung über die Glasdicke Fig. 1. Continuous form of thermal prestressing DOI: 10.1002/stab.200610036

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Fachthemen

© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 75 (2006), Heft 5

In vielen Fällen ist in den letzten Jahren durch den vermehrten Einsatz von Glas die Ar-chitektur sehr viel transparenter geworden. In diesem Zusammenhang wurden nicht nurdie Glasflächen in den Fassaden immer größer, sondern es stieg auch der Anspruch andie Tragglieder, immer filigraner bzw. „durchsichtiger“ zu werden. Dies mündete in derForderung, diese selbst aus transparenten Werkstoffen herzustellen. Es bietet sich an,Tragkonstruktionen als Kombinationen der Werkstoffe Stahl und Glas zu erstellen, dasich die hohe Tragfähigkeit des Stahls und die Transparenz des Glases gut ergänzen. AlsErweiterung der größeren Transparenz wird im nächsten Schritt dem Glas auch die Ab-tragung von Lasten zugewiesen.Da der Werkstoff Glas einer linearelastischen Spannungs-Dehnungs-Beziehung folgt,aber leider auch ein sehr sprödes Verhalten aufweist, ist hier eine Schnittgrößenumlage-rung, wie zum Beispiel im Stahl durch den plastischen Abbau von Spannungsspitzen,nicht möglich. Der Festlegung zutreffender Werte für die Festigkeit von Glas und der Er-mittlung der tatsächlich vorhandenen Spannungsverteilung kommt somit eine besondereBedeutung zu. Speziell bei Glasträgern kann auch der Fall der doppelten Biegung auftre-ten, für den bisher keine Angaben zur Festigkeit bekannt sind.

New findings with respect to glass strength under biaxial bending. The architecture ofbuilding structures became more transparent in the last years by the use of glass struc-tures. Not only the area of the glass facades became greater but also the expectation inthe members to become more filigree and transparent. Finally the demand was made touse the material glass for the members itself. It seems to be obvious that the construc-tions consists of a combination of steel and glass, because the high load capacity ofsteel and the transparency of glass are added in a very sufficient way. As an enlarge-ment of the transparent behaviour of glass components it is now under discussion totransfer the load by the glass elements itself.

bare Mikro- und Makrorisse, die beiderVerarbeitung, dem Transport, demEinbau und der Nutzung (Reinigung,etc.) entstehen, setzen die Biegezug-festigkeit stark herab.

Vom Werkstoff Beton, der auchnur eine geringe Zugfestigkeit auf-weist, ist bekannt, daß diese durcheine Druckvorspannung kompensiertwerden kann. Auch bei Glaskonstruk-tionen kann das gemacht werden, wo-bei hier die Vorspannung in der Regelthermisch in die einzelnen Glasschei-ben eingebracht wird und somit Ober-flächendefekte durch die eingepräg-ten, oberflächennahen Druckeigen-spannungen zunächst überdrückt wer-den (Bild 1). Im Gegensatz zum unbe-handelten Floatglas spricht man dannvon teilvorgespanntem Glas (TVG)bzw. von Einscheiben-Sicherheitsglas(ESG). Umfangreiche Untersuchungenhierzu, insbesondere über die Vertei-lung der Eigenspannungen, wurdenvon Laufs angestellt [6].

Aber auch die durch thermischeVorspannung erzielbaren (Biege-)Zug-festigkeiten sind deutlich geringer alsdie Druckfestigkeit von Glas. Verwie-sen sei hier auf die Druckfestigkeits-prüfungen von Fink [4]. Bei diesenDauerstandsversuchen an Floatgläsern

Joachim LindnerTobias Holberndt

Neue Erkenntnisse zur Festigkeit von Glas unter doppelter Biegung

1 Einflüsse auf die Glasfestigkeit

Viele Untersuchungen beschäftigensich mit der Plattentragfähigkeit vonGlas, mit der windbeanspruchtenFensterscheibe liegt hier ein klassi-sches Einsatzgebiet vor. Daher ist be-kannt, daß die Festigkeit des Werk-stoffs Glas charakterisiert wird durchdie (Biege-)Zugfestigkeit. Eine wei-tere, wesentliche Erkenntnis ist, daßdie Biegezugfestigkeit von Glas keineMaterialkonstante ist, sondern voneinerVielzahl von Parametern abhängt[1] bis [5], in erster Linie von der– Belastungsgeschwindigkeit– Lastdauer– Temperatur

– Feuchtigkeit– Oberflächenbeschaffenheit.

