OSTKURVE '16 - Januar

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OSTKURVE ‘16 Nr. 11 29. Januar 2016 Das Magazin aus dem Regine-Hildebrandt-Haus EUROPA , was ist los mit Dir?

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Das Magazin aus dem Regine-Hildebrandt-Haus

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OSTKURVE ‘16Nr. 11 – 29. Januar 2016

Das Magazin aus dem Regine-Hildebrandt-Haus

EUROPA, was ist los mit Dir?

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Inhalt

VERMISCHTES

AKTUELLES

TITEL

15 Die Wahlkampfsaison hat begonnen Mindestens 16 kommunale Wahlgänge im Jahr 2016

18 Über die Integration von Flüchtlingen in Neukölln Interview mit Dr. Franziska Giffey

21 Brandenburger Köpfe Personalien aus der SPD

22 Trauer um Klaus Ness Ein bewegender Abschied

4 EUROPA Was ist los mit Dir?

7 Wölfe im Schafspelz Susanne Melior über die Rechtspopulisten im Parlament

9 Interview mit Martin Schulz Wie die Europäische Union sich verändert

14 Kopfnoten für die, die sie wirklich verdienen

22 Neumitglied des Monats Mike Großmann, Rathenow

24 Abpfiff. Die Kurven-Glosse

24 Ortsvereins-Liga Brandenburg Die 18 Größten

WISSEN

3 Der Vorwärts Historisches Schlaglicht

16 Unsere neue Parteischule Wissen sammeln, Handwerk lernen, ein Angebot für Parteimitglieder

21 Schon gewusst? Helmholtz und die Augenklappe

Anmelden und mitmachen!Gemeinsam Neues lernen und erleben

Seite 16

„zutiefst schockiert“ Martin Schulz über das Auftreten von

Rechtspopulisten im Europäischen Parlament

Seite 9

Von Neukölln lernen. Interview mit Bezirksbürgermeisterin

Dr. Franziska Giffey

Seite 18

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Schlaglichter sozialdemokratischer Geschichte

Liebe Leserinnen und Leser,

das gesellschaftliche Klima hat sich in unserem Land spürbar verändert. Rechtspopulisten sehen ihre Stunde gekommen. Ihre Reden werden zu­nehmen radikaler. Sie versuchen aus der Verunsicherung vieler Menschen Wut und Verachtung zu erzeugen: ge­gen Ausländer, gegen Politiker, gegen Journalisten und gegen unsere De­mokratie. Sie suchen keine Lösungen für unser Land, sie schmeißen Brand­fackeln mitten in unsere Gesellschaft. Das bereitet mir große Sorgen, weil

aus Worten viel zu oft auch Taten wer­den. Die steigende Zahl von rechtsmo­tivierten Gewaltverbrechen ist Aus­druck dessen. Dagegen müssen wir klare Haltung zeigen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Hass die Mensch­lichkeit übersteigt. Deutschland steht mit diesem Problem nicht alleine da. In ganz Europa sind Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Sie predigen den Nationalstaat, wollen alte Grenzen neu errichten. Das ist brandgefährlich. Der Weg vom Populismus zum Ex­tremismus ist nicht weit. Unser Konti­nent hat leidvoll erfahren, was Natio­nalismus bedeutet.

Der „Vorwärts“ In diesem Jahr feiert die SPD-Zeitung „Vorwärts“ ihr 140-jähriges Jubiläum. Die Ausgabe Nr. 1 erschien am Sonntag, dem 1. Oktober 1876. Wenige Wochen zuvor, im August 1876, hatte der Parteikongress in Gotha be-schlossen, die beiden bisherigen Zentralorgane „Neuer Social-Demokrat“ und „Volksstaat“ zu verschmelzen. Ab dem 1. Oktober 1876 erschien der Vorwärts dreimal wöchentlich. Die Frage des Verlags- und Redaktionsortes war auf dem Gothaer Kongress lebhaft diskutiert worden. Wilhelm Liebknecht, erster Herausgeber des Vorwärts, erklärte, dass er nicht für Berlin, sondern für Leipzig stim-men werde. In Berlin sei die Partei verboten, man müsse sich dort mit kleinen Winkelzügen behelfen, und dies sei der Partei unwürdig. Die Wahl des Parteikongresses fiel daraufhin auf Leipzig. In den folgenden Monaten wurden weitere 18 Parteizeitungen neu gegründet. Bald drauf ver-fügte die SPD über rund 40 Tages- und Wochenzeitungen.

Eure

Klara Geywitz Generalsekretärin

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2016 wird wohl ein entscheidendes Jahr für die Europäische Union. Es geht um die Existenz des vereinten Europa, um die Existenz unserer Wertegemeinschaft und um die Existenz dieses einzigartigen Frie-densprojektes. Die Aussichten am Jahresanfang sind nicht gut: So viel Streit und so viel Unversöhnlichkeit gab es zwischen den 28 EU-Staaten selten, vielleicht nie. Nach der Euro-krise um Griechenland erhitzt die hohe Zahl an Flüchtlingen seit Mo-naten die Gemüter. Wo solidarische Unterstützung notwendig wäre, herrscht nationaler Egoismus. Pro-fiteure der Krise sind augenschein-lich vor allem rechtspopulistische Parteien. Sie setzen auf Fremden-feindlichkeit und Nationalismus. Jenen Nationalismus, der unseren Kontinent noch immer ins Unglück gestürzt hat.

Rechtspopulistische Parteien sind in Europa nicht neu. In den meis-ten Ländern der europäischen Union haben sie eine lange Ge-schichte. Neu hingegen, ist die Intensität, mit der sie mit ihrer fremdenfeindlichen und anti-eu-ropäischen Politik in breite ge-sellschaftliche Schichten vordrin-gen. Spätestens seit der globalen Finanzkrise 2008 genießt die EU für eine zunehmende Zahl euro-päischer Bürgerinnen und Bürger nicht mehr das gewünschte Maß an Vertrauen. Das Versprechen Eu-ropas, ökonomischen Erfolg und soziale Sicherheit zu vereinen, hat in der Finanzkrise erheblichen Schaden genommen. Bei der Eu-

ropawahl vor zwei Jahren wurden die Folgen deutlich: rechtspopu-listische Parteien erzielten Re-kordergebnisse. Der „Prozess der Aushöhlung der europäischen De-mokratien“, wie es der Politologe Peter Mair nennt, ist bereits weit fortgeschritten.

