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Ohne dich wär ich nicht ich

Vier Räder ersetzen zwar Füße,aber der Verstand auch das Herz?

Annette Böhler

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BEATRICE VERSTAUTE EINEN Aktenordner und fuhr den PC hinunter. Sie blieb schon wieder als Letzte in der Agentur, im Anschluss folgte noch die Besprechung mit Herrn Berman. Sie trat in die Kü­chennische, um noch schnell etwas zu essen. Bea­trice fischte grünen Salat aus dem Kühlschrank und gab Balsamico­Dressing darüber. Nein! Nicht! Ihr schönes weißes, mit Pailletten besticktes Oberteil mit Flecken ruiniert. Es passte perfekt zu der hell­braunen Leinenhose. Wie ärgerlich! Die lange Jagd nach dem Shirt umsonst! Und jetzt trat sie auch noch so vor Herrn Berman. Als ob sie ein Kleinkind wäre.

Die Aktentasche wog schwer in Beatrices Hand, die Sporttasche lag auf dem Weg ins Fitnesscenter leichter darin. Da fiel ihr ein, Agnes wartete ja auf ihren Anruf. Wie es ihr wohl ging? Ob Luisa schon brav ins Töpfchen machte?

Beatrice begrüßte Iris und lief an ihr vorbei, sie kannte den Weg. Zum zweiten Mal stand sie vor die­ser Tür. Sie atmete tief durch. Trotz Internet­Recher­che zeigte sich ihre Scheu beharrlich. Ein erneuter tiefer Atemzug. Bestimmt wusste sie mehr als an­dere Menschen, das verringerte ihre Vorurteile. Sie schätzte jetzt realistischer ein, wie es sich mit ei­ner Querschnittlähmung lebte, aber dieser Moment stellte sie auf die Probe. Und sie schien zu scheitern. Warum fühlte sie so? Warum reduzierte sie ihn auf die Behinderung? Aber wie nicht, der Rollstuhl do­minierte doch seine ganze Erscheinung.

Sie klopfte an. Hoffentlich endete der Abend schnell.

»Ja«, hörte sie und trat ein. »Hallo Frau Willner. Bitte nehmen sie Platz«, sagte er und reichte ihr die

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Hand. Das Büro hatte sich seit ihrem letzten Besuch etwas verändert. Die Kartons fehlten. In der Ecke rankte eine Pflanze, im Regal hinter ihm standen nun größtenteils Bücher und Zeitschriften.

»Hallo, schön, dass Sie sich für eine Zusammenar­beit entschieden haben«, flunkerte Beatrice.

»Die Freude ist auf meiner Seite. Ein professionel­les Marketingkonzept zum Nullkostenpreis ist ein sehr großzügiges Angebot und kommt für uns genau zur richtigen Zeit«, sagte er und blickte dabei auf ihr Oberteil. Die Flecken!

»Die Studierenden werden das Konzept im Sep­tember erstellt haben, damit ist es rechtzeitig zum Start der Herbstsaison fertig«, antwortete Beatrice, fischte ihre Unterlagen hervor und legte sie am Tisch auf. Ihre lange Kette aus Bernsteinperlen stieß dabei mit dem oblatenförmigen Anhänger immer wieder an die Holzkante. Das Geräusch klang nach purer Lebensfreude. »Mir ist ein kleines Malheur passiert.« Sie wies auf die Dressingspritzer. »Ich hatte leider keine Gelegenheit mich umzuziehen, ich hoffe, Sie gewinnen keinen falschen Eindruck von mir.« Bea­trice fing den Anhänger ein, drückte ihn gegen den Bauch und bedeckte damit auch gleich die Flecken.

»Keine Sorge, ich hatte ohnehin nichts bemerkt«, sagte er und starrte lange auf das Prospekt. Lügen zählte offenbar nicht zu seinen Stärken, aber den Versuch empfand sie als freundlichen und charman­ten Zug.

»Danke«, antwortete Beatrice. »Im Grunde ge­nommen müssen Sie nur kurz Ihre Werbeunter lagen vorstellen. Was war der Hintergedanke, was wollen Sie bezwecken, und was darf keinesfalls verändert werden. Dann haben die Studierenden eine gute Vor­stellung davon, was gefordert ist«, erklärte Beatrice.

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»Wichtiger ist, dass Sie persönlichen Kontakt mit den Teilnehmenden aufbauen. Den Studieren den geht es nicht um das Fitnesscenter selbst oder darum, wie viele Mitglieder zukünftig kommen. Damit können sie sich nicht identifizieren. Sie brauchen einen per­sönlichen Anreiz, keinen rein fach lichen, dann legen sie auch Herzblut in ihre Arbeit«, betonte Beatrice.

»Wie meinen Sie das?«»Schauen Sie. Es ist bei uns beiden doch ähnlich.