Dabei kommt der Beschaffenheitder zugbeanspruchten Oberfläche einesehr große Bedeutung zu. Unvermeid-

Bild 1. Verlauf thermisch eingebrachter Vorspannung über die GlasdickeFig. 1. Continuous form of thermal prestressing

DOI: 10.1002/stab.200610036

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reihen durch einen entsprechendenVersuchaufbau nachweislich ausge-schlossen werden. Die Versuche umdie schwache Achse Mz erfordertenkeine Stabilisierungsmaßnahmen (s.Bild 3). Bei Versuchen mit Biegungum die starke Trägerachse My wurdedie Glasoberkante beidseitig über diegesamte Spannweite seitlich gestützt(s. Bild 4). Schwieriger gestaltet sichdies bei den DoppelbiegeversuchenMz + My. Hier wurden die Glasträgermit Hilfe aufwendiger Lasteinleitungs-konstruktionen seitlich um die schwa-che Achse ausgelenkt und gleichzeitigdas Verdrehen des Querschnittes be-hindert. Um diese Querschnittslagebei der folgenden Belastung um diestarke Achse weiterhin gewährleistenzu können, wurden zwischen denAuflagern und den Lasteinleitungenzusätzlich Kipphalterungen angeord-net. Diese ließen eine freie Verfor-mung in z-Richtung zu, behindertenaber die Torsion und eine weitere seit-liche Verformung in y-Richtung. Bild 5

zeigte sich, daß auch unter Druck-belastung langsames Rißwachstuminfolge Querzugspannungen feststell-bar ist, das zum Versagen des Glasesführt. In den durchgeführten Kurzzeit-versuchen lagen die erreichten Festig-keiten für Druck zwischen 390 und590 N/mm2.

Unabhängig von den Nutzungs-anforderungen würde sich aus demGrundsatz des werkstoffgerechtenKonstruierens ergeben, daß Glas alsDruckglied eingesetzt werden sollte.Doch auch in druckbeanspruchtenKonstruktionen treten Zugspannun-gen auf:

1. Stabilitätsproblem: Bedingtdurch die fertigungstechnischen Mög-lichkeiten und daraus folgenden ge-ringen Scheibendicken treten infolgevon Imperfektionen bzw. durch Quer-lasten Verformungen rechtwinklig zurScheibendicke auf, die bei Betrach-tung des verformten Systems (TheorieII. Ordnung) zu Biegemomenten Mzführen, quer zu den üblichen Biege-momenten My (s. Bild 2).

2. Lasteinleitungsproblem: Jenach konstruktiver Ausbildung derLasteinleitung können (Quer-)Zug-spannungen nicht absolut ausge-schlossen werden.

Die Festigkeit an den Kantenspielt eine wichtige Rolle. Die Mate-rialkennwerte für Glas werden in al-ler Regel aus Prüfungen ermittelt, beidenen das Glas rechtwinklig zu sei-ner Dicke beansprucht wird, dabeihat die Glaskante höchstens den Ein-fluß einer geringen Störung. Aber beibiegebeanspruchten Trägern ist dieKantenfestigkeit entscheidend. Es lie-gen zwar eine Reihe an Untersuchun-

gen zur Kantenfestigkeit vor, die Be-anspruchungen sowohl um die schwa-che Trägerachse als auch um die starkeAchse jeweils getrennt [7] berück-sichtigen, doch wurde bei den an derTU Berlin durchgeführten Untersu-chungen festgestellt, daß eine Abhän-gigkeit zwischen der Beanspruchungs-richtung (einachsige Biegung – zwei-achsige Biegung) und der Festigkeitbesteht. Dieser Effekt wurde bei bis-herigen Untersuchungen nicht eindeu-tig erfaßt, da bei den üblicherweisenach den entsprechenden Normendurchgeführten Untersuchungen im-mer nur um eine Trägerachse (schwa-che oder starke) belastet wurde.