Was sind das für Parteien, die quer über den Kontinent auf dem Vor-marsch sind? Die OSTKURVE gibt einen kurzen Überblick:

Österreich

Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) hat nach dem Tod des Rechts-populisten Jörg Haider einen noch radikaleren Kurs eingeschlagen. Der neue Frontmann Heinz-Christian Strache hat eine klar rechtsradikale Vergangenheit. Schon in seiner Ju-gend beteiligte er sich in Deutsch-land an mindestens einem Na-zi-Aufmarsch der zwischenzeitlich verbotenen Wiking-Jugend. Bei einer Kundgebung der rechts-radikalen DVU mit 4.000 Na-zis wurde er zusammen mit 10 anderen Personen von der Polizei festge-nommen. Strache besuchte auch Ver-anstaltungen des Holocaust-Leugners David Irving und ver-kehrte regelmäßig mit bekannten Nazi-Größen aus Deutschland und Öster-reich. Auch an mindestens ei-ner „Wehrsportübung“ nahm er mit anderen Nazis teil.

EUROPA IN DER KRISENationalismus auf dem Vormarsch

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Belgien Vlaams Belang 4,16%

Griechenland Goldene Morgenröte 9,38%

Dänemark Dansk Folkeparti 26,6%

Finnland Wahre Finnen 12,9%

Frankreich Front National 24,95%

Großbritannien UKIP 27,49%

Italien Lega Nord 6,15%

Niederlande Partij voor de Vrijheid 13,2%

Österreich FPÖ 19,5%

SchwedenSchwedendemokraten 9,7%

Polen PiS 32,13%KNP 7,06%

SlowakeiSNS 3,61%

Länder mit nennenswerten rechtspopulistischen Parteien; Wahlergebnisse Europawahl 2014

TschechienANO 16,13%

DeutschlandAfD 7,1%

Ungarn 14,68%51,49%

JobbikFidesz

SVP

Kein EU-Mitglied*Nationalratswahl 2015

*29,4%Schweiz

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Die Führungspersonen der FPÖ stammen in großer Zahl aus dem Milieu der Burschenschaf-ten. Die Partei hetzt vor allem gegen Migranten und Asylsu-chende, aber auch gegen Ho-mosexuelle. Die FPÖ stellt sich klar gegen die Emanzipation der Frauen. Aus ihrer Sicht sol-len sich Frauen vornehmlich um Haushalt und Familie kümmern. Ein zentrales Anliegen der FPÖ ist auch Abschaffung des Wie-

derbetätigungsverbots in der österreichischen Verfassung, das unter anderem den An-schluss Österreichs an Deutsch-land untersagt.

Frankreich

Zu den bekanntesten Rechtspo-pulisten in Europa zählt Marine le Pen vom „Front National“ (FN). Sie hat ihre Partei als dritte Kraft im Land profiliert. Zentra-les Thema des FN ist die Furcht vor der muslimischen Über-fremdung Frankreichs. Damit

verbunden sieht sie Frankreichs Sozialsystem in Auflösung und befördert mit ihren Parolen die Angst der Menschen vor dem wirtschaftlichen Abstieg. An-gesichts der schlechten wirt-schaftlichen Lage Frankreichs, fallen ihre Forderungen, dass nur noch französische Staats-bürger Anrecht auf Sozialleis-tungen haben dürfen und bei Arbeitsplätzen und Wohnung bevorzugt behandelt werden

müssen, auf fruchtbaren Bo-den. Sie verspricht eine Rück-kehr zu christlichen Wurzeln, kämpft für die Ausbürgerung französischer Staatsbürger mit Migrationshintergrund und will Frankreich aus dem Euro herausführen.

Großbritannien

Mit 27 Prozent Wahlsieger bei der EU-Wahl wurde die rechts-populistische „UK Indepen-dence Party“ (UKIP). UKIP ist Ausdruck einer tiefen Kluft in-

nerhalb der britischen Gesell-schaft. Sie gewann vor allem in den traditionellen Arbeiter-hochburgen Großbritanniens. UKIP thematisiert den sozialen Abstieg der einstigen Arbeiter-klasse, stellt sich gegen die bri-tische EU-Mitgliedschaft und will weitere Zuwanderung auf die Insel verhindern. Sie setzt die etablierten Parteien erheb-lich unter Druck, in dessen Fol-ge Premierminister David Ca-meron bereits ein Referen dum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens angekündigt hat.

Dänemark

Die „Dänische Volkspartei“ (Dansk Folkenparti, DF) gehört zu den erfolgreichsten rechts-populistischen Parteien in Eu-ropa. Sie war bereits mehrfach an der Regierung beteiligt. 2014 wurde sie bei der EU-Wahl mit über 26 Prozent stärkste Partei in Dänemark. Zur Mobilisie-rung ihrer Wählerschaft stellt sie sich vor allem gegen die Einwanderung von Menschen aus islamischen Staaten. Sie verspricht den Erhalt nationa-ler Identität und die Sicherung des sozialen Wohlstands. Die DF hat eine klare anti-europäi-sche Rhetorik.

Niederlande

Die „Partei für die Freiheit“ (PVV) ist eigentlich nur eine One-Man-Show von Geert Wilders. Als rechter Hardliner

EUROPA IN DER KRISE

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will er Ausbürgerun-gen von niederländi-schen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund ermöglichen. Das Tragen von Kopftüchern will er besteuern. Wilders setzt auf einen nationalen So-zialstaat, der aus der EU und dem Euro austritt. Politiker von etablierten Parteien bezeichnet er als „linke Clique“. Bei der Europawahl 2014 musste die PVV entgegen dem Trend Verluste einste-cken und erzielte 12,2 Prozent (-4,8).

Italien

Die „Lega Nord“ holte bei den Europawahlen nur sechs Prozent, was wohl auf diverse Skandale des Vorsitzenden Umberto Bossi zurückzuführen ist. Bei Umfragen liegt sie derzeit wieder stabil über zehn Prozent. Im Norden Italiens holte sie bereits Stimmenergebnisse bis 40 Prozent. Die Lega Nord war bereits mehrfach in einer Koalition mit Silvio Berlusconi an der Regie-rung beteiligt. Sie vertritt einen offen fremden-feindlichen Kurs und for-dert die Schließung der Grenzen. Seit 2014 wet-tert sie radikal gegen den Euro. Im EU-Parlament bildet die Lega Nord ge-meinsam mit dem rechts-

radikalen Front National eine gemeinsame Frakti-on.

