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    FRIEDRICH KMMEL

    PLATON UND HEGEL

    zur ontologischen Begrndung

    des Zirkels in der Erkenntnis

    ERSTER TEIL

    DIE PLATONISCHE DIHAIRESISUND IHRE ONTOLOGISCHEN VORAUSSETZUNGEN*

    * Das in dieser Interpretation eingeschlagene Verfahren mu im Sinne einerphilologisch-historischen Darstellung unzureichend bleiben, wenn es ver-sucht, einen bestimmten Gedankengang in seiner inneren Konsequenz her-auszuarbeiten. Denn obgleich dieser den Anspruch erheben mchte, dieMitte des platonischen Denkenszu treffen, kann er doch nicht sein Gangesumgreifen und mu bedeutsame Entwicklungen und Denkformen vernach-lssigen, die das historische Bild Platos vor allem bestimmt haben unddoch, wie mir scheinen will, nur fr eine bergangsperiode seines Den-kens charakteristisch sind. Grundlage und Gegenstand dieser Errterungsind vor allem die spteren Dialoge. Entgegen dem historischen Gang las-sen sich rckblickend auch schon in den Anfngen die Motive aufzeigen,die in ihrer konsequenten Fortfhrung das schlieliche Ergebnis zeitigenmuten. Zitiert wird in der bersetzung von Fr. Schleiermacher mit derStephanus-Numerierung.

    Erstes Kapitel: Die Situation der Relativitt als unberschreitbareGrundlage der Erkenntnis......................................................... .............. 47

    1. Die Unvermeidlichkeit einer dialektischen Lsung des in der eleatischenDialektik aporetisch werdenden Problems des vielen Seienden ....................... 47

    2. Vorblick auf eine positive Dialektik, die das vorlufige Wissen in sich selbstweiterbildet ..........................................................................................................51

    3. Die beiden mittleren Lagen des Wissens: das sokratische Nichtwissen undPiatons Rckgang auf die wahre Vorstellung ................................................55

    4. Die Bestimmung der Tugenden in ihrem Verhltnis untereinander undGuten .................... ..................... ...................... ..................... ...................... .........56

    5. Die Verschrankung von Sachbezug und Konvention (gezeigt am Beispiel derSprache) .................... ...................... ..................... ...................... ..................... ......60

    6. Das Problem einer apriorischen Erkenntnisgrundlage und die Aporien derIdeenlehre.............................................................................................................67

    7. Der Selbstunterschied des Wissens und das gegenstndliche Verhltnis derErkenntnis .................... ..................... ...................... ..................... ...................... ..70

    Die Seiten sind textidentisch mit dem Erstdruck beim Max Niemeyer

    Verlag Tbingen 1968.

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    ERSTES KAPITEL

    DIE SITUATION DER RELATIVITT ALS UNBER-

    SCHREITBARE GRUNDLAGE DER ERKENNTNIS

    1. Die Unvermeidlichkeit einer dialektischen Lsungdes in der eleatischen Dialektik aporetisch werdenden Problems

    des vielen Seienden

    Platon steht in einer Zeit, in der die Konsequenzen des eleatischenDenkens radikal zu Ende gedacht werden. Der negative Ausgang die-ser Dialektik zeichnet sich im ersten Ansatz schon vor. Die in der Aus-richtung auf das eine Sein eingenommene Denkhaltung wird in derFormulierung ihrer Erkenntnis aporetisch. Der Versuch, das Eine ganzaus sich selbst zu denken und den Widerspruch von ihm auszuschlieen,

    hat zur Folge, da dieses Eine ohne jeden Bezug auf anderes Seiendesund damit ohne jede positive Bestimmung bleibt. Ist diese radikaleForderung der Ausschlieung der Vielheit uneinlsbar, so fhrt dies zueinem unbezglichen Nebeneinander nur sich selbst gleicher Be-stimmungen und damit zum Zerfall der Wirklichkeit. Die letzten for-mal gefaten Elemente ihrer Bestimmtheit, die Grenze und das unbe-grenzte Darberhinaus, zeigen an sich selbst eine Dialektik, in der al-le seiende Positivitt zwangslufig in negative Bestimmungen um-schlgt. Der zunchst nur im Verhltnis zu anderem Seiendem behaup-tete Widerspruch erweist sich als ein Selbstwiderspruch, sobald die ei-gene positive Bestimmtheit nur noch als Grenze und damit an sichselbst als Bezug auf anderes ineins mit dessen Negation gefat wird.Gorgias zeigt, da die Dialektik nicht nur dem Vielen den Charaktereines Nichtseienden gibt, sondern auch das eine Sein selbst auflst, obes nun durch die Grenze oder in seiner kontinuierlich erfllten Unbe-grenztheit gedacht wird. Das Sein in diesen beiden Bedingungen zudenken ist mglich und notwendig, wenngleich Parmenides die da-durch eingeleitete Gedankenbewegung zurckhalten mchte und mehrauf die formal nicht fabare durchgngige Erflltheit abhebt.

    Der fr das eine Sein wie fr die vielen Dinge gleich negative Aus-gang des Denkens ist nur durch das Festhalten an seiner anfnglichenIntention erklrbar : dem Versuch der Aussonderung eines absolut Po-sitiven und Nichtwidersprchlichen im Seienden. Gilt als ein solches

    das einzelne Seiende in seiner immanenten Bestimmtheit, so scheintalles wahr zu werden und mit der Relativitt auf anderes auch alleNegativitt berhaupt zu verschwinden. Der Blick auf das Viele ergibtjedoch die Kehrseite einer selbst mit Widersprchen

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    behafteten Wahrheit, insofern das Gegenteilige nun gleich wahr seinsoll. Versucht man in einem weiteren Schritt das Einzelne nher zu

    bestimmen, so fallen alle prdikativen Bestimmungen als gleich selb-stndige Einzelwesen von ihm ab und reduzieren es auf die Tautolo-gie seiner einfachen Identitt mit sich selbst. Und will man endlichseine Bestimmtheit formal und ganz allgemein fassen, so hat es imdialektischen Begriff der Grenze den Widerspruch an sich, zugleichdurch sich selbst und im Verhltnis auf anderes, d. h. ineins positivund negativ bestimmt zu sein.

    Der Weg der Aussonderung eines Nichtwidersprchlichen fhrtnicht zum erstrebten Ziel. Mit der Abweisung der sinnlichen Wahr-nehmung in ihrer Relativitt ist es nicht getan, denn der Widerspruchkehrt in den letzten begrifflichen Elementen des Seienden in viel str-kerem Mae wieder und wird hier unausweichlich. Es gengt nicht,das Wahre von der sinnlichen Erscheinung abzulsen, wenn die Mg-lichkeiten des Denkens selbst und seine letztmglichen formalen Be-stimmungen den Widerspruch an sich selbst tragen. Kann man ihm

    aber durch keinen Rckzug auf eine vermeintlich unangreifbare Posi-tion entgehen, so bleibt nur die doppelte Mglichkeit, die gegenstnd-liche Wirklichkeit berhaupt preiszugeben und sich auf die faktisch exi-stierende Einheit des erkennenden Subjekts zurckzuziehen oder die auftotale Widerspruchsfreiheit gehende Erkenntnishaltung aufzugebenund eine Sicht der Wirklichkeit auszubilden, in die der Widerspruchkonstitutiv aufgenommen und integriert ist.

    Die erste Richtung wird in der Sophistik eingeschlagen und be-herrscht auch das Bild der hellenistischen Zeit. Indem das Wissen sichvon der sinnlichen Wirklichkeit ablst, wird das erkennende Subjektselbst sein Grund und absoluter Bezugspunkt, auf den hin alles ge-genstndlich Gegebene relativiert wird. Alles Sein ist jemandes Er-

    scheinen (Protagoras). Fr sich selbstndig ist nur noch der einzelneMensch, der nun den allgemeinen Zusammenhang der Wirklichkeitvon sich her bestimmen und ihre mgliche Einheit durch sich selbst rea-lisieren mu. Geht dabei das Interesse an der gegenstndlichen Wirk-lichkeit berhaupt zurck, so kann das Subjekt sich selbst Zweck wer-den und seine Einheit im Begriff der Tugend zu fassen versuchen. Derzuvor in der Wahrheit des umgreifenden und gegenstndlich reprsen-tierten Seienden gehaltene Mensch mu nun seine eigene Wahrheit alsdas Gute selbst realisieren. Die Seele in bereinstimmung mit sichselbst zu bringen wird eine Aufgabe, in der Handeln und Reflexion,Selbstsein und Selbsterkenntnis unlsbar zusammengehren. Eskommt, wie vor allem bei Sokrates deutlich wird, nun notwendig aufErkenntnis an, soll der Mensch zur Einheit seiner selbst kommen unddarin allererst wahrhaft sein. Er mu die beste Verfassung seinerSeele erst noch erfragen und kann darin erst (um die Weiterfh-rung des

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    Gedankens durch Platon anzudeuten) deren ideelle Gegebenheit als dieVoraussetzung des ganzen Prozesses einsehen.

    Auf die Ambivalenz dieser Situation mu hingewiesen werden.Mensch und Wirklichkeit sind auseinandergetreten; die sinnliche Ge-wiheit des Eingeordnetseins in eine umgreifende Realitt ist er-schttert. Insofern nun der Bezug auf diese vom freigesetzten Subjektselbst abhngt und mitbestimmt wird, lt sich die gegenstndlicheWahrheit nicht mehr ohne weiteres fassen und behaupten. Die Frag-lichkeit der bereinstimmung mit der Wirklichkeit fhrt zur Suchenach einem Kriterium der Wahrheit und Gewiheit, an dem sich dieSachhaltigkeit der Urteile und Meinungen prfen lt. Das Wissen desWissens wird zum Problem und verlangt, da man das Vorgebrachteauch begrndet und in seiner rechtmigen Geltung nachweist. Diessetzt eine freie, strbare Beziehung voraus, in der sich Widersprcheergeben und Differenzen auszugleichen sind, wo jede Erkenntnis sichim Streit der Meinungen durchsetzen mu und gezwungen ist, sich be-grifflich zu formulieren und mit Argumenten zu versehen. Ziel der

    Erkenntnis wird die allerseits anerkannte Definition der Sache, berderen Bedingungen und Zustandekommen (was die Verfassung derdefinierbaren Wirklichkeit und die ihr geme Methode des Denkens

    betrifft) zunchst noch groe Unklarheit herrscht.Dieser neuen Situation kann aber durch den Versuch einer reinlichen

    Unterscheidung von trgerischer Meinung und wahrem Wissen gemdem Kriterium der Widerspruchsfreiheit nicht entsprochen werden.Solange der in jedem vermeintlichen Wissen aufweisbare Selbstwider-spruch dieses nur zerstrt, ist mit dem dadurch erreichten indirektenHinweis auf eine mgliche richtige Erkenntnis noch nicht viel gewon-nen, weil jeder Versuch, diese auszusprechen, doch wieder auf diesel-

    ben begrifflichen Mglichkeiten zurckgreifen mu, die auch der Mei-

    nungsbildung zur Verfgung stehen und hier zu den unlsbar schei-nenden Schwierigkeiten fhren. Der Widerspruch zerstrt auch daswahre Wissen und nicht nur den Schein. Soll z. B. die Bewegung aufdie Erkenntnis hin ausgesagt werden, so verfllt auch diese un-

    bestreitbare Mglichkeit dem streitschtigen Satz, da nmlich einMensch unmglich suchen kann, weder was er wei, noch was ernicht wei. Nmlich weder was er wei, kann er suchen, denn erwei es ja, und es bedarf dafr keines Suchens weiter; noch was ernicht wei, denn er wei ja dann auch nicht, was er suchen soll (Me-non 80 e). Platon antwortet auf diesen Einwand mit der Lehre von derWiedererinnerung und whlt mit dem Hinweis auf Zeugen gttlicherArt (aaO. 81 b) eine Mglichkeit der Aussage im Mythos, die uner-achtet ihrer Wahrheit der sophistischen Dialektik verfallen mte,aber durch ihre Autoritt davor bewahrt werden soll. Natrlich ist aufdiese Weise der sophistischen Argumentation nicht wirklich begeg-net. Es

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    fehlen noch die Mittel, um sie auf ihrem eigenen Feld schlagen zuknnen, und gerade das wre ntig.

