Programmmagazin der FNF 01/2013

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www.freiheit.org Friedrich Naumann STIFTUNG FÜR DIE FREIHEIT Wie modern ist unsere Demokratie? Herfried Münkler Die Zukunft der Demokratie Norbert Bolz Im Interview über den Zustand der parlamentarischen Demokratie, unsere Meinungsfreiheit und die Marke Politik Jan Fleischhauer Medien und Politik – eine professionelle Reflexion 1/2013 Programm

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Programmagazin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

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www.freiheit.org

Friedrich NaumannS T I F T U N G FÜR DIE FREIHEIT

Wie modern ist unsereDemokratie?

Herfried MünklerDie Zukunft der Demokratie

Norbert Bolz Im Interview über den Zustand derparlamentarischen Demokratie, unsereMeinungsfreiheit und die Marke Politik

Jan FleischhauerMedien und Politik –eine professionelle Reflexion

1/2013Programm

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Liebe Leserinnen und Leser,

Mancher Abgeordnete besitzt sicher jenes Buch des Soziologen Max Weber mitdem Titel „Politik als Beruf“ – ein Vortrag, den Weber im Jahr 1919 in Münchengehalten hat. Die Monarchie hatte gerade versagt, der Kaiser war ins Exil gegangen.In diesem Moment der totalen Krise versuchte Weber das realistische Bild einesBerufspolitikers zu entwerfen, wie ihn ein demokratisches Deutschland braucht.Der Text fasziniert auch heute ungebrochen, weil er einerseits von der Leidenschaftzur Politik als Berufung handelt und zugleich nüchtern und rational Politik alsBeruf thematisiert. Gesinnungs- und Verantwortungsethik – der große Realist MaxWeber verwehrte sich schon damals sowohl gegen die Demokratieverachtung deraltbewährten Eliten als auch gegen die politische Romantik revolutionärer Utopien.Im Grunde würde Max Weber heute ähnlich argumentieren, um die parlamenta-rische Demokratie gegen gefühlte Politikverdrossenheit und Krisendiagnostik zumTrotz zu verteidigen. Obwohl die Strukturen unserer parlamentarischen Parteien-demokratie heute gefestigt erscheinen, unsere Krisen eine ganz andere Qualitäthaben und die Gestaltungsmöglichkeiten so groß sind wie nie zuvor, tun sich vieleBürger damit schwer. Paradox: Während die Piraten-Partei eine andere Mitbe-stimmung gegenüber den etablierten Parteien thematisiert, wird gerade diese ge-forderte Beteiligung in Form von Volksabstimmungen, wo bereits angeboten, vonerstaunlich wenigen wahrgenommen.

Das kommende Wahljahr 2013 nehmen wir zum Anlass, genauer hinzuschauen,wie es um die parlamentarische Demokratie bestellt ist. Professor Herfried Münkleranalysiert im Leitartikel die strukturelle Krise, der sich die Demokratie aktuell ge-genübersieht. In einem Pro und Contra beziehen Patrick Döring, FDP-Generalse-kretär, und Johannes Ponader, Geschäftsführer der Piratenpartei, Stellung zurtraditionellen Delegiertendemokratie und den Neuen Medien in der politischenWillensbildung. Außerdem werfen wir einen kritischen Blick auf das Kommunika-tions- und Markenmanagement der Parteien und das Spannungsfeld Politik undKapitalmarkt. Der SPIEGEL-Kolumnist Jan Fleischhauer macht sich Gedanken überdie Wechselbeziehung zwischen Medien und Politik, während der Medienwissen-schaftler Professor Norbert Bolz im ausführlichen Interview die „Politik der Alter-nativlosigkeit“ kritisiert. Wer von vornherein die Auswahlmöglichkeiten auf eineOption reduziert, verhindert Debatten über gesellschaftlich relevante Themen. Ganzin diesem Sinne wünsche ich Ihnen auch bei diesem Heft eine anregende Lektüre.