Polen

Die meisten Schlagzei-len der letzten Wochen hat die polnische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) gemacht. Seit weni-gen Monaten stellt sie die Regierung in Polen. Unter ihrem Vorkämpfer Jaros-law Kaczynski vertritt die Partei einen katholischen Nationalismus, gepaart mit einem starken anti-europäischen Kurs. In den vergangenen Wochen be-schnitt die PiS die Rechte des Verfassungsgerichts, wenig später maßregelte sie die öffentlich-recht-lichen Medien. Die EU-Kommission hat be-reits ein rechtsstaatliches Prüfungsverfahren an-gestoßen, weil sie demo-kratische Grundwerte in erheblicher Gefahr sieht. Auch im Inland gibt es mittlerweile viele Protes-te gegen den neuen Kurs der Regierung. Vertreter der PiS behaupten indes, die Proteste im In- und Ausland seien aus Berlin und Moskau gesteuert.

Tschechische Republik

In Tschechien holte die Partei „Aktion unzufrie-dene Bürger“ (ANO) bei

Die Rechtspopulisten im Europäischen Parlament zeigen sich meistens adrett und frisch gekämmt, äußerlich als Biederfrau und Biedermann. Sie behaupten, sie seien die Stimme des Volkes – natürlich des jeweiligen Natio­nalstaates, denn das Europaparlament wollen sie auflösen und aus der EU austreten. Die fachliche Arbeit in Aus­schüssen ist allerdings nicht ihre Sache. Nur die Plenardebatten nutzen sie als Bühne und erhalten damit öffentliche Aufmerksamkeit für ihre anti­europäi­sche Propaganda. Aber auch da halten sich die sonst so korrekten Rechtsaußen nicht an die Regeln. Für die Vorsitzen­de des französischen Front National stimmte in namentlichen Abstimmun­gen einer ihrer Vasallen ab. Sie selbst zog es vor, der Sitzung fernzubleiben, um die Presse zu agitieren. Konsequent wäre es, die Demagogen würden gar nicht zu den Sitzungen kommen, dann würden sie auch kein Geld erhalten.

Wölfe im Schafspelzvon Susanne Melior, MdEP

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der EU-Wahl aus dem Stand über 16 Prozent und wurde stärkste Partei. Auch innenpoli-tisch kann sie punkten. Bei der Parlamentswahl 2013 lag sie mit rund 19 Prozent auf Platz zwei. Zentrales Thema der ANO ist die angebliche Unfähigkeit des etablierten Parteiensystems. Dabei kommt ihr zugute, dass die tschechischen Parteien von diversen Korruptionsskandalen erschüttert wurden und sich eine schleichende Repräsentationskri-se gebildet hat. Ge-führt wird die ANO von Medienmogul Andrej Babič. Ihm gehören unter ande-rem einflussreiche Zeitungen sowie pri-vate Fernsehsender, Internetportale und Druckereien. Die ANO ist thematisch kaum zu greifen. Das klassische Links-Rechts-Muster lässt sich nur schwer anwenden. Die ANO ist wenig ideologisch ein-gegrenzt und verzichtet bislang auf offene Fremdenfeindlich-keit.

Ungarn

Der „Bund junger Demokraten“ („Fidesz“) von Viktor Orban er-zielte bei der EU-Wahl 51,5 Pro-zent der Stimmen. Die Partei zeigt seit Jahren ein zunehmend radikaleres Gesicht. Orban, be-reits seit 1993 unangefochtener Parteivorsitzender, propagiert

den starken Nationalstaat und eine klar anti-westliche Hal-tung. Politisch steht er für einen nationalistisch und religiös aus-geprägten Sozialkonservatis-mus. Schuld an Problemen der Vergangenheit seien der unge-hemmte Liberalismus sowie die freiheitliche Demokratie. Mit seiner Weigerung, muslimische Kriegsflüchtlinge aufzuneh-men, hat er sich an die Spitze derjenigen EU-Staaten gestellt,

die von einer solidarischen Ver-teilung nichts wissen wollen. Er hält die Flüchtlingskrise aus-schließlich für ein „deutsches Problem“. Vor diesem Hinter-grund verwundert es nicht, dass unter seiner Regierung auch im Inland bereits mehrfach rechts-staatliche Prinzipien ausgehöh-lt wurden. Auch die Medien hat Orban längst unter staatliche Kontrolle gebracht.

Deutschland

In Deutschland erzielte die AfD

bei der Europawahl 7,1 Prozent der Stimmen und zog mit sieben Abgeordneten ins Parlament ein. Bundesweit kann sie in Um-fragen mittlerweile zweistellige Werte erzielen. Im Osten ist sie noch deutlich stärker. Positio-nierte sich die Partei anfangs vor allem gegen die europäische Gemeinschaftswährung, hat sie sich zwischenzeitlich zu einer rechtspopulistischen und frem-denfeindlichen Partei entwi-

ckelt. Der stellvertre-tende Vorsitzende Alexander Gauland bezeichnete das Leid der Flüchtlinge als „Geschenk für die AfD“ und betitelte Flüchtlingshelfer als „nützliche Idioten“. In der fremdenfeind-lichen PEGIDA-Be-wegung sieht er einen „natürlichen Verbündeten“. In-zwischen treibt die Partei immer stär-

ker nach rechts außen. In der so genannten „Erfurter Erklärung“ heißt es unter anderem, die AfD sei „eine Bewegung unseres Vol-kes gegen Gesellschaftsexperi-mente der letzten Jahrzehnte“. Auch von einer „Widerstands-bewegung“ ist die Rede. Und für den Thüringer Björn Höcke ist klar: „Weil wir keine Partei im Bundestag haben, die end-lich mal deutsche Interessen vertritt, brennt unser Land bald lichterloh.“

MATTHIAS BEIGEL

?

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Bei der Wahl zum EU-Parlament haben rechtspopulistische Par-teien quer über den Kon-tinent Rekordergebnisse eingefahren. Hat sich die Arbeit im Parlament da-durch verändert?

Die Arbeit hat sich inso-fern verändert, als man jetzt im Parlament Din-ge hört, die ich nicht für möglich gehalten hätte und die mich zutiefst schockieren. Da wird geredet von menschli-chem Abschaum, der an unsere Küsten gespült wird, da heißt es „wenn ich die Flüchtlingsboo-te im Mittelmeer sehe, dann will ich Kanonen-donner hören“, da wird offen die Würde anderer Menschen mit Füßen getreten. All das ist un-erträglich. In fast jeder Sitzung muss ich als Prä-sident Abgeordnete zu mir zitieren und Sank-tionen verhängen. Vor 20 Jahren, als ich zum

ersten Mal ins Europäi-sche Parlament gewählt wurde, war die Rhetorik eine andere. Ich frage mich manchmal schon, wie es so weit kommen konnte. Wichtig ist, dass wir jenen, die Hass säen, nicht das Feld überlas-sen, sondern uns ihnen entgegenstellen und kämpfen. Diese Men-schen wollen Europa

zerstören – und das sa-gen sie ja auch ganz of-fen. Das dürfen wir nicht zulassen, und ich kämp-fe mit allem was ich habe, gegen diese Leute. Der Nationalismus scheint in vielen Staa-ten ungehemmt auf dem Vormarsch. Für wie gefährlich hältst Du die Situation?