2 Experimentelle Untersuchungen2.1 Versuchsreihen

Es wurden am Institut für Baukon-struktion und Festigkeit der TU Ber-lin Vier-Punkt-Biegeversuche an dendrei Glasarten Floatglas, TVG undESG aus Kalknatron-Silicatglas mitden Dicken 6 und 8 mm in Anlehnungan die Glasprüfnorm DIN 52303-1durchgeführt [8]. Dabei wurden auf-grund des statischen Systems jeweilsüber einem Trägerabschnitt in Feld-mitte konstante Längsspannungen(hier = Hauptspannungen) sx erzeugt.

Die verschiedenen Versuchsrei-hen wurden nach den erzeugtenSchnittgrößen unterschieden und be-nannt, d. h. es wurden die drei inBild 2 dargestellten VersuchsreihenMz, My und Mz + My durchgeführt.Bei den Versuchen Mz + My mit zwei-achsiger Biegung wurde das Verhält-nis Mz zu My variiert. Stabilitätspro-bleme konnten in allen Versuchs-

Bild 4. Versuchsaufbau für MyFig. 4. Test set up for bending momentsMy

Bild 2. Versuchsreihen und erzeugte SchnittgrößenFig. 2. Test series and given internal forces

Bild 3. Versuchsaufbau für MzFig. 3. Test set up for bending momentsMz

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zeigt eine Hälfte des Versuchsaufbausfür Doppelbiegung in derAufsicht mitdem Probekörper als dünnen Strichin der Bildmitte.

Die Probeköper wurden im Be-reich der maximalen Zugspannungeneine Stunde vor dem Versuch definiertvorgeschädigt, um eine praxisgerechteOberflächenschädigung entsprechendeiner fünfzigjährigen Nutzungsdauerzu erzielen [9]. Dies geschah durchein zeitlich definiertes Anschleifen inFeldmitte mittels eines Bandschleif-gerätes mit einer 220er Papierkör-nung.

2.2 Typische Rißbilder

Bei den Versuchen mit gleicher Bela-stungsrichtung glichen sich die Riß-bilder der Probekörper sehr stark. BeiFloatglas und TVG ist bei den ver-schiedenen Belastungsrichtungen derUnterschied der Rißverläufe aufgrunddes gröberen Rißbildes sehr viel deut-licher zu erkennen als bei ESG.

Floatglasproben mit hoher Bruch-last (Mz + My) zeigten ein stärker ver-zweigtes Rißbild als solche mit gerin-ger Bruchlast (Mz), typische Rißbildersind in den Bildern 6 bis 8 dargestellt.Dies ist plausibel, da bei größerer Be-lastung eine höhere Energie im Trag-system vorhanden ist. Das TVG hin-gegen zeigte auch bei Versuchen mitgeringer Bruchlast ein stark verzweig-tes Rißbild auf, vgl. Bilder 9 bis 11.Andererseits war bei hoher Belastungdie Rißausbreitung kleiner. Bei ESG-Scheiben war die Bruchkraft und so-mit die Energie aufgrund der großenVorspannung generell höher. Sie ver-sagten mit einem lauten Knall und

3 Auswertung3.1 Allgemeines

Die Auswertung der in den Versuchenfestgestellten Spannungen geschahfür die Stelle, an der tatsächlich derBruch auslösende Riß seinen Ur-sprung hatte. Da die Stelle des Riß-ursprungs vor der Durchführung derVersuche unbekannt war, konnte erstim Nachgang die tatsächliche Bruch-spannung ermittelt werden. Dies be-deutete, daß sämtliche Probekörpernach dem Bruch optisch untersucht

Bild 5. Versuchsaufbau für Mz + My,vordere HälfteFig. 5. Test set up for bending momentsMz + My, first part

Bild 6. Typisches Rißbild für Floatglasbei MzFig. 6. Typical figure of tears for floatglass stressed by Mz

Bild 7. Typisches Rißbild für Floatglasbei MyFig. 7. Typical figure of tears for floatglass stressed by My

Bild 8. Typisches Rißbild für Floatglasbei Mz + MyFig. 8. Typical figure of tears for floatglass stressed by Mz + My

Bild 9. Typisches Rißbild für TVG beiMzFig. 9. Typical figure of tears for TVGglass stressed by Mz

Bild 10. Typisches Rißbild für TVG beiMyFig. 10. Typical figure of tears for TVGglass stressed by My

Bild 11. Typisches Rißbild für TVG beiMz + MyFig. 11. Typical figure of tears for TVGglass stressed by Mz + My

zerbrachen in sehr kleine Bruchstücke.Daher waren alle ESG-Rißbilder na-hezu identisch.