Dr. h. c. Rolf BerndtGeschäftsführendes Vorstandsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Jan Fleischhauer Medien und Politik –eine professionelle Reflexion

Prof. Herfried Münkler Die Zukunft der Demokratie

Prof. Norbert Bolz Im Interview über den Zustand der parlamentarischen Demokratie, unsere Meinungsfreiheit und die Marke Politik

StandpunktePatrick Döring / Johannes Ponader Delegiertendemokratie versusOnlinedemokratie

Wolfram Sauer Ein Update für die Demokratie –Soziale Medien im Wahljahr 2013

Prof. Dr. Michael Hüther Zwei, die sich nicht verstehen: Politik und Kapitalmarkt

Christoph Bieber Politische Kommunikation und Markenpflege im digitalen Zeitalter

Lesetipps

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Editorial

Programm 1/2013

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Seit ich Journalist bin, also seit etwa 25 Jah-ren, höre ich, dass es mit dem Journalismusbergab geht. Was die Anzeigensituationangeht, sieht es in der Tat nicht sehr rosigaus, da wünscht man sich als Journalisteine deutliche Besserung. Aber das meinendie Kritiker nicht. Ihre Klage richtet sichauf die innere Verfassung der Branche. Wo-hin sie blicken, sehen sie Entpolitisierungund Verflachung. Verfallszeichen überall:Da will der Chefredakteur der „Zeit“ demLügenbaron von Guttenberg per Interviewwieder aufs Pferd helfen. Der begehrteHenri-Nannen-Preis geht, Gott steh unsbei, an die „Bild“-Zeitung und der „Spiegel“hat zum 30. Jahrestag der KanzlerwerdungHelmut Kohls nichts Besseres zu tun, alsdessen private Tragödie zu beleuchten, an-statt sich noch einmal im Detail die Spen-denaffäre vorzunehmen. Vielleicht ist diemoralische Krisendiagnostik unvermeidlichin einem Milieu, in dem viele Menschendavon leben, anderen hauptberuflich dieLeviten zu lesen.

Tatsächlich gibt es wenig Grund, sich umden Qualitätsjournalismus Sorgen zu ma-chen. Man kann sogar mit gutem Grundsagen, dass es um ihn heute deutlich bes-ser bestellt ist als noch vor 20 Jahren. WennUnabhängigkeit und Distanz wichtige Kri-terien sind, dann haben sich die Dinge je-denfalls eindeutig zum Positiven gewen-det. Es ist noch nicht lang her, dass man-che Politiker und Journalisten mediale In-teressengemeinschaften bildeten, dass mansich duzte und gemeinsam in den Urlaubfuhr. Auch deshalb ist vielen der Umzugvon Bonn nach Berlin ja so schwer gefal-len, in diese große Stadt, wo es so zugigund unpersönlich zugeht und man einan-der gar nicht mehr richtig kennt. Auf derVerabschiedung eines geschätzten Kolle-gen hat ein Vertreter dieses Duz-Korpora-tismus vor ein paar Jahren im Rückblick dieschöne Formel gefunden: „Nähe erspartUmwege.“ Nicht alles, was dem Journalis-ten das Leben leichter macht, muss aller-dings den Interessen seiner Leser dienen.

Jan Fleischhauer

Medien und Politik –eine professionelle Reflexion

Nähe erspart nicht nur Umwege, sie hatauch den weniger erfreulichen Nebenef-fekt, dass sie korrumpiert. Die Währung, inder Journalisten für Informationen zahlen,sind Aufmerksamkeit und Schmeicheleien.Ich frage mich manchmal, wann es diesegoldene Zeit des politischen Journalismus,von dem ständig die Rede ist, wohl gege-ben haben mag. Sind die Kanzlerjahre mitHelmut Kohl gemeint, der allen aufgeklär-ten Menschen als ausgemachter Tor galt,den ein historischer Unfall ins Kanzleramtgespült hatte? Oder die Wiedervereinigung,als die gesamte linke Presse auf dem fal-schen Fuß erwischt wurde und dann hek-tisch den Ereignissen hinterherschrieb?Wahrscheinlich lag diese goldene Zeit inden späten Sechzigern, als die gute Bun-desrepublik entstand. Dass 1968 die eigent-liche Staatsgründung erfolgte, für die wirnoch immer dankbar sein dürfen, ist einMythos, der in den gehobenen Kreisen bisheute gepflegt wird. Und gegen Mythen istbekanntlich kein Kraut gewachsen.