Die Situation ist gefähr-lich. Denn uns muss eines klar sein: Es gibt Alternativen zur EU. Aber das sind keine gu-ten. 2015 ist das Schei-tern des Europäischen Projekts in bedrohliche Nähe gerückt. Diesen Trend müssen wir 2016 unbedingt umkehren. Wir dürfen es nicht zu-lassen, dass sich jeder

in seinen nationalen Schrebergarten zurück-zieht. Kein Land allein kann die großen Her-ausforderungen des 21. Jahrhunderts – etwa Kli-mawandel, Migration, internationalen Handel, internationale Krimina-lität und Sicherheit, den Kampf gegen Steuerbe-trug und -vermeidung – alleine meistern. Wer

den Leuten anderes er-zählt, will sie für dumm verkaufen. Das geht nur zusammen, als Gemein-schaft. Lassen wir uns auseinanderdividieren, driften wir in die welt-politische Bedeutungs-losigkeit ab und werden zum Spielball anderer. Für mich steht fest: Die EU ist die größte zivilisa-torische Errungenschaft seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Dieses Projekt steht für 70 Jah-re Frieden, Wohlstand, Freiheit und Sicherheit. Dafür hat die EU 2012 den Friedensnobelpreis bekommen. Europa hat nach furchtbarem Leid, Rassenwahn, Krieg und Vertreibung wieder zu-sammengefunden und einen historisch einma-ligen Wiederaufstieg er-lebt. Wir dürfen unsere Kinder und Enkelkinder nicht dahin zurückschi-cken, wo unsere Eltern und Großeltern herka-men.

„Diese Menschen wollen Europa zerstören.“

„Rechtspopulisten sind Konjunktur-ritter der Angst.“

INTERVIEW MIT MARTIN SCHULZ

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Wie erklärst Du Dir den Zulauf der Rechtspopu-listen?

Die Rechtspopulisten sind die Konjunkturrit-ter der Angst. Als Glo-balisierungsverweigerer

nutzen sie die Sorgen und Ängste der Bürger aus und bieten schein-bar einfache Lösungen an. Der Front National in Frankreich, UKIP in Großbritannien, die AfD in Deutschland: Sie alle versuchen, den Men-schen weiszumachen, dass mit platten Paro-len wie ‚Grenzen dicht‘ oder ‚Ausländer raus‘ die Probleme gelöst werden können. Das ist völliger Unsinn, denn komple-

xe Probleme bedürfen komplexer Antworten. Die Populisten haben für alles einen Sündenbock, aber für nichts eine Lö-sung. Sie haben nichts aus der Geschichte ge-lernt und erzählen den

Leuten Märchen. Der Frieden in Europa ist keine Selbstverständ-lichkeit. Solche Leute setzen nicht nur das eu-ropäische Friedenspro-jekt sondern auch un-ser wirtschaftliches Wohlergehen leichtfer-tig aufs Spiel. Die griechische Euro-krise und die hohe Zahl an Flüchtlingen haben Spuren hinterlassen. Wie viel Solidarität gibt

es derzeit noch inner-halb der EU?

Es gab schon mal mehr Zusammenhalt, das ist richtig. 2015 war ein schlimmes Jahr – ich habe so ein schwieri-

ges Jahr in meiner ge-samten politischen Ar-beit noch nicht erlebt. Die Flüchtlingsbewe-gungen haben sich ja nur deshalb zu einer Krise ausweiten kön-nen, weil sich zu viele Länder verweigern und die Mitgliedsstaaten untereinander nicht mehr solidarisch sind. Wir haben also eine Krise im doppelten Sin-ne, die vor allem zuerst eine Solidaritätskrise

und dann eine Flücht-lingskrise ist. Eine Mil-lionen Flüchtlinge auf alle 28 Mitgliedsstaa-ten mit insgesamt 508 Millionen Einwohnern zu verteilen, wäre über-haupt kein Problem. Aber wenn die nati-onalen Regierungen die Beschlüsse, die sie selbst mit gefasst ha-ben, nicht umsetzen, dann sieht es schlecht aus. Hinzu kommt: Es sind oft genau die Mit-gliedstaaten, die sich verweigern und eine Lösung blockieren, die der EU vorwerfen, sie könne die Krise nicht lösen. Das ist zynisch. Das Europäische Par-lament hat in dieser Frage schnell gehan-delt. Die Umverteilung von 160.000 Menschen hätte ein gutes Beispiel dafür werden können, dass ein Verteilungs-schlüssel innerhalb der EU gut funktionie-ren kann. Aber dass die Umsetzung nicht vorankommt, ist eine Schande. Der Lösungs-ansatz ist trotzdem noch nicht gescheitert. Die Zeit läuft uns aber davon.

Viele Menschen ver-binden mit der EU das Versprechen, ökono-mischen Erfolg und

INTERVIEW MIT MARTIN SCHULZ

Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments und Europa-Beauftragter der SPD

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soziale Sicherheit zu vereinen. Gilt dieses Versprechen noch?

Das Versprechen gilt noch. Die Europäische Union ist der reichste Binnenmarkt der Welt. Und davon profitie-ren wir alle. Aber die EU läuft Gefahr, Opfer ihres eigenen Erfolgs werden. Denn der wirt-schaftliche Erfolg Eu-ropas hängt direkt mit den vier Grundfreihei-ten zusammen. Neben der Personenfreizügig-keit sind das die Freiheit des Warenverkehrs, die Freiheit, seine Dienst-leistungen überall in der EU anbieten zu können sowie der freie Kapitalverkehr. Wenn in Europa tatsächlich Grenzen geschlossen werden und wir Schen-gen zu Grabe tragen, dann werden wir das ganz schnell auch wirt-schaftlich zu spüren bekommen, und zwar massiv. Dann stehen ganz schnell in vielen Firmen die Förderbän-der still. Die wirtschaft-lichen Konsequenzen eines Europas, zumal eines Europas mit einer gemeinsamen Wäh-rung, in dem es wie-der Grenzen gibt, wä-ren katastrophal. Ich selbst wohne an der

deutsch-niederländi-schen-belgischen Gren-ze. Da kann man die Grenzen nicht einfach schließen. Wir sollten besser vorwärts den-

ken und nicht auf hal-ber Strecke stehen blei-ben. Wir brauchen in vielen Bereichen mehr Europa, um die anste-henden Probleme zu lösen. Gemeinsam sind wir stärker, nur so kön-nen wir unseren globa-len Einfluss behalten – und damit auch unse-ren Wohlstand sichern.