Wenn Sie mich mit dem Gedanken zum IMCG be­gleiten, dass Sie dort das Fitnesscenter vorstellen und andere dann die Arbeit erledigen, wird Ihre Ein­leitung kurz und sachlich ausfallen. Wenn ich Ih­nen jetzt aber erklärte, warum ich schon im Studi­um wusste, dass Marketing mein Leben ist. Wenn ich Ihnen von meiner ersten gescheiterten Prü­fung erzählte.« Beatrice erinnerte sich, dass sie das ganze Wochenende durchgefeiert und einfach auf die Klausur am folgenden Montag vergessen hatte. »Wenn ich Ihnen von der großen Chance berichtete, die diese Stelle als Lehrerin am Management Center für mich bedeutet. Wenn ich Ihnen darlegte, dass ich von einer eigenen Agentur träume, von Selbststän­digkeit und Selbstverwirklichung. Ich denke, dann werden Sie engagierter sein, weil Sie dann mehr von diesem speziellen Gefühl, das Marketing in mir aus­löst, nachempfinden können. Und vielleicht auch deshalb, weil ich dann nicht mehr fremd bin, son­dern jemand, den Sie ein klein wenig kennen. Habe ich recht?«, fragte Beatrice. Er lachte. Staunte er? Er schien jedenfalls etwas perplex.

»Ich glaube, ich verstehe, ich soll von mir erzählen. Ich weiß nicht so recht«, meinte er.

»Schlussendlich überlasse ich das Ihnen. Aber vielleicht möchten Sie erklären, welcher Traum sich

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hinter dem Fitnessstudio verbirgt. Wie sich ein Trai­ning anfühlt, was Sport generell für Sie bedeutet. Welche Gedanken löste die Möglichkeit, neue Wer­bemittel erstellen zu lassen, in Ihnen aus? Was sind Ihre Erwartungen?«, schlug Beatrice ihm vor.

»Gut, überredet«, sagte er und wirkte dennoch skeptisch.

»Schön. Vielen Dank Herr Berman.«»Barne. Bitte nennen Sie mich Barne.« Er rollte

hinter dem Schreibtisch hervor. Sie hatte es die gan­ze Zeit vergessen, nun traf es sie wie eine Keule di­rekt in den Magen.

»Beatrice.« Sie nahm seine Hand, konnte ihm aber nicht in die Augen sehen. Sehr peinlich.

»Wir treffen uns in Graz«, sagte er.»Ja, ich maile noch alle Details«, antwortete sie

und entzog ihm ihre Hand. Wie sollte sie ihm jemals normal begegnen, er war es schließlich nicht.

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BEATRICE RÜCKTE IHREN Stuhl an die Wand des Seminarraums, so behielt sie die Teilnehmen­den und gleichzeitig Barne im Auge. Fragende und auch irritierte Blicke streiften sie. Wenn das schief ging, war ihr Ruf ruiniert, dann konnte sie wieder von vorne anfangen. Wieso legte sie ihr Schicksal in wildfremde Hände, noch dazu in die eines Behinder­ten? Jetzt lag es an ihm, ob er die Gruppe begeisterte. Ihr blieb im Moment nur die Rolle der Beobachterin, verbannt auf die Ersatzbank. Dort fieberte sie Bar­nes Auftritt entgegen, hielt ihm und sich selbst die Daumen. Barne blickte in die Runde, es schien, als nähme er für einen Augenblick zu jedem einzelnen Kontakt auf. Dann erst erklang seine tiefe Stimme.

»Sie fragen sich vielleicht, was der Kerl im Roll­stuhl Ihnen über Marketing und Sport erzählen kann. Nun, über Werbung weiß ich nichts, deshalb bin ich hier, um Ihre Kenntnisse zu nutzen. Aber Sport, meine Damen und Herren«, betonte Barne provokativ förmlich. »Sport war, ist und bleibt mei­ne absolute Leidenschaft. Und auch deshalb bin ich heute hier, um diese Faszination mit Ihnen zu tei­len.« Beatrice atmete auf. Barne machte seine Sache gut, genau so, wie sie es vorgeschlagen hatte, berühr­te er die menschliche Ebene. Er schien ein intuiti­ves Gespür für die richtigen Worte zu haben. In dem Moment, als er sein Handicap benannte, brach er das Eis. Er sprach aus, was so mancher dachte. Zwei­fel oder Ablehnung wichen Spannung und Neu­gierde. Barne erzählte weiter, von seiner Liebe zum Sport, der Freude an Bewegung und schließlich dem Traum, mit dem Fitnesscenter nicht nur die Men­schen zu erreichen, die ohnehin gerne Sport betrie­ben, sondern auch jene, die es nicht taten. Barnes Augen glänzten, seine Stimme klang etwas belegt,

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als er seine Vorstellung schloss. »Und dies ist mei­ne Bitte an Sie. Helfen Sie uns auch die Menschen zu erreichen, die sich nicht für Bewegung interessieren. Weder aus Bequemlichkeit noch aus Angst sollte auf Freude, Erfolgserlebnisse und Gesundheit verzichtet werden. Ich danke Ihnen.« Beatrice blickte in die Ge­sichter der Studierenden. Gewonnen! Ein geborener Redner!

