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1 Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello Übergänge im Lebenslauf bewältigen und förderlich gestalten Careum Pflegesymposium | Übergänge sorgsam und professionell begleiten | 12.06.2018 Übersicht 1. Biografische Übergänge: Definition, Bedeutung und gesellschaftlicher Kontext 2. Zentrale biografische Übergänge im Erwachsenenalter - Lebensmitte: Kumulation von Transitionen, Lebens- bilanzierung - Alter: Pensionierung, multiple Wege des Übergangs - Hohes Alter Verluste und existenzielle Sinnfragen 3. Kernkompetenzen zur Bewältigung von biografischen Übergängen

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Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello

Übergänge im Lebenslauf bewältigen und förderlich gestalten

Careum Pflegesymposium | Übergänge sorgsam und professionell begleiten | 12.06.2018

Übersicht

1. Biografische Übergänge: Definition, Bedeutung und gesellschaftlicher Kontext

2. Zentrale biografische Übergänge im Erwachsenenalter

- Lebensmitte: Kumulation von Transitionen, Lebens-bilanzierung

- Alter: Pensionierung, multiple Wege des Übergangs

- Hohes Alter Verluste und existenzielle Sinnfragen

3. Kernkompetenzen zur Bewältigung von biografischen Übergängen

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Biografische Übergänge

• Normative Übergänge: voraussehbar, planbar

- Biologisch normiert: Pubertät, Menopause

- Gesellschaftlich altersnormiert: Einschulung, Volljährigkeit,

Pensionierung

• Nicht-normative Übergänge: unvorhersehbar, häufig gekennzeichnet durch Kontrollverlust, Ungewissheit und Stress:

Unfälle, Todesfälle, Entlassungen, Scheidungen, berufliche

Entlassungen, finanzielle Krisen

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Biografische Übergänge –Herausforderungen und Chancen

Herausforderungen

• unterbrechen den Lebensverlauf, lösen Individuen/Systeme aus Zusammenhängen > Reorganisation des Lebens nötig.

• verändern Rollen, Beziehungen > Neudefinition der Identität, zumeist assoziiert mit emotionalem Ungleichgewicht, Kontrollverlust.

• Jedoch: grosse Unterschiede im Umgang mit diesen Herausforderungen.

Und die Chancen?

• Wertvolle Lebenserfahrung

• Persönliches Wachstum

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Früher

Alles zu seiner Zeit

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• Destandardisierung der Lebensläufe aufgrund des demografischen und gesellschaftlichen Wandels: Individualisierung, Mobilität, Alter ist kein verlässlicher Indikator mehr.

• Übergänge weniger „normiert“ und gesellschaftlich weniger sichtbar – dafür zahlreicher: mehr berufliche und private Übergänge.

• Verlust an Sicherheit – Alles ist möglich, nichts ist sicher.

• Gestiegener Originalitätsanspruch bei der Gestaltung des Lebenslaufs > Gefahr der Überforderung der Selbststeuerungs-Kompetenz.

• „Privatisierung“ biografischer Übergänge > Druck auf Selbstverantwortung.

Heute

Biografische Übergänge – die grosse Beliebigkeit?

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Früher wie heuteTransitionen erfordern Neudefinition der Identität – ein Leben lang!

Auch in der postmodernen Zeit haben die verschiedenen

Lebensphasen spezifische Aufgaben.

Deshalb sind die Übergangsphasen von zentraler Bedeutung für die Identitätsdefinition.

Neue Herausforderungen:

- Identitätsdefinition im Zeitalter der multiplen Identitäten(Beruf, Familie, Social media, etc.)

- Sich selber treu bleiben? Oder vielmehr: Sich ständig neu erfinden?

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Früher wie heute

Frühe Übergänge werfen lange Schatten

• Frühe Übergangserfahrungen prägen nachhaltig Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Erfolgs- und Misserfolgserwartungen.

• Negative Übergangserfahrungen (Scheidung der Eltern,

Wohnortwechsel, off-time Transitionen) können den Lebenslauf aus den Takt bringen > schwierig wieder einzupendeln.

Erklärungen?

• Überdauernder Effekt: Eine negative Transition beeinträchtigt nachhaltig die psychische Gesundheit der betroffenen Person (Chapman et al., 2004).