    Was hieran deutlich werden soll ist zunchst nur dieses, da auchdie wahren Stze nicht sicher sind vor dem der Meinung anhaftendenWiderspruch und alle Absonderung einer vermeintlich widerspruchs-freien Sphre des Wahren das gestellte Problem nicht wirklich zu l-sen vermag. Das Wissen nimmt durch seine explizite Formulierung imMedium der Sprache selbst die Form der Meinung an, und er ergibtsich das schwierige Problem, wie man wahre und falsche Vorstellun-gen voneinander sondern kann, die sich der begrifflichen Form undSachhaltigkeit nach in nichts voneinander unterscheiden. Solange da-

    bei lediglich Argument gegen Argument gestellt wird, kann sich allen-falls ein unentschiedenes Gleichgewicht herausbilden, das die Ent-scheidung fr das eine oder andere willkrlich erscheinen lt.Lt sich ein. sachlicher Entscheidungsgrund nicht finden, so wird dasin seiner formalen Dialektik kritisch bleibende Denken notwendigskeptisch und jedes Festhalten an einer einmal eingenommenen Posi-

    tion dogmatisch. Fr alles gibt es ein gleich gewichtiges Pro und Kon-tra, und es ist allenfalls eine Sache der Wahrscheinlichkeit, schlielichaber des bloen Wollens oder einer besseren berredungskunst, frwelche Seite man sich entscheidet.

    Die Unausweichlichkeit dieser Situation mu eingesehen werden,um die von Platon geleisteten Anstze zu ihrer Bewltigung zu verste-hen. Die mythologische Redeweise kann im grundstzlichen Problemnicht befriedigen, so sehr Platon wohl aus mancherlei Grnden Anlahatte sich ihrer zu bedienen. Vielmehr ist die Frage, wie fr ihn die im Verhltnis des Einen und Vielen (was aller Zweifel Ursa-che ist, wenn es nicht richtig bestimmt wird) selbst zur , zurUrsache aller Sicherheit werden kann (vgl. Philebos 15 c). Die ei-

    gentliche Lsung liegt nicht in einem bergang in mythologischesReden oder in der Abhebung des vermeintlich widerspruchsfreienidealen Seins von der realen Wirklichkeit: sie mu nach Platons eigenenWorten in derselben Dialektik gesucht und gefunden werden, aus derdie Schwierigkeit sich ergibt. Die sophistische Dialektik in ihrer skepti-schen Konsequenz ist selbst die Ausgangslage, an der das Philosophie-ren Platons ansetzt. Daraus ergibt sich fr die Interpretation ein Leitfa-den und die Mglichkeit, die verschiedenartigen Denkmotive am eineinnere Mitte zu konzentrieren.

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    2. Vorblick auf eine positive Dialektik, die das vorlufige Wissen in sichselbst weiterbildet

    Die sophistische Argumentation bewegt sich in einem mittleren Feld,fr dessen Bestimmung die von ihr festgehaltene Alternative von Wis-sen oder Nichtwissen nicht zureichend ist. Der bloe Hinweis auf einAnsichsein des wahren Seienden hilft nicht weiter, wenn die gefordertebereinstimmung des Menschen mit der Wirklichkeit allenfalls als eineVoraussetzung gelten kann, die, wie der Streit der Meinungen zeigt,faktisch nicht erreicht wird. Aber auch das skeptische wirdder Situation nicht wirklich gerecht, in der es doch fraglos Unterschie-de im Wissen, mgliche und unmgliche Aussagen, falsche und richtigeMeinungen gibt und eine bessere oder schlechtere Ordnung der Ver-hltnisse durchaus im Bereich des Mglichen liegt. Platon macht denSophisten den Vorwurf, da sie die Voraussetzungen ihrer eigenen Po-sition und ihre positiven Mglichkeiten nicht zu begreifen vermch-ten (vgl. den Dialog Kratylos und Phaidros 259e ff.). Wie aber soll

    ein Fortschritt in der Erkenntnis gemacht werden knnen, wenn keinWissen und damit auch kein Nichtwissen seiner selbst vollkommen si-cher zu werden vermag? Wie ergibt sich die Mglichkeit einer Kor-rektur eingenommener Standpunkte, wenn kein erreichtes Wissen sichals endgltig erweist und die Erkenntnis an der sinnlichen Wahrneh-mung ebensowenig einen sicheren Leitfaden findet wie an der forma-len Methode des Denkens, das kein Kriterium fr sachlicheEntscheidungen enthlt? Im vorlufigen Wissen einen Fortschritt zuerzielen, ohne da man aus der Vorlufigkeit berhaupt heraus-kommen und eine letzte Begrndung seiner Erkenntnis erreichenkann: dieses Problem mu in seiner ganzen Schwierigkeit gesehenwerden, um die Versuchung des Dogmatismus wie die Resignation der

    Skepsis zu verstehen und auf der anderen Seite Platons gedanklicheLeistung voll wrdigen zu knnen. Wenn kein Dogmatismus demskeptischen Denken einen wirklichen Widerpart zu leisten vermag, istdieses unberholbar in dem Nachweis, da eine letztgltigeBegrndung und Abschlieung menschlichen Erkennens unerreichbarist, auch wenn es den objektiven Grund der Wirklichkeit als Basis desWissens durchaus gibt und dieses ohne einen wie immer geartetenBezug auf jene nicht auskommen kann. Die erste Antwort auf dieseSituation wurde schon im vorsokratischen Denken gegeben: dersinnlichen Welt verhaftet ist der Mensch von der wahren Wirklichkeitentfernt, der er nur durch das Denken nahekommen kann (vgl. He-raklit, Demokrit u. a.). Auch Platon entfaltet diesen Typus eines inder Schau der geistigen Wirklichkeit zur Erfllung seiner selbstkommenden Denkens. Solange indessen die Heraussetzung eineransichseienden Wirklichkeit nicht berhaupt von der Vielheitabstrahiert, werden alle Aporien der sinn-

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    liehen Welt auch auf den geistigen Kosmos bertragen. Der Begriffder Teilhabe lst keineswegs die Schwierigkeiten, die gar nicht so sehrim Verhltnis der beiden Welten liegen, sondern in der inneren Ver-fassung einer jeden gleichlautend auftauchen. Sobald nicht nur auf dieunaussprechbare geistige Erflltheit abgehoben wird und der ideelleWeltzusammenhang selbst thematisiert werden soll, stellt er sichgrundstzlich nicht anders dar als der Zusammenhang der sinnlichenWirklichkeit. Deren Dialektik gilt auch fr die Ideen selbst. Wenn-gleich die Inhaltlichkeit des ideell erfllten Bewutseins sich sowenigauf die formalen Bestimmungen der Grenze und des Unbegrenztenreduzieren lt, wie dies die qualitative Erflltheit des sinnlich kon-kreten Bewutseins tut, ist doch der Bereich der Ideen vor der negati-ven Macht der Dialektik um nichts sicherer. Der wunderbare Satz,da auch die Idee selbst Eines und Vieles sei (vgl. Parmenides 129 b),zuvor die Grundlage aller skeptischen Aporien, mu selbst zumSchlssel fr die Lsung aller Schwierigkeiten werden. Es ist fr diewesentliche Problematik fast gleichgltig, in welcher Sphre man sie

    ansetzt und durchdenkt. Platon kann in den spten Dialogen die ein-fachsten Beispiele der Wahrnehmung heranziehen, so die Frage, obTheaitetos sitzt oder fliegt (vgl. Sophistes 263 a). Diese Parallelitt undnotwendige Verschrnkung der spekulativen und der empirischen Er-kenntnisbewegung hat zur Folge, da alle in der Dialektik der Ideen er-reichten Fortschritte des Denkens auch fr die Erkenntnis der konkretgegebenen Wirklichkeit fruchtbar werden knnen. Und umgekehrtfolgt daraus, da die Realittsweise des absoluten, wahren Seins sichnur im Zusammenhang mit der Verfassung des empirisch gegebenenSeins berhaupt bestimmen lt. Man kann die reine Erkenntnisgrundstzlich nur vermischt mit der irdischen Erkenntnis gewinnen(vgl. Philebos 62 a). Die dialektischen und mathematischen Prinzipien

    lassen sich unmittelbar mit der in den spten Dialogen vorherrschen-den Tendenz auf Erkenntnis und Bestimmung der realen Wirklich-keit vereinen, ja sie erzwingen, wie sich zeigen wird, diese Umkehr inder Intention der spekulativen Erkenntnis. Die berwindung des Cho-rismos, wie sie sich im Wiederauftauchen des Wahrnehmungspro-

    blems, in der Annherung von richtiger Meinung und wahrem Wissenoder in der Kosmologie des Timaios schon uerlich anzeigt, ist kei-neswegs zufllig. Die mittlere Lage der Erkenntnis ist nun nichtmehr Ausdruck der Entfernung von der wahren Wirklichkeit: ihreVorlufigkeit ist unberschreitbar geworden, wenn es sich erweist,da die Wirklichkeit selbst nur als diese konkrete Mitte aus fr sich ir-realen und undenkbaren Extremen (Seinswurzeln) ist und begriffenwerden kann. Die Erzhlung einer Weltschpfung ist der mythologi-sierende Ausdruck des zeitlosen Hervorgangs der Wirklichkeit in ihreneinzelnen Gestaltungen aus genau denselben Prinzipien der Grenze()

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    und des Unbegrenzten (), auf denen zuvor die skeptischeAuflsung alles Seienden beruhte. Die negative Dialektik wirdzur produktiven, konstituierenden Bewegung der wahrhaft sei-enden Wirklichkeit selbst, die nicht mehr von der konkret ge-gebenen Wirklichkeit der rumlich-zeitlichen Welt abgelstwerden kann. Diese hat den Logos in sich selbst als eine Ord-nung, die auch das Unbegrenzbare als konsumtive Wurzel insich hat und ihre Negativitt rechtfertigt. Die Ursache der Apo-rie in der Erkenntnis der Wirklichkeit ist als notwendige Be-dingung ihrer Mglichkeit erkannt und so gewendet, da ihreUnauflsbarkeit zum positiven Grund aller Erkenntnis wird.Es zeigt sich eine Mglichkeit, die unberschreitbare mittlereLage der Erkenntnis durch sich selbst weiterzubilden und ohneeine letzte Begrndung des Wissens in einem mit ihm zusam-menfallenden Sein echte Fortschritte in der Erkenntnis zu erzie-len. Um aber diese erstaunliche Wendung nicht unglaubwrdigerscheinen zu lassen, mu der Weg in seinen einzelnen Schrit-ten nachgegangen werden.