Jan Fleischhauer ist Autor und Kolumnist des SPIEGEL. Vor kurzem erschien bei Rowohlt sein Buch „Der Schwarze Kanal – was Sie schon immer von Linken ahnten, aber nicht zu sagen wagten.“ (224 Seiten; 12,90 Euro)

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Schon Tomasi di Lampedusas Leopardwusste, dass sich vieles ändern muss, da-mit alles so bleiben kann, wie es ist. Dabeiging er davon aus, dass der bestehende Zustand im Wesentlichen gut war. Der Ver-änderungsbedarf erwuchs also nicht ausdem Zustand selbst, sondern aus dessensich wandelnden Rahmenbedingungen.Man kann dies als liberal-konservativeWeltsicht bezeichnen: Während die pro-gressiv-reformerische Politikperspektive einIdeal kennt, dem die realen Verhältnissenähergebracht werden sollen, konzentriertsich die liberal-konservative Sicht auf dieGefährdungen des Erreichten.

Der Wettbewerb der politischen Parteienbeginnt mit der Frage, welche von beidenSichtweisen den Wählern plausibler ist.Erst danach geht es um die Frage, welcheVorschläge die Parteien machen, um ihreSicht in praktische Politik umzusetzen.

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Prof. Herfried Münkler

Seit gut einem Jahrzehnt geht die Sorgeum, die westlichen Gesellschaften seien ineine postdemokratische Ära eingetreten, inder die parlamentarische Demokratie einerallmählichen Erosion ausgesetzt ist. Nun istdiese Sorge eigentlich nicht neu; im Prin-zip begleitet sie die Demokratie seit ihrenAnfängen. Aber während es früher politi-sche Gruppen waren, die als Bedrohung derdemokratischen Ordnung identifiziert wur-den, geht es nunmehr um strukturelle Ent-wicklungen. Beides sollte weder miteinan-der vermischt noch verwechselt werden.Politische Gegner der Demokratie, oligar-chische Gruppen oder Anhänger einer Dik-tatur kann man bekämpfen.

Der Herausforderung durch strukturelle Ver-änderungen muss man anders begegnen:Hier muss sich die Demokratie selbst ver-ändern, um sich als maßgebliche politischeOrdnung behaupten zu können.

„Alternativlosigkeit ist das politische Aus für die parlamentarische Demokratie.“

Die Zukunft der Demokratie

Herfried Münkler ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte. Er lehrt als Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Das kam der Demokratie zugute: Wo manBedenk- und Beratungszeit brauchte, nahmman sie sich, und wo es keine klaren Mehr-heiten oder zu große Ungewissheiten gab,schob man Entscheidungen auf. Das ist invielen Fragen nach wie vor möglich. Dochin Fragen der Fiskalpolitik hat sich das imZeitalter der Globalisierung geändert. Un-glücklicherweise sind die damit verbunde-nen Fragen und Probleme die wichtigsten,und sie verlangen in wachsendem Maßeschnelle Entscheidungen oder aber Ab-sprachen, die auf Regierungsebene getrof-fen werden.