Um ein Haar hätte sie ihren Einsatz verpasst. Sie entließ Barne aus dem Kurs, er hatte seine Aufga­be mit Bravour gemeistert. Der Funke war überge­sprungen. Die zwölf Teilnehmenden brannten da­rauf die Werbelinie zu entwickeln, die half, jenem Ziel näher zu kommen. Sie identifizierten sich mit Unternehmen und Auftraggeber, wollten Teil des Traums sein. Jetzt startete ein Prozess, den Bea­trice fachkundig unterstützen und begleiten würde. Von der groben Idee, den Zielgruppen, der grundle­genden Strategie zu einer stimmigen Werbelinie. In weiterer Folge dann die Auswahl aller nötigen Wer­bemittel, Materialien, Farben, bis hin zu den passen­den Schriftarten. Dieser Weg versprach spannend zu werden. Beatrice liebte ihre Referententätigkeit am IMCG. Sie gab ihr Wissen weiter und profitierte auch selbst immer wieder. Andere Standpunkte, andere kreative Ideen. Sie lehrte nicht nur, sie lernte auch jedes Mal aufs Neue. In diesem Fall bedeutete es so­gar noch mehr. Wenn die Qualität dieser Kampag­ne ein hohes Niveau erreichte, und daran bestand kein Zweifel, wenn Beatrice die Studierenden bei deren Arbeitseifer beobachtete, hieß dies nicht nur, dass sie die Lehre des Handwerks an sich gut vermit­telt hatte, ihre Schützlinge konnten auch erste Re­ferenzen vorweisen und sie selbst den Lehrgang in

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Zukunft vielleicht öfter mit Unternehmen als Wer­bepartner gestalten.

Neben der fachlichen Seite dieser Kurse genoss Beatrice auch den menschlichen Aspekt. Anfäng­lichem Beschnuppern folgte das Kennenlernen, schließlich entwickelten sich tiefere Bekanntschaf­ten und zum Abschied kam meist keine Feierstim­mung auf, denn er fiel schwer. Hin und wieder wuchs eine Gruppe so fest zusammen, dass sie sich auch nach Kursende traf. Und wenn es Beatrice einrichten konnte, fehlte sie bei solchen Abenden nicht. Auch wenn diese lustigen Runden meist zu später Stunde mit etwas zu viel Alkohol in Bars endeten. Viele Kon­takte inspirierten, bereicherten das Leben und färb­ten es bunter. So gefiel ihr das. Wie dieser Lehrgang sich wohl entwickeln würde?

Eine Diskussion zweier Studenten riss Beatrice aus ihren Gedanken. Offensichtlich beschäftigten sie sich gerade mit der Hauptzielgruppe alle Sport-muffel. So emotional ging das sonst nie ab! Bevor zum Streit ausartete, was gerade noch als lautstar­kes Gespräch durchging, rief Beatrice zum Brain­storming auf. Die nächsten Stunden versuchten sie einzelnen Kategorien der Unsportlichkeit auf die Schliche zu kommen, hinterfragten Gründe, Moti­vationen, körperliche und seelische Einschränkun­gen, sammelten Ideen und mancher recherchier­te parallel dazu im Internet. Das Team befand sich auf der richtigen Spur, nur wer seine Zielgruppe gut kannte, wusste auch, wie er sie erreichen konnte. Immer mehr Kärtchen hingen an der Pinnwand, der Flipchart füllte sich. Über all dem vergaßen sie die Zeit, erst als es in Beatrices Kopf zu dröhnen anfing,

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warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie hatten weit über eine Stunde überzogen! Sie bot an, den nächsten Se­minartag entsprechend später zu beginnen, aber die Studierenden lehnten ab, es schien, als hätten sie am liebsten jetzt noch weitergearbeitet. Beatrice spul­te die Verabschiedungsworte herunter und beendete diesen Seminartag fast mit Gewalt, wenn sonst kei­ner eine Pause brauchte, sie schon.

Nur Barne und Beatrice hatten direkt im Hotel Zimmer gebucht, die anderen stammten aus der nä­heren Umgebung und fuhren vermutlich nach Hause. Barne wollte die Vorzüge des Hotels einen Nachmit­tag lang für sich nutzen und erst am darauffolgen­den Tag abreisen. Beatrice, weil der zweite Seminar­tag noch auf sie wartete. Normalerweise reflektierte sie an dem Abend zwischen den Kurstagen und ar­beitete Hilfestellungen aus. Manchmal verblieb so­gar etwas Zeit, um im Wellnessbereich zu entspan­nen. Diesmal aber verabredete sie sich mit Barne zum gemeinsamen Abendessen. Sie wollte sich für seine Unterstützung beim Seminar bedanken. Solch einen Enthusiasmus hatte sie selten erlebt, das lag nicht nur an der Chance, die sie den Teilnehmenden mit der Kampagne bot, das lag auch an ihm. Sie spür­te es selbst. Er berührte irgendeinen Nerv, entfessel­te etwas. Aber viel überraschender als sein großarti­ger Auftritt, sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Jetzt, da sie ihn besser kannte, ein paar Einblicke in sein Leben erhielt, vor allem aber, weil er scheinbar ganz klar zu sich und der Behinderung stand, waren ihr Magen und Kopf erheblich ruhiger geworden.