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und die Rißursprünge vermessen wur-den. Mit Hilfe der Koordinaten undder Bruchlast wurde die Oberflächen-spannung rechnerisch an der Stelledes Rißursprungs ermittelt. DiesesVorgehen erscheint genauer als dasallgemein übliche Vorgehen, bei demdie maximal im Träger auftretendenSpannungen verwendet werden. Diesekönnen nämlich deutlich höher seinund repräsentieren damit nicht dietatsächliche Materialfestigkeit.

Wie zu Beginn erwähnt, beein-flussen mehrere Parameter die Glas-festigkeit. Es wurde darauf geachtet,alle Versuche mit denselben Parame-tern durchzuführen – abgesehen na-türlich von der Belastungsrichtung. DieBeanspruchungsgeschwindigkeit fürVier-Punkt-Biegeversuche nach DIN52303 Teil 1 beträgt 2 ± 0,4 N/mm2/s.Da aufgrund der hier verwendetenMeßtechnik die Versuche mit nied-rigeren Geschwindigkeiten gefahrenwerden mußten, wurden in einerNachlaufrechnung alle gemessenenBruchspannungen auf eine Geschwin-digkeit von 2 N/mm2/s normiert. Dieserfolgte nach [10], wo der Zusammen-hang zwischen der Beanspruchungs-geschwindigkeit und der Glasfestig-keit mathematisch beschrieben ist. Dieso umgerechneten Versuchsergebnissewerden nachfolgend als „normiert“bezeichnet.

3.2 Versuchsergebnisse

Insgesamt wurden 97 Versuche ausFloatglas und ESG mit den nominel-len Dicken 6 und 8 mm und TVGmit einer Dicke von 8 mm durchge-führt und statistisch betrachtet. DieAuswertung erfolgte für die tatsäch-lich festgestellten Abmessungen. Beiden Ergebnissen wurde später dannnicht nach der Glasdicke unterschie-den.

Um einen Einfluß der Biegerich-tung auf die Bruchfestigkeit aufzeigenzu können, wurde in einem Inter-aktionsdiagramm die Bruchspannungsx[Fy], resultierend aus dem Biegemo-ment Mz, über der Bruchspannungsx[Fz], resultierend aus dem Biegemo-ment My, aufgetragen. Als Vergleichs-wert wurden die charakteristischenFestigkeiten der (2003 zurückgezoge-nen) prEN 13474-1 verwendet [11]. Ananderer Stelle (DIN EN 572-1, DINEN 1863-1, DIN EN 12150-1) findensich dieselben Werte [12] bis [14]:

– Floatglas: 45 N/mm2

– TVG: 70 N/mm2

– ESG: 120 N/mm2

Im Schnitt wiesen die Versuchean Floatglas unter zweiachsiger Bie-gung in Bild 12 eine um ca. 50 %höhere Festigkeit auf als diejenigen,die sich ergeben, wenn man die Werteunter einachsiger Biegung (auf denDiagrammachsen) miteinander verbin-det. Auffällig ist, daß die Festigkeit bei28 von 46 Versuchen unter dem obenangegebenen charakteristischen Wertvon 45 N/mm2 liegt. Damit zeigt sichfür Floatglas eine deutliche Abhängig-keit zwischen der Art der Beanspru-chung und der Festigkeit.