Das Parlament als das Zentrum der demo-kratischen Ordnung gerät damit ins Hin-tertreffen. Und wenn es dann doch nocham Politikprozess beteiligt wird, kann eszumeist nur abnicken, was die Exekutivefestgelegt hat. Das war in außenpoliti-schen Fragen schon immer der Fall; jetztaber betrifft es das Staatsbudget und da-mit den Kern der parlamentarischen Ord-nung. Die parlamentarische Demokratie, soder zweite Punkt, wirkt als Komplexitäts-reduzierer: Die Fülle der politischen Optio-nen wird von ihr auf große Alternativenreduziert, die dann von Regierung und Op-position in Konkurrenz zueinander vertre-ten werden. Das verschafft Übersichtlich-keit, Klarheit und damit Entscheidungs-

fähigkeit – auch und gerade für die Wäh-ler, die sich nicht permanent mit politi-schen Fragen beschäftigen können und wol-len. So sorgt der Gegensatz von Regierungund Opposition für die Beteiligung einergroßen Mehrheit des Volkes am Politikpro-zess. Durch ihn werden komplizierte Sach-fragen in politische Fragen transformiert,und diese sind dadurch gekennzeichnet,dass im Prinzip jeder darüber befinden undentscheiden kann. Die jüngste Karriere desBegriffs „alternativlos“ zeigt, dass dieseOrdnung bedroht ist: Alternativlosigkeit istdas politische Aus für die parlamentarischeDemokratie.

Der Wettkampf der Parteien, auf diese zweineuen Herausforderungen Antworten zufinden, ist der vielleicht nicht spektaku-lärste, aber vermutlich wichtigste Teil desWahlkampfs. Es ist dies keine Auseinan-dersetzung über Politikfelder (policies), aufdenen üblicherweise Wahlkämpfe ausge-tragen und entschieden werden, sondernein Wettbewerb um die Rahmenbedingun-gen demokratischer Politik (polity). Der setztbei den Bürgern eine erhebliche Urteilsfä-higkeit voraus und wird darum nur für ei-nen Teil von ihnen entscheidungsrelevantsein. Umso wichtiger ist es, hier Alternati-ven zu entwickeln, die eine intensive De-batte in Gang bringen.

Weil das jedoch eine sehr viel größere undschwierigere Aufgabe ist als die Bekämp-fung politischer Feinde, neigen viele dazu,die neuen Herausforderungen in der alten

Manier personifizierbarer Feindschaft zubeschreiben und vermutlich auch so zudenken. Damit soll nicht bestritten werden,dass Manager- und Bankerboni ein Ärger-nis und eine Provokation darstellen, aberdas Hauptproblem, um das es bei der Dia-gnose von der Postdemokratie geht, sind siemit Sicherheit nicht. Die eigentliche post-demokratische Herausforderung umfasstzwei Elemente, die nicht so ohne weiteresin ein Pro- und Contra-Schema zu bringensind. Da ist zunächst das Problem der Tem-poralstrukturen: Der klassische Territorial-staat besaß die Fähigkeit, den zeitlichenAblauf politischer, sozialer und ökonomi-scher Prozesse seinen eigenen Bedürfnis-sen gemäß zu gestalten. Allenfalls in Kriegs-zeiten war er in Fragen der Be- und Ent-schleunigung nicht sein eigener Herr. Frie-denszeiten waren mithin dadurch definiert,dass man sich mit Entscheidungen Zeit las-sen konnte.

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Die Funktionsweise der parlamenta-rischen Demokratie wird derzeit durchdie wiederholte Verkündung der „Alternativlosigkeit“ in Frage gestellt,wie beim Sparkurs oder den EU-Hilfenfür Griechenland. Ist das Wahlvolküberhaupt noch beteiligt an diesenEntscheidungen?