    3. Die beiden mittleren Lagen des Wissens: das sokratischeNichtwissen und Platons Rckgang auf die

    wahre Vorstellung ()

    In der sokratischen Gesprchsfhrung wird die fraglose Gege-benheit eines Wissens aufgehoben und mit der Forderung, esselbst hervorzubringen und zu entwickeln, sein Charakter ber-haupt verndert. Die dem Zweifel konfrontierte Produktion desWissens gibt ihm ein anderes Selbstbewutsein und einen neu-

    en Grund seiner Sicherheit. Jenseits der Alternative von Wissenoder Nichtwissen ergibt sich ein mittlerer Zustand, der die Frag-losigkeit des vorlufigen Wissens aufhebt und sich als Wissenum das Nichtwissen, als Streben nach Erkenntnis bestimmenlt. Das Ziel eines seiner selbst gewissen Wissens kann nur imDurchgang durch die Ungewiheit erreicht werden. Der Zwei-fel an allem vermeintlich besessenen Wissen zwingt zu dessenBegrndung und erweist es darin erst in seinem Widerspruchoder seiner Geltung. Weil das Wissen in der Bewhrung eineandere Form annimmt, hilft es hier nicht weiter zu sagen, allesWissen sei eo ipso seiner selbst bewut und als solches schon beisich angekommen. Auch wenn alles Wissen Bewutsein ist und

    darin sich selbst hat, macht es doch in Form und Inhalt des Be-wutseins einen entscheidenden Unterschied, ob ich eine richti-ge Vorstellung von einer Sache habe, ohne doch um ihre Rich-tigkeit zu wissen, oder ob ich mir gewigeworden bin, da undwarum sie richtig ist. Das einfache Sichwissen des Bewutseinsgilt gleichermaen fr richtige und falsche Vorstellungen, undmeist

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    ist die berzeugtheit von einer fraglos bernommenen Meinung gr-er als die aus der kritischen Prfung resultierende Gewiheit einesWissens. Die eine Vorstellung begleitende Zustimmung sagt ber de-ren Wahrheit oder Falschheit noch nichts aus (vgl. Philebos 37 e).

    Dem sokratischen Wissen um das eigene Nichtwissen voraus liegt al-so nicht das Nichtwissen schlechthin (und natrlich auch nicht das voll-endete Wissen), sondern gleichsam als ein zweiter mittlerer Zustandein Wissen, das seiner selbst nicht sicher ist und richtig oder falschsein kann, auch wenn es beidemale von demselben berzeugungsge-fhl begleitet wird. Dieses Meinungen habende Bewutsein ist eineunentbehrliche Voraussetzung der sokratischen Bewegung auf Er-kenntnis hin, auch wenn die Prfung diesen Boden zunchst nicht alstragfhig erweist und den Meinungen kein wahrhaftes Wissen ab-zugewinnen vermag. Solange aber diese Bewegung nur negativ istund im Wissen des Nichtwissens ausluft, gibt es keine Mglichkeit, zueinem positiven Wissen zu gelangen. Das eingestandene Nichtwissenlt sich nicht mehr durch sich selbst berwinden. Erweisen sich alle

    Meinungen als trgerisch, so mu das sokratische Gesprch notwen-dig im Nichtwissen hngen bleiben und kann zu keiner positiven Aus-sage mehr kommen.

    Wenn Platon diese Aporie lediglich so zu berwinden versucht ht-te, da er im absoluten Wissen der Idee eine neue Erkenntnisquelleaufzeigt, so bliebe dieser Sprung aus der Relativitt hinaus eine frsich selbst ganz unerreichbare Mglichkeit, in der die Schwierigkeitennur hinausgeschoben und keineswegs schon gelst wren. Es mu vonvornherein der andere Gedanke Platons ernstgenommen werden, dafr die Bestimmung der Tugend eine mitgebrachte richtige Vorstel-lung () von ihr unentbehrlich sei (vgl. Politikos 309 cff.). Es wird also nicht nur das sokratische Nichtwissen auf ein end-

    gltiges Wissen in der Idee hin berschritten, vielmehr geht Platon auchumgekehrt auf den vor diesem Nichtwissen liegenden Zustand der86a zurck und knpft positiv an diese an. Es ist entscheidend wich-tig zu sehen, da Platon das absolute Wissen nicht aus dem relativenBereich heraussetzt, sondern umgekehrt in diesen hereinnimmt und inder selbst verankert. Diese Einsicht wird sich dahin zuspitzen,da man nur von richtiger Vorstellung ausgehend berhaupt zuwahrer Erkenntnis kommen kann (vgl. Politikos 278 c ff.). Lt sichein endgltiges Wissen in der Idee im schwankenden Fortgang der Er-kenntnis nicht antizipieren und ist es auf der anderen Seite unmg-lich, von einem Nichtwissen bzw. von einer falschen Vorstellungausgehend zur Wahrheit zu kommen (aaO.), so mu in den vorgegebe-nen Meinungen schon etwas Richtiges getroffen, ja das Gttlicheselbst enthalten sein, das aufzuspren und in die Klarheit des Wissensherauszustellen die Aufgabe ist, wenn irgend Erkenntnis mglich seinsoll. Die notwendig vor-

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    auszusetzende ist als eine (zweite) mittlere Lagezwischen Wissen und Nichtwissen weniger als Erkenntnis(), zugleich aber bildet sie als das Gttliche (vgl. Poli-tikos 309 c) deren Grund. Auch das absolute Wissen kann sichselbst nur in dieser Mitte fassen und lt sich nicht mehr aus-schlielich von sich selbst her als eine Erkenntnis sui generisverstehen.

    Die sokratische Form des suchenden Bewutseins wird alsonur dann nicht aporetisch, wenn dieses schon auf dem Wege zumWissen ist und nicht mehr nur als ein Nichtwissen bestimmt,sondern auch schon als ein (wenngleich erst noch zu erheben-des) Wissen aufgefat werden kann. Oder anders gesagt: nichtnur der Zweifel und das Wissen des Nichtwissens ist fr das Er-reichen der wahren Einsicht unentbehrlich, sondern ebensosehrder gegebene Bestand an Meinungen, auf den als positiveGrundlage aller Wissensentwicklung (und d. h. nicht nur kri-tisch) zurckgegriffen werden mu. Platon tut gegenber So-

    krates einen Schritt zurck und kann nur dadurch ber ihn auchwirklich hinauskommen. Bliebe es bei der von Sokrates vorge-fhrten generellen Selbstaufhebung der Meinungen im Nach-weis ihrer inneren Widersprchlichkeit, so mte auch jedeber das Eingestndnis des Nichtwissens hinausgehende positiveAussage derselben Dialektik verfallen. Falsche wie richtige Mei-nungen wrden in gleicher Weise zerstrt, und auch die Ideen-erkenntnis wre nicht sicher, sobald das Geschaute in die Formeines rationalen Begrndungszusammenhanges gebracht wrde,um der Bedingung des Wissens zu gengen. Nicht schon die Pro-klamation der Idee, sondern nur eine andere Wertung und Be-handlung der Meinungen selbst kann einen konkreten Fort-

    schritt der Erkenntnis bringen.Die einfachste und sicher nur vorlufig gemeinte Weise be-

    steht darin, da Platon wesentliche Sachverhalte, wie die ge-nannte suchende Haltung des Bewutseins, die Sokrates selbsteinnimmt und doch im Nachweis ihrer inneren Widersprch-lichkeit als unmglich erklren mte, durch eine mytho-logische berhhung und Deutung dem streitschtigen An-griff der Dialektik entzieht (vgl. Menon 80 ff.). Es gilt, wesentli-che Vorstellungen zu schtzen, die der sophistischen Auflsungnicht entgehen knnen, wiewohl sie richtig und gttlicherArt sind. Wenn aber auch die hchste Wahrheit nicht andersals eine bloe Meinung erscheinen kann, mu sich dieser Ein-druck noch verstrken, sobald sie sich in das fremde Gewand ei-nes Mythos kleidet und an den entscheidenden Punkten einer

    philosophischen Argumentation entzieht, der sie offensichtlichnicht standhalten knnte. Bei dieser Form der berwindung desZweifels kann es also nicht bleiben. Wie aber die richtige Mei-nung auch fr eine sich in begrifflicher Form aussprechende unddarin der Dialektik widerstehende Erkenntnis begrndend wer-den kann, soll zunchst an einigen Beispielen gezeigt werden.

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    4. Die Bestimmung der Tugenden in ihrem Verhlt-nis untereinander und zum Guten

    Sokrates scheitert in seinen Versuchen der Bestimmung der Tugend aneinem Zirkel. Um die einzelnen Tugenden richtig definieren zu kn-nen, mte man ein Wissen um die Einheit der Tugend, um das Guteschlechthin haben. Dieses kann nach Sokrates von den Einzeltugen-den her aber nicht gewonnen werden (vgl. Menon 71e ff., 79d). Ob-wohl also die Tugend eine und dieselbe (Menon 73 c) und ihre Ein-heit unerllich fr eine gute Verfassung der Seele ist (die damit voneinem Wissen ber sich selbst abhngt), lt sie sich nicht im ganzenfassen und bleibt deshalb auch in ihren Teilen unbestimmbar. Vie-le Tugenden nmlich haben wir gefunden, da wir nur eine suchen . .. die eine aber, die in allen diesen ist, knnen wir nicht finden. (Me-non 74 a) Die Konsequenz ist, da die Einzeltugenden noch die Be-stimmtheit verlieren, die sie doch fraglos an sich tragen und durch diesie, wenn berhaupt, fr das Ganze mitbestimmend werden knnten.