Seit einigen Wochen schauen wir verunsi-

chert über unsere Lan-desgrenze nach Polen. Wie beurteilst Du die Entwicklung dort?

Die neue Regierung hat in sehr kurzer Zeit eine Vielzahl an Geset-zen, vor allem im Jus-tiz- und Medienbereich

erlassen, die berechtig-te Fragen aufwerfen. Die EU ist nicht nur ein Binnenmarkt, sondern auch eine Rechtsge-meinschaft mit Werten

und Grundrechten, die fester Bestandteil des EU-Rechts sind. Des-halb ist es auch keine Einmischung in inne-re Angelegenheiten, wenn wir uns dazu äu-ßern. Die EU-Kommis-sion tat gut daran, ein Verfahren einzuleiten. Bei diesem Verfahren analysieren zunächst einmal die Rechtsex-perten die Vereinbar-keit dieser Maßnah-

men mit europäischem Recht. Was dabei he-rauskommen wird, kann ich noch nicht abschätzen. Ich hoffe aber, dass es nicht zum Sanktionsfall kommen wird. Die polnische Regierung kann ihre Position nun erläutern,

vielleicht auch an ei-nigen Stellen korrigie-ren, und der Besuch der Premierministerin im Europaparlament war dabei eine wichtige Etappe. Polen bleibt ein Schlüsselland in der EU, und deshalb ist es gut, wenn wir den Konflikt beilegen. Allerdings werden wir bei der Ver-teidigung von demo-kratischen Standards, bei Rechtsstaatlichkeit und Medienpluralität nicht nachgeben.

Wie schaffst du es, trotz der vielen Krisen und Probleme, Deinen Opti-mismus zu behalten?

Wenn man nicht frus-trationstolerant ist, dann wird man weder Fan des 1. FC Köln, noch geht man in die Euro-papolitik. Ich bin FC-Fan und seit über 20 Jahren im Europäischen Parla-ment. Ich glaube also, ich kann mit Krisen um-gehen. Es ist natürlich auch ein Knochenjob. Aber ich brenne für Eu-ropa. Und ich bin fest davon überzeugt, dass die europäische Integ-ration das Beste ist, was diesem geschundenen Kontinent passieren konnte. Dafür zu kämp-fen, lohnt sich jeden Tag.

INTERVIEW MIT MARTIN SCHULZ

„2015 ist das Scheitern des europäischen

Projekts in bedrohliche Nähe gerückt.“

„Ich kämpfe mit allem, was ich habe, gegen diese Leute.“

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12 www.f60.deSonnenuntergang in der Lausitz

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Mein

BrandenburgStück

liebstes

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Winter: 2 –Erst hatten wir gedacht, er kommt nicht mehr. Temperaturen bis 17 Grad, Regen statt Schnee, so war das „Winterwetter“ noch im Dezember. Auf den Weihnachts-märkten blieben viele Händler auf großen Glühweinbeständen sitzen. Auch der Grün-kohl mochte ohne Winterjacke nicht so richtig schmecken. Zum Jahresbeginn gab er sich

Mühe: Starker Frost und Schneefall mach-ten viele Seelen

glücklich. Auch wenn die Schnee-

männer jetzt schon wieder getaut sind: Das

Gefühl, dass der Winter dem Klimawandel noch nicht vollständig zum Opfer gefallen ist, ist uns dann doch viel wert.

McDonald’s: 5Das gute Image ist dem um-satzstärksten Fast-Food-Konzern der Welt be-sonders wichtig. Und weil zumindest bei Europäern gesun-de Ernährung hoch im Kurs steht, gibt

es hierzulande bei McDonald’s neben den Kalorienbomben in Burgerform seit

vielen Jahren sogar Salate. Auch im McCafé kann man mittlerweile ohne schlechtes Gewissen einfach nur ei-nen Espresso genießen. Das kommt

gut an. Eklig hingegen klingt das, was die Fast-Food-Kette seit 3 Tagen den Japanern auftischt: Fritten mit Schokoladenüberzug oder anders gesagt:

„Pommes braun-weiß“. Igitt.

Kopfnoten

FAKTEN-CHECK

Praktizierende Ärzte im Land Brandenburg

2010

20149.233

8.542Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg

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Jetzt geht‘s wieder los: Allein im Frühjahr werden in Bran-denburg 10 neue Bürgermeis-terinnen oder Bürgermeister gewählt. Und schon am 10. April steht die erste Landrats-wahl ins Haus.

Georg Abel (SPD) ist 25 Jahre alt und von Beruf Rettungs-assistent. Auch in der Freizeit setzt er sich für andere Men-schen ein, bei der Freiwilligen Feuerwehr in Groß Pankow in der Prignitz. Da liegt es nahe, dass der Bürgermeister-Kan-didat, wenn er gewählt ist, das Thema „Ehrenamt“ ganz groß schreiben will. Er kommt aus der Praxis und hat prak-tische Ideen für engagierte Helfer.

Mehr Aufmerksamkeit für die Ortsteile von Premnitz, bei-tragsfreie Kitas, ein dauerhaf-ter Bürgerdialog – Ralf Teb-ling hat ein ambitioniertes Programm für seine Gemein-de, deren Bürgermeister er am 3. April werden will. Sozi-aldemokrat Tebling, 53, kennt sich in der Politik aus. Er ist Vorsitzender der Premnitzer SVV und Büroleiter von Land-rat Burkhard Schröder.

Im Landkreis Havelland wird am 10. April ein neuer Land-rat gewählt. Der soll Martin Gorholt heißen, findet die

Die Wahlkampf-Saison hat begonnen.

