Notiz Uber Geisteswissenschaft Und BIldung - Theodor W. Adorno

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Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung

Unter den Aspekten der gegenwärtigen Universität,denen gegenüber der Ausdruck Krise mehr ist alsbloße Phrase, möchte ich einen hervorheben, den ichgewiß nicht entdeckt habe, der jedoch in der öffentlichen Diskussion kaum die genügende Aufmerksamkeit fand. Er hängt zusammen mit jenem Komplex,der als Divergenz von Bildung und fachlicher Schulung bekannt ist, deckt sich aber keineswegs damit.Auszudrücken ist er nicht leicht; das Vage und Thesenhafte des improvisierten Versuchs bedarf der Entschuldigung. Er gilt der Frage, ob der Universitätheute Bildung dort noch gelinge, wo sie nach Thematik und Tradition an deren Begriff festhält, also in densogenannten Geisteswissenschaften; ob im allgemeinen der Akademiker durch deren Studium überhauptnoch jene Art geistiger Erfahrung gewinnen kann, dievom Begriff Bildung gemeint war, und die im Sinnder Gegenstände selber liegt, mit denen er sich befaßt.Vieles spricht dafür, daß von eben dem Begriff derWissenschaft, wie er nach dem Verfall der großenPhilosophie aufkam und seitdem eine Art Monopolerlangte, jene Bildung unterhöhlt wird, welche er kraftdes Monopols beansprucht. Wissenschaftliche Disziplin ist eine geistige Gestalt dessen, was Goethe wie

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Hegel als Entäußerung forderten: Hingabe des Geistesan ein ihm Entgegenstehendes und Fremdes, in der ererst seine Freiheit gewinnt. Wer solcher Disziplin

osdenken und versiertes Geschwätz leicht nur unter dasNiveau dessen herabsinken, wogegen er legitimenWiderwillen empfand; unter die heteronom ihm aufgedrungene Methode. Aber jene Disziplin und dieVorstellung von Wissenschaft, die ihr entspricht, unddie mittlerweile zum Widerspiel dessen wurde, wasFichte, Schelling, Hegel unter dem Wort sich vorstellten, hat auf Kosten des ihr konträren Moments verhängnisvolles Übergewicht erlangt, ohne daß es dekretorisch sich zurücknehmen ließe. Spontaneität,Imagination, Freiheit zur Sache sind allen anders lautenden Erklärungen zum Trotz durch die allgegenwärtige Frage »Ist das auch Wissenschaft?« so eingeengt,daß der Geist noch in seinem einheimischen Bereichdroht, entgeistet zu werden. Die Funktion des Wissenschaftsbegriffs ist umgeschlagen. Die vielberufenemethodische Sauberkeit, allgemeine Kontrollierbarkeit, der Consensus der zuständigen Gelehrten, dieBelegbarkeit aller Behauptungen, selbst die logischeStringenz der Gedankengänge ist nicht Geist: das Kriterium des Hieb- und Stichfesten wirkt jenem immerzugleich auch entgegen. W ikt gegen dieunreglementierte Einsicht entschieden ist, kann es zur

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Dialektik der Bildung, zum inwendigen Prozeß vonSubjekt und Objekt gar nicht kommen, den man imHumboldtschen Zeitalter konzipierte. Organisierte

exionsform des Geistes eher als dessen eigenes Leben;als Unähnliches will sie ihn erkennen und erhebt dieUnähnlichkeit zur Maxime. Setzt sie sich aber anseine Stelle, so verschwindet er, auch in der Wissenschaft selbst. Das geschieht, sobald Wissenschaft alseinziges Organon von Bildung sich betrachtet, unddie Einrichtung der Gesellschaft sanktioniert kein anderes. Zur Intoleranz gegen den Geist, der ihr nichtgleicht, neigt Wissenschaft offenbar um so mehr,pocht um so mehr auf ihr Privileg, je tiefer sie ahnt,daß sie das nicht gewährt, was sie verspricht. An derEnttäuschung vieler geisteswissenschaftlicher Studenten in den ersten Semestern ist nicht nur deren Naivetät schuld, sondern ebenso, daß die Geisteswissenschaften jenes Moment von Naivetät, von Unmittelbarkeit zum Objekt eingebüßt haben, ohne das Geistnicht lebt; ihr Mangel an Selbstbesinnung dabei istnicht weniger naiv. Noch wo sie weltanschaulich demPositivismus opponieren, sind sie insgeheim unterden Bann der positivistischen Denkmanier geraten,den eines verdinglichten Bewußtseins. Disziplin wird,im Einklang mit einer gesellschaftlichen Gesamttendenz, zum Tabu über alles, was nicht das je Gegebene