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BARNE WARTETE AM Entree des Restaurants vor dem Reservierungsbuch. Eine Lichtinstallation ver­wehrte den Blick in den Gästebereich, ziemlich gute Lösung, die etwas Privatsphäre wahrte und noch dazu ihre Funktion erfüllte.

»Bitte. Was kann ich für Sie tun?«, fragte ihn eine Angestellte.

»Für Berman.« Sie blätterte im Buch und winkte einen Kellner zu sich.

»Tisch zwölf, Martin.« Dann wandte sie sich wie­der zu Barne: »Schönen Abend, Herr Berman.« Er nickte und ließ sich zum Platz führen.

»Würden Sie bitte«, bat Barne den jungen Mann, der sich bereits abwandte, und deutete auf den Ses­sel, den er nicht benutzen würde.

»Entschuldigen Sie«, antwortete der Kellner, ver­mied weiter jeden Augenkontakt und blickte zu Bo­den. Doppelt peinlich für den armen Jungen. Dann zog er den Stuhl beiseite. Barne atmete durch. Nichts Neues, aber daran gewöhnen würde er sich nie! Er warf einen Blick auf die Uhr, fünf nach acht. Wo blieb sie nur?

Der Kerzenleuchter am Tisch verstellte zwar die Sicht auf den Eingang, aber Barne erspähte sie so­fort. Wer konnte sie auch übersehen? Das Kleid schmiegte sich an ihre Kurven, dazu High Heels, lan­ges Haar und der Gang einer Diva. Die leise Hinter­grundmusik schien ihm plötzlich lauter. Wie gerne er sie jetzt auf der Stelle zu einem Tanz auffordern würde! Einfach so mit ihr durch den Saal schwe­ben. Beatrice lächelte ihm schon von weitem zu. Zur Begrüßung legte sie die Hand auf seine Schulter. Kaum spürbar, ganz leicht, gleich dem Flattern eines Schmetterlings. Barne umfasste ihre Taille. So zart,

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zerbrechlich und doch geschaffen um zuzupacken. Ihre Haare kitzelten an seinem Hals, als sie ihm Luftküsse auf die Wangen hauchte. Sollte der Ein­blick in sein Leben, den er im Seminar gewährt hat­te, ihre Einstellung so sehr verändert haben? Beim letzten Treffen fiel es ihr sogar schwer ihm in die Au­gen zu sehen. Durfte er sich endlich entspannen? Ihr Duft umschwebte seine Nase.

»Hallo, wie geht es dir? Ich hoffe, du hast den Tag gemütlich verbracht«, sagte sie und plumps­te erschöpft auf ihren Stuhl. »Ich bin fix und fer­tig«, sprach sie weiter, noch bevor er antworten konnte. Sie warf den Kopf in den Nacken, ihre Haa­re schwangen mit und Barne spürte, wie sich seine Härchen aufstellten und dieses Kribbeln auslösten. Wusste sie, was sie entfachte? Er brauchte einen Mo­ment und sammelte sich wieder.

»Ich habe es mir auf der Aussichtsterrasse bei Kaf­fee und Kuchen mit einem spannenden Roman gut gehen lassen«, seufzte Barne. »Ich hatte seit Wochen nicht mehr frei. Ich glaube, ich bin beim Lesen sogar kurzweilig eingenickt.«

»Dann packte dich das Buch aber nicht wirklich«, stellte Beatrice in den Raum. Sie zog einen Schmoll­mund und betrachtete ihn mit wachem Blick. Le­bensfreude und Energie sprühten aus ihren Augen, aber da verbarg sich noch mehr. Was hatte sie gerade gesagt? Ihre Erscheinung durchkreuzte jeden klaren Gedanken. Diese Mischung aus offener Lebenslust und tief Verborgenem, dessen Anwesenheit er deut­lich fühlte. Die ausgeprägte Mimik, die zur Illusion verleitete, sie zeige alles, und sein Bauchgefühl, dass sich noch mehr dahinter versteckte. Sie verdrehte die Augen. »Wow, das klingt toll. Wir haben hart für dich geschuftet.«

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»Wie ausgemacht.« Barne prostete ihr zu: »Cheers.«»Santé«, erwiderte Beatrice und nahm einen