    Das Gute liee sich in der positiven Wendung des Zirkels nur ineinsmit den Einzeltugenden aus ihrem Verhltnis bestimmen. Solange aberSokrates daran festhlt, da die einzelne Tugend nicht das Gute undder Teil nicht das Ganze sei, mte dieses vorweg fr sich selbst erfatund bestimmt werden, um dann auch in seinen Teilen einsichtig zusein (vgl. aaO. 79 c) - und gerade das ist unmglich. Das Festhalten derontologischen Differenz lt es zu keinem Verhltnis wechselseitigerErhellung kommen, in dem die einzelnen Tugenden fr das Ganze

    bestimmend und dessen Konkretion fr jene wieder fruchtbar werdenknnte. So verschwindet die Positivitt der Einzeltugend, und mit ihrrckt der Zusammenhang der Seele vollends ins Dunkel. Der Zirkeldes Suchens im Verhltnis von Ganzem und Teil wird aporetisch

    (vgl. aaO. 80 d ff).Platons wesentlicher Fortschritt liegt auch hier nicht darin, das fr

    Sokrates unwibar bleibende eine Gute als die hchste Idee zubestimmen und in Gleichnissen auszusagen, oder auf der anderen Seitedie Mglichkeit ihres Suchens in der Lehre von der Wiedererinne-rung zu begrnden (vgl. aaO. 81 c ff.). Damit allein wre noch nichtviel gewonnen. Er lst vielmehr den fr Sokrates aporetisch werdendenZirkel selbst positiv ein, indem er nicht mehr jede einzelne Tugend frsich auf das gleich unbezglich seiende Gute bezieht und darin zu

    bestimmen sucht, sondern ihr Verhltnis untereinander betrachtet. ImZusammenhang der Tugenden, wie er im Phaidros und vor allem inder Politeia erfragt wird, ist das eine Gute nicht mehr wie bei Sokratesabstrakt fr sich gesetzt, sondern eben als das Verhltnis der Tugendenin diesen bzw. ihrem Verhltnis selbst mitgegeben. Das bedeutet, daes nun von den Einzeltugenden her als ihre Harmonie bestimmt wer-den kann. Der

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    positive Charakter jeder Tugend wird fr ihren Ort im Ganzen ma-geblich und trgt durch sich selbst zur Bestimmung des Zusam-menhangs bei. Ist das Ganze das Verhltnis der gegebenen Tugendenselbst, so ist jene von Sokrates geforderte Wechselbestimmung in derTat mglich geworden. Die einheitliche Verfassung der Seele lt sichvon den Teilen her als die innere Harmonie ihres Verhltnisses sodurchsichtig machen, da sie wiederum auf deren Bestimmung undAnordnung zurckwirken kann. Dabei werden Meinungen ber dieTugenden wichtig, die auch in den sokratischen Definitionsversuchenherausgestellt wurden und dort wieder preisgegeben werden muten,weil sie den Widerspruch nicht auszuschlieen vermochten. Es knnennun Auffassungen der handelnden und erziehenden Staatsmnner ent-scheidende Bedeutung erlangen, die selbst noch gar keinem Zweifelunterzogen wurden. Die wahrhaft wahre Vorstellung von dem Ge-rechten, Schnen und Guten und dessen Gegenteil, wenn sie wohl be-grndet der Seele einwohnt, nenne ich eben das Gttliche in einemdmonischen Geschlecht . . . Und von dem Staatskundigen und dem gu-

    ten Gesetzgeber wissen wir, da ihm allein gebhrt, mit Hilfe der Mu-se der kniglichen Kunst eben dies denen einzubilden, welche einerrichtigen Erziehung teilhaftig geworden . . . Aber den schon von ihrerGeburt an gutgearteten und ihrer Natur gem gebildeten Gemternallein werden diese Vorstellungen durch die Gesetze sich einbildenund eben unter diesen dies nun das kunstmige Heilmittel und, wiewir gesagt haben, das gttlichere Band sein fr die von Natur einanderunhnlichen und entgegengesetzt fortstrebenden Teile der Tugend.(Politikos 309 cd; 310 a) Es liegt also nicht am Inhalt der Meinungenund viel mehr an der Weise ihrer Behandlung, die sie im einen Fall ineinen Selbstwiderspruch auflst und ins wissende Nichtwissen treibtund im anderen als ein begrndetes und sich begrndendes Wissen er-

    weist. Das gegebene Zitat enthlt im Beginn auch eine Definition derselbst (vgl. Theaitetos 200 d ff.), die Platon schlielich nurnoch unter ausdrcklichem Bezug auf die vor dem Zweifel liegenderichtige Vorstellung definieren kann.

    Damit ist die positive Funktion der richtigen Vorstellung in der Be-wegung der Erkenntnis an einem Beispiel aufgewiesen und die Fragenach ihrer Mglichkeit von neuem dringlich geworden. Zwar ist dasSuchen eine notwendige Bedingung des Findens und damit des Wis-sens um das Wissen bzw. Nichtwissen. Aber dieser die Gewiheitherbeifhrende Durchgang durch den Zweifel beantwortet noch nichtdie Frage nach dem bestimmten Wissen, das gesucht und gewi wer-den soll. Auch Sokrates wei dies, wenn er begierig alle beigebrach-ten Meinungen aufgreift und in ihnen das Wahre zu finden hofft. Die

    beiden mittleren Zustnde des Wissens ohne Gewiheit und desWissens um das Nichtwissen sind gleich wesentlich und unabding-

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    bar, um zur Erkenntnis zu kommen und diese als einen Proze zu be-greifen. Denn vom gnzlichen Nichtwissen kann man nicht ausgehenund weiterkommen, und das fertige Wissen bedrfte der suchendenBewegung nicht mehr. Kann aber ohne das sich ausdrcklich begrn-dende Werden des Wissens seine reflektierte Gewiheit sich nicht ein-stellen, so ist das von vornherein vollendete Wissen ebenso wie dierichtige Vorstellung ein Zustand, der ohne die Gewiheit seiner selbstals Wahrheit bleiben mte. Das Ziel der Erkenntnis lt sich grund-stzlich nur erreichen, wenn man von der mittleren Lage der zugleich

    positiv begrndeten und sich begrndenden wie in ihrem kritischenZweifel negativ erscheinenden Bewegung ausgeht und keinen ab-soluten Standpunkt antizipiert. Nur durch seine Relativitt und Vorlu-figkeit kann das Wissen vollendet werden und seiner selbst gewisein.

    Die Gttlichkeit der richtigen Vorstellung erhlt ihren tieferenSinn gerade durch die Einschrnkung, ein gegenber dem ausdrck-lich zu sich selbst gebrachten und wohlbegrndeten Wissen niedrige-

    rer Zustand zu sein. Wer sie besitzt, handelt zwar unbewut richtig, istaber dadurch noch kein Wissender geworden. Das bedeutet jedoch,da auch das gttliche Wissen nur aus der mittleren Lage einer in derrichtigen Vorstellung vorgegebenen und im Proze ihrer Erhellungund Begrndung erst noch zu sich zu bringenden Erkenntnis begrif-fen werden kann. Das gttliche Wissen hat den fr es konstitutivenProze seines Werdens an sich selbst und steht damit unter derselbenBedingung wie das menschliche Erkennen, sich in einer Bewegung zusich selbst erst noch einholen zu mssen. Die Situation der menschli-chen Erkenntnis ist endgltig, insofern sich ihr Ziel grundstzlichnicht mehr anders bestimmen lassen kann als durch den Weg auf eshin und als dieser Weg selbst. Dabei ist Wissen im einzelnen erreichbar

    und bestimmt, ohne da es im ganzen eine definitive Gestalt anneh-men knnte. Erkenntnis gelangt immer ins Ziel und bleibt doch stetsauf dem Wege. Die Differenz von Ziel und Weg, Werden und Seinwird stndig aufgehoben und darin immer wieder von neuem gesetzt.Jedes Ankommen bei einer besonderen Bestimmtheit erreicht das Zielund verfehlt gerade darin wiederum das Ganze. Wenn Platon spterden Proze der Erkenntnis aus den beiden Prinzipien der Grenze unddes Unbegrenzbaren begreift, dann ist damit nichts anderes ausge-sprochen. Alles Bestimmte hat eine Unbegrenztheit an sich selbst, diees erfllt und in der es sich zugleich berschreitet. Es ist in ein Ver-hltnis gesetzt, das wie irrationale Brche zugleich bestimmt, immervon neuem bestimmbar und doch unabschreitbar ist. Das alle Er-kenntnis gebende und sie definierende unendliche Verhltnis entziehtsich selbst jeder endgltigen Definition. Es ist gerade in seiner letztli-chen Unbestimmbarkeit und durch sie bestimmbar und bestimmendzugleich.

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    Whrend das Wissen als Proze dem dialektischen Bewut-sein des Sophisten aporetisch werden mute und die mittlerenLagen der Meinung und des sokratischen Zweifels, in denen je-ner sich faktisch hielt, sich ihm in die gleich undenkbare Alterna-tive des gnzlichen Nichtwissens oder eines absoluten Wissensauflste, kann Platon die Unfabarkeit der extremen Zustndegelten lassen und sie dennoch fr eine immanente Begrndungder Erkenntnis fruchtbar machen. Sowohl der extrem aufge-fate Gedanke Heraklits, da alles fliet, als auch der entge-gengesetzte des Parmenides: Sein ist, entziehen mit der Auf-lsung aller Bestimmtheit der Erkenntnis jeden Boden (vgl.Kratylos 439c ff.; Theaitetos 179 d ff.). In beide Richtungenzugleich getrieben, mu der Sophist der Skepsis verfallen, weil erseine eigene mittlere Position stndig aufhebt, ohne die beidenextremen Standpunkte einnehmen zu knnen. In seinemVersuch, die Mitte von den Extremen her zu bestimmen, lstdiese sich ihm auf und wirft ihn zurck auf eine unhaltbare

    Alternative. Demgegenber denkt Platon das Sein und Wissenvon der in sich gedoppelten, positiven wie negativen Mitte herund vermag beide in deren Bewegung hereinzunehmen. Der imExtrem ausschlielich werdende Widerspruch wird in derRelativitt des Seienden zum bestimmt-unbestimmten Grund derErkenntnis. Die Mitte zwischen Sein und Nichts, zwischenWissen und Nichtwissen wird so von diesen Polen nicht aufge-hoben, sondern durch sie als der konkrete Ausgleich gesetztund in der Wirklichkeit gehalten. Sie erhlt in ihrer Relativittgleichwohl Realittsbedeutung und wird zum Grund derErkenntnis als ein Zwischen, das die Bedingungen seinerMglichkeit nicht mehr auer sich hat und gleichwohl erst noch

    in sich einholen mu. Dabei gilt beides gleichermaen: da derMensch immer schon von einem Wissen herkommt und diesesin Frage stellend in ein produktives Nichtwissen geht, wie daer aus dem Nichtwissen kommend zum Wissen gelangt. Es istein und derselbe Proze der Erkenntnis, der beide Bewegungenin sich verschrnkt und durcheinander bedingt sein lt.Erkenntnis ist nur als dieser Dreischritt von einem gegebenenWissen (, ) durch das sokratische Nichtwissen(, , ) hindurch zu einem selbst erworbenen,begrndeten und im Zweifel bewhrten Wissen (), wobeisich das Ende wieder in den Anfang bindet und dieser darinerst wahr und bleibend wird: Denn auch die richtigenVorstellungen sind eine schne Sache, solange sie bleiben, undbewirken alles Gute; lange Zeit aber pflegen sie nicht zubleiben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen, soda sie doch nicht viel wert sind, bis man sie bindet durchbegrndendes Denken. Und dies, Freund Menon, ist eben dieErinnerung, wie wir im vorigen zugestanden haben. Nachdemsie aber gebunden werden, werden sie zuerst Erkennt-

