Prof. Dr. Julian Hanich (Gronin- USPIRIA OVELESS · Max Ophüls’ und Vittorio De Sicas. Julian...

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Prof. Dr. Julian Hanich (Gronin-gen): „Alles hinter den Spie-geln. Reflexionen und filmischer Raum“ Dieser Vortrag untersucht den Ein-fluss von Spiegeln auf die Konstitu-tion komplexer filmischer Räume und ihren Einfluss auf die Nähe und Distanz zu Figuren und Hand-lungen in der Diegese. Aufbauend auf meinem Aufsatz „Reflecting on Reflections: Cinema’s Complex Mirror Shots“ (2017) und diesen um neue Argumente erweiternd, werde ich drei Punkte hervorhe-ben.

Erstens scheint es mir sinnvoll, zwischen flachen und tiefen Spie-gel-Inszenierungen zu unterschei-den, da damit verschiedene Nähe- und Distanzerfahrungen einherge-hen. Zweitens ermöglichen Spiegel durch ihre ‚Verdoppelung’ des filmi-schen Raums eine intensivierte Form der Tiefeninszenierung, die sich in die Tiefe des Spiegelbildes als auch in die Tiefe des gespiegel-ten Raumes erstreckt. Drittens können Spiegel den Zuschauer-blick zugleich zentripetal ins Bild lenken und zentrifugal aus dem Bild herausziehen und dadurch zu einer Verkomplizierung des filmi-schen Raumes führen.

Der Vortrag ist illustriert mit Bei-spielen unter anderem aus Andrei Tarkowskis DER SPIEGEL, Dario Ar-

gentos SUSPIRIA und Andrei Zvyan-gintsevs LOVELESS sowie aus Fil-men Friedrich Wilhelm Murnaus, Max Ophüls’ und Vittorio De Sicas. Julian Hanich ist Associate Pro-fessor of Film Studies an der Uni-versität Groningen. Zwischen 2009 und 2012 war er als filmwissen-schaftlicher Mitarbeiter am Exzel-lenzcluster Languages of Emotion der Freien Universität Berlin be-schäftigt; im akademischen Jahr 2010/11 vertrat er eine medienwis-senschaftliche Juniorprofessur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zuletzt veröffentlichte er The Audience Effect: On the Col-lective Cinema Experience (Edin-burgh University Press, 2018). Im Jahr 2010 erschien zudem seine Monografie Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers. The Aesthetic Paradox of Pleasurable Fear (Routledge). Derzeit erarbei-tet er gemeinsam mit Michael We-del eine Monographie über Fried-rich Wilhelm Murnau und bereitet eine NECSUS-Ausgabe zum Thema „Emotions“ vor. Aufsatzver-öffentlichungen unter anderem in Screen, Cinema Journal, New Lit-erary History, Projections, New Re-view of Film and Television Studies und Film-Philosophy. Forschungs-schwerpunkte: Filmische Emotio-nen und Affekte; Phänomenologie der Kinoerfahrung; Filmstil; Film und Imagination; Geschichte der Filmtheorie.

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Dr. Roman Mauer (Mainz): „Das Dilemma des omnipräsenten Blicks: Simultane Narrationen in filmischen Schnittdarstellun-gen“ Schnittdarstellungen entkleiden Gebäude von ihren Fassaden, las-sen den Betrachter gleichzeitig in die verschiedenen Zimmer blicken und den simultanen Handlungen beiwohnen. Panoptisch (im Sinne Foucaults) und nullfokalisiert (im Sinne Genettes) wird der Zu-schauer in eine distanzierte Per-spektive von Allmacht und Ohn-macht zugleich versetzt, da die gleichzeitigen Verwicklungen durchschaut, aber nicht beeinflusst werden können. Nicht zuletzt zur Analyse gesellschaftlicher Pro-zesse hat die Avantgarde das Pup-penhausprinzip verwendet. Ausge-hend von Theater und Literatur spürt der Vortrag dieser besonde-ren Form der Filmarchitektur und des panoptischen Erzählens in Fil-men verschiedener Zeiten nach, um Nähe und Distanz der simulta-nistischen Erzählperspektive aus-zuloten.

Roman Mauer ist Akademischer Rat im Bereich Filmwissen-schaft/Mediendramaturgie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er studierte Filmwissen-schaft, Literaturwissenschaft und

Ethnologie in Mainz und promo-vierte 2004 mit einer Studie zu Jim Jarmusch. Er lehrte an der HFF München (2005-2009), dffb Berlin, HFF „Konrad Wolf“ Potsdam/Ba-belsberg und HS Mainz. Seit 2008 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johannes Gu-tenberg-Universität. Dort gestaltete internationale Vortragsreihen und medienpraktische Kooperations-projekte mit u.a. ZDF/arte, der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stif-tung, Deutschen Kinemathek Ber-lin, HFF Potsdam/Babelsberg oder dem Institut für Mediengestaltung Mainz. Er ist Ko-Herausgeber der Lehrbuchreihe „Film, Fernsehen, Neue Medien“ bei Springer-Fach-medien.

Dr. Matthias Wittmann (Basel): „Bildöffnungen. Der Blick in die Kamera als Trope des iranischen Kinos“ „[…] le regard à la camera n’est pas une petite question“, bemerkt Marc Vernet in Le regard à la ca-méra: figures de l'absence (1985), um die Frage nach dem Blick in die Kamera zur Scharnierstelle zahl-reicher narratologischer wie meta-psychologischer Betrachtungen zu erklären. Ob der Blick in die Ka-mera als trans-diegetische Zu-

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schaueradressierung oder inner-diegetische Figurenkommunikation wahrgenommen wird, entscheide letztendlich – so Vernet – sein Platz in der Fiktion bzw. im Relati-onengefüge der Bilder.

Zu wenig berücksichtigt werden aus dieser Perspektive diskursive Relationen, die von kulturspezifi-schen Kontexten gebahnt sind: Was, wenn das, was wir „Durch-brechung der vierten Wand“ oder „trans-diegetische Adressierung“ nennen, plötzlich nicht mehr greift, weil man es mit Konzepten von ‚Bild-Raum-Zuschauer‘-Verhältnis-sen zu tun bekommt, in denen vierte Wände oder Diegesen nicht vorkommen?

Fragen wie diese und Thesen hierzu möchte ich entlang prä- wie postrevolutionärer Blicke in die Ka-meraobjektive und Handycam-Lenses des iranischen Kinos auf-werfen. Während in der westlichen Literatur zum iranischen Kino der ‚implizite‘ oder ‚diegetische Rezipi-ent‘ vor allem in Hinblick auf Zen-surdruck und subversiv-konspira-tive Codes der Zuschaueradressie-rung entschlüsselt wurde, möchte ich eine zusätzliche kultur- und so-zialgeschichtliche Dimension ein-bringen: Es geht um eine histori-sche Tiefenperspektive, welche die spezifische Offenheit und Relatio-nalität der iranischen Filmbild-Räume in Dialog bringt mit Tropen der persischen Miniaturmalerei

und des schiitischen Passions-spiel, genannt Taʿziye. An der Schnittstelle von Theater, Film und Malerei der iranischen Kultur soll es darum gehen, westliche Kon-zepte von ‚Diegese‘ oder ‚vierter Wand‘ herauszufordern und ganz besondere Drehtüren zwischen Zuschauerraum und Bildraum, Nähe und Distanz, Anteilnahme und Verfremdung ins Spiel zu brin-gen. Matthias Wittmann ist wissen-schaftlicher Assistent (Postdoc) am Seminar für Medienwissen-schaft in Basel, Filmwissenschafter und -kurator, Kritiker, Essayist so-wie Organisator und Moderator von Master Classes (Paul Verhoeven; Mani Haghighi). Herausgeber der deutschen Übersetzung von Jean Louis Schefers L’homme ordinaire du cinéma (bei Fink, München 2013). Seine Dissertation MnemoCine. Zur Konstruktion des Gedächtnisses in der Erfahrung des Films publizierte er im Jahr 2016 bei Diaphanes (Zürich). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Mediale Mnemographien, Transcultural Studies (insbeson-dere: Iranisches Kino), „3D-Kino und 360°. Im Erscheinen: „“The Blind Owls of Modernity. Of proto-cols, mirrors and grimaces in Sohrab Shahid Saless’ films“, in: Azadeh Fatehrad (Ed.): Sohrab Shahid Saless: Exile, Displace-ment And The Stateless Moving