Schluck Kir royal. Barne wandte sich der Speisekar­te zu, er entschied sich für die Empfehlung des Hau­ses und Beatrice schloss sich ihm an. Passend zum warmen Sommerabend gab es kalte Gurkencreme­suppe, danach hausgemachte Nudeln an leichter Paprikacreme mit Lachsfilet und Ratatouille. Zum Dessert empfahl der Küchenchef dreifarbige Mous­se au Chocolat. Der Kellner brachte die Weinkar­te und schien im ersten Moment unsicher, wem er sie reichen sollte. Barne hob die Hand, er wollte den Wein wählen. Was sollte das? Rollstuhl hin oder her, er war der Mann. Seine Beine versagten, nicht sein Gehirn. Wie konnten andere so tun, als wäre er zu nichts mehr zu gebrauchen. Nicht aufregen! Sollten sie doch denken, was sie wollten. Er entschied sich für einen Welschriesling. »Die Studierenden haben sich heute richtig ins Zeug gelegt. Ich glaube, du hast sie mit deiner Vorstellung ordentlich beeindruckt«, sagte Beatrice und nestelte an der Serviette. Natür­lich dauerte es eine Zeit, bis sich neue Bekannte an ihn und die Behinderung gewöhnten. Deshalb ver­suchte er immer sehr offen damit umzugehen, Si­cherheit zu vermitteln. Aber Beatrice gab ihm Rätsel auf, was genau machte sie verlegen? Nur der Roll­stuhl oder er selbst.

»Gut, freut mich, dass es geklappt hat«, antwor­tete Barne. Ob sie ahnte, dass er sich ihretwegen be­müht hatte? »Ich möchte mich für die Einladung be­danken, Beatrice.« Zum ersten Mal sprach er ihren Namen aus und lauschte seiner Melodie. »In erster Linie dafür, dass du an das Fitnesscenter gedacht und meinem Bruder dieses Angebot unterbreitet hast«, sagte er.

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»Gerne.«»Ich bin dir aber auch dankbar, dass du nicht nur

die Unterlagen verwendest, sondern mich hierher einlädst«, fuhr er fort. Wusste sie, was das für ihn be­deutete? Wie oft er gegen Vorbehalte ankämpfte und wie sehr er es vermisste, als normale Person wahr­genommen zu werden? »Die wenigsten trauen Kör­perbehinderten noch etwas zu. Durch dich durfte ich als Auftraggeber – vor allem aber als Mensch spre­chen. Diese Chance, zu beweisen, dass wir noch im­mer klar denken können, dass wir eine Vergangen­heit haben und eine Zukunft wünschen, verdanke ich alleine dir. Man darf uns für fähig halten, wir ge­hören dazu.« Überforderte er Beatrice vielleicht mit seiner Offenheit? Zu gern hätte er gewusst, was in ihr vorging, denn sie blickte plötzlich so ernst.

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SIE ZUPFTE DIE Anhänger an ihrem Armband zu­recht, das um ihr Handgelenk baumelte. Er sollte sich mit solchen Äußerungen zurückhalten, damit stieß er meist nur vor den Kopf.

»Ich denke, du hast tatsächlich keine einfache Ausgangslage«, sie räusperte sich, dann hob sie den Blick. Beatrice sah anders aus, ihm schien, ihre Stim­mung glich nicht mehr Verlegenheit, sondern eher Trauer. »Es kam gut an, dass du dein Handicap ganz offen angesprochen hast.«

»Das Handicap, nicht meines«, rutschte ihm her­aus. »Es ist nichts, was ich will oder mir gehört.« Er bremste sich ein, für solche Gespräche gab es pas­sendere Zeitpunkte. Mehr als rein semantische Fein­heiten hörte nur heraus, wer das Leben mit Handi­cap näher verstand.

»Entschuldigung«, sagte sie. Ihre Wangen röte­ten sich. Er wollte sie nicht zurechtweisen, vor al­lem nicht in Verlegenheit bringen, nachdem sie die­se anscheinend schon abgelegt hatte. Er wünschte, nicht als behindert wahrgenommen zu werden, war­um ritt er dann so versessen auf diesen Dingen her­um? Er wusste doch, dass er die Leute damit nur ver­schreckte, und das entsprach nicht seiner Absicht, im Gegenteil, er wollte sich nur erklären, Verständ­nis schaffen. »Die Menschen, von denen du sprichst, sind nicht anders als ich. Nur durfte ich hören, was du von dir erzählt hast, das bereichert und verän­dert.« Nach diesen Worten fand er umso mutiger, dass sie sich anfangs davon hatte nicht einschüch­tern lassen. So viel Offenheit und Ehrlichkeit erlebte er selten. »Du warst Profisportler, das hat mich über­rascht.« Alles an ihr lachte, ihre Augen, ihr Mund, sogar die kleine Kuhle unterhalb des Halses. »Triath­let, sagtest du? Beeindruckend, auch die Teilnahme

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an den Paralympischen Spielen, sicher ein spekta­kuläres Erlebnis. Von der bestandenen Qualifikation, der langen Anreise, der großen Eröffnungsfeier, bis du dann an der Startlinie auf dein Go gewartet hast. Die Zieleinfahrt, die jubelnde Menge, deine Zeit. Ich habe wirklich gerne zugehört und bin noch immer neugierig auf mehr. Du dürftest mich direkt jetzt und hier als dein Publikum missbrauchen. Du sag­test, aktuell arbeitest du in einem Sportgeschäft?« Beatrice trank einen Schluck Kir und schüttelte ihr Haar nach hinten. Ein Hauch von Sommer verbrei­tete sich, sie roch nach Zitrone und Puderzucker. Am liebsten hätte er ihr die widerspenstige Strähne, die vor ihrem Auge tanzte, hinters Ohr geschoben. Ob sie es zulassen würde?