Untersuchungen von Newmanund Raju [15] zum Spannungsinten-sitätsfaktor haben gezeigt, daß dieBruchspannung von Glas abhängigist von der Länge des Ausgangsrisses.Mit abnehmender Rißlänge steigt dieBruchspannung. Deutlich wird diesbei Rißlängen < 5 mm, hier nehmendie Bruchspannung besonders starkzu. Unter der Annahme, daß in allenProbekörpern durch das Vorschädigenmittels Schleifen gleich tiefe Ober-flächenrisse erzeugt wurden, lieferndie Untersuchungen von Newmanund Raju die bislang einzige Begrün-dung für die erhöhte Festigkeit vonFloatglas unter Doppelbiegung. Dennaufgrund der Querschnittsgeometriedes Bereiches, welcher angeschliffenwurde (bei Mz die gesamten Schei-benbreite, bei My und Mz + My dieKante und ca. 10 mm der ecknahen

Fläche), und der tatsächlichen Zug-spannung, die im Falle der Doppel-biegung in den ecknahen Bereichenstark anstieg (vgl. Bild 2c, die Glas-dicke ist hier stark vergrößert!), wardie effektive Rißlänge, welche untermaximalen Zugspannungen zum Ver-sagen des Querschnittes führte, beizweiachsiger Biegung minimal.

Mit einer einzigen Ausnahme lie-gen die Bruchspannungen bei TVG-Glas deutlich über der charakteri-stischen Festigkeit von 70 N/mm2

(Bild 13). Es ist auffallend, daß mitzunehmendem Anteil des Biegemo-mentes My (sx[Fz]) die Bruchspannun-gen, wie in Bild 12 zu sehen, starkanstiegen. Bei reiner Beanspruchungdurch My war die Festigkeit um ca.50 % größer als bei Mz. Es liegt dieVermutung nahe, daß die Vorspan-nung im Bereich der Kanten höherwar als in der Scheibenfläche. Ein In-diz hierfür ist die Stelle des Rißur-sprungs bei Versuchen mit Doppel-biegung. Hier lag die bruchauslö-sende Stelle in der Scheibenfläche ca.8 bis 18 mm oberhalb der maximalbeanspruchten Faser, die Biegespan-nung war hier entsprechend ca. 5 bis15 N/mm2 geringer als an der Eckfa-ser. Diese Vermutung wird durch Un-tersuchungen von Laufs und Luiblebestätigt [16]. Beide geben einen Kan-teneinflußbereich auf die Vorspan-nung von der 1,5fachen Glasdicke an,in diesem Fall also 12 mm. Durchspannungsoptische Messungen zeig-ten sie, daß bei TVG die Vorspannung

Bild 12. Interaktionsdiagramm für Floatglas, Spannungen normiert nach [10]Fig. 12. Interaction diagram for float glass, stresses standardized [10]

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in der Fläche geringer war als an derKante, bedingt durch unterschiedli-che Wärmeübergangszahlen währendder thermischen Behandlung in derFläche und an der Kante. Bei reinenMy-Versuchen lagen die Rißursprüngehingegen immer an der Unterkante(Glaskante), also an der maximal zug-beanspruchten Faser, wo die Vorspan-nung erhöht gewesen ist.

Im Falle der Versuche an ESG-Glas zeigt sich, daß alle Bruchspan-nungen über dem Normwert liegen(Bild 14). Ein Einfluß der Beanspru-chungsrichtung läßt sich aufgrund derrelativ linearen Verteilung in Bild 14nicht eindeutig erkennen. Ein Anstiegder Festigkeit im Eckbereich (wie beiFloatglas und TVG) oder im Bereichder Kante (wie bei TVG) ist bei ESGnicht festzustellen. Nach Laufs [6] istdie Kante bei ESG im Gegensatz zuTVG geringfügig weniger vorgespanntals die Fläche. Bei den Floatglasver-suchen zeigte sich ein Festigkeitsan-stieg an der Fase, vgl. Bild 12. DenMessungen zufolge scheinen sichdiese beiden Effekte gegenseitig auf-zuheben.

3.3 Fraktilwerte der Biegezugfestig-keiten

Für die statistische Auswertung derBiegezugfestigkeiten zur Bestimmungder 5 %-Fraktilwerte bei 95prozenti-ger Aussagewahrscheinlichkeit wurdedas Verfahren nach Fischer angewen-det [16]. Es liefert unter Annahme ei-ner logarithmischen Normalverteilungder Meßwerte sehr gute Ergebnissebei geringem Rechenaufwand.