• Ketteneffekt (Domino-Effekt): negative Transitionen lösen laufend neue negative Ereignisse aus (Wainwright & Surtees, 2002).

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Übersicht

1. Biografische Übergänge: Definition, Bedeutung und gesellschaftlicher Kontext

2. Zentrale biografische Übergänge im Erwachsenenalter

- Lebensmitte: Kumulation von Transitionen, Lebens-bilanzierung

- Alter: Pensionierung, multiple Wege des Übergangs

- Hohes Alter Verluste und existenzielle Sinnfragen

3. Kernkompetenzen zur Bewältigung von biografischen Übergängen

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Kumulation biografischer Übergänge in den mittleren Jahren

Persönliche Übergänge:• Körperliche Veränderungen • Neue Zeitperspektive > Bilanzierungsprozesse

Partnerschaftliche u. familiale Übergänge:• Scheidungen• Sandwich-Position: Sorge für Kinder und Eltern

Berufliche Übergänge:• Neuorientierungen• Wiedereinstieg, Ausstieg

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• Veränderung in der Zeitorientierung

• Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Lebens-entwürfen

• Wiederaufleben „des Traumes“: unterdrückte Aspekte des Selbst werden manifest; unerreichte Ziele, verpasste Chancen drängen nach Realisierung.

• Biografische Festlegungen werden spürbar

• Sinnfrage und Neuorientierung

Bilanzierung zur Halbzeit –Chance die Weichen neu zu stellen

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Johannes Tauler (1300-1361)

„Ordentliches inneres Üben ist notwendig zur Überwindung der Krise“ :

- Bewusstes Innehalten, Bilanzieren

- Offen sein für Neues- Sich neu definieren - Nicht alles kontrollieren

wollen- Relativieren- Eigene Standards

entwickeln

Die Gnade des Nullpunkts

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Pensionierung gestern

Saul Steinburg, Lebenstreppe, Hamburg, 1954.

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Pensionierung heute – ein pluralisierter Übergang

Pensionierung als Weichenstellung zu vielfältigen Pfaden:

• Gestaltungsmodell „Weitermachen�

• Gestaltungsmodell „nachberufliches Engagement�

• Gestaltungsmodell „Befreiung�

Guter Übergang ist abhängig von:

• Freiwilligkeit der Transition

• persönlichen Merkmalen und Interessen: Neudefinition als „Senioren“; Neudefinition des Selbstwertes und des Lebenssinnes

• Familiale Bedingungen: Neudefinition der Partnerschaft, des sozialen Netzes

• wirtschaftlich-konjunkturelle Rahmenbedingungen

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Pensionierung heute

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Übergang ins fragile AlterDie ultimative Erfahrung der eigenen Grenzen

• Multimorbidität, Gebrechlichkeit und Funktionsverlust, Abhängigkeit

• Erhöhtes Demenzrisiko

• Soziale Verluste, Einsamkeit

• Grenzen von Resilienz, Verlustmanagement und Selbststeuerung

Lebenszufriedenheit über die Lebensspanne

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Heimeintritt: Sinnfrage und Neudefinition der eigenen sozialen Rolle

„Menschliche Reife besteht darin, dass man mit Freude Hilfe leisten, aber auch Hilfe annehmen kann“.

Pfr. Otto Streckeisen Reformierte Presse/monatliche Kolumnen 2009-2013

Perrig-Chiello (2015). Gemeinschaft leben und in Beziehung sein im hohen Alter. In Fistarol et al.: Heimgang. Gedanken über den Lebensabend. Otto Streckeisen.

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Übersicht

1. Biografische Übergänge: Definition, Bedeutung und gesellschaftlicher Kontext

2. Zentrale biografische Übergänge im Erwachsenenalter

- Lebensmitte: Kumulation von Transitionen, Lebens-bilanzierung

- Alter: Pensionierung, multiple Wege des Übergangs

- Hohes Alter Verluste und existenzielle Sinnfragen

3. Kernkompetenzen zur Bewältigung von biografischen Übergängen

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Erfolgreiche Bewältigung von biografischen Übergängen

Abhängig von

1. Gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und alters- und zeitspezifischen Erwartungen (Transitionen sind nicht nur eine persönliche Angelegenheit).

2. Individuellen Ansprüchen, Möglichkeiten und Ressourcen:

- körperlich (Gesundheit, Leistungsfähigkeit,...)