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    nisse und dann auch bleibend. Und deshalb nun ist die Erkenntnis h-her zu schtzen als die richtige Vorstellung, und es unterscheidet sicheben durch das Gebundensein die Erkenntnis von der richtigen Vor-stellung. (Menon 97 e f.) In diesem Formwandel desselben Wissens

    besteht die Kontinuitt des Lebenszusammenhanges und ist die Mg-lichkeit des richtigen Handelns und Erkennens unabhngig davon be-grndet, da schon ein endgltiges Wissen erreicht ist. Denn wennauch die wahre Vorstellung allein schon das Handeln richtig leitenkann (vgl. aaO. 97 b), so mu doch das in ihr besessene Wissen aus-drcklich erhellt und befestigt werden, wenn die Tugend zur lehrba-ren Erkenntnis werden und das Handeln zu ihrer freien und sicherenVerwirklichung fhren soll. Und richtig leiten knnten nur diese zweiallein, die wahre Vorstellung und die Erkenntnis, und der Mensch, derdiese besitzt, leite richtig. (aaO. 99 a) Solange also die Erkenntnisnoch nicht erreicht ist, und damit schliet der Dialog, mu man sichauf die wahre Vorstellung der leitenden Staatsmnner verlassenund ihre Tugend als eine gttliche Schickung (aaO. 100 b) hinneh-

    men, kraft deren sie, ohne Vernunft zu gebrauchen, vielerlei Groesrichtig vollbringen. (aaO. 99 c) Die hier gemachte Einschrnkungzeigt vollends deutlich die herausgearbeitete Dreigliedrigkeit des Wis-sens in der Bewegung zu sich selbst als das wahre Verhltnis an. In sichzurckgehend ist es doch kein tautologischer Zirkel bloer Selbst-

    besttigung, sondern eine in sich begrndete und durch sich selbstfortgebildete Mitte, die das konkret Gegebene und die Meinungvon ihm in sich einbegreift und Erkenntnis auf diesem immanentenBoden entfaltend sich kritisch bewhren kann. Die Meinung darf frdie Gewinnung der Erkenntnis nicht mehr nur abgewiesen werden.Wie dann aber das in ihr enthaltene positive Wissen von der falschenVorstellung abgesondert werden kann, wird zum zentralen Problem

    (vgl. u. S. 152 ff.). Die Mitte als in sich zugleich positiv und nega-tiv bestimmt mu selbst die Mittel an die Hand geben, um den Irr-tum allmhlich auszuscheiden und richtige Einsicht zu befrdern.

    5. Die Verschrnkung von Sachbezug und Konvention (gezeigt am Bei- spiel der Sprache)

    Die Unfhigkeit des Sophisten zur richtigen Einschtzung und Bewl-tigung seiner eigenen Situation der Relativitt zeigt sich auch noch inanderer Hinsicht. Weil ihm der natrliche Sachboden () seinesArgumentierens gnzlich entschwindet, kann alle Versicherung einerGeltung sich schlielich nur noch auf Konvention () berufen. Was

    positiv gilt, ist gesetzt. Dem-

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    gegenber weist Platon nach, da nichts positiv Gegebenes rein kon-ventionell sein kann, auch wenn allem notwendig etwas Konventio-nelles beigemischt ist. Eine strenge Alternative von oder ist unmglich. Platon wendet gegenber Protagoras ein, da vonvernnftig oder unvernnftig nicht mehr geredet werden knne, wennalles so wre, wie es jedem jeweils erscheint (vgl. Kratylos 386 c;Theaitetos 158 e ff.). Die relativistische These vermag allenfalls diefaktischen Differenzen zu erklren, kann aber nicht mehr das Ge-meinsame zeigen, das zu ihrer Vergleichbarkeit und Unterscheidunggem Kriterien wie vernnftig-unvernnftig, wahr-falsch, besser-schlechter usw. ntig ist. Die Gemeinsamkeit lt sich nur erreichendurch einen wie immer gearteten Sachbezug, ohne den der Zerfall derBestimmungen unvermeidlich wre.

    Nun ist es aber nicht damit getan zu sagen, es gbe keinen Scheinohne Voraussetzung der Wahrheit, kein Bild ohne Abhebung einerWirklichkeit (vgl. Sophistes 239 d ff.). Der Sprung aus dem Relativenist zu voreilig, wo man das Wissen des Wahren voraussetzen zu ms-

    sen glaubt, um den Schein als solchen zu durchschauen und vorgibt,die Wirklichkeit zu kennen, um das Bild beurteilen zu knnen. Freine solche Abhebung gengt auch schon ein Mehr oder Weniger anRealittsgehalt, wie es durchaus auch innerhalb des Relativen undohne Rckgang auf einen absoluten Standpunkt festgestellt werdenkann. Wenn Platon die notwendige Voraussetzung der Wahrheit undWirklichkeit fr den Bestand des Relativen und die Mglichkeit sei-ner Erkenntnis behauptet, tut er es doch nicht in dieser Form desSprunges aus der Relativitt heraus. Die absolute Voraussetzung desSeins und seiner Wahrheit schliet das Nichtseiende und Trgerischeals die Relativitt mitverursachend nicht aus, sondern wird selbst zurBedingung der Mglichkeit des Scheins, indem sie das Relative als

    solches begrndend sich mit jenem Negativen verflicht (vgl. Sophi-stes 240 c). Dadurch wird die Unterscheidung von wirklich undscheinhaft, wahr und falsch, weise und unvernnftig usw. innerhalbdes relativen Seienden auf der Grundlage des Seins mglich, ohneda die Wirklichkeit in ihrer reinen Form erreicht und herausgestelltsein mte. Nur eine dem Relativen selbst immanente und daringleichwohl in einem neu zu bestimmenden Sinn absolut bleibendeVoraussetzung kann dieses in seiner eigenen Seinsmglichkeit be-grnden, anstatt es eben nur aufzuheben und in der Selbstmanifesta-tion des Wahren (oder auch in der des Nichts) verschwinden zu las-sen. Nur von hierher kann Platons These richtig verstanden werden,da alles relative und vermischt Seiende notwendig wirklichkeits-haltig sei und in jede Konvention etwas Wahres mit eingegangen seinmte, wenn immer sie Geltung und Bestand haben solle.

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    Um dies nachzuweisen bietet sich das Beispiel der Sprache an (vgl.den Dialog Kratylos). Der Sophist mte sich auf Grund seiner ganzenHaltung dahin entscheiden, da man die Dinge nur durch die konven-tionell gebildeten Wrter hat und kein unmittelbarer Sachbezug mg-lich ist, von dem her die Konvention selbst wiederum befragt undmit Bedeutung erfllt werden knnte. Ein absoluter Realist wrdedemgegenber davon ausgehen, da die Dinge ganz unabhngig vonder Sprache gegeben sind und die Bedeutung der Wrter sich aus-schlielich von ihnen her ergibt. Die Schwierigkeiten dieser einseiti-gen Begrndungsversuche zwingen Platon dazu, einen vermittelndenStandpunkt einzunehmen. Indem zugestanden wird, da man alsozwar auch wirklich die Dinge durch die Wrter kann kennenlernen,man kann es aber auch durch sie selbst (Kratylos 439 a), ist das Pro-

    blem der Vermittlung dieser beiden Auffassungen angezeigt. Derzweite Schritt besteht in der Forderung einer Verabredung im Hin-

    blick auf die Sache selbst: da wohlabgefate Wrter demjenigen,welchem sie als Namen beigelegt sind, hnlich sein mten und also

    Bilder der Gegenstnde (aaO.). Diese hnlichkeit erlaubt dieWechselseitigkeit des Verhltnisses, in dem die Wrter von den Din-gen her verstanden und diese wiederum durch die Wrter kennenge-lernt werden knnen. Dieser Zirkel wechselseitiger Erhellung bliebeohne einen wie immer angesetzten Sachbezug als Grundlage derSprachschpfung und Gegenstandserkenntnis unvollziehbar. Wollteman die Dinge allein aus den Wrtern erkennen oder umgekehrt de-ren Bedeutung ohne Bezug auf jene verstehen lernen, so wrde auchfr diese extremen Auffassungen der Zirkel und damit der vorgngi-ge Bezug beider Seiten aufeinander unausweichlich. Wenn der So-

    phist die Dinge nur durch die Wrter zu kennen vorgibt , mu er dochzugeben, der die Benennungen bestimmt habe, habe dies notwen-

    dig getan mit Kenntnis dessen, wofr er sie bestimmte (aaO. 438 a).Der Namengeber mu also noch eine andere Art der Erkenntnis gehabthaben als wiederum blo die aus Wrtern. Dadurch wird diese Positi-on durch sich selbst in das andere Extrem gezwungen, einen gttli-chen Stifter der Sprache anzunehmen, der die Wrter unmittelbar ander Wirklichkeit bildet und ihnen dadurch erst die Realbedeutunggibt, die in der Konvention vorausgesetzt und doch nicht erreicht wer-den kann. Obgleich der Sophist keinen unmittelbaren Zugang zu denDingen findet, mu er einen solchen notwendig voraussetzen, um dieSachhaltigkeit seiner eigenen Sprache begrnden zu knnen. Anstattim gegebenen, sprachlich vermittelten wie unmittelbaren Bezug anzu-setzen und Konventionelles mit natrlicher Gegebenheit zu verflech-ten, schlgt der konventionelle Setzungscharakter der Sprache unver-sehens in eine absolute Setzung mit -Geltung um und hebt sichdarin selbst auf. Diese absolute Identitt von Set-

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    zung und Wirklichkeit ist aber dem Menschen unerreichbar. Indemein gttlicher Namengeber sie feststellt, wird der Mensch in der Be-handlung seiner Sprache unfrei: er kann sich weder selbst verabredennoch seine Konventionen an der Wirklichkeit korrigieren. Der imma-nente Zirkel im relativen, sich wechselseitig fortbildenden und ein-schrnkenden Verhltnis von und , in dem allein er sich

    bewegen knnte, wird ihm in der Verabsolutierung derselben Mglich-keit unvollziehbar. Die im ganzen konventionelle Sprache mu geradedadurch auch im ganzen richtig sein bzw. als gltig behauptet wer-den. Dann aber kann der Konventionalist ebensowenig wie der sichvon vornherein auf den absoluten Standpunkt stellende Realist derfaktischen Differenz von richtigen und falschen Benennungen bzw.zutreffenden und irrtmlichen Aussagen Rechnung tragen und ihr Zu-standekommen erklren. Es verschwindet fr beide der mittlere Be-reich der relativen Bestimmungsfreiheit und Sachgemheit. Ob maneine einseitige Begrndung der Bedeutung auf der Sprache oder in derWirklichkeit unternimmt: der Streit der Wrter um die Sache kann

    dadurch nicht entschieden werden, weil er von der Voraussetzung ei-ner totalen Sachangemessenheit her schon immer entschieden seinmte und eine rein willkrliche Konvention keinerlei Entschei-dungsgrnde fr ihn htte. Der Streit der mittleren Lage kann nurdurch sich selbst entschieden werden. Dies setzt aber eine Neube-stimmung des Verhltnisses von Sprache und Wirklichkeit voraus.Wenn gesagt wird, da die Sprache sowohl Verabredung sei als aucheinen Sachbezug enthalte, wenn in ihr bereinstimmung und falscheZuordnung gleichermaen vorkommen und die natrliche Richtig-keit nur als Idealfall gelten kann, so ist dies ein Hinweis auf denvernderten und von Platon grundstzlich neu bestimmten Bezug. Ineiner totalen Entsprechung von Wort und Sache vermchte eines das

    andere mit sich selbst zu geben, und keine Seite htte darber hinausetwas an sich, was noch nicht in die Gleichung eingegangen wre.Sprache wie Wirklichkeit wren gleichermaen ein Ganzes, das dieGegenseite in der eigenen Totalitt impliziert. So einseitig also derAnsatz zur Bildung dieses Verhltnisses totaler Entsprechung wre,so einseitig knnte der auch in ihm vollzogene Zirkel wieder aufge-lst werden. Wenn der absolute Namengeber mit dem absoluten Sach-kenner identisch ist und sein Werk getan hat, wird es gleichgltig, vonwelcher Seite aus der Mensch seine Gleichungen ansetzt: sie stimmenimmer. Demgegenber bleibt jener offen verschrnkte Bezug ein nieganz auflsbares Verhltnis und bildet deshalb notwendig einen Zir-kel. Zwar sind auch in ihm die Wrter im Hinblick auf die Sache ge-

    bildet und wird diese durch die Wrter erschlossen. Aber beide Seitendecken sich nicht vollstndig und haben ber die Korrelation hinauseine unbestimmte und produktiv wer-