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Image, Edinburgh University Press 2019. Christian Alexius, B.A. (Mainz): „‚You talkin‘ to me?!‘ – Über das Sprechen in die Kamera als filmi-sches Stilmittel zwischen Ver-fremdung und Annäherung“ Wenn die Protagonistinnen und Protagonisten fiktionaler Filme di-rekt in die Kamera und somit zu den Zuschauerinnen und Zuschau-ern sprechen, stellen sie nicht nur eine unmittelbare Verbindung zu diesen her, sondern immer auch die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit in Frage. Bis heute haf-tet dieser Art, die vierte Wand zu durchbrechen deshalb der Ruf ei-nes Regelbruches an, der nicht vereinbar mit den Konventionen des klassischen Hollywoodkinos ist. Unzureichend wird in der Aus-einandersetzung mit diesem Stil-mittel meist lediglich betont, dass es auf die Konstruiertheit des filmi-schen Geschehens hinweise und die Illusion einer in sich geschlos-senen diegetischen Welt zerstöre. Von der unmittelbar entstehenden Nähe zum Publikum, die auf kont-räre Weise auch zu einer höheren Anteilnahme am Schicksal der Hauptfiguren führen kann, ist da-hingehen nur selten die Rede.

So kann das Sprechen in die Kamera das Publikum durchaus

auf Distanz zum filmischen Ge-schehen bringen, unabhängig da-von, ob es sich dabei um eine kriti-sche handelt, wie etwa im politi-schen Filmemachen eines Jean-Luc Godard, oder ironische, wie sie sich verstärkt im postmodernen Film anfinden lässt. Insofern die Fi-guren allerdings über sich selbst und die eigene Lebensgeschichte sprechen, können sie in verstärk-tem Maße auch Empathie bei den Zuschauerinnen und Zuschauern erzeugen. Exemplarisch hierfür kann die einmalige Adressierung des Publikums in JCVD (2008) ste-hen, in dem Actionikone Jean-Claude van Damme eine fiktive Version seiner selbst spielt und ausführlich aus seinem Leben als Filmstar und dessen Schattensei-ten berichtet, um sich so für eine Neubewertung seiner Person von Seiten der Zuschauenden starkzu-machen.

Der in der Ausschreibung auf-geworfenen Taxonomie folgend lässt es sich daher von einer meta-phorischen Nähe- und Distanzbe-ziehung sprechen, in die die vierte Wand durchbrechenden Figuren mit den Zuschauerinnen und Zu-schauern treten. Im Rückgriff auf Beispiele unterschiedlicher Genres und Stilepochen soll das Stilmittel als ein zwischen den beiden be-schriebenen Polen changierendes begriffen werden, um seinen viel-

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fältigen Verwendungsmöglichkei-ten gerecht zu werden. Damit soll die zumeist einseitige – wenn über-haupt – erfolgende Betrachtung ei-nes Phänomens in der Filmwissen-schaft hinterfragt werden, das im Zuge eines postmodernen oder postklassischen Filmemachens schon seit Jahren zunehmend Be-deutung erfährt.

Christian Alexius, Studium der Filmwissenschaft und Soziologie an der Johannes-Gutenberg-Uni-versität Mainz, wo er aktuell auch als Tutor arbeitet, sowie langjähri-ges Engagement bei FILMZ – Fes-tival des deutschen Kinos. Auf Sammler des Kinos setzt er sich mit dem Themenkomplex Cinephi-lie und Filmgeschichte auseinan-der. Seine Texte zu Fragestellun-gen filmischer Identitätsinszenie-rungen und Subjektivierungsstrate-gien sind in Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung und auf Dau-menkino erschienen. Zurzeit forscht er für seine Master-Arbeit über Subjektivierungsstrategien als möglichem Bindeglied zwi-schen Aktions- und Zeitbild im Kino der 2000er Jahre. Aktuelle Veröf-fentlichung: Fantastisches in dunk-len Sälen. Science-Fiction, Horror und Fantasy im jungen deutschen Film (Hrsg., zus. mit Sarah Beicht).

Prof. Dr. Fabienne Liptay (Zü-rich): „Expanding Cinema. Der menschliche Maßstab und die Kartografie des Kinos“ In ihrem Aufsatz „The Conquest of Space and the Stature of Man“ (1968), der zeitlich zwischen dem Start der Sputnik 1 als dem ersten Erdsatelliten und der Mondlandung der Apollo 11 entstand, stellt Han-nah Arendt die Frage, ob die Er-oberung des Weltraums die Statur des Menschen vergrößert oder ver-kleinert habe. Ihre Frage zielt auf die Erschütterung, die das huma-nistische Menschenbild im Zuge der Raumfahrt und der Durchset-zung eines naturwissenschaftli-chen Erkenntnisinteresses an der Welt erfährt. Es geht ihr dabei um die ethischen, nicht um die physi-kalischen Dimensionen, an denen die Statur des Menschen zu be-messen sei.

Ausgehend von diesen Bemer-kungen geht der Vortrag der Refe-renzgröße des „human scale“ im amerikanischen Expanded Cinema der 1960er Jahre nach. In den Blick genommen werden: die geodäti-schen Kuppelbauten und faltbaren Weltkarten von R. Buckminster Fuller, der das Vorwort zu Gene Y-oungbloods Expanded Cinema (1970) schrieb; der von diesen Ent-würfen inspirierte sphärische Mo-vie-Drome, den Stan VanDerBeek im Rahmen des New York Film

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Festival 1966 öffentlich präsen-tierte; sowie das im Anschluss an das Festival angefertigte und in ei-ner Sonderausgabe der Zeitschrift Film Culture veröffentlichte Expan-ded Arts Diagram (1966), mit dem George Maciunas das erweiterte Feld der Künste kartografierte. Der Vortrag unternimmt den Versuch aufzuzeigen, wie der Begriff des Ki-nos vor dem Hintergrund der Er-oberung des Weltraums erweitert und medial repräsentiert wird. As-pekte der Messbarkeit von Nähe und Distanz werden dabei als As-pekte der Angemessenheit adres-siert. Fabienne Liptay ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universi-tät Zürich. Sie lehrt, forscht und pu-bliziert zur Bildlichkeit des Films, zu Wechselbeziehungen zwischen den visuellen Künsten und Medien, zu Prozessen ästhetischer Produk-tion, zu den Herausforderungen des Formats und den Bedingungen der Ausstellung von Filmen. Sie ist Leiterin des Forschungsprojekts Exhibiting Film: Challenges of For-mat, gefördert vom Schweizeri-schen Nationalfonds (2017-2021). Jüngere Publikationen sind u.a. die Monografie Telling Images. Stu-dien zur Bildlichkeit des Films (Zü-rich/Berlin 2016) sowie die von ihr mitherausgegebenen Schriften- und Sammelbände Artur Żmijewski. Kunst als Alibi (Zü-rich/Berlin 2017) und Immersion in

the Visual Arts and Media (Amster-dam/New York 2015).