»Viel mehr gibt es nicht in der Kurzfassung. Ich habe deinen Rat befolgt und erzählt, wie viel mir Sport bedeutet. Natürlich hat sich das durch den Un­fall verändert, kein Profi­Sport mehr und die Pa­ralympics stellten sich als einmalige Sache her­aus. Jetzt trainiere ich nur privat und jünger werde ich auch nicht. Dem Sport bin ich noch immer treu, in meinen Erinnerungen und bei der Arbeit.« Mehr wollte er nicht offenbaren, es ging sie nichts an und interessierte sie vermutlich gar nicht. Sie beide ver­band nur dieses Seminar, in dem er für eine hal­be Stunde die Hauptrolle gespielt hatte. Trotzdem fühlte er sich bei ihr gut aufgehoben und hätte gerne mehr mit ihr geteilt, obwohl er nicht wusste, was er sich erwartete. Was er zu bieten hatte, erkannte man schließlich nicht in ein paar Minuten.

»So eine Gurkencremesuppe muss ich zu Hau­se unbedingt auch einmal zubereiten, die schmeckt richtig genial«, sagte Beatrice und hatte nur Augen

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für ihren Teller. Er sah noch nie eine Frau so genuss­voll essen.

»Du kochst?«, hakte Barne nach.»Ich experimentiere«, betonte Beatrice, kostete

wieder und seufzte wohlig. »Ich liebe es, einfach nach Gefühl Dinge zusammenzumischen, wie es mir ein­fällt, nach eigenen Vorstellungen ohne Rezeptvor­lage. Ich verliere mich gerne in den Geschmäckern. Manchmal ist es wie eine Reise, zu Beginn ahne ich nicht, wo ich am Ende ankomme. Der Gedanke, wie Kardamom in Verbindung mit Thymian und Melis­se schmeckt, vielleicht zu einer Praline verarbeitet, in einer Schokoladen­Ganache, löst eine Idee aus und auch Vorfreude. Dann der entscheidende Mo­ment, manchmal werde ich enttäuscht, manchmal bestätigt, und hin und wieder passiert etwas völ­lig Unerwartetes. Gänzlich unvorhergesehen kreie­re ich aus Einzelteilen eine Einheit, die in meinem Kopf scheinbar sämtliche Synapsen zum Explodie­ren bringt, ein Feuerwerk aus Gefühl, Geschmack, Genuss, purer Ekstase. In diesen seltenen Momen­ten überschwemmt mich ein unglaubliches Hoch­gefühl.« Er stellte sich vor, wie sie eine Praline zwi­schen den Handflächen rollte, vielleicht daran roch, bevor sie die kleine Kugel weglegte. Im Geiste sah er sich nach der Süßigkeit greifen und ihr anbieten, sachte an ihre Lippen führen, bis sie seine Finger be­rührten. Woher kam das nur?

Der Hauptgang stand der Vorspeise um nichts nach. Sie schien bald satt, er noch lange nicht. Ob er es sich erlauben konnte, von ihrem Teller zu es­sen? Zumindest für ihn erwiesen sich die Portionen zweifelsfrei als viel zu klein. Barne hatte noch im­mer Hunger.

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»Eindeutig zu viel des Guten«, meinte Beatrice. Sie lehnte müde in ihrem Stuhl, Hände auf dem Bauch.

»Wirklich? Ich könnte noch einen Nachschlag ver­tragen.«

»Ach, du musst doch platzen, du kannst keinen Hunger mehr haben.« Beatrice blickte auf ihren Tel­ler und zog eine Augenbraue hoch. Eine Einladung?

»Du willst Beweise?« Er schob den Kerzenständer beiseite. Beatrice kicherte und sah sich um, als ahnte sie, was er vorhatte.

»Das ist nicht dein Ernst«, flüsterte sie und kicher­te weiter. Er bediente sich von ihrem Teller und Be­atrice amüsierte sich offensichtlich prächtig, denn ihre Augen blitzten. »Von meinem Teller schmeckt es bestimmt besser«, presste sie leise unter Lachen her­vor. Barne nickte, was sollte er darauf sagen?

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SCHON LANGE HATTE Barne keinen Abend mehr so unbeschwert verbracht. Ihre lockere Art ent­spannte und erfrischte, obwohl Beatrice über sich kaum etwas offenbarte.

»Verreist du diesen Sommer?« Wenn sie freiwillig nichts preisgab, musste er selbst nachhaken.

»Nein. Alleine macht es nicht so viel Spaß. Und du?«, antwortete sie und zuckte mit den Schultern. Es wirkte, als wäre sie gerne weggefahren. Wieso stellte sich einer Frau wie ihr überhaupt diese Fra­ge? Lebte sie alleine? Könnte er dann nicht versu­chen …? Er zwang sich zur Ruhe.

»Dieses Jahr verschlägt es mich in die Toska­na. Vergangenen Sommer war ich in Sardinien. Ein herrliches Stückchen Erde«, meinte Barne.