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    dende Verweisung. Die Sprache enthlt Verabredungen, die in dergegenstndlichen Wirklichkeit keine Entsprechung haben, undumgekehrt ist diese in keiner Sprache erschpfend formuliert und

    begriffen. Das ineins positive und negative Mehr jeder Seite bedingtdie Mglichkeit einer wechselseitigen Bereicherung und Korrektur. Esist also gerade die Inkongruenz und damit der Streit selbst, der fr dieangemessene Bestimmung des Seienden im zirkelhaften Verhltnisvon Sprache und Wirklichkeit produktiv wird. Der Bezug beider ist of-fen und darin einer Wandlung und wechselseitigen Fortbildung zu-gnglich geworden.

    Erst von hierher ist Platons zunchst so kraftlos erscheinende Stel-lungnahme verstndlich, da man die Dinge zwar auch durch die Wr-ter kennenlernen knne, da aber trotzdem ein unmittelbarer Bezugauf sie unabdingbar sei. Dabei konnte man zunchst geneigt sein zu-rckzufragen, ob nicht das eine berflssig sei, wenn man doch dieandere Mglichkeit habe. Wenn Platon auch der unmittelbaren Schaudes Wesens den Vorzug gibt vor seiner ber das Wort vermittelten Er-

    kenntnis, ist doch wesentlich, da er beides gleichzeitig festhlt. Die-ses Zugleich beider Erkenntnisformen wre von der Voraussetzungeiner totalen Entsprechung her sinnlos. Nur wenn die Sprache nichtalles gibt und der unmittelbare Sachbezug sich ebensowenig vonselbst erfllt und auslegt, kommt es darauf an, beide Erkenntniswei-sen zu verbinden und an der Notwendigkeit und Unauflslichkeit ihresBezugs aufeinander festzuhalten. Die Angewiesenheit des Sprach-vermgens auf einen Wirklichkeitsbezug und umgekehrt meint nunebensosehr ihre bereinkunft im Zusammentreffen von Bedeutungund Sache wie den Umstand, da beide nicht vllig ineinander auf-gehen und immer auch einander bergreifen. Es gibt eine unmittel-

    bare Anwesenheit von Wirklichkeit, wie sie in der Sprache nicht ge-

    fat und sagbar ist, und ebenso gibt es einen freien Gebrauch der Spra-che, in dem sie, von der unmittelbaren Wirklichkeitsaussage entbun-den, sich selbst darstellt. Beides ist Bedingung des Sprechens an derWirklichkeit. Die mittlere Lage hat als ein offenes und darin erst not-wendig werdendes Verhltnis ihre absoluten Voraussetzungen so insich, da die relative Selbstndigkeit von Sprache und Wirklichkeit inihrem Zusammenschlu nicht aufgehoben wird. Kongruenz und In-kongruenz sind hier zugleich festgehalten und bedingen einanderwechselseitig, so da ihre Aufhebung ineinander immer auch ihreEinsetzung durcheinander bedeutet. Unzureichende Bestimmung oderfalsche Verbindung und irrtmlicher Sprachgebrauch sind mglich ne-

    ben einer richtigen Ansicht und vernnftigen Aussage. Was dem Sophi-sten unerreichbar war, ist mglich geworden: das Relative kann in sichselbst vernnftig oder unvernnftig, wahr oder falsch, gut oderschlecht sein, ohne da dadurch die Relativitt berhaupt auf einen

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    absoluten Standort hin berschritten wre und preisgegebenwerden mte. Der gemischte Zustand ist weder von derTheorie der Konvention (als dem subjektiven Absolutum) nochvon der These der Naturgemheit (von der objektiven Totali-tt) her zugnglich; fr beide Positionen mu die relative Diffe-renz verschwinden. Wenn Platon beiden Seiten recht gebenkann, heit dies nun gerade nicht mehr, jenen erzwungenenUmschlag mitzumachen, in dem der Sophist fr die Festset-zung der Sprachbedeutung doch einen der Dinge kundigen

    Namengeber braucht und von einem Extrem ins andere fllt.Entgegen diesem die Mitte verfehlenden Zwang geht sein Hin-weis auf das wechselseitige Durcheinander von Sprachverstnd-nis und Wirklichkeitserkenntnis in ihrer offenen Verschrnkungund gelingt es ihm, die mittlere Lage des Wissens in ihrenVoraussetzungen und Bedingungen zu treffen und als Grundund Bedingung aller Erkenntnis auszuweisen. Da in allemKonventionellen eine richtige Vorstellung als notwendige Be-

    dingung seiner Mglichkeit enthalten sein mu, schliet fr ihndie Mglichkeit von Irrtum und Tuschung nicht aus (vgl. dieironische Behandlung der Versuche, die natrliche Richtigkeitder Sprache auf Grund der Nachahmung der Wirklichkeit ety-mologisch nachzuweisen), whrend der Relativist und der abso-lute Realist mit dieser Unterscheidung nichts mehr anfangenknnen. Beide mssen eine totale Entsprechung behaupten, seidiese nun oder begrndet. Auch die reine Konventi-on mte, um gemeinsam und bestndig zu sein, die totale Be-wutheit und Gelufigkeit aller Sprachbedeutungen fordern undergbe damit ein genaues Gegenstck zu der die Sache unmittel-

    bar umfassenden und erschpfenden Erkenntnis. Die gemein-

    same Antizipation der Totalitt auf verschiedener Grundlagemu beide Ansichten zu sich ausschlieenden und gleichwohlgegenseitig voraussetzenden Standpunkten machen.

    In dieser Hinsicht sind auch die Errterungen ber die Rhe-torik im Phaidros aufschlureich (vgl. 259 e ff.). Der Rednermu die Wahrheit ber seinen Gegenstand wissen, umkunstmig berreden und einen Schein erzeugen zu knnen,der widerspruchsfrei ist und der Wirklichkeit standhlt. DerSchein nimmt selbst notwendig die Form der Gegen-Wahrheitan und wird auch nur anerkannt wegen seiner hnlichkeit mitdem Wahren (vgl. aaO. 273 d). In allgemeinerer Form gehtPlatons Einwand dahin, da man aus ungeprften Meinungennicht kunstmig reden knne. Denn dazu gehrt ein Wissenum das Ganze, die Unterscheidung des Sicheren und des Zwei-felhaften, eine richtige Einteilung, Erklrung, Begrndung undZusammenfassung und darber hinaus die Mglichkeit, das er-langte Wissen auch richtig anzuwenden und fr eine gelingendePraxis fruchtbar zu machen. In der Anwendung wird es sich auf

    jeden Fall zeigen, ob die Rede Wahrheit ent-

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    hlt, denn wenn sie selbst auch Unmgliches mglich erscheinenlt und das schwchere Argument zum strkeren machen kann, so istdoch im Handeln die Wirklichkeit selbst mit im Spiel und lt sich nichtso leicht tuschen. Wie der Krper die gegebene Medizin annimmtoder abstt und darin das Knnen des Arztes beweist, so gilt auch frdie Seele, da nur gem ihrer Natur heilsam auf sie eingewirkt wer-den kann (vgl. aaO. 270 b ff.). Sobald also der Sophist ein erfolgrei-ches Handeln bewirken will, mu er notwendig voraussetzen, was erleugnet: den Bezug seines Redens und Tuns auf eine nicht beliebigmanipulierbare Wirklichkeit (vgl. Theaitetos 178 bc).

    Es ergibt sich somit die paradoxe Situation, da Platon durch eineganz bestimmte Weise der Anerkennung einer absoluten Vorausset-zung die Relativitt des Relativen wahren kann, whrend der Sophistsich in der Leugnung dieser Voraussetzung auf die durchgngige Rela-tivitt beruft, ohne sie doch festhalten und in ihrer Mglichkeit be-grnden zu knnen. Whrend ihm die in der Entgegensetzung fi-xierten Bestimmungen absolut werden und sein eigener Daseinsbo-

    den sich auflst, hat Platon die Mglichkeit, die relative Wirklichkeitin ihrer Positivitt anzuerkennen und Erkenntnis in ihr zu begrn-den, ohne ihre Negativitt abstreiten oder skeptisch verabsolutieren zumssen. Wenn der eine totale Erkenntnis antizipierende Realismusden Irrtum nicht mehr unterbringen und auf der anderen Seite auchein reiner Konventionalismus nach Wahrheit oder Falschheit nichtmehr fragen kann, weil er das Erkenntnisproblem berhaupt elimi-niert, lt sich allein im Zwischenbereich des relativen Wissens Er-kenntnis begrnden und in ihren wirklichen Bedingungen erhellen. Sieist nicht ohne die Voraussetzung eines Wirklichkeitsbezuges denkbar,wenngleich dieser nicht einfach als fraglos gegeben vorausgesetztwerden kann. Ein lediglich vorgegebenes Wissen knnte allenfalls

    eine wahre Meinung sein, die zwar das Handeln jeweils richtig lei-ten, aber nicht gelehrt und gegen den Irrtum ins Feld gefhrt wer-den knnte. Deshalb kommt es auf die Begrndung des Wissens imZusammenhang des Seienden an. Eine Einsicht in das Ganze ist vor-ausgesetzt und bleibt unabschliebar, weil der uere Zusammenhangimmer auch Relativitt und mglichen Fehlgriff bedeutet. Das Wissenhat als Wahrnehmung bzw. Vorstellung und begrndete Einsicht einekonstitutive Doppelheit in seinem positiven Charakter und als Prozeeine notwendige Beziehung auf sein Gegenteil. Die Vermittlung der

    beiden positiven Formen bringt es zu sich in einer Bewegung, die dasNichtwissen und den Irrtum notwendig einschliet. Die Dreiheit vonrichtiger bzw. falscher Meinung, suchendem Nichtwissen und einerden ersten Zustand scheidenden und das Wahre befestigenden Ein-sicht ist in der einen Bewegung vereint, die das Wissen darstellt. So-lange Wahrnehmung, Vorstellung und begrndetes

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    Wissen sich nicht decken, bleibt dieser Zirkel offen und produktiv. BeiPlaton verhalten sich beide Seiten indessen grundstzlich irrationalzueinander, was bedeutet: ihr Verhltnis wechselseitiger Bestimmungund Erhellung ist unabschliebar und dadurch unauflsbar. Das Nega-tive ist im Proze der Erkenntnis nie gnzlich ausscheidbar und

    bleibt, insofern es konstitutives Prinzip der Wirklichkeit selbst ist, frdas Zustandekommen und Fortschreiten des Wissens von grundlegen-der Bedeutung.