Dr. Daniel Fairfax (Frank-furt/Yale): „Zu einer Theorie der filmischen Décalage“ Als filmtheoretischer und -prakti-scher Ausdruck hat die Montage (ursprünglich ein französischer Be-griff) seit den 1920er Jahren eine globale Verbreitung erfahren. Mit Theory of Film Practice von Noël Burch (1969) wurde der beglei-tende Begriff der Découpage auch in die englische Sprache (und dar-über in die internationale Filmwis-senschaft) eingeführt. Im Französi-schen bezeichnen beide Begriffe, die ihre Ursprünge in der Filmin-dustrie haben, die Praxis der Kom-bination von Bildern (und Tönen), aber sie haben mehrdeutige Be-deutungen angenommen. In ge-wissen kritischen Debatten in der französischsprachigen Filmkritik ergab sich aber eine auffallende theoretische Entgegensetzung der zwei Konzepte. Während die Dé-coupage für diese Kritiker haupt-sächlich den „unsichtbaren“ Schnitt bei den Hollywood Studios der klassischen Ära bezeichnet, wo eine Szene analytisch in verschie-denen Einstellungen gedreht wurde, nur um sie beim Schnitt wieder zusammenzusetzen, war

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die Montage, wie sie beispiels-weise im sowjetischen Stummfilm verwendet wurde, eine aktive Pra-xis der Nebeneinanderstellung von antithetischen filmischen Elemen-ten, um ästhetische und konzeptu-elle Widersprüche zu betonen.

Diese binäre Dichotomie zwi-schen der Découpage und der Montage ist in der Geschichte der Filmtheorie wichtig geworden. Die Debatten darüber haben vor allem in der französischen Filmzeitschrift Cahiers du cinéma stattgefunden. Wenn es schon Polemiken darüber in den 1950er Jahren gab (zum Beispiel zwischen André Bazin und dem jungen Jean-Luc Godard), wurden diese Diskussionen nach 1968 im theoretischen Rahmen des Marxismus weiterentwickelt (vgl. die table ronde mit Jacques Rivette, Jean Narboni und Sylvie Pierre im Jahre 1969). Zu der Zeit war auch das Althussersche Kon-zept der Décalage äußerst wichtig für die Cahiers-Kritiker, um soziale bzw. intellektuelle Phänomene von Disjunktionen oder Verspätungen zu beschreiben und zu erklären. So hat Jean-Louis Comolli die Ge-schichte des Kinos als einen wie-derholten Prozess verschiedener Momente der Décalage beschrie-ben, das heißt die Diskrepanz zwi-schen dem sozialen Bedürfnis der Erfindung des Kinos (und seiner späteren technischen Entwicklun-gen) einerseits, und andererseits

ihrer eigentlichen praktischen Um-setzung.

Es ist aber merkwürdig, dass die Idee der Décalage weder von den Cahiers-Kritikern noch von ih-ren filmtheoretischen Mitläufern, Epigonen oder Rivalen benutzt worden ist, um filmästhetische Pro-zesse selber zu erörtern. Eben die-ser Schritt wird in diesem Vortrag vorgeschlagen. Hier wird die filmi-sche Décalage als ein kinemato-grafischer Mittelweg zwischen der (klassischen) Découpage und der (modernistischen/avant-gardisti-schen) Montage dargestellt, in dem der Eindruck der Kontinuität gestört wird, aber in subtilerer Weise als bei der Montage, mit kleinen Sprüngen oder Diskrepanzen im fil-mischen Raum und in der filmi-schen Zeit. Die Möglichkeit einer filmischen Décalage wird anhand von Filmbeispielen von Orson Wel-les, Michelangelo Antonioni, Jean-Luc Godard, Stanley Kubrick, Woody Allen, Jia Zhang-ke und an-deren illustriert. Daniel Fairfax ist wissenschaftli-cher Mitarbeiter im Institut für The-ater-, Film-, und Medienwissen-schaft an der Goethe-Universität Frankfurt, und Redakteur der aust-ralischen Filmzeitschrift Senses of Cinema (www.sensesofci-nema.com). Der Schwerpunkt sei-ner Forschung liegt auf der franzö-sischen Filmtheorie nach 1968,

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und er hat englische Übersetzun-gen von Jean-Louis Comolli, Chris-tian Metz, Jean-Pierre Meunier u.a. veröffentlicht. Sein zweibändiges Buch The Red Years of Cahiers du cinéma (1968-1973) wird 2019 bei Amsterdam University Press er-scheinen. Nepomuk Zettl, M.A. (Zürich): „Vertiefung ins Absurde. Unbe-hagliche Nähe in den Filmen von Yorgos Lanthimos“ Die Filme von Yorgos Lanthimos zeichnen sich durch ein paradoxes Wechselspiel aus Momenten ext-remer Nähe und Distanz aus. Mit meinem Vortrag möchte ich einen Beitrag zur näheren Bestimmung dieser (primär) räumlichen Katego-rien leisten und durch Überlegun-gen zur Konfiguration des filmi-schen Raums, zum emotional dis-tanzierten Schauspiel und zur inhä-renten Sozialkritik ergänzen. Dabei werde ich mich insbesondere mit den beiden jüngsten Produktionen auseinandersetzen, die aus der Zusammenarbeit mit dem Dreh-buchautor Efthymis Filippou her-vorgegangen sind: THE LOBSTER (2015) und THE KILLING OF A SACRED DEER (2017).

In der Topologie von Lanthimos Filmen werden soziale Strukturen über die Paradigmen der Nähe und

der Distanz ausdifferenziert. THE LOBSTER entwirft beispielsweise eine polare Gesellschaftsordnung, in der die Protagonisten entweder verzweifelt nach partnerschaftli-cher Nähe oder keuscher Enthalt-samkeit suchen. Die konsequente und rigide Trennung wird zum ab-surden Normalfall. Beide Filme zei-gen vorwiegend weit offene oder labyrinthisch-enge Räume, in de-nen sich die apathischen Figuren oft verlieren und nur selten veror-ten können. Sie treten sich entwe-der in unmittelbarer körperlicher Nähe gegenübertreten oder sind in großer Entfernung voneinander in-szeniert. So birgt die Intimität des Familienportraits in THE KILLING OF A SACRED DEER stets das unheimli-che Potential eines gewalttätigen Übergriffes und führt damit die Äs-thetik von KYNODONTAS | DOG-TOOTH (2009) fort. Je enger die Nähe zwischen den Figuren, desto größer erscheint die Distanz zu den RezipientInnen.

Lanthimos Filme führen zudem einen gesellschaftlichen Zerrspie-gel vor, der Verfremdungseffekte im Sinne des Epischen Theaters produziert. In der performativen Re-Codierung von Sinnzusam-menhängen entwerfen seine Filme ein relationales Spiel, das einen al-ternativen Blick auf vermeintlich vertraute Kategorien wie das Be-griffspaar Distanz und Nähe zu-lässt.