Georg Abel

Ralf Tebling

Martin Gorholt

Kloster Lehnin 20.03.2016Lübbenau/Spreewald 20.03.2016Groß Pankow 03.04.2016Mühlberg 03.04.2016Angermünde 10.04.2016Premnitz 10.04.2016Uckerland 10.04.2016Wittenberge 10.04.2016Stahnsdorf 17.04.2016Gumtow 29.05.2016Schwarzheide 11.09.2016Bad Belzig 25.09.2016Müncheberg 25.09.2016Kremmen 06.11.2016

Bürgermeisterwahlen 2016

Havelland10. April

Potsdam-Mittelmark25. September

Landratswahlen 2016

Havelländer SPD, die ihn bei der Delegiertenkonferenz am 23. Janu-ar nominiert hat. Martin Gorholt, Kulturstaatssekretär, Urgestein der Brandenburger SPD, setzt auf die Zukunftsthemen Gesundheit, Infrastruktur und Bildung, um die Wählerinnen und Wähler im Havel-land zu überzeugen.

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Unsere neue Parteischule:

Wissen sammeln. Handwerk lernen.

TRADITION SEIT 1906.

Von Beginn an war die sozialdemokratische Bewe-gung von dem Gedanken geprägt, möglichst vie-len Menschen Wissen zu vermitteln. Bereits seit den 1830er Jahren entstanden auf dem Gebiet des Deutschen Bundes erste Arbeiterbildungsver-eine. Daraus entstand der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), der am 23. Mai 1863 in Leipzig gegründet wurde. Er gilt als Vorläufer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Am 15. November 1906 wurde die zentrale Parteischule der SPD in der Lindenstraße 3 in Berlin eröffnet. Das Kursangebot der Schule richtete sich an „parteigenössische Agitatoren in Wort und Schrift“, die – wie es im Schulpro-gramm hieß, das „für die Aufklärung der breiten Massen erforderliche Maß von Wissen und theo-retischer Schulung“ erwerben sollten. Die Eröff-nungsrede hielt August Bebel.

Die SPD Brandenburg hat eine neue Parteischule. Sie steht allen Mitgliedern offen und bietet Seminare und Fortbildung zu Politik und Partei. Exkursionen an spannende Orte, wo täglich Politik gemacht wird, runden das Programm ab. Schaut mal rein!

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Weitere Informationen gibt‘s beim SPD-Landesverband Brandenburg

Tel. 0331 730 980 0Mail: [email protected]

Unsere neue Parteischule:

Wissen sammeln. Handwerk lernen.

BRANDENBURGER MODERNE.

Gleich das

Programm anfordern:

[email protected]

Mit den Lehrmethoden des Jahres 1906 hat die Bran-denburger Parteischule nicht mehr viel zu tun. Heu-te steht für uns der Spaß am Lernen im Vordergrund. Wissen und Handwerk, darum geht es in unserer Parteischule.

In unserer Akademie bieten wir unseren Mitgliedern ein hoch attraktives Programm zu einem Top-Preis. Unsere Referenten kommen alle aus der Praxis und ver-mitteln neben wichtigen Grundkenntnissen viele Tipps für den täglichen Po-litikbetrieb. Vorkenntnisse

sind nicht erforderlich.

Die Teilnehmer unserer Akademie können sich

neben wenigen Pflichtkur-sen das Programm nach ihren eigenen Interessen individuell zusammenstel-len.

Unsere Exkursionen stehen auch Nicht-Mitgliedern of-fen. Gemeinsam mit promi-nenten Gästen besichtigen wir spannende Orte in und um Brandenburg. Die Teil-nahme an Exkursionen ist in der Regel kostenlos.

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Keine andere Verwaltung in Deutschland hat mehr Erfahrungen in Integra-tionsfragen als das Be-zirksamt Neukölln. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation in Neukölln und darüber hinaus ein?

Die sozialen Problemla-gen mit einer Arbeitslo-sigkeit von über 14 % und einem Armutsrisiko von 24 % der Bevölkerung und über 75 % Kinderarmut in Nord-Neukölln sind im-mens. Die größte Heraus-forderung bei allem ist die Bildungsferne. Über 26 % der Bevölkerung haben einen niedrigen Bildungs-stand, über 34 % keine Berufsausbildung, 28.000 funktionale Analphabeten leben in Neukölln. Eng da-mit verbunden ist die hohe Zahl der Transferleistungs-empfänger. Mit 78.000 Menschen erhält fast jeder dritte Neuköllner unter 65 Jahren Hartz 4. Über 40.600 sind Langzeitkun-den des Jobcenters.

Oft müssen wir ausglei-chen, was in der familiären und frühkindlichen För-derung der Kinder nicht passiert ist. Dafür halte ich den frühen Kita-Besuch für ganz entscheidend. Aus meiner Sicht muss in-stitutionelle Förderung vor individuelle Förderung ge-

hen. In Neukölln nützt es nichts, das Kindergeld um 10 Euro zu erhöhen. Aber die Voraussetzungen für Ganztagsschulen, für eine gute Betreuung, für Schul-stationen und für Lern-werkstätten zu schaffen - das hilft wirklich weiter. Nach wie vor halte ich da-her das Thema Bildung für eines der Schlüsselthemen für die Zukunft Neuköllns. Dabei geht es darum, gute Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass es beim Bil-dungserfolg eines Kindes nicht darauf ankommt, in welcher Familie es gebo-ren und aufgewachsen ist.

Aber Neukölln ist mehr als die Summe seiner Proble-me. Wir haben auch sehr gute Potenziale und große Chancen. Die Neuköllner Wirtschaft steht gut da. Und wir sind Anziehungs-

punkt für Kreative und Künstler, die zunehmend hierher kommen, weil sie Neukölln als Lebens- und Arbeitsmittelpunkt ein-fach attraktiv finden.

Für viele andere Städte in Deutschland, die auch von Zuwanderung betroffen sind, sind wir eine Blau-pause. Viele finden uns in-teressant, weil sie wissen wollen, wie wir die Dinge lösen, mit pragmatischen Lösungen einerseits, aber auch mit viel kreativem Engagement. Wir lösen vieles mit anderen Wegen als den herkömmlichen. Und wir haben Menschen, die sich hier sehr engagie-ren und die jeden Tag dafür arbeiten, dass dieser Bezirk sich in eine gute Richtung entwickelt. Bei uns ist vie-les möglich, das macht Neukölln so besonders.

Nun zur uns alle bewe-genden Flüchtlingsfrage. Welche Voraussetzungen müssen seitens des Staa-tes geschaffen werden, da-mit die Flüchtlinge bei uns integriert werden können?

Mit der Pritsche in der Turnhalle ist es nicht getan. Wenn täglich hunderte und an einigen Tagen sogar über tausend Menschen in Berlin ankommen, ist die akute Nothilfeversorgung mit einem Schlafplatz und Essen in der Tat die drin-gendste Aufgabe. Aber was, wenn die Menschen auf der Pritsche in der Turn-halle angekommen sind und wissen wollen, wie es weitergeht. Wenn sie mo-natelang auf die Entschei-dung über ihr Asylverfah-ren und die Anerkennung ihrer Schul- und Berufsab-schlüsse warten müssen.