Mit Sicherheit nicht. Gefragt wird es for-mal nach wie vor, da es immer noch tur-nusgemäß Wahlen gibt. Die haben nachwie vor eine gewisse Sanktionsgewalt,aber sachliche Beiträge zur politischen Dis-kussion kann das Publikum schon langenicht mehr leisten. Das wird von den Fach-leuten bestimmt und die bewegen sich im

Bereich der professionellen Politik. Der po-litische Diskurs wird in eine endlose Talk-show verwandelt mit der Folge, dass sichdie Bürger nicht mehr mit den großen po-litischen Themen auseinandersetzen kön-nen – man traut es ihnen nicht mehr zu.An Stelle der sachlichen Auseinanderset-zung ist die rein emotionale Bewertunggetreten. Die härteste dieser Bewertungliegt natürlich im Ressentiment. Sehr vielPolitik, die heute betrieben wird, ist Res-sentiment-Politik. Ihr Stichwort, auf dasfast alle hören, ist sozial, wie soziale Ge-rechtigkeit. Beide Wertbereiche werden da-durch bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Wirwären gut beraten, die Frage, was ist Ge-rechtigkeit, heute wieder zu stellen undeinen Begriff des Sozialen zu entwickeln,der unserer Gegenwart angemessener ist.

Könnten durch Methoden wie Liquid Democracy wieder mehr Bürger beteiligt werden?

Nein. Liquid Democracy ist eine tolle Ideeund vor allem eine tolle technische Mög-lichkeit. Aber man sollte keine Sekundedaran glauben, dass damit eine Art radikaldemokratische Kollaboration möglich wäre.Gerade in Netzwerken gilt, was Spezialis-ten „power-law“ oder „Pareto-Verteilung“nennen: Einige wenige beherrschen dieganze Szene. So ist es natürlich auch beiLiquid Democracy: Einige wenige Aktivis-ten erzeugen den Anschein, das Volk wür-de diskutieren. Am Grundproblem, dass dergrößte Teil der Bevölkerung sich nur emo-tional an politischen Fragen beteiligt, wirddas aber überhaupt nichts ändern.

Professor Norbert Bolz über den Zustand der parlamentarischen Demokratie, unsere Meinungsfreiheit und die Marke Politik

„Wir haben es mit einer tiefen Strukturkrise der parlamentarischen Demokratie zu tun.“

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Sie haben 2010 im Focus einen Artikelüber den Zustand der Meinungsfreiheitin Deutschland geschrieben. Die Bürgerfolgten nur noch dem Diktat der „poli-tisch korrekten Besinnung“. Politicalcorrectness und Emotionalisierung –beides bringen die Massenmedien hervor.

Der Normalkontakt mit politischen Themenfindet nur noch auf der Gefühlsoberflächestatt. Dazu gehört, dass wir zunehmendkomplexe politische Fragen durch Morali-sieren platt schlagen. Das Moralisieren istdie Technik der großen Vereinfachung, diein den letzten Jahrzehnten einen strengenSprachkodex bekommen hat, den man po-litische Korrektheit nennt. Zumal die Welt,je komplexer sie wird, umso mehr sugge-riert: Wir brauchen die ganz einfache Lö-sung – „simplify your life“. Genau dasselbeempfiehlt man mittlerweile auch den Men-schen im Umgang mit politischen Fragen.Diese Tendenz zur Moralisierung und zurEmotionalisierung in den Massenmedienmacht es unwahrscheinlich, dass wir noch-mal einen sachlichen Bürgerdiskurs überdie großen politischen Fragen haben wer-den. Gerhard Schröder hat das Geheimnisder Gegenwartspolitik deutlicher ausge-sprochen als es der politischen Klasse liebwar, als er sagte: „Zum Regieren braucheich nur Bild, BamS und Glotze.“

Komplexe Probleme müssen verein-facht werden, um sie diskussions-fähig zu machen.

Ja, allerdings darf die Vereinfachung nichtenden in der berühmten TINA-Formel, diedie Davos-Teilnehmer erfunden haben: ThereIs No Alternative. „Es gibt zu dieser Politikkeine Alternative" ist der Inbegriff des Un-demokratischen selbst. Es gibt leider Lieb-haber dieses Denkens bis hinein ins Bun-deskanzleramt. Hier müsste unsere Kritikansetzen: Demokratie heißt prinzipiell, esgibt bei jeder Frage eine Alternative.