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Nepomuk Zettl ist Doktorand am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Studium der Germanistik, Amerikanistik und Soziologie in München und Ber-keley. Magisterarbeit zum Thema „Die Dissonanz im narrativen Film: Spuren im audiovisuellen Span-nungsfeld“ (2014), Forschungsauf-enthalte am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris, dem Deutschen Historischen Institut London und dem Deutschen Insti-tut für Japanstudien in Tokio (ge-fördert durch die Max Weber Stif-tung). Seit 2015 Promotionsstipen-diat der Studienstiftung des deut-schen Volkes. Die von Prof. Dr. Fa-bienne Liptay betreute Dissertation trägt den Titel „Eingeschlossene Räume. Das Motiv der Box im Film“. Dr. Peter Podrez (Erlangen): „Zwischen Annäherung und Dis-tanzierung – Sinn und Sinnlich-keit des (extrem) Nahen“ Filmische Repräsentationen von Körpern oder Gegenständen in Nahaufnahmen dienen üblicher-weise der Herstellung von Nähe: Im klassischen Erzählkino sollen dadurch Informationen an die Zu-schauer*innen vermittelt, Emotio-nen – etwa bei Nahaufnahmen von

Gesichtern – transportiert werden, wodurch Empathie mit den Figuren ermöglicht werden soll, usw. Kurzum: Durch die filmische Re-präsentation des Nahen soll eine Nähebeziehung zwischen dem die-getischen Raum und dem realen Zuschauerraum etabliert werden, die Nähe der filmischen Darstel-lung soll die ontologische Distanz zwischen Film und Zuschauer_in-nen überbrücken und letztere affi-zieren. Besonders eindrückliche Beispiele finden sich etwa in den body genres (vgl. Williams) Porno und Horrorfilm. In ersterem sollen Nahaufnahmen von erregten Ge-sichtern, Geschlechtsteilen oder des Sexualakts die Zuschauer_in-nen stimulieren. In zweiterem wird die filmische Repräsentation des Nahen aggressiv umgedeutet, etwa wenn nahe Einstellungen monströse oder verstümmelte Kör-per zeigen und deren abjekte Di-mensionen (vgl. Kristeva) den Zu-schauer_innen im wahrsten Sinne des Wortes auf den Leib rücken sollen.

Doch filmische Repräsentatio-nen des Nahen können gerade durch ihre Nähe dialektisch in Dis-tanzierungseffekte umschlagen, in denen sich die angestrebten Ef-fekte ins Gegenteil verkehren. Nochmals exemplarisch am Bei-spiel der genannten body genres: Detailaufnahmen von Penetratio-

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nen oder bildraumfüllende Ge-schlechtsteile können Erregung gerade durch ihre Omnipräsenz im filmischen Raum verhindern und zu ,Lusttötern‘ werden. Und – insbe-sondere durch low-budget-Spezial-effekte bewirkte – nahe Darstellun-gen des geöffneten Körpers, die ihre Produktionsbedingungen of-fenlegen, können Ekel oder Angst unfreiwillig in Komik verwandeln. In beiden Fällen findet nicht nur eine Distanzierung von der Sinnlichkeit, die durch das Nahe evoziert wer-den soll, statt, auch der Sinn erfährt einen tiefgreifenden Wandel: Das Gesehene bietet, einmal auf Dis-tanz gegangen, ebenso Anlass zu Reflexionen über die menschliche Anatomie wie über die Verfahren des Filmemachens.

Schließlich verstärkt sich die Di-alektik der Distanzierung, je näher die filmischen Repräsentationen werden. Makroaufnahmen etwa können Gegenstände so zeigen, dass durch die Dominanz ihrer – üblicherweise unbeachteten oder unsichtbaren – Oberflächen und Strukturen die Kenntnis um das Objekt in den Hintergrund tritt. Das Alltägliche kann so durch Nähe verfremdet werden und die Zu-schauer*innen in einen distanzier-ten Beobachtungsmodus verset-zen, in dem die Ästhetik des Unge-wohnten ausschlaggebend ist. Die-ses Phänomen nimmt seine ext-

remste Form bei unter dem Mikro-skop entstandenen (Experimental-)Filmen an. Diese zeigen gerne physikalische und chemische Re-aktionen verschiedener Flüssigkei-ten in einem Spiel aus Farben und Formen. Die extreme Nähe von Tintentropfen, die sich mit Öl ver-mischen, stellt nicht nur spatiale Kategorisierungen des filmischen Raums (Was ist nahe bzw. eine Nahaufnahme?) in Frage, sondern etabliert eine abstrakte, distanziert-ästhetisierende Betrachtungs-weise und nimmt zugleich eine Umdeutung der Sinndimension vor. Denn gerne werden die sich ausbreitenden Farben so ins Bild gesetzt, dass sie Aufnahmen glei-chen, die aus dem Feld der Luft-fahrt oder der Astronomie stam-men: Bilder der Erde von oben, von Galaxien usw. Die Nähe des Mikro-skopischen soll so eine Analogie zur Distanz des Kosmischen bil-den.

Der Beitrag fokussiert diese (und andere) sinnhafte sowie sinn-liche Dimensionen von filmischen Repräsentationen des (extrem) Nahen. Dabei wird stets davon ausgegangen, dass jene sich auf verschiedenen Ebenen in einem permanenten Spannungsverhält-nis von Annäherung/Affizierung ei-nerseits und Distanzierung/Absto-ßung andererseits verorten lassen, das anhand konkreter Beispiele näher ausgeführt werden soll.

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Peter Podrez schloss 2018 seine Promotion in Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Univer-sität (FAU) Erlangen-Nürnberg ab. Davor studierte er von 2003-2009 ebenda Theater- und Medienwis-senschaft sowie Pädagogik. Von 2009 bis 2010 war er Lehrkraft für besondere Aufgaben, seit 2010 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medi-enwissenschaft der FAU Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwer-punkte (Auswahl): Film und Raum(-theorie); urbaner Raum und audiovisuelle Medien; Game Studies; mediale Utopien, Dysto-pien, Science Fiction; Gender Stu-dies; Human-Animal-Studies; me-diale Repräsentationen des Hor-rors. Lucas Curstädt, M.A. (Mainz): „Der variable Körper – Nähe- und Distanz-Relationen im digi-talen Kino von David Fincher“ Das digitale Informationszeitalter hat das Kino längst verändert und in seiner Folge aus dem chemisch-optischen Bewegtbild eine Daten-einheit werden lassen, deren onto-logische Zusammensetzung aus einzelnen, diskreten, also präzise zu unterscheidenden Segmente

besteht (Flückiger 2008). Jeder äs-thetischen Form liegt nun eine ma-thematisch berechenbare Formel zugrunde. Die epistemologischen Folgen für das nun neu bzw. erwei-ternd zu theoretisierende Bewegt-bild sind zahlreich. Einer dieser Folgen betrifft die Auswirkungen, die sich für den Schauspielkörper und sein Interaktionspotenzial er-geben. Die Rede ist von der proxe-mischen Relation des Körpers zum Bild, innerhalb des Bildes, zur Ka-mera und zum anderen im Bild po-sitionierenden Körper. Neben dem Abstand von Figuren zueinander im filmischen Raum, der zumeist profilmisch gelöst wird, gesellt sich nun eine dem Bewegtbild imma-nent vollzogene Découpage des Raums hinzu. Dabei zieht die neue Unabhängigkeit des digitalen Bil-des von der physischen Realität ein verändertes „Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit“ (Flückiger 2008) nach sich, denn diese digitale Bildkomposition voll-zieht sich für den Zuschauer un-sichtbar post- bzw. extrafilmisch, d.h. in der Postproduktion.

Ein Vertreter dieses Kinos ist David Fincher. In der Postproduk-tion seiner Filme baut Fincher auf Programme wie After Effects, eine Videoschnittsoftware von Adobe Premiere, die es seinem Cutter Kirk Baxtor erlaubt, wie mit einer Metallsäge jedes beliebige Be-wegtbild in zwei oder mehrere Teile

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zu zerteilen. Der Vorteil dieser digi-talen Bildkompositionstechnik ist vor allem ein ökonomischer, denn Baxter kann aus unterschiedlichen Segmenten der jeweiligen Takes das optimale Resultat aus einer be-liebigen Kombination generieren, also die Leistung bzw. Perfor-mance zweier Schauspieler so steuern, dass sie dem Auftrag des Narrativs am dienlichsten sind – mögen die Schauspieler vor der Kamera und im finalen Nähe-Dis-tanz-Verhältnis so nie interagiert haben. Die Pointe besteht darin, dass diese Form der Collage naht-los vonstattengeht. Dies gilt auch für das physische Nähe-und-Dis-tanz-Verhältnis zwischen Kamera und Körper, denn hier ist das digi-tale Reframing und Stabilisieren ei-nes Bildausschnitts ausschlagge-bend, möglich gemacht durch die Aufnahme in hoher Auflösung.