    6. Das Problem einer apriorischen Erkenntnisgrund-lage und die Aporien der Ideenlehre

    Die Voraussetzung der Bewegung des Wissens zu sich selbst kannnicht nur negativ sein. Bisher wurde in diesem Sinne von einer vorge-gebenen richtigen Vorstellung gesprochen, ohne da weiter gefragtwurde, wie es zu dieser komme. Es wre denkbar, da auch sie selbst

    schon erworben ist, ohne doch zum ausdrcklichen Bewutsein ge-bracht und kritisch geprft worden zu sein. ber die mgliche Rich-tigkeit der unreflektiert aufgefaten Meinung wre damit noch nichtsentschieden, und ebenso blieben die inneren Bedingungen fr dieMglichkeit von Einsicht unbefragt, solange nur auf das uereLernen abgehoben wrde. Zur sinnlich vermittelten Wahrnehmungder ueren Wirklichkeit mu fr Platon eine wesentliche Erschlos-senheit hinzukommen, in der die Seele das Wahre in sich und durchsich selbst unmittelbar zu schauen vermag. Dies meint nicht die Im-manenz des wahrhaft Seienden in der Seele. Auch wenn alles Wissengrundstzlich von einer ihm vorgeordneten gegenstndlichen Wirk-lichkeit her gedacht wird, hat die Seele Anteil an ihrer Erkenntnis.

    Man mu z. B. nach Platon schon wissen, was Gleichheit ist, umgleiche Dinge (die ja immer auch in vielerlei Hinsicht ungleich sind)in der Wirklichkeit zu erkennen (vgl. Phaidon 74 a ff.), und ebensoenthlt die Vorstellung des Guten oder des Schnen (aaO. 75 c ff.) et-was, was grundstzlich nicht von auen beigebracht und gelernt wer-den kann. Die richtige Vorstellung mu dann ber die Prsenz uererGegebenheit hinaus ein apriorisches Wissen enthalten, und selbstwenn uere Erfahrung stets in sie mit eingegangen wre, behieltedie Frage nach einer grundlegenden inneren Voraussetzung des Wis-sens ihr Recht.

    In diese Richtung weist das sokratische Verfahren der Maieutik.Der Nichtwissende hat von sich aus richtige Vorstellungen, die man

    durch geschicktes Fragen zum Bewutsein bringen kann (vgl. Menon84 ff.). Dieses Hervorbringen des Wissens hat fr seine Gewiheitentscheidende Bedeutung. Die Bewegung der Erkenntnis fhrt nurdann ins Ziel, wenn das

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    Gesuchte irgendwie schon gewut wurde und nun, durch die Frageangeregt, wiederum erinnert werden konnte. Der Mensch lernt, in-dem er das Wissen zugleich aus sich hervorbringt und findet. DasHervorbringen meint hier indessen keine freie Erzeugung des Wis-sens, und ebensowenig ist das Lernen ein bloes Aufnehmen von au-en. Wissen ist nur das Produkt aus Ttigkeit und Rezeptivitt bzw.als Ineinander von Selbsterkenntnis und gegenstndlicher Erfassunggegeben.

    In dieser Konzeption liegt aber eine Schwierigkeit, der die auf Ge-genstndlichkeit ausgerichtete und darin abhngig bleibende griechi-sche Erkenntnishaltung nicht gewachsen war. Auch bei Platon fhrtdie Einsicht in die Verflechtung der beiden Erkenntnisbewegungenzunchst nur zu einer Verdoppelung der Erkenntnis und damit derWirklichkeit selbst. Anstatt die beiden Grnde des Wissens wirklichzu verschrnken, wird ein zweimaliger gegenstndlicher Erwerb an-genommen. Die mitgebrachte Erkenntnis des Wesens setzt gemder gegenstndlichen Einstellung die Existenz einer reinen Wirk-

    lichkeit voraus, in deren unverstelltem Anblick jenes zuvor gehabteund im Suchen leitende Wissen selbst einmal erworben wurde. DasErinnernknnen wird zurckgefhrt auf ein frheres Gelernthaben,das auf Grund der unmittelbareren Verwandtschaft der Seele mitden Ideen eine reinere Auffassung darstellt, grundstzlich aber nichtanders als das uere Lernen zu denken ist. Die Tendenz zur Abl-sung der inneren Voraussetzung des Erkennens von seiner ueren Be-dingung ergibt sich dann ganz von selbst und wird in der Lehre vonder Wiedererinnerung eines vorgeburtlich erworbenen Wissensdurchgefhrt (vgl. Menon 81 c ff., Phaidon 72 e ff.). Die wahrhafteErkenntnis ist Erinnerung der einst gesehenen gttlichen Dinge, undder Zweck der sinnlichen Wahrnehmung und alles Fragens und Ler-

    nens besteht darin, jene bei der Geburt vergessene Erkenntnis wiederzu erwecken und erneut ins helle Bewutsein zu heben. Die sinnlicheErkenntnis erhlt den Grund ihrer Mglichkeit und ein reineresKorrelat in der allein wahrhaft seienden Ideenwelt, an der sie teil-hat.

    Wie das gegenstndlich Seiende, so hat auch die Seele ein ideellesSein und erschpft sich nicht in ihrer empirischen Bestimmung. In rei-ner Form konnte sie aber nur in einem vorgeburtlichen Zustand derAbgelstheit vom Leib erkennen, und so bleibt die Erinnerung desWesens im gegenwrtigen Dasein doch gebunden an eine uere An-regung und sinnlich-gegenstndliche Erscheinung. Wenngleich nurdurch die Idee das sinnliche Abbild erkannt wird, ist umgekehrt des-sen Wahrnehmung ntig, um jene erneut zu erwecken. Eine unmit-telbare Wendung nach innen in der Schau der Ideen wrde die er-neute Ablsung der Seele vom Krper voraussetzen und ist in diesemLeben nur in Augenblicken der Erleuchtung erreichbar. Aber auch

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    dann mu die Aneignung der gewonnenen Erkenntnis und ihre Fas-sung in einer diskursiven Bestimmtheit sich wiederum an die der Spra-che erschlossene Welt halten und den Ideenkosmos nach ihrem Typusdenken. Soll die Bestimmung der Ideen im Verhltnis von Urbildund Abbild nicht zu einer bloen Verdoppelung der Dinge und ihrerPrdikate fuhren, so ergibt sich die schwierige Aufgabe, die reinenWesensgehalte von den unreinen Beimischungen und begriffslosenDingen zu sondern (vgl. Parmenides 130 bc). Damit die ontologischeDifferenz den Rangunterschied wahrt, mu sie im Sinne einer Re-duktion verstanden werden, denn nicht alles in der sinnlichen Wirk-lichkeit Gegebene kann reinen Wesens sein. Aus dem Wandelbarenwird das Bleibende herausgesetzt und die Widersprchlichkeit ausdem Verhltnis der Ideen ausgeschlossen. Das hnliche und Gleiche istvon dem Verschiedenen und Unhnlichen getrennt, das Eine ist hherund vor dem Vielen seiend. Es ergibt sich zwangslufig die eleatischeKonsequenz. Solange dabei aber an der seienden Vielheit der Ideenfestgehalten wird, ist es einem formalen Denken unbenommen, die-

    selben Widersprche in das Verhltnis der Ideen zu setzen, denen dieabbildliche Wirklichkeit unterliegt. Diese Widersprchlichkeit betrifftnicht nur das Problem der Teilhabe: da die Idee fr sich selbst eineund dieselbe ist, in den Dingen aber geteilt und in der Vielzahl vor-kommt (vgl. Parmenides 131 b); da alle Ideen unbezglich existie-ren und zugleich in der Prdikation der Dinge verbunden sind; dadas Zusammensein verschiedenartiger Bestimmungen in der sinnli-chen Komplexion zu Widersprchen fhrt, whrend dieselben Be-stimmungen in ihrem ideellen Ansichsein keinen Widerspruch enthaltensollen die Absonderung der Ideen wrde vielmehr bedeuten, dader ideelle Zusammenhang als solcher nicht gedacht werden kann,damit aber auch kein Begriff der Idee, der sich durch eine Mehrzahl

    von anderen Ideen als Prdikaten bestimmen lt.Im Bereich der Ideen wre dann aber nur die traditionelle Verein-

    zelung des Seienden konserviert und die Rckbindung seiner Er-kenntnis an die Anschauung festgehalten. Der Rckfall in eine schonberwundene erkenntnistheoretische Position wre unvermeidlich.Die an der sinnlichen Wirklichkeit einsetzende Dialektik mte vorden Ideen Halt machen und wrde dies als einen ungerechtfertigtenMachtspruch empfinden, weil Vielheit und Zusammenhang hier wiedort dieselben Denkformen provozieren. Die sinnliche Wirklichkeit inihrem Zusammenhang befrderte einen ganz neuen Erkenntnistypus,wie er sich in der eleatischen Dialektik zunchst nur negativ uernkonnte. Solange dieser nicht auch auf die Ideen selbst angewendetwerden kann und hier dieselbe Revolution herbeifhrt, die in derDialektik des sinnlich Realen einsetzte, bleibt nur die Konsequenz desParmenides, die

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    Verbindung und Entsprechung des Seins und der konkreten Wirklich-keit berhaupt aufzuheben und die Unbestimmbarkeit des einenSeins in Kauf zu nehmen (vgl. Parmenides 133 b ff.). Dies hieeaber die Begrndungsfunktion der Ideen fr die Erkenntnis und damitderen begriffliche Mglichkeit berhaupt preiszugeben. Ist dieseKonsequenz fr Platon unannehmbar, dann ist er gezwungen, dieGleichstrukturiertheit der sinnlichen und der intelligiblen Wirklich-keit (also die Dialektik in beiden) anzuerkennen und mu, um an ei-ner apriorischen Erkenntnisgrundlage festhalten zu knnen, derenVerhltnis zur empirischen Erkenntnis von neuem bestimmen. DieMglichkeit dazu liegt bei Sokrates und Platon schon im ersten Ansatzselbst, der durch den aporetischen Gang nur an seinen richtigen Ortgerckt wurde und nun wieder aufgenommen werden mu.