Wird Politik infolgedessen nur noch alsMarke verkauft? Wo bleiben die Inhalte?

Es gibt längst ein Branding der Politik, eineSchaufensterabteilung, die nur noch Mar-keting macht. Auf der anderen Seite gibtes die Leute mit den Aktenkoffern, die hin-ter verschlossenen Türen die realen Pro-zesse katalysieren. Das Ganze wird verkauft,als gäbe es so etwas wie Marken in der Po-litik. Das sind weniger die Parteien, die dif-fus sind in ihrem Erscheinungsbild, son-dern vor allem die Spitzenpolitiker, die wieMarkenartikel behandelt werden.

Ist die parlamentarische Form im Um-kehrschluss überhaupt noch angemessen?

Nein, eben nicht. Der wichtigste Punkt istder, dass es keine politische Diskussion imParlament mehr gibt. Wir haben uns längstmit Dingen abgefunden, die katastrophalsind wie Fraktionszwang oder die Be-schränkung der Redefreiheit. Wenn wirjetzt überdies in einer Welt leben, in derdie Entscheidungen so schnell getroffen

werden müssen, dass das Parlament über-gangen werden muss und dies ausgerech-net die allerwichtigsten Entscheidungensind, dann haben diejenigen in der Exeku-tive dafür gesorgt, die diese Entscheidun-gen treffen. Wir haben es mit einer tiefenStrukturkrise der parlamentarischen De-mokratie zu tun, aber uns fehlt es an poli-tischer Imagination, um einen Gegenent-wurf durchzuprobieren. Deshalb bin ichpersönlich sehr viel näher an den Piratenals die meisten anderen, weil ich da we-nigstens eine Idee sehe, die eben auch aufeiner Medientechnik fußt, die neu ist. Dasage ich den anderen: Bringt erst mal eineandere Idee.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Meike Naber. Dasausführliche Interview mit Professor Nor-bert Bolz, unter anderem auch zu Fragendes Brandings in der Politik, zu wirtschaft-lichen Akteuren und zur Crux der Alterna-tivlosigkeit, lesen Sie auch in der Dezem-ber-Ausgabe (4/2012) von „liberal“.

Norbert Bolz ist Medien- und Kommunikationstheoretiker sowie Designwissenschaftler. Er lehrt als Professor für Medienwissenschaften an der TU Berlin.

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Theodor Heuss, der erste Bundespräsidentder Bundesrepublik Deutschland, nannteim Vorfeld der Verabschiedung unseresGrundgesetzes einst direktdemokratischeElemente „eine Prämie für jeden Demago-gen und die dauernde Erschütterung desmühsamen Ansehens, worum sich die Ge-setzgebungskörper, die vom Volk gewähltsind, noch werden bemühen müssen, umes zu gewinnen". Unter dem Eindruck undden Erfahrungen aus der Weimarer Repu-blik und der Nazidiktatur gaben uns dieVäter unseres Grundgesetzes deshalb dierepräsentativ verfasste Demokratie mit aufden Weg.

Nun haben sich die Zeiten verändert undauch Deutschland. Der technische Fort-schritt eröffnet uns neue und schnelle Mög-lichkeiten direkter Partizipation. Wir müs-sen uns gemeinsam darüber klar werden,wie man den neuen Entwicklungen und demstärker werdenden Wunsch der Menschen,sich mehr und direkter zu beteiligen, ge-recht werden kann. Trotzdem ist es an derZeit, einmal grundsätzlich für die repräsen-

tative Demokratie unserer Verfassungsvä-ter eine Lanze zu brechen. Denn nebenihrer Lebenserfahrung mit dem dunkelstenKapitel Deutscher Geschichte wussten sievor allem um eines: die Komplexität einerpluralistischen Gesellschaft und damit ei-ner pluralistischen Demokratie.