Zwei pragmatische Auswirkun-gen hat dieses Split-Screen-Com-positing, nämlich einerseits die Masse an Aufnahmen, die David Fincher seinen Schauspielern am Set abverlangt, sowie die Notwen-digkeit, innerhalb der Découpage eine Trennlinie zwischen Bildberei-chen und Körpern anzulegen. Fra-gen um Découpage und Mise en Scène müssen also den physi-schen Abstand – Nähe und Distanz – zwischen den Figuren neu ver-handeln. Die Technik hat somit Auswirkungen auf Komposition

und Ästhetik des Bewegtbildes, auf die Relation der Körper untereinan-der und zum Bild. Dazu möchte dieser Vortrag neben einer Erläute-rung der digitalen Techniken eine Beispielanalyse am Film GONE GIRL (2014) vornehmen, um die Auswirkungen des digitalen Infor-mationszeitalters im Bewegtbild und am (Schauspiel)Körper zu skizzieren. Jean Baudrillard hat die These aufgestellt, dass die pro-grammgesteuerte 0/1 Konstruktion digitaler Bildproduktionen „die Weise, wie wir die Welt sehen“ (Baudrillard 2012) verändern wer-den. Dieser Vortrag versucht den Körper als Entität in den Fokus zu rücken, zu zeigen, dass sich an-hand Finchers Werk ablesen lässt, wie sich eine Veränderung der Wahrnehmung von Körpern im di-gitalen Kino bewegtbildimmanent vollzieht und damit – dies ist der Ausblick des Vortrags – Teil eines digital produzierten posthumanen Kinos ist. Der 1991 in Offenbach a.M. gebo-rene Lucas Curstädt hat Filmwis-senschaft und Philosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz studiert. Sein Dissertations-projekt trägt den Arbeitstitel „Post-humanismus im Film/Posthuma-nismus des Films“. Aktuell befindet er sich in Bewerbungsverfahren zur Stipendiumsförderung und ist

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am FTMK als hilfswissenschaftli-cher Mitarbeiter für den Bereich E-Klausuren zuständig. Im Sommer 2019 wird er gemeinsam mit Dr. Gregory Mohr ein Seminar zum Fil-mischen Realismus halten. Laura Katharina Mücke, M.A. (Mainz): „Die (post-)kinemato-grafische Erfahrung als perfor-matives Ausagieren von Nähe und Distanz“ Entgegen der aktuellen Auslegung und Diskussion des Begriffes der „Medienimmanenz“ (Hagener 2011) steht am Anfang des Vor-trags die These, dass die im Begriff angelegte wechselseitige Durch-dringung von Film und Kulturge-schichte sowie von Medienobjekt und Rezeptionssubjekt eine Ent-wicklung ist, die vor allem historio-grafisch diskutiert werden muss. In dieser Perspektive wird der Begriff der ‚Post-Kinematografie‘ zuguns-ten einer Anschauung aufgebro-chen, in der die bekannten Charak-teristika der Medienimmanenz als Leitphänomene der bereits seit 1895 fortschreitenden (und schon früher ansetzenden) Mediatisie-rung unserer Lebenswelt begriffen werden. Anders gesagt: Die Be-obachtung, dass Filme a) in hybrid-mediale Strukturen integriert sind

und b) so eine reziproke Wechsel-beziehung zwischen medialer und soziokultureller Sphäre entsteht, kann in historischer Dimension nicht zu viel thematisiert und analy-siert werden.

Argumentiert im Sinne einer Performativität filmischer Auffüh-rung wird damit an Francesco Casettis Unterscheidung von „fil-mic experience“ und cinematic ex-perience“ angeschlossen (Casetti 2011). Entgegen Casetti jedoch wird am Beispiel des Filmsehens im Zug eine Phänomenologie fil-misch-performativer Erfahrung an-gestoßen, die sich von der cinephi-len Aufrechterhaltung eines hybri-den Kino-Dispositivs klar abgrenzt (Elsaesser 2010) und damit für eine wissenschaftliche Aufwertung filmischer Dispositive jenseits des Kinos plädiert. Als virulent für jenen Diskurs wird beispielsweise der fil-mische Raumbegriff von Laura Frahm (2010) begriffen, der ‚Raum‘ in einen Topologie-Topografie-Du-alismus transzendiert und damit ein dynamischeres und relationa-les Verhältnis von ‚Innen‘ und ‚Au-ßen‘ der Filmerfahrung zeichnet.

Im Rekurs auf mögliche Cha-rakteristika heutiger Medienimma-nenz (z.B. Simultaneität, Mobilisie-rung, Zerstreuung, Lokalisierung, Selektion) wird damit versucht, ‚fil-misches Aufführen‘ analytisch zu demaskieren und darzulegen, dass der Film sich schon immer im

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Spannungsfeld von kultureller Hyb-ridisierung bewegte. Argumentiert wird davon ausgehend, dass sich mittels der Frage nach Nähe und Distanz die erfahrungsbasierten Abstände nicht nur zwischen Schauanordnung und Betrach-ter*in, sondern ebenfalls die Rela-tion von Filmtext und kulturell co-diertem Zuschauerkörper hinsicht-lich der filmischen Erfahrung ge-nauer bestimmen lassen. Zu fra-gen wird sein, welche Funktionen Nähe und Distanz in einer solchen Diagnostik zukommen und wie eine Ausdifferenzierung beider Be-griffe dahingehend aussehen könnte. Damit soll diskutiert sein, inwiefern in einem Zeitalter „verteil-ter Aufmerksamkeit“ (Löffler 2014) die kinematografischen Diskurse zur Rezeptionsästhetik mittels der Berücksichtigung einer „Filmge-schichte der Zerstreuung“ neu ge-schrieben und analytisch wieder-belebt werden könnten.

Laura Katharina Mücke ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeite-rin am Institut für Filmwissenschaft und Mediendramaturgie der Jo-hannes Gutenberg-Universität Mainz und seit 2018 lehrbeauftragt an der Fachhochschule Mainz im Studiengang „Zeitbasierte Me-dien“; Studium der Filmwissen-schaft, Mediendramaturgie und Publizistik in Mainz mit Abschluss-arbeiten zum Mythosbegriff in der

Unzuverlässigen Erzählung und zur Textsemantik zwischen Raum und Körperchoreografie im Film. Dissertationsprojekt: Anti | Immer-sion. Zur Performativität filmischer Erfahrung zwischen Annäherung und Distanzierung; Forschungs-schwerpunkte: Historiografie des medialen Distanzbegriffs, (Anti-)immersive Wirkungsästhetik im (post-)kinematografischen Film, Filmphänomenologie.