Zur Bestimmung der Fraktilwertefür sx[Fy] (aus Mz) und sx[Fz] (aus My)wurde für jede Glasart näherungs-weise der Mittelwert der Verhältnissesx[Fy] : sx[Fz] aller Doppelbiegeversu-che verwendet. Mit Hilfe dieses Mit-telwertes wurde das Ergebnis der sta-tistischen Auswertung in zwei Anteileaufgeteilt. Somit ergaben sich für diedrei Glasarten die Werte in Tabelle 1.

Die wichtigste Erkenntnis ausTabelle 1 ist, daß die vorgespanntenGläser (TVG und ESG) trotz der star-ken Vorschädigung deutlich höhereFraktilwerte aufweisen als die charak-teristischen Festigkeiten. Ganz andershingegen sieht es bei Floatglas aus.Hier liegen allein bei Doppelbiegungdie Fraktilwerte leicht über der charak-teristischen Festigkeit, deutlich nied-

Tabelle 1. 5 %-Fraktilwerte der normierten Grenzspannungen aufgrund der durch-geführten VersucheTable 1. 5 % fractile of the standardized limit stresses due to the tests

Belastung Glasart Statistische Auswertung 5 %-FraktilwertMittel- Standard- Variations- Verhältnis sx[Fy] sx[Fz] Summewert abweichung koeffizient sx[Fy] : sx[Fz] sx

Mz Float 36,7 13,6 0,37 1,00 29,5 0 29,5My Float 37,2 9,2 0,25 0,00 0 30,8 30,8

Mz + My Float 50,9 8,6 0,17 0,94 22,8 24,3 47,1

Mz TVG 78,5 2,1 0,03 1,00 76,3 0 76,3My TVG 118,1 6,5 0,05 0,00 0 112,9 112,9

Mz + My TVG 98,2 12,9 0,13 1,30 51,3 39,4 90,7

Mz ESG 173,0 25,6 0,15 1,00 152,9 0 152,9My ESG 155,0 3,6 0,02 0,00 0 152,2 152,2

Mz + My ESG 170,5 20,4 0,12 1,90 105,6 55,6 161,2

Bild 13. Interaktionsdiagramm für TVG, Spannungen normiert nach [10]Fig. 13. Interaction diagram for TVG glass, stresses standardized [10]

Bild 14. Interaktionsdiagramm für ESG, Spannungen normiert nach [10]Fig. 14. Interaction diagram for ESG glass, stresses standardized [10]

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riger hingegen liegen sie bei einachsi-ger Biegung.

4 Schlußfolgerungen

Anhand der durchgeführten Versuchekann festgestellt werden, daß dieBeanspruchungsart insbesondere beiFloatglas einen Einfluß auf derenFestigkeit hat. Glasträger unter Dop-pelbiegung mit einem Spannungsver-hältnis sx[Fy] zu sx[Fz] von ca. 1 : 1zeigten diesen Effekt durch eine Festig-keitszunahme von 50 % (Summe sx)gegenüber einfacher Biegung (sx[Fy]bzw. sx[Fz]) am deutlichsten. Auch fürTVG konnte dieses Verhalten beob-achtet werden, mit dem Unterschied,daß hier die Festigkeit bei Biegungum die starke Achse maximal wurde.Bei TVG erhöht offensichtlich diestärkere Vorspannung im Bereich derKanten die Bruchspannung sx[Fz]. ImGegensatz zu diesen beiden Glas-arten verhielt sich die Festigkeit desESG konstant, d. h., es konnten keinesignifikanten Änderungen der Festig-keit in Abhängigkeit der Biegebean-spruchung festgestellt werden. Einehöhere „Kantenfestigkeit“ war beimESG nicht festzustellen.

In einigen Vorschlägen für Be-messungskonzepte von Glaskonstruk-tionen wird zur Bestimmung desWiderstandes die Größe der bean-spruchten Fläche und die Spannungs-verteilung berücksichtigt, beispielhaftseien hier Wörner und Shen genannt[4]. Damit wird der Tatsache Rech-nung getragen, daß mit zunehmenderFlächengröße die Wahrscheinlichkeitsteigt, daß sich innerhalb dieser Flächeder bruchauslösende Oberflächen-defekt befindet. Durch die bei denhier durchgeführten Versuchen einge-

brachte Vorschädigung wurde dieserEffekt weitgehend ausgeschlossen.Weitere Informationen zu den be-schriebenen Versuchen und ihrer Aus-wertung finden sich in [17].