    7. Der Selbstunterschied des Wissensund das gegenstndliche Verhltnis der Er-

    kenntnis

    Der sokratische Gedanke entzndete sich an der Notwendigkeit einerausdrcklichen Hervorbringung und Prfung des Wissens, die ihmseine begrndete Gewiheit erst gibt. Die Produktion des Wissenskann aber gem seiner nach wie vor festgehaltenen Abknftigkeitvon der Wirklichkeit keine freie Erzeugung sein. Das produzierte Wis-sen ist als solches zuvor schon unbewut vorhanden und wird nurherausgestellt. Die Grundhaltung gegenstndlichen Erfassens (dasLernen) gleicht sich den Vorgang des Erinnerns an und lt ihn alsReproduktion eines frher einmal Gelernten verstehen. Der nicht inseiner wesentlichen Einheit begriffene Doppelcharakter der hervor-

    bringend-auffassenden Wissensbewegung fhrt zur Verdoppelung deseinfachen gegenstndlichen Lernaktes, wobei ein Vergessen die bei-den Zustnde scheidet und das erneute Vergegenwrtigen ntig macht.Die in der Bewegung auf Erkenntnis hin enthaltene positive Voraus-setzung und der ihr immanente Selbstunterschied der Wissensformfhrt so zu einer Verdoppelung desselben Wissens und zu seiner Ab-stufung nach Graden der Reinheit.

    Bleibt man beim Phnomen des begrndet in sich zurckkehrendenund darin sein Selbstbewutsein erlangenden Wissens, dann erscheintdas ausdrcklich zu sich gebrachte und seiner selbst gewi geworde-ne Wissen als der hhere Zustand, dem gegenber die Voraussetzungeines irgendwie zuvor schon besessenen und nun geklrten Wissens

    abfllt. Die Verdoppelung fhrt jedoch zu der entgegengesetztenRangordnung, insofern die ideale Voraussetzung durch keine sinnli-che Reprsentation und begrifflich-diskur-

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    sive Explikation je vllig eingeholt werden kann. Beide Auslegungenreiben sich. Die Ablsung der inneren Voraussetzung des Wissens ausseinem konkreten Proze erzwingt die Verdoppelung des ganzenErkenntnismodells. Es gibt nun zwei Leben, zwei Wirklichkeiten,zwei Erkenntnisakte, zweierlei Wissen und damit die Mglichkeit ei-ner Zurckfhrung des jetzigen Erkenntnisvermgens auf eine aprio-rische Grundlage, die nicht mehr oder nur noch ausnahmsweise er-schlossen ist. Wahre Erkenntnis ist nun nichts anderes als eine beson-dere Form von Selbsterkenntnis, in der die Seele ausschlielich sichselbst betrachtet und gleichsam in ihre frhere Daseinsweise zurck-versetzt wird.

    Wenn nun auch in alledem etwas Wahres gesehen ist, ntigt das Ph-nomen des erinnernd zu sich selbst kommenden Wissens doch keines-wegs zu der geschilderten Konsequenz. Die Erinnerung frheren Wis-sens stellt sich ja auch bei Sokrates nie von selbst ein. Sei es da dieWahrnehmung sie erweckt, sei es da einer nur recht zu fragen ver-steht (Phaidon 75 a): auf jeden Fall ist jedes Erinnern hier zugleich

    wesentlich ein Erinnertwerden, und wie die uere Wahrnehmungjenes schon Besessene erst erweckt und sein Bewutsein leitet, soverhilft umgekehrt dieses dem ueren Sehen wiederum zur rechtenEinsicht. Ein Wahrnehmen bzw. Fragen und ein Erinnern schlieensich in einem Akt zusammen. Sind beide aber erst durcheinander zusich selbst gebracht, dann ist die richtig gesehene, aber nicht rechtangesetzte Verdoppelung, die Scheidung des Inneren und des ue-ren, erst das Ergebnis des Zusammenschlusses und nicht seine Voraus-setzung. Insofern sie aber doch auch wieder Voraussetzung ist, lt die-se sich erst nachtrglich voraussetzen und nicht vorweg als solche be-haupten. Die wechselseitige Auslegung von Wahrnehmung und Er-innerung ermglicht erst ihre beiderseitige Selbstauslegung und schei-

    det darin das Innere vom ueren in demselben Akt, in dem es sieineins fat. Dadurch wird die Voraussetzung erst zu sich selbst ge-

    bracht. Es gibt also keine Mglichkeit mehr, sie unmittelbar an sich zuergreifen. Das wechselseitige Bedingungsverhltnis ist ursprnglichund nicht mehr in ein einseitiges Begrndungs- und Abfolgeverhltnisauflsbar. Bei Platons Fassung der Anamnesis mu eine zeitliche Dif-ferenz vorausgesetzt werden, insofern das zuvor gehabte Wissendann und wann erinnert wird, ohne da es selbst dadurch ein andereswrde. Dies verbietet sich, wo die Voraussetzung in der Erzeugungdes Wissens am Leitfaden der ueren Wahrnehmung und der Frageerst als solche gegeben und zu sich gebracht wird. Erst dann kann das-selbe Wissen auch ausdrcklich erinnert und mit einer Zeitdifferenzversehen werden. Dieses Phnomen des Wiedererinnerns eines schonausdrcklich Gewuten (an dem Platon sich orientiert) ist hier nichtgemeint. Vielmehr geht es um ein Erinnern, das

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    mit dem ersten Bewutwerden identisch ist. Im primren Zu-sammenschlu der Zeiten bricht ihre mgliche Differenz erst auf.

    Es kann nun aber nicht der Sinn dieser Unterscheidungen sein, diebeiden Ansichten bzw. die zwei Formen des Erinnerns einander entge-genzusetzen, denn sie machen nur zusammen den Sachverhalt aus,um den es hier geht. Es ist entscheidend wichtig, ihr Sichfordern undSichausschlieen als wesentlich zusammengehrig und sich gegensei-tig bedingend einzusehen. Ein vorher Gehabtes (Phaidon 76 d) undnun Erinnertes erweist sich auch als in einem zeitlichen Sinne wirk-lich vorgngig, wenn schon das andere gilt, da es nur durch das Er-innern berhaupt vorweg gehabt und darin die frhere Zeit erst ge-setzt wird. Die Differenz wird erst gesetzt durch denselben Akt, in demsie aufgehoben wird und sich gerade darin als schon bestehend erweist.

    Entsprechendes gilt fr die Wirklichkeit als Proze und Gegen-stndlichkeit. Sie ist primr aus dem Bezug, aber auch eine physischgesonderte Gegenstndlichkeit der bezogenen Seienden. Man kann diesich ablsende Singularitt nur aus dem Bezug und diesen nur aus

    jener begreifen. Setzt man das eigenstndige Seiende voraus, dannresultiert die Gegenstndlichkeit erst aus ihm. Es kommt nun aber al-les darauf an, nicht die eine oder andere Voraussetzung zu machenund den anderen Aspekt als abknftig zu betrachten, sondern beidegleichursprnglich festzuhalten und ineinander zu denken.

    Dieselbe Verschrnkung der Ansichten ergibt sich fr das Wis-sen. Das im Wahrnehmen, Suchen und Fragen erinnerte Wissen istdas erste, ursprngliche Wissen, das sich selbst als ein wieder erinner-tes, zweites Wissen bekundet und erfahren will und darin allein sei-ner selbst gewi werden kann. Nur als ein in und auer sich begrn-detes, jetzt wie damals erfahrenes, hier und dort gefundenes, von die-sem und jenem erkanntes und ausgesprochenes Wissen kann es Konsi-

    stenz gewinnen. Es mu selbst zu sich kommen und zugleich von an-derswoher beigebracht werden und sich besttigen lassen. In seinerSelbsterzeugung ist es angewiesen auf ein Sich-vorfinden und Be-sttigtwerden. Der immanente Selbstunterschied des Wissens musich deshalb auch als ein ueres Wirklichkeitsverhltnis, als eine rea-le Gegenstndlichkeit fassen lassen. Das Wissen kommt nur zu sich,indem es sich in einem wahrhaft Anderen, in einer Wirklichkeit fin-det, die selbst nicht Wissen ist und doch seine Form anzunehmenvermag. Die Selbstgewiheit des Wissens hngt dann von beidem ab:da es sich erzeugt und zugleich als ein objektives, an der Wirklich-keit abgelesenes und von anderen Menschen erlangtes Wissen wieder-findet. Wenn zunchst auf seine Zweistufigkeit in sich selbst abge-hoben werden mute, um eine Verdoppelung und Hyposta-

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    sierung zu vermeiden, so kann nun auch das Recht und die Notwen-digkeit einer solchen gegenstndlichen Verdoppelung eingesehen wer-den, ohne da jene Schwierigkeit des Zerfalls der Wirklichkeit sich er-neut einstellen mte. Es gengt nicht schon, den Selbstunterschied ei-nes dumpfen und klaren, unmittelbaren und reflektierten, schlicht se-henden und Einsicht habenden Bewutseins zu setzen und es in dieserimmanenten Differenz ausschlielich mit sich selbst zu vermitteln.Der Gegenstand des Wissens ist nicht nur in ihm, sondern wahrhaftgegenstndlich auch auer ihm und fr andere ebenso gegeben.Die erkannte Welt ist im Wissen und darin gleichwohl als sie selbstgegeben. Kein Ding legt sich allein durch sich selbst aus, sondern nurim Zusammenhang mit anderen Dingen. Erkenntnis kommt nur inder Gemeinschaft zu sich, wenn alles Wissen mitgeteilt und gemeinsamsein will. Diese Radikalisierung der Differenz in der Ablsung derVoraussetzung und der Verweisung der Erkenntnis an eine vorge-ordnete Wirklichkeit, an der Platon um der Objektivitt und Wahr-heit der Erkenntnis willen alles liegt, lt sich aber nur dann im Ho-

    rizont des gegebenen Seienden selbst verankern und hier ohne Apo-rien behaupten, wenn zuvor die Verschrnkung ebenso radikal voll-zogen und Erkenntnis als produktive, das gegenstndliche Verhltniserst setzende Mitte ausgesprochen wurde. Das erkennend-vermittelndeVerhltnis zur Wirklichkeit, das zugleich ein geschiedenes Realver-hltnis darstellt, lt sich dann grundstzlich nicht von dem einenoder anderen Denkansatz her begreifen und fordert notwendig ihreIntegration. Soll in formalem Ausdruck beides gelten: da die Extre-me die Mitte bestimmen und insofern zu ihrer Bildung vorausgesetztwerden mssen, und da andererseits die Mitte primr ist und die Ex-treme erst aus sich heraussetzt und bestimmt, dann geht dies beidesnicht spannungslos ineinander und mu doch zusammengedacht

    werden, wenn immer und das ist Platons Anspruch eine umfas-sende Bestimmung der Wirklichkeit und der Weise ihrer Erkenntnismglich sein soll. Jede zureichende erkenntnistheoretische Konzeptionmu notwendig die beiden Ansichten in sich aufnehmen und zusam-mendenken, um die Verfassung der Wirklichkeit und das Tun derErkenntnis angemessen auslegen zu knnen.

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