Franziska Wagner, M.A. (Braun-schweig): „Distanz durch Nähe? Interdependenzen von Nähe und Distanz in Virtual Reality-Fil-men“ Virtual Reality- (VR-) Filme sind auf mehreren Ebenen durch das Zu-sammenspiel von Nähe und Dis-tanz geprägt. Mit Hilfe der VR-Brille und des 360° Eindrucks, wirkt es, als ob die Zuschauenden sich un-mittelbar im Raum befinden. Eine für die Rezipierenden wahrnehm-bare Distanz zwischen Bildschirm und Zuschauendenkörper ver-schwindet dementsprechend na-hezu. Die vermeintliche (räumli-che) Nähe zum filmischen Gesche-hen wird dabei nicht nur aufgrund der vorhandenen Wölbung um die Zuschauenden erzeugt, sondern darüber hinaus oft durch involvie-

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rende Strategien innerhalb der Die-gese verstärkt, die im Vortrag exemplarisch analysiert werden sollen. Diese Illusion der unmittel-baren Nähe wird jedoch nur so-lange aufrechterhalten, als die Zu-schauenden davon absehen, die Nähe zu den zu sehenden Objek-ten durch die Bewegung ihres phy-sischen Körpers, beispielsweise nach etwas zu greifen, aktiv auszu-testen. Ebendiese Situation kann insbesondere mit phänomenolo-gischen Ansätzen, u.a. von Sara Ahmed, kontextualisiert werden: „Distance is here the expression of a certain loss, of the loss of grip over an object that is already within reach, which is ‚losable‘ only inso-far as it is within my horizon” (Ah-med 2006). Demnach ist Distanz, verbunden mit einem Verlust der Greifbarkeit, auch im VR-Film erst seitens der Nähe zu den Objekten vermittelt in Form der Blicksteue-rung möglich. Das Einhalten von Distanz gelingt folglich nur, wenn die Objekte nahe genug an den Rezipierenden sind, d.h. sie durch die Bewegung des physischen Kör-pers in das Blickfeld ebendieser geraten. Somit wird beim VR-Film zwar einerseits eine möglichst große Nähe mit verschiedenen Strategien forciert, andererseits geht eine Art desorientierender Bruch der Illusion einher, wenn nicht genügend Distanz zu den vir-

tuellen Objekten besteht. Im Vor-trag soll das komplexe, vermeint-lich widersprüchliche Verhältnis fo-kussiert und um die Frage, in wel-chem Zusammenhang dies mit Körperlichkeit und (Des-)Orientie-rung steht, erweitert werden. Franziska Wagner ist Wissen-schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Hoch-schule für bildende Künste Braun-schweig. Dissertationsprojekt zu Konzeptionen und Beziehungen von Körperlichkeit(en), Ort(en) und Zeit(en) in Virtual Reality Filmen. Zuvor Studium der Medienwissen-schaft, englischen und amerikani-schen Literaturwissenschaft, Wirt-schaftswissenschaft und Germa-nistik an der Universität Bayreuth. Aktuelle Forschungsschwer-punkte: Virtual Reality-Filme, Phä-nomenologische Filmtheorie, Queer und Gender Studies, medi-ale Wirklichkeitskonstitutionen und -konstruktionen. Dr. Olga Moskatova (Weimar): „Taktilität und Visualität: Nähe und Distanz in post-kinemato-grafischen Kontrollgesellschaf-ten“ Zahlreiche medien- und filmwis-senschaftliche Theoriefiguren the-

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matisieren Nähe- und Distanzver-hältnisse als Spannungs- und Kippverhältnisse von Tast- und Sehsinn. Sie finden sich etwa pro-minent in Benjamins Kontrast zwi-schen Magier und Chirurg (1936), McLuhans Unterscheidung zwi-schen kalten und heißen Medien (1964) oder Laura Marks Dynamik zwischen optischer und haptischer Visualität (2002). Auch die post-ki-nematografischen Dispositive, die durch die Ko-Existenz von sehr kleinen, körpernahen und sehr gro-ßen Bildschirmen (Smartphone, Touch Screens, Computer etc. vs. IMAX, Medienfassaden etc.) ge-kennzeichnet sind, lassen sich in Rückgriff auf die Neukonfiguration von Taktilität und Visualität be-schreiben.

Im Vortrag werden Thesen zu dieser Neukonfiguration entlang der Filme MINORITY REPORT und Blade Runner 2049 sowie der Se-rie ELECTRIC DREAMS entwickelt, in denen postkinematographische Bildschirmtechnologien sowohl re- als auch premediatisiert werden (Bolter/Grusin 1999; Grusin 2010). In diesen Bewegtbildern wird das Post-Kinematographische nicht nur permanent in einen Konflikt zwischen Sehen und Tasten, Dis-tanz und Nähe involviert, sondern zugleich auch in Sicherheits- und Kontrollgesellschaften (Foucault 1978; Deleuze 1990) situiert. Dabei zeichnen die Filme ein Paradigma,

in dem – so die These – zuneh-mend der Tastsinn an die Stelle des überblickenden Sehsinnes zum bevorzugten Mittel der Kon-trolle und Überwachung wird. Vor diesem Hintergrund gilt es, die aisthetischen Nähe- und Distanz-verhältnisse auch auf die Überla-gerung und Divergenz mit räum-lich-temporaler, sozialer und emo-tionaler Nähe und Distanz zu befra-gen.

Olga Moskatova studierte Gesell-schafts- und Wirtschaftskommuni-kation an der Universität der Künste Berlin und an der Université Stendhal Grenoble 3. 2017 Promo-tion zum relationalen Materialis-mus in kameralosen Filmpraktiken an der Universität der Künste Ber-lin. Von 2012 bis 2018 wissen-schaftliche Mitarbeiterin am Inter-nationalen Kolleg für Kulturtechnik-forschung und Medienphilosophie (IKKM) und am Lehrstuhl für Medi-enphilosophie der Bauhaus-Uni-versität Weimar. Seit Oktober 2018 Juniorprofessorin für Medienwis-senschaften (Visualität und Bildkul-turen) an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.

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Dr. Bettina Henzler (Bremen): „Im Klassenzimmer: Zur Mise en Scène der Vermittlung“ Der Abstand zwischen Figuren ist nicht nur ein Ausdruck narrativer o-der psychischer

Konstellationen, sondern oft-mals auch sozialer Verhältnisse. Architekturen, Praktiken und Ver-haltensnormen regeln die Distan-zen, die Menschen einer Gesell-schaft zwischen verschiedenen so-zialen Schichten, zwischen den Geschlechtern, zwischen Bekann-ten und Fremden, zwischen Er-wachsenen und Kindern einneh-men (siehe bspw. Marschall 2006). Sie konstituieren Hierarchien, defi-nieren Formen der Annäherung und regulieren das Empfinden, wann eine Distanz angemessen ist, wann eine Nähe aufdringlich er-scheint.

Diese soziale Dimension des Abstands tritt unter anderem in Klassenzimmerszenen in den Vor-dergrund, in denen die räumlichen Beziehungen zwischen den Figu-ren in doppelter Weise determiniert sind: durch die Architektur, die spe-zifische Anordnungen der Körper vorgibt, und durch die Lehrfigur, die die Bewegungen der Schüler*in-nen innerhalb dieser Achitekturen regelt. Die Mise en scène dieser Distanzen reflektiert vielfach so-wohl die gesellschaftliche Ord-nung, das Bildungs-Dispositiv mit

seinen Diskursen, Institutionen, Praktiken, das sich im Klassenzim-mer gewissermaßen materialisiert, als auch die spezifische Vermitt-lungsbeziehung, die dazu in ein Spannungsverhältnis treten kann.

Die Mise en Scène von Klas-senzimmern stellt aber nicht nur die Beziehung von Lehrenden und Schüler*innen innerhalb einer ge-sellschaftlichen Konstellation dar, sondern organisiert im gleichen Zug auch die Haltung der Zu-schauer, die Distanzen, die wir zum Geschehen und seinen Prota-gonisten einnehmen. Auch hierbei kann sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was die Kamera nahe bringt, und der durch Archi-tektur und Lehrer vorgegebenen Vermittlungssituation einstellen. Winfried Pauleit hat dies mit dem Gegensatzpaar „Kinematograph und Zeigestock“ als eine Konkur-renz zwischen dem, was der Leh-rer im Film zeigt, und dem was der Film zeigt, oder anders gesagt: zwischen den Vermittlungsinstan-zen des schulischen und des filmi-schen Dispositivs, des Textes und des Bildes, bestimmt (Pauleit 2004).