Eine pluralistische Demokratie ist auf Kom-promissfindung ausgelegt. Deshalb ist esnicht immer möglich, komplizierte Sach-verhalte auf ein Ja oder ein Nein zu redu-zieren. Politik ist mehr als ein binärer Code.Deshalb muss im großen Gespräch der De-mokraten zwischen verschiedenen Positio-nen abgewogen und vermittelt werden. Einsolches Gespräch braucht faire Regeln undein verlässliches und festes Verfahren, da-mit Vertrauen entstehen kann und ein Dia-log über alle politischen und gesellschaftli-chen Ebenen hinweg möglich wird. UnsereVerfassungsväter verpflichteten deshalbdie deutschen Parteien darauf, diesem Ge-spräch der Demokraten einen Rahmen zugeben. Die Parteien wirken an der Willens-bildung des Volkes mit.

Die Parteien haben im Geiste unserer Ver-fassung einen größeren Auftrag als die For-mulierung politischer Programme. Sie sindmehr als ein bloßer Machtmechanismus.Sondern sie haben die Aufgabe, an der Wil-lensbildung der Bürgerinnen und Bürgermitzuwirken. Und das bedeutet notwendi-gerweise auch: politische Ideen, Diskussio-nen und Programme für jedermann erfahr-bar zu machen. Aus dem Verfassungsauf-trag erwächst eine Bringschuld der Partei-en zur politischen Beteiligung und Infor-mation.

Deshalb sind moderne Beteiligungsinstru-mente ohne Frage ein wertvolles Mittel,die den Auftrag der Parteien, an der Wil-lensbildung des Volkes mitzuwirken, we-sentlich bereichern. Aber man darf dabeinicht übersehen: Diese Beteiligungsinstru-mente sind attraktiv für eine Informations-und Wissenselite. Sie sind kein Ersatz füreine öffentliche, gelebte und menschlicheDemokratie, wie sie in Parlamenten undParteitagen für jedermann sichtbar wird.

Denn unabhängig von dem Inhalt, der Form,der Dauer und dem Ziel einer politischenAuseinandersetzung: Politik lebt von der In-teraktion zwischen Menschen. Der Menschist ein politisches Wesen. Und umgekehrtist die Politik ein sehr menschliches Ge-schäft. Eine rein virtuelle Politik wäre amEnde auch eine unmenschliche Politik. Abervor allem würde eine rein virtuelle Demo-kratie sich weiter von den Bürgern entfer-nen. Denn Parlamente und Parteien sind imbesten Sinne gleichzeitig Bühne und Rah-men für den öffentlichen Diskurs. Auf die-ser politischen Bühne werden Ideen, Kon-flikte und Personen in einer Weise mensch-lich, öffentlich und greifbar, die es in derAnonymität des Internets so nicht gebenkann. Deswegen gilt: Neue Beteiligungs-formen können unsere repräsentative De-mokratie bereichern. Aber sie können sienicht ersetzen.

Patrick Döring

StandpunktDelegiertendemokratie versus Onlinedemokratie

Patrick Döring studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hannover. Im April 2012 wurde er auf dem Bundesparteitag der FDP in Karlsruhe zum Generalsekretär gewählt.

„Eine rein virtuelle Politik wäre am Ende auch eine unmenschliche Politik.“

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Die repräsentative oder parlamentarischeDemokratie bringt eine lange – und dort, wosie gegen Angriffe wirksam verteidigt wur-de – grundsätzlich erfolgreiche Geschichtemit sich. Beliebig große Gruppen könnendemokratisch und gleichberechtigt ihrepolitische Entscheidungsgewalt an Reprä-sentanten delegieren, die die Interessenaller Beteiligten wahrnehmen und stellver-tretend einen politischen Ausgleich her-stellen. Damit das möglich wird, wird derAbgeordnete im Regelfall finanziell frei-gestellt und ist – ganz wichtig – nur seinemGewissen verpflichtet.