„Mit der Pritsche in der Turnhalle ist es nicht getan.“

Gespräch mit der Neuköllner Bezirksbürger-meisterin Dr. Franziska Giffey (SPD) über die Inte-gration von Flüchtlingen

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Am schwersten zu ertra-gen sind dann Langeweile und Perspektivlosigkeit. Über die Erstversorgung hinaus muss daher zügig daran gearbeitet werden, die Kinder in den Willkom-mensklassen der Schulen unterzubringen und die Er-wachsenen in Deutschkur-se zu vermitteln. Neukölln erbringt mit inzwischen 54 Willkommensklassen für Kinder ohne Deutschkennt-nisse und 640 Volkshoch-schulkursen für Deutsch als Zweitsprache allein im letzten Jahr eine enorme Integrationsleistung.

Gefördert werden müs-sen Ansätze, die integra-tiv arbeiten. Wenn Will-kommensklassen, dann gemischt mit anderen Kindern, die einzig eint, dass sie alle kein Deutsch können, aber so schnell wie möglich in die Regel-klasse wollen. Wenn Frau-enprojekte, dann nicht ausschließlich für Flücht-lingsfrauen, sondern brei-ter aufgestellt. Wenn neuer langfristiger Wohnraum geschaffen wird, dann kei-ne reinen Flüchtlingssied-lungen, sondern sozialer Wohnungsbau für alle Berlinerinnen und Berliner mit einem Anteil an Woh-nungen für Flüchtlinge. Die Konzentration bestimmter Flüchtlingsgruppen in so-zialen Brennpunkten führt wieder zu Parallelstruktu-ren, die später zu Integrati-onsproblemen führen. Die Fehler aus den Zeiten der Gastarbeitergenerationen dürfen nicht wiederholt werden.

Was muss getan werden, um Flüchtlinge in den Ar-beitsmarkt integrieren zu können?

Berufliche Qualifikationen der Flüchtlinge müssen ermittelt und der Zugang zum Arbeitsmarkt beför-dert werden. Es ist aller-dings auch so, dass es sich bei dem syrischen Arzt, der schon fließend Deutsch spricht und sofort im deutschen Gesundheits-wesen einsetzbar ist, eher um ein Ausnahmebeispiel handelt. Auf der anderen Seite der Medaille steht die Tatsache, dass viele Flüchtlinge eben nicht so-fort in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Viele brauchen Alphabeti-sierung und Grundbildung. Die Arbeitsmarktinstru-mente des Jobcenters zur beruflichen Eingliederung müssen daher viel stärker an die Sprachförderung und die Vermittlung von Grundwissen angepasst werden. Allein das Jobcen-ter Neukölln rechnet mit über 3.500 Neukunden, wenn die Asylverfahren abgeschlossen sind.

Viele Flüchtlinge kommen aus Ländern, in denen es kei-ne Demokratie und kaum Toleranz gegenüber anderen Glaubens- oder Lebensfor-men gibt. Wie können wir die Entstehung weiterer Parallel-gesellschaften verhindern?

Wir müssen die Menschen, die hier neu ankommen, so integrieren, dass sie ihren Platz in der deutschen Ge-sellschaft finden können.

Dazu gehört, dass sie Bil-dung erfahren und selbst tätig werden können, dass sie einen Beitrag zum Wohlstand des Landes leis-ten können. Am Anfang kosten Willkommensklas-sen und zusätzliche Sprach-kurse natürlich mehr Geld. Aber noch teurer wird es langfristig, wenn wir diese Investitionen nicht tätigen. Und noch unverantwortli-cher wird es, wenn wir die Integration und Aufnahme denjenigen überlassen, die die Parallelstrukturen noch verfestigen.

Ein Großteil der Flüchtlinge kommt aus Mitgliedslän-dern der internationalen Organisation der Islami-schen Konferenz, in denen der Islam die Religion der Bevölkerungsmehrheit ist. Erste Anknüpfungspunk-te für diese Menschen in einem fremden Land sind vielfach die Moscheen. Al-lein in Neukölln gibt es 19 Moscheevereine, viele or-ganisieren eigene Projekte und Unterstützungsleis-tungen für die Flüchtlings-hilfe. Dagegen ist erst ein-mal grundsätzlich nichts zu sagen. Wir bemerken jedoch, dass auch funda-mentalistisch geprägte Moscheevereine, die unter Beobachtung des Verfas-sungsschutzes stehen, die Flüchtlingsarbeit als Re-krutierungsinstrument für sich entdecken. Hier müs-sen staatliche Organisati-onen wachsam sein und die rechtsstaatlichen Prin-zipien unserer Verfassung verteidigen und durchset-zen.

Wie kann der einheimi-schen Bevölkerung die Angst vor der Flüchtlings-krise genommen werden?

Das Schlimmste, was bei der Bewältigung der aktu-ellen Probleme passieren kann, ist, dass staatliche Institutionen steuerungs- und handlungsunfähig werden. Wenn die Bevöl-kerung den Eindruck ge-winnt: „Die da oben ha-ben die Lage nicht mehr im Griff.“ Hier müssen Verfahren und Struktu-ren professioneller aufge-stellt werden. Und ganz wichtig ist auch, dass die Flüchtlingsarbeit nicht zu Lasten anderer Leistun-gen für die Bevölkerung gehen darf. Wenn die Schlangen vor den Ber-liner Bürgerämtern nicht kürzer werden, Schul- und Vereinssport wegen der Einrichtung von Notun-terkünften in Turnhallen nicht mehr stattfinden kann, Schulgebäude ma-rode, Kitaplätze nicht ausreichend und bezahl-bare Wohnungen rar sind, wird die Akzeptanz für die Flüchtlingshilfe sinken. Ein Verteilungskampf um die öffentliche Daseins-vorsorge und die damit verbundene Gefährdung des sozialen Friedens müssen verhindert wer-den. Darauf müssen sich alle Kräfte und Bemü-hungen in den kommen-den schwierigen Zeiten richten. Getreu nach dem Neuköllner Rütli-Schwur: „Nicht in Zuständigkei-ten, sondern in Verant-wortung denken.“

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Mit dem Roten Adler durchs Jahr

Für Politik interessiere ich mich ... weil sie das Leben und die Zukunft meiner Kinder beeinflusst.