Über diese Analogie zwischen Schülerfiguren und Zuschauern hinausgehend drängt sich gerade in Hinblick auf die filmische Organi-sation von Abständen noch eine weitere Analogie auf: zwischen der Figur des Lehrers/der Lehrerin,

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der/die die Bewegungen und Blicke der Kinder im diegetischen Raum organisiert, und der Regie oder der filmischen Mise en Scène. Das Me-dium Film wird dann nicht nur als subversives Gegenstück zu den im Klassenzimmer manifesten gesell-schaftlichen Machtverhältnissen, als alternative Vermittlungsinstanz lesbar, sondern als eines, dessen Produktionsprozesse selbst auf Machtbeziehungen zwischen Er-wachsenen und Kindern beruhen. Darüber hinaus tritt in dieser Be-trachtungsweise noch ein weiterer Aspekt des filmischen Abstands hervor, auf den Alain Bergala (1998, 2000) hingewiesen hat: Im Abstand zwischen Figuren, aber auch zu den Figuren, überlagern sich der filmische und der profilmi-sche Raum, spiegeln sich die Be-ziehungen zwischen Schauspie-lern, Regisseur*in und Kameraleu-ten in der Drehsituation.

In einer vergleichenden Ana-lyse der Mise en scène von Klas-senzimmerszenen aus dem fran-zösischen Kino der 1950er-1970er Jahre, u.a. École bussonière (Jean-Paul Le Chanois, 1949), Les quatre cent coups (François Truffaut, 1959), France tour détour deux enfants (Jean-Luc Godard, TV-Serie 1976), La maison des bois ( Maurice Pialat, TV-Serie 1971), werde ich diese verschiede-nen Aspekte der filmischen Distan-

zen als Ausdruck der Vermittlungs-beziehung und der gesellschaftli-chen Ordnung, als Reflexion der Rezeptions- und Produktionspro-zesse diskutieren. Bettina Henzler ist seit 2006 wis-senschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft–Filmwissenschaft–Kunstpädgogik der Universität Bremen mit den Schwerpunkten Filmwissenschaft und Filmvermittlung. Derzeit arbei-tet sie an dem DFG-geförderten Projekt „Filmästhetik und Kindheit“ mit dem Schwerpunkt französi-scher und europäischer Autoren-film. Parallel zu Wissenschaft und Lehre an der Universität ist sie seit 2000 freiberuflich im Bereich Film und Vermittlung tätig und koope-riert mit internationalen Institutio-nen der Filmkultur, u.a. ist sie Mit-glied des Advisory Board des 2017 gegründeten Film Education Jour-nal. Dissertation: Filmästhetik und Vermittlung (2013), Mit-Herausge-berschaften (Auswahl): Kino und Kindheit (2017), Vom Kino lernen (2010), Filme sehen, Kino verste-hen (2009).

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Michael Brodski, M.A. (Mainz): „Emotionale Nähe und Distanz zu Filmfiguren im Spannungs-feld der Kindheitsforschung“ Dieser Vortrag will verschiedene Möglichkeiten der Modellbildung eines als „erwachsen“ zu verste-henden Zuschauers erkunden. Eine solche Prämisse soll darauf-hin für die Analyse unterschiedli-cher Formen von emotionaler Nähe und Distanz gegenüber filmi-schen Kinderfiguren verwendet werden. Methodologisch soll dabei zunächst auf interdisziplinäre An-sätze aus der Kindheitsforschung (vgl. etwa Gubar 2009, Prout 2011) zurückgegriffen werden, um grund-sätzliche Definitionskategorien von Kindheit und dem daraus entsprin-genden Differenzkriterium des Er-wachsenseins auszuloten. Ver-schiedene realweltliche Formen von Nähe und Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen sollen in einem Folgeschritt wiederum mit Ansätzen aus der kognitiven Film-theorie transdisziplinär in Verbin-dung gebracht werden. In diesem Rahmen erscheint es insbeson-dere interessant, inwieweit etwa Sympathie sowie Empathie erzeu-gende Strukturangebote (vgl. Neill 1996, Smith 2017) auf eine ent-sprechende Inszenierung von Kin-derfiguren übertragen werden kön-nen. Um dabei reduktionistische Schlussfolgerungen zu vermeiden,

soll zusätzlich auf gegenwärtige Ansätze aus der Filmphänomeno-logie zurückgegriffen werden. Diese erweitern kognitive Metho-den durch hermeneutisch ausge-richtete Fragestellungen, um ge-rade anhand des Wechselspiels unterschiedlicher Formen emotio-naler Anteilnahme – einem ständi-gen Oszillieren zwischen Annähe-rung und Entfernung – dem Kino ein spezifisch ethisch-ästhetisches Erfahrungspotenzial zu attestieren (vgl. Stadler 2014, Sinnerbrink 2016). Gerade durch eine solche Verknüpfung sollen unter Berück-sichtigung eines erwachsenen Re-zipienten verschiedene zuschauer-theoretische Problemfelder (bei-spielsweise potenzielle Schnitt-punkte zwischen einem hypotheti-schen und einem empirischen Zu-schauersubjekt, vgl. Plantinga 2009) produktiv behandelt werden. Michael Brodski ist wissenschaft-licher Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am Institut für Filmwissenschaft, Thea-terwissenschaft und empirische Kulturwissenschaft. Er promoviert über das Thema „Rezeptionspro-zesse von Kinderfiguren und Kind-heit im Film“. Seine Forschungs-schwerpunkte sind Kindheitsfor-schung mit Schwerpunkt auf audi-ovisuelle Medien, ost- und mittel-europäischer Film sowie kognitive Filmtheorie.

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Dr. Sigrun Lehnert (Hamburg): „Räume der Berichterstattung: Nähe und Distanz durch die Kino-Wochenschau (1950-1965)“ Bis zur weitreichenden Etablierung des Fernsehens bot die Kino-Wo-chenschau die einzigen bewegten Bilder von aktuellen Ereignissen aus aller Welt. Die etwa zehnminü-tige Wochenschau wurde im Bei-programm vor dem Hauptfilm jeder Vorstellung gezeigt. Das Format war durch die Zusammenstellung der einzelnen Beiträge mit infor-mierenden und unterhaltenden Themen gekennzeichnet und jedes Sujet durch die Montage von Bild, Musik, Geräusch und Kommentar sorgsam komponiert. Die spezielle Ästhetik, die sich seit den 1910er-Jahren entwickelt hatte, entfaltete nur im Kino-Dispositiv ihr Beein-druckungspotential. Die Wochen-schau ging mit der Zeit: Auch neue Projektionstechniken wie Cine-maScope wurden genutzt, um bei den Zuschauern das ‚Gefühl des Dabeiseins‘ zu verstärken. Wäh-rend die Kinoleinwände wuchsen, wurde die Rezeption im privaten Raum wichtiger. Mit der Etablie-rung des Fernsehens wurde es für die Wochenschau wichtig, sich ab-zugrenzen und Produzenten pro-bierten eine Annäherung die Aus-führlichkeit des Dokumentarfilms aus. Das Publikum war jedoch an

die traditionelle Ausrichtung des Formats gewöhnt: eine vielfältige Mischung aus dem In- und Aus-land. Da die Wochenschauen in ei-nem internationalen Austausch von Filmmaterial standen, war es möglich, mit Reportagen Distanzen zu überwinden und sogar hinter den Eisernen Vorhang zu blicken. Die deutsche Spaltung zwang aber auch dazu, Abstand zu halten. Be-richte der westdeutschen wie der ostdeutschen Wochenschau zei-gen Politiker an der Berliner Mauer und in Reportagen wird die deso-late Situation von Grenzstädten entsprechend des Kalten Krieges anklagend demonstriert. Zu-schauer in anderen Regionen soll-ten von dem ‚Hüben und Drüben‘ erfahren.