- psychisch (Persönlichkeitsmerkmale, Werthaltungen, Erfahrung..)

- sozial (Partner, familiale und freundschaftliche Netzwerke).

Die gesellschaftlichen Bedingungen prägen –entscheidend sind letztlich die Einstellungswerte.

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Stabilität in Zeiten der Veränderung

Wichtig:Nicht mehrere Transitionen gleichzeitig! Vorbereiten, Zeit lassen, begleiten, Rituale

Stability Zones (Toffler, 1970)

In Zeiten der Veränderung, des Druckes, der Komplexität, der Verwirrung sollte wenigstens eine Domäne/eine Zone unseres Lebens stabil sein.

Was für Zonen?• Menschen: soziales Netz, PartnerIn, Freunde• Ideen, Werthaltung: Lebensphilosophie, Spiritualität,

Religiosität• Plätze: ein Ort der Stille, eine Ecke• Dinge: Erinnerungsstücke, Kleidungsstücke• Organisationen: Vereine

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Ein starkes Gefühl der:

� Verstehbarkeit: Anforderungen/ Veränderungen werden verstanden, können eingeordnet und erklärt werden.

� Handhabbarkeit: Anforderungen werden als lösbar angesehen, stellen eine ausgewogene Belastung dar und führen nicht zur Unter- noch Überforderung.

� Sinnhaftigkeit: Anforderungen werden als sinnvoll und bedeutsam angesehen, die Anstrengung und Engagement lohnen (in Anlehnung an Antonovsky 1997).

Selbst- und Mitverantwortung

Hilfreich für die Bewältigung

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Charakterstärken

Personen mit vier und mehr Charakterstärken haben höhere Werte im positiven Erleben, haben mehr Freude an ihrem Leben, empfinden es als sinnvoller und befriedigender.

Resiliente Personen besitzen bis zu sieben Charakterstärken, die besonders typisch für sie sind => SIGNATURSTÄRKE!

Worauf es letztlich ankommt

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Mässigung Selbstregulation(-kontrolle), WilleMentale Stärke

Mut und Gerechtigkeit Selbstverantwortlichkeit, Ausdauer,Emotionale Stärke Ehrlichkeit, Tapferkeit, Tatendrang, Fairness

Liebe/Menschlichkeit Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden: Interpersonale Stärke Freundlichkeit, Mitgefühl, soziale Intelligenz

Weisheit und Wissen Neugier, Urteilsvermögen, Aufgeschlossenheit, Kognitive Stärke Weitsicht Kreativität

Transzendenz Sinn für das Schöne, Dankbarkeit, Hoffnung,Spirituelle Stärke Humor, Religiosität und Spiritualität

CharakterstärkenDer gute Mix macht‘s!

Charakterstärken können erlernt werden. Und: Es ist nie zu spät!

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You can‘t stop the waves, but you can learn to surf!

Es ist nie zu spät!

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Literatur

• Perrig-Chiello, P. (2015). Vulnerabilität und Wachstum über die Lebensspanne. In Schweizerisches Rotes Kreuz (Hrsg.), Wege aus der Verletzlichkeit. Reihe„Gesundheit und Integration – Beiträge aus Theorie und Praxis“. Zürich: SeismoVerlag (pp. 21-49).

• Perrig-Chiello, P. (2012). Zeiterleben und Zeitgestaltung in biographischen Übergangsphasen. Der Mensch im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen In R. Kunz & I. Noth (Hrsg.). Nachdenkliche Seelsorge – seelsorgliches Nachdenken (pp. 311-326). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

• Perrig-Chiello, P. (2011). Lebenslange Entwicklung: Selbstverantwortlichkeit und Schicksal. In I. Noth, C. Morgenthaler & K.J. Greider (Eds) Pastoralpsychologie und Religionspsychologie im Dialog. Stuttgart. Kohlhammer; pp.169-183.

• Perrig-Chiello, P., Knöpfli, B., Hutchison, S. (2016). Vulnerability following a criticallife event: temporary crisis or lasting distress? A psychological controversy and itsmethodological implications. In M. Oris, C. Roberts, D. Joye, & M. Ernst Staehli(Eds.), Surveying human vulnerabilities across the life course (pp. In Press). Dordrecht, The Netherlands: Springer.