600 Repräsentanten finden natürlich leich-ter gemeinsame politische Kompromisseals 80 Millionen Menschen – dies ist dergroße Vorteil der repräsentativen Demo-kratie. Die Reduzierung der Komplexität aufeine im Vergleich zur Wählerschaft über-schaubare Zahl von Abgeordneten bringtjedoch auch Nachteile mit sich. Fraktions-zwänge und die Gefahr der Beeinflussungdurch Lobbyisten sind nur zwei Aspekte,die die freien und für das Gemeinwohlsinnvollen Entscheidungen der Abgeord-

neten einschränken können. Eine Antwortdarauf ist die direkte Demokratie, die aller-dings in größeren Gruppen aufwändig unddaher für das politische Tagesgeschäft un-geeignet ist. Zudem führt eine permanenteBeteiligung aller an tagespolitischen Ent-scheidungen dazu, dass Menschen, die diehierfür notwendige Zeit nicht aufbringenkönnen, diskriminiert und im Extremfall vomdemokratischen Prozess komplett ausge-schlossen werden.

Die so genannte „Flüssige Demokratie“ hebtdiesen Widerspruch auf. Je nach persön-licher Situation oder Präferenz kann ichdabei meine politischen Entscheidungenselbst treffen oder an eine beliebige an-dere Person delegieren. Während der De-legierte meines Vertrauens mich im Tages-geschäft vertritt, kann ich bei für mich be-sonders bedeutsamen Entscheidungen je-derzeit eingreifen und selbst abstimmen.Ebenso kann ich meine Delegation stetsauf einen anderen Repräsentanten umlen-ken oder auch, je nach Themengebiet, aufunterschiedliche Experten delegieren.

Solch komplexe Delegations- und Ent-scheidungsprozesse lassen sich allerdingsin größeren Gruppen mit herkömmlichenMitteln nicht mehr abbilden. Mit Hilfe vonTools der Online-Demokratie, wie sie unteranderem die Piratenpartei einsetzt, könnendiese Prozesse jedoch realisiert werden.

Dabei werden die Vorteile beider Verfahrenkombiniert. Online-Demokratie eröffnetneue Möglichkeiten der Partizipation undMitbestimmung, die weder die repräsen-tative noch die direkte Demokratie für sichalleine anbieten können. Werden Tools derOnline-Demokratie beispielsweise einge-setzt, um Parlamentariern Abstimmungs-empfehlungen der Basis mitzuteilen, dannkann dadurch eine breite diskriminierungs-freie und kontinuierliche Beteiligung er-reicht werden, ohne die grundsätzliche Frei-heit des Mandats anzugreifen. Solche Pro-zesse sind in mehreren Landesverbänden,in denen die Piraten im Parlament vertre-ten sind, bereits in mehr oder weniger ex-perimenteller Form implementiert und wer-den auf Grundlage der gemachten Erfah-rungen stetig angepasst und verbessert.

Wichtig ist zum Beispiel, dass die Online-Demokratie immer durch analoge Prozessebegleitet wird, die sicherstellen, dass das,was im Computer stattfindet, nachvoll-ziehbar bleibt. Durch eine Verifikation derbeteiligten Personen im echten Leben undvon allen Beteiligten nachvollziehbareAbstimmungen wird gewährleistet, dassaus dem Online-Tool kein manipulierbarerWahlcomputer wird, der als undurchsich-tige Black-Box zwar eine hohe Beteiligungvorspiegeln würde, möglicherweise jedochunbemerkt undemokratische Ergebnisseausspucken könnte.

Johannes Ponader

StandpunktDelegiertendemokratie versus Onlinedemokratie

Johannes Ponader ist freischaffender Schauspieler, Regisseur und Autor. Seit 2012 ist Johannes Ponader politischer Geschäftsführer der Piratenpartei Deutschland.

„Online-Demokratie eröffnetneue Möglichkeiten der Partizi-pation und Mitbestimmung.“

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Ein Update für die Demokratie –Soziale Medien im Wahljahr 2013Ehemals Nischentheater, werden sich imWahljahr 2013 