Literatur

[1] Schuler, C.: Einfluß des Materialver-haltens von Polyvinylbutyral auf dasTragverhalten von Verbundsicherheits-glas in Abhängigkeit von der Tempera-tur und Belastung, Dissertation, TUMünchen, 2003.

[2] Sedlacek, G., Blank, K., Laufs, W.,Güsgen, J.: Glas im Konstruktiven Inge-nieurbau. Berlin: Ernst & Sohn, 1999.

[3] Lindner, J., Rusch, A., Laborge, R.:Festigkeit von Floatglas in Abhängig-keit von Oberflächendefekten. VR 2138,TU Berlin Institut für Baukonstruktionund Festigkeit, 2001.

[4] Fink, A.: Dauerstandsverhalten vonGlas. Glas im Bauwesen, Institut fürStatik, TH Darmstadt, Bericht Nr. 13,1998.

[5] Wörner, J.-D., Pfeiffer, R., Schneider,J., Shen, X.: Konstruktiver Glasbau,Grundlagen, Bemessung und Kon-struktion. Bautechnik 75 (1998), H. 5,S. 280–293.

[6] Laufs,W.: Die Bestimmung der Festig-keit thermisch vorgespannter Gläser.VDI-Berichte 1527: Bauen mit Glas.Düsseldorf: VDI-Verlag, 2000.

[7] Hess, R.: Glasträger, Bericht Nr. 20des Instituts für Hochbautechnik, De-partment für Architektur. ETH Zürich,1999.

[8] DIN 52303-1 (08.1984): Prüfverfah-ren für Flachglas im Bauwesen – Be-stimmung der Biegefestigkeit, Prüfungbei zweiachsiger Auflagerung.

[9] Durchholz, M., Goer, B., Helmich, G.:Method of reproducibly predamagingfloat glass as a basis to determine thebending strength. Glastechnische Be-richte 68 (1995), S. 251–258.

[10] Kerkhof, F., Richter, H., Stahn, D.:Festigkeit von Glas zur Abhängigkeitvon Belastungsdauer und -verlauf. Glas-technische Berichte 54 (1981).

[11] prEN 13474-1 (04/1999) Entwurf:Glas im Bauwesen, Bemessung vonGlasscheiben, Teil 1: Allgemeine Grund-lagen für Entwurf, Berechnung undBemessung. Deutsche Fassung prEN13474-1: 1999. (2003 zurückgezogen).

[12] DIN EN 572-1 (08.2004): Glas imBauwesen – Basiserzeugnisse aus Kalk-Natronsilicatglas, Teil 1: Definitionenund allgemeine physikalische und me-chanische Eigenschaften.

[13] DIN EN 1863-1 (03.2000): Glas imBauwesen – Teilvorgespanntes Kalk-natronglas, Teil 1: Definition und Be-schreibung.

[14] DIN EN 12150-1 (11.2000): Glas imBauwesen – Thermisch vorgespanntesKalknatron-Einscheibensicherheitsglas,Teil 1: Definition und Beschreibung.

[15] Newman, J. C., Raju, I. S.: Stress in-tensity factor equation for cracks inthree-dimensional finite bodies subject-ed to tension and bending loads. NASATechnical Memorandum 85793. Natio-nal Aeronautics and Space Administra-tion, Landley Research Center, Virginia,1984.

[16] Fischer, L.: Bestimmung des 5 %-Quantils im Zuge der Bauwerksprü-fung. Bautechnik 72 (1995), H. 11,S. 712–722.

[17] Lindner, J., Holberndt, T.: Quer-schnittstragfähigkeit von Glasträgernbei mehrachsiger Beanspruchung, VR2139 – Teil 2, TU Berlin, Institut fürBaukonstruktion und Festigkeit. Berlin2004.

Autoren dieses Beitrages:Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. Joachim Lindner, TU Berlin, FG Metall- und Leichtbau, Sekr. TIB 1 – B1, Gustav-Meyer-Allee 25, 13355 Berlin, Dr.-Ing. Tobias Holberndt, Gluckstraße 10, 53115 Bonn