»Erzähl, dann habe ich wenigstens etwas Urlaubs­feeling«, bat sie und neigte sich näher.

»Ich erkundete die Insel mit dem Handbike und nahm jeden Tag eine andere Tour. Die Landschaft besitzt ein besonderes Flair, sie wechselt zwischen felsigen Stellen mit ausgedorrten Pflanzen und satt­grünen Flecken. Die Dörfer an den Küstenstraßen schmiegen sich dicht an die Hänge und ihre farben­frohen Häuser gleichen bunten Bauklötzen. Klei­ne Buchten öffnen sich zum klaren, türkisfarbenen Meer und nichts verstellt den Blick in die Ferne, wo sich am Horizont Himmel und Meer treffen. Einfach traumhaft!«

»Wow, du gerätst ja richtig ins Schwärmen«, stell­te sie fest. »Deine Faszination ist ansteckend. Ich glaube, wenn ich zu Hause bin, bringe ich es auf Leinwand.«

»Wie meinst du das?«»Ich male hin und wieder. Deine Worte formten

ein Bild vor meinen Augen, das ich gerne festhalten

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möchte«, sagte sie, sofort spürte er Spannung auf­keimen. Malte sie wie die alten Meister, vielleicht Monet, Cézanne? Oder entwickelte sie einen ganz eigenen Stil, etwas ganz Neues? Wie er Kunst liebte.

»Kann man deine Bilder irgendwo bewundern?«»Du meinst in einer Galerie?«, sie lachte. »Nein.

Sie hängen bei mir in der Wohnung oder bei Freun­den und natürlich stapeln sich ganz viele im Keller.«

»Dieses Bild würde ich wirklich gerne sehen wol­len, wenn es fertig ist. Schließlich habe ich dich ins­piriert«, beharrte Barne. Dass seine Worte sie beflü­gelten, gefiel ihm.

»Das kann ich nicht versprechen. Aber wenn es mir gelingt und einer Wand würdig ist, dann kannst du es sehen.« Ihr Mund schob sich spitz nach vor­ne und erinnerte ihn für einen Bruchteil von Sekun­den an ein junges Kätzchen. Barnes Blick blieb an ih­ren Lippen hängen, sie wirkten weich und einladend. Der Gedanke sie zu küssen drängte sich in den Vor­dergrund. Barne zwang ihn zurück und wechselte das Thema.

»Mein Hobby ist die Musik«, sagte er.»Spielst du selbst ein Instrument?«»Gitarre und Bass. Manchmal sogar in einer Band.

Ich bin sozusagen Ersatzmitglied und hin und wie­der dabei. Nichts Großes, nur so zum Spaß«, antwor­tete er. »Lass dich von der Krawatte nicht täuschen, ich bin ein echter Rocker. Man sieht mir meine wil­de Seite nur nicht an«, gestand er. Sie lachte, plötz­lich fühlte sich alles so leicht und einfach an. Spür­te sie es auch?

»Was spielst du denn für Songs?«, fragte sie.»So ziemlich alles, was mir gefällt. Im Lauf der

Jahre sammelt sich ein umfangreiches Repertoire an. Zum Beispiel Elvis Presley, Johnny Cash, The Beatles,

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Michael Bublé, George Ezra, ich könnte ewig aufzäh­len«, sagte er.

»Da sind wahrscheinlich einige meiner Lieblings­lieder dabei. Ich würde dich gerne hören, vielleicht bei einem Auftritt?«

»So viele Gigs sind es nicht und wenn, dann eher im Bekanntenkreis, nicht in Clubs, also nichts wirk­lich Offizielles«, erklärte er.

»Schade«, sie zuckte mit den Schultern. Ärgerlich, wieso bemerkte er erst jetzt, dass dies die ideale Ge­legenheit gewesen wäre, sie wieder zu treffen! »Ist es in Ordnung für dich, wenn wir uns verabschieden? Es ist spät und ehrlich gesagt bin ich müde«, mein­te Beatrice.

»Natürlich.« Er fühlte sich auch müde, aber das hatte nichts mit der Uhrzeit zu tun, sondern damit, dass ihn die Lähmung zum Sitzen verdammte, was seinen Kreislauf beeinträchtigte und Medikamen­te erforderte, die ihn schläfrig machten. Barne trank den letzten Schluck Whiskey. Beatrice stand auf, das Kleid betonte ihren knackigen Po. Seit er Frauen nur mehr im Rollstuhl begegnete, hatte er Po und Brüs­te ständig auf Augenhöhe. Nicht hinzusehen fiel ihm jetzt viel schwerer als früher. Sie fasste ihre Haare zusammen, blies die Kerzen aus und streckte ihre Nase in den Qualm.

»Ich liebe das«, erklärte sie. Ein Teil des Luft­stroms hatte ihn sachte an der Wange gestreift. Hatte sie das bemerkt? Sie entfachte ein Feuer, wo sie das andere löschte.

Ihr Atem beschäftigte ihn noch bei den Fahr­stuhltüren, auch Beatrice hing ihren Gedanken nach.