Warum ist es die SPD? Eigentlich war ich nie SPD-Fan, ich habe jahrelang die CDU gewählt. Allerdings bin ich sozial eingestellt. Dann habe ich erlebt, dass die SPD die einzige Partei war, die sich für unser ehrenamtliches Engagement in Rathenow interes-siert hat, uns unter die Arme gegriffen und unterstützt hat.

Zur SPD gekommen bin ich ... weil der OV-Vorsitzende Hartmut Rubach uns als Vertreter des Kita- und Hortbeirates Rathenow (KHoBRa) in den Ortsverein der SPD eingeladen hat. Wir sind hingegangen, um uns schlau zu machen. Dort hat mich vor allem Martin Gorholt überzeugt. Ich halte ihn für nett und kompetent. Er hat mich aber nicht nur durch Argumente oder Inhalte beeindruckt, sondern durch sein Auftreten. Er hat uns ernst genommen.

In der SPD will ich ... mich für meine Stadt Rathenow engagieren. Mein erstes Ziel ist es, in die Fraktion der Stadtverordnetenver-sammlung zu kommen. Ich war dort als Gast und hatte den Ein-druck, dass viele alte Leute über Dinge diskutieren und entschei-den, zu denen sie manchmal gar keinen Bezug haben. Ich finde, dass junges Blut in die SVV muss.

Neumitglied des monats

Mehr auf der Facebook-Seite der SPD Brandenburg

Mike Großmann, 37 Rathenow

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Der Augenspiegel

Schon gewusst?

Brandenburger Köpfe

Hermann von Helmholtz: Straßen, Schulen, eine ganze Forschungsgemeinschaft sind nach ihm benannt. Wer war er? Helmholtz, 1821-1894, war Physiologe und Physiker, Universalgelehrter und Professor. Geboren wurde er in Potsdam. In eine seiner Erfindungen mussten wir alle schon einmal hineingucken, in den Augenspiegel. Die Idee für dieses Gerät kam Helmholtz beim Betrachten von leuchtenden Katzenaugen. Da Katzen keine eingebauten Laternen haben (das war ihm als Universalgenie sofort klar), muss es sich um eine Lichtreflexion handeln. Helmholtz ertüftelte einen halbtransparenten Spiegel, mit dem im selben Winkel, in dem der Arzt ins Auge blickt, Licht hineingeworfen werden kann.

Mike Bischoff ist neuer Vorsit-zender der SPD-Landtagsfrakti-on. Ihm zur Seite steht der neu gewählte parlamentarische Ge-schäftsführer Björn Lüttmann.

Am 12. Dezember wählte der Bundesparteitag Thorsten Jobs zum stellvertretenden Vorsit-zenden der Bundesschieds-kommission.

Robert Dambon wurde am 16. Januar vom SPD-Parteitag in Seddin zum neuen Vorsitzen-den der SPD Potsdam-Mittel-mark gewählt.

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Bewegender Abschied

Über 300 geladene Gäste aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft waren am 6. Januar nach Potsdam gekommen, um Abschied von Klaus Ness zu nehmen. „Sehr würdevoll“, so bezeichneten nahezu alle Teil-nehmerinnen und Teilnehmer die Trauerfeier im Plenarsaal des Bran-denburger Landtages. In ihren Reden erinnerten Ministerpräsident Dietmar Woidke, SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Wirtschaftsminis-ter Albrecht Gerber an den Politiker, Menschen und guten Freund Klaus Ness. Auch Brandenburgs CDU-Vor-sitzender Ingo Senftleben erinnerte in einer persönlichen und bewegenden Rede an den im Dezember überra-schend verstorbenen Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktion und früheren Generalsekretär der Brandenburger SPD. Er war ein großer Sozialdemokrat und wird uns fehlen. Ruhe in Frieden, lieber Klaus Ness!

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Wir trauern um Klaus Ness

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abpfiff.D i e Ku r v e n - G l o s s e

Ostkurve.

Alleestraße 9, 14469 Potsdam

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0331 – 73 09 80 - [email protected]

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IMPRESSUM.Klara Geywitz Generalsekretärin (V.i.S.d.P.)Daniel Rigot LandesgeschäftsführerMatthias Beigel Stellv. LandesgeschäftsführerBirgit Gorholt ArbeitsgemeinschaftenWilma Jacobi FinanzenArnulf Triller Politik und Kommunikation

Der SPD-Landesverband im Regine-Hildebrandt-Haus

Bildnachweise: clipdealer.de (S.1,2,6,14,17); www. franziska-giffey.de (S.2,18); Oliver Lang (S.3,15); www.susanne-melior.de (s. 7); (C) Union Européenne (S.8;10); www.martin-schulz.eu (S.9); www.f60.de (S.12); Georg Abel (S.15); Ralf Tebling (S.15); FES-Archiv (S. 16); Mike Großmann (S.20); SPD-Landtagsfraktion (S21,23); Thors-ten Jobs (S.21); Julian Frohloff (S.21); Arnulf Triller (S.22)

FAX

Es gibt eine Sache, die wichtiger ist als der Rückrundenstart der Bundesliga: Das Dschungelcamp „beim RTL“. Eine Gruppe wenig talentierter Menschen kriecht ta-gelang durchs Unterholz und geht sich auf die Nerven. Sie streiten sich, wenn Ekel-Prüfungen in die Hose gehen und der Wohlstand der Gruppe (Essen!) in Gefahr gerät. Sie giften sich an und streuen mie-se Gerüchte über ein auserkorenes Opfer. Angela Merkel muss sich neulich bei der CSU-Klausur genau so gefühlt haben. Weil sie bei der Flüchtlingsprüfung keine Sterne holt, ist die zum Gespött der christsozialen Gruppe geworden. Dschungelcamper wis-sen, was das bedeutet: Statt Dschungelkö-nigin zu werden, wird sie in geraumer Zeit im Bundestag ans Mikro treten und rufen: „Ich bin ein Star. Holt mich hier raus!“

Angela im Dschungelcamp

Ortsvereinsliga Brandenburg

Die 18 größten Ortsvereine der SPD Brandenburg

Rang Ortsverein Mitgl.1. Potsdam-Mitte Nord 2312. Babelsberg 1913. Falkensee 1894. Kleinmachnow 1305. Potsdam-West 1116. Oranienburg 1087. Hohen Neuendorf 1028. Teltow 989. Potsdam-Süd 83

10. Schwedt 7911. Neuruppin 7612. Fürstenwalde 7313. Cottbus-Nord 7214. Cottbus-Mitte/Ströbitz 7115. Neustadt-Wilhelmsdorf 6816. Bernau 6717. Prenzlau 6718. Königs Wusterhausen 65

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