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stur reproduziert; eben das aber wäre die Bestimmungdes Geistes. An einer ausländischen Universitätwurde einem Studenten der Kunstgeschichte gesagt:Sie sind hier nicht, um zu denken, sondern um zu forschen. Das wird zwar in Deutschland, aus Respektvor einer Tradition, von der wenig mehr übrig ist alssolcher Respekt, nicht mit so dürren Worten ausgesprochen, läßt aber auch hierzulande die Gestalt derArbeit nicht unberührt. Die Verdinglichung des Bewußtseins, die Verfügung über seine eingeschliffenen Apparaturen schiebtsich vielfach vor die Gegenstände und verhindert dieBildung, die eins wäre mit dem Widerstand gegenV echt, mit welchem die organisierte Geisteswissenschaft ihre Gegenstände überzogen hat, wird tendenziell zum Fetisch; was anders istzum Exzeß, für den in der Wissenschaft kein Raumsei. Der philosophisch dubiose Kultus der Ursprünglichkeit, der von der Heideggerschen Schule betriebenwird, hätte schwerlich die geisteswissenschaftliche Jugend so sehr fasziniert, käme er nicht auch einemwahrhaften Bedürfnis entgegen. Sie merken täglich,daß wissenschaftliches Denken, anstatt die Phänomene aufzuschließen, sich bei deren je schon zugerichteter Gestalt bescheidet. Indem jedoch der gesellschaftliche Prozeß verkannt wird, der das Denken verdinglicht, machen sie Ursprünglichkeit selbst wiederum zu

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einer Branche, zur angeblich radikalen und ebendarum spezialistischen Frage. Was das verdinglichtewissenschaftliche Bewußtsein anstelle der Sache be-gehrt, ist aber ein Gesellschaftliches: Deckung durchden institutionellen Wissenschaftszweig, auf welchenjenes Bewußtsein als einzige Instanz sich beruft, sobald man es wagt, an das sie zu mahnen, was sie vergessen. Das ist der implizite Konformismus der Geisteswissenschaft. Prätendiert sie, geistige Menschenzu bilden, so werden diese eher von ihr gebrochen.Sie errichten in sich eine mehr oder minder freiwilligeSelbstkontrolle. Diese veranlaßt sie zunächst dazu,nichts zu sagen, was den etablierten Spielregeln ihrerWissenschaft nicht gehorcht; allmählich verlernen sie,es auch nur wahrzunehmen. Selbst geistigen Gebildengegenüber fällt es nachgerade den akademisch mitihnen Befaßten schwer, etwas anderes zu denken alsdas, was dem unausdrücklichen und deshalb um somächtigeren Wissenschaftsideal entspricht. Seine repressive Gewalt beschränkt sich keineswegs auf bloße Lern- oder technische Fächer. DasDiktat, das in diesen die praktische Verwendbarkeitausübt, hat auch die ergriffen, die solche Verwendbarkeit nicht beanspruchen können. Denn dem Begriffder Wissenschaft, der sich unaufhaltsam ausbreitete,seitdem sie und die Philosophie, aus beider Schuldund zu beider Schaden, auseinanderbrachen, ist die

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Entgeistung immanent. Bewußtlos schaltet akademische Bildung auch dort, wo sie es thematisch mit Geistigem zu tun hat, einer Wissenschaft sich gleich,deren Maß das V ndliche, Tatsächliche und seineAufbereitung ist – jene Faktizität, bei der nicht sichzu bescheiden das Lebenselement des Geistes wäre.Wie tief Entgeistung und Verwissenschaftlichung miteinander verwachsen sind, zeigt sich daran, daß dannals Gegengift fertige Philosopheme von außen heran

ltriert sie den geisteswissenschaftlichen Interpretationen, um ihnen den mangelnden Glanz zu verleihen, ohne daß sie aus der Erkenntnis der geistigen Gebilde selbst heraussprängen. Mitkomischer Bedeutsamkeit wird dann aus diesenimmer wieder, differenzlos, das Gleiche herausgelesen. Zwischen Geist und Wissenschaft lagert sich einVakuum. Nicht nur die Fachausbildung, sondern auchBildung selber bildet nicht mehr. Sie polarisiert sichnach den Momenten des Methodischen und des Informatorischen. Der gebildete Geist wäre demgegenüberebenso eine unwillkürliche Reaktionsform wie seinerselbst mächtig. Nichts steht dem mehr im Bildungswesen bei, auch die hohen Schulen nicht. Verfemt die

ektierte Verwissenschaftlichung zunehmend denGeist als eine Art von Allotria, dann verstrickt siesich tiefer stets in den Widerspruch zum Gehalt des

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sen, womit sie sich befaßt, und zu dem, was sie fürihre Aufgabe hält. Sollen die Universitäten anderenSinnes werden, so wäre in die Geisteswissenschaftennicht weniger einzugreifen als in die Fächer, vordenen jene zu Unrecht den Geist vorauszuhaben sicheinbilden.