Staatsbesuche, die stets proto-kollarisch genau abliefen, wurden durch die Filmberichte ebenso schematisch abgebildet. Das zeigt sich in der Verwendung von Ein-stellungsgrößen: Einem Überblick in ‚totaler‘ Einstellung (z.B. das Konferenz-Gebäude) folgen Auf-nahmen aus dem Konferenzraum mit Teilnehmern in halbtotaler Ein-stellung und einzelner Protagonis-ten in halbnah oder nah. Die Zu-schauer bleiben unbeteiligte Be-obachter, ganz anders die Kamera-männer: An den Aufnahmeorten mussten sich die Kameramänner ganz unterschiedlichen Herausfor-derungen stellen. Beispielsweise

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war es bei Schiffstaufen schwierig, die Superlative des Objektes abzu-bilden. Um nicht nur den majestäti-schen Bug in Untersicht zu zeigen, waren Kamerateams oft an aben-teuerlichen Orten platziert. Da sich Kameramänner auch gegenseitig filmten, wurden die Zuschauer an solchen ‚Abenteuern‘ beteiligt (Abb. aus Neue Deutsche Wo-chenschau Nr. 450 vom 12.09.1958). Dabei waren die Ka-meras in den 1950er-Jahren noch schwer, die Nutzung tragbarer Ge-räte ermöglichte aber bald spon-tane Aufnahmen mitten aus dem Leben und nahe an den Menschen (z.B. Interviews mit Straßenpas-santen). Die Zuschauer sollten sich ebenfalls mit den Protagonisten gespielter Szenen identifizieren, die ihnen humorvoll vorführen soll-ten, wie man Unfälle im Haushalt, am Arbeitsplatz oder im Straßen-verkehr vermeidet. Die Figuren-paare zeigen moralisch belehrend die Gegensätze, das Vorher und Nachher einer gefährlichen Situa-tion für sich selbst und andere. Im Beitrag soll aufgezeigt werden, welche Räume der ‚realen‘ Welt durch die Filmberichterstattung der Kino-Wochenschau konstruiert wurden, um dem Publikum eine Nähe zum Weltgeschehen oder ‚alltäglichen‘ Ereignissen zu ver-mitteln, und welche Rolle dabei Po-litik, nationale Identität und Technik spielten.

Sigrun Lehnert, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Hamburg, studierte Medien- und Kommunikationswis-senschaften am IJK Hannover. Die Promotion im Fach Medienwissen-schaft erfolgte an der Universität Hamburg zu „Wochenschau und Tagesschau in den 1950er Jahren“ (erschienen 2013 im UVK-Verlag). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Audiovisuelle Vermittlungs-strategien, Wochenschauen, doku-mentarischer Film und Fernsehdo-kumentarismus, digitale Archivie-rung und Filmerbe, weitere Infor-mationen auf: www.wochenschau-forschung.de. Letzte Publikation: „Advertising and Self-reference in the German Newsreel in 1950s / 1960s.“ In: Chambers, C., Jöns-son, M. & Vande Winkel, R. (eds.) (2018): Researching Newsreels: Local, National and Transnational Case Studies. Basingstoke: Pal-grave Macmillan, pp. 203-230. Dr. Nicole Kandioler (Wien) & Marion Biet, M.A. (Weimar): „Ex-zess und Verknappung. Tempo-rale Regime des Langzeitdoku-mentarfilms“ Exzess (Nähe) und Verknappung (Distanz) verstehen wir als Schlag-wörter einer Ästhetik/Poetik des Langzeitdokumentarfilms, die Fra-gen nach der Produktion (Drehma-terial und Zeitaufwand) sowie nach

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der Montage (Schnitt und Rhyth-mik) aufwerfen, die die kommuni-kative Konstellation zwischen Re-gisseur*in, Protagonist*in und Zu-schauer*in im Sinne einer Nähe- und Distanzrelation in den Blick nehmen. Das spezifische tempo-rale Regime des Langzeitdoku-mentarfilms mit seinen Auslassun-gen und Verdichtungen strukturiert das Verhältnis von Regisseur*in, Protagonist*in und Zuschauer*in. Im Falle des über 37 Lebensjahre einer Familie dokumentierenden Films PRIVATE UNIVERSE (CR 2013) von Helena Trestikova bei-spielsweise können mit Punkt 3 des Calls Aspekte des "temporalen Regimes des Dispositivs" Lang-zeitdokumentarfilm diskutiert wer-den: die Kommunikationsstruktu-ren zwischen Regisseurin und Pro-tagonisten, die Frequenz und die Organisation von Drehtagen über einen Zeitraum von fast 40 Jahren, die Zeiträume und Orte der Rezep-tion sowie "intendierte und nicht in-tendierte Rezeptionspausen" und die filmischen Formate des Lang-zeitdokumentarfilms (vom Kino-langspielfilm zur TV-Serie).

Der Langzeitdokumentarfilm in-teressiert uns aber nicht nur als rein formales Dispositiv, sondern auch als filmisches Medium an der Grenze von Wissenschaft und Kunst. Historisch kommt die Lang-zeitbetrachtung aus der Psycholo-gie (Langzeitstudien), woher sie

auch ihre iterative Methode be-zieht. Dadurch oszilliert sie zwi-schen dem Mikro- und dem Makro-skop, sowie dem Sozialen und dem Privaten. Anhand verschiedener Beispiele aus dem europäischen Raum (Frankreich, Schweiz, Tschechien, England) werden wir die doppelte Bewegung des Lang-zeitdokumentarischen aufzeigen: einerseits die Konstruktion eines Nahverhältnisses zu einzelnen Protagonist*innen über einen mehrjährigen Raum, andererseits der distanzierende Blick auf soziale Machteffekte. Nicole Kandioler, Studium der Romanistik, Slawistik und Theater-wissenschaft in Wien und Krakau. Seit 2004 Anstellungen Universität Wien, Université de Rouen, Univer-siteit van Amsterdam, Bauhaus-Universität Weimar und Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dis-sertation (Abschluss 2017): (Mis-)Framing Nostalgia. Double Fea-tures aus dem (post-)sozialisti-schen Film und Fernsehen. Der-zeit: Univ.-Assistentin post-doc am tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Univ. Wien. Forschungsschwerpunkte: osteuropäische Film und Fernseh-theorie und -geschichte; Medien-kulturen und Postkolonialismus, -sozialismus; Dokumentarfilm, Gen-der Media Studies.

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Marion Biet, binationales BA und trinationales MA-Studium der Me-dien- und Filmwissenschaft an der Université Lumière Lyon 2, der Bauhaus-Universität Weimar und der Universiteit Utrecht. Hoch-schulpreis 2016 der Fakultät Me-dien (Bauhaus-Universität Wei-mar) mit der Bachelorarbeit: „Die Aura im Zeitalter des Festivals“. Masterarbeit auf Französisch (Ab-schluss 2018): „Mit Hilfe des lon-gitudinalen/Lanzeitdokumentarfilm das Leben aufzeichnen und über-denken“. Seit 2017: wissenschaftli-che Mitarbeiterin an der Junior-Professur für Europäische Medien-kultur an der Bauhaus-Universität Weimar. Forschungsschwer-punkte: Filmpraxis, Lebensphiloso-phie, Langzeitdokumentarfilme, European Studies, Festivalfor-schung.