»Ich bin im dritten Stock, und du?«, durchbrach Barne das Schweigen.

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»Vierter«, antwortete Beatrice schlicht. Mit einem Pling öffnete sich der Aufzug. Barne drückte beide Knöpfe. Die Anzeige über dem Bedienfeld zählte die Stockwerke herunter, wie ein Countdown, und mit jedem einzelnen schwand die Möglichkeit in Aktion zu treten. Sollte er es wagen, was hatte er schon zu verlieren? Mehr als Abblitzen konnte er nicht. Viel­leicht empfand sie sogar ähnlich? Ein weiteres Pling. Der Lift hielt in der vierten Etage. Sein Herz häm­merte wild gegen die Brust. Beatrice warf ihm einen kurzen Blick zu. »Gute Nacht, vielen Dank für den netten Abend«, sagte sie und machte einen Schritt Richtung Ausgang. Jetzt oder nie! Er schnappte nach ihrem Handgelenk und hielt sie fest.

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SEIN GRIFF UMFASSTE ihren Unterarm. Diese Geste überraschte sie völlig. Sie wandte sich zu ihm. Er wirkte ernst, seine Augen, weit geöffnet, blickten unverwandt in ihre, so als wäre er ebenso überrum­pelt worden von diesem Moment wie sie selbst. Und je länger sie ihn ansah, umso mehr glaubte sie auch etwas Furcht erkennen zu können. Sanft zog er sie zu sich, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, spürte sie seine Hand im Nacken. Ihr Kopf fügte sich dem leichten Druck und schon fühlte sie warme Lippen an ihren. Seine Zunge verlangte Einlass. Im Hinter­grund nahm sie wahr, wie sich die Aufzugtüren mit einem leisen Surren schlossen. Wie konnte sie das jetzt hören? Er liebkoste ihre Taille, zog daran. Noch näher?

»Setz dich zu mir«, hauchte er in ihren Mund. Wie bitte? Sie war viel zu schwer! Ein kräftiger Ruck nahm ihr die Entscheidung ab. Sie saß plötzlich auf ihm. Er drückte sie an sich und küsste sie. Leiden­schaftlich, fordernd und trotzdem so, als wolle er ihr etwas geben. Sie fühlte eine tiefe Wahrheit in diesem Kuss, eine, die sie längst wusste, aber nicht wahrha­ben wollte. Seine Küsse wurden zarter und endeten schließlich.

In seinen blauen Augen fand sie jetzt kleine gol­dene Einschlüsse. Das erkannte man offenbar nur in der Nähe. Ihre Lippen pulsierten noch immer, die Kehle brannte, die Wangen glühten. Die Magie des Augenblicks verblasste im grellen Neonlicht des Auf­zugs. Noch immer sah sie ihn an, warum eigentlich? Schnell, aufstehen! Gar nicht so einfach. Oh, das Kleid! Zwei gezielte Handgriffe und es saß wieder an Ort und Stelle. Wie konnte das nur passieren? Was hatte sie sich gedacht? Verdammt nochmal, das war

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seine Schuld! Er hatte sie genötigt. Oder eher ver­führt? Ihr Herz schlug höher, noch höher.

»Gute Nacht, es ist schon spät«, sagte Barne ruhig.»Gute Nacht«, antwortete Beatrice. Zum Glück

forderte er kein Gespräch! Schnell trat sie aus dem Lift, sie sah ihn nicht an. Knutschen mit einem Ar­beitskollegen, zumindest Geschäftspartner? Das durfte doch nicht wahr sein! Bis vor fünf Minuten hielt sie sich noch für einen Vollprofi. Selbst eine lei­se Stimme in ihr, er sei eigentlich eine private Be­kanntschaft und dieses Seminar nur die Ausnahme, beruhigte sie nicht. Noch immer lag Barnes herber Geschmack auf ihren Lippen. Wie konnte er es wa­gen? Keinen einzigen Anhaltspunkt hatte sie ihm geliefert! Wie konnte er nur glauben, dass sie Inte­resse haben könnte!

Sie stapfte den Flur entlang zu ihrem Zimmer. Dabei hatte alles so gut begonnen, sein Auftritt in der Früh war grandios. Auch der Abend mit ihm, so ziemlich die angenehmste Unterhaltung, die sie seit langem mit jemandem geführt hatte. Und jetzt? Al­les ruiniert. Schlafen? Undenkbar. Vielen Dank! Und morgen hundemüde ins Seminar! Am besten schnell ins Bett. Mit viel Glück erwies es sich nur als schlech­ter Traum, dass ein behinderter Kerl sie einfach so küsste und mit einem Schlag ganz viel Durcheinan­der in ihre Gefühle brachte.

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Annette Böhler: Ohne dich wär ich nicht ichRoman264 Seiten, broschiert€ 19,90 inkl. Ust.ISBN 978-3-903032-04-0E-Book€ 9,90 inkl. Ust.261 Seiten, PDF: ISBN 978-3-903032-05-7142 Seiten, EPUB:ISBN 978-3-903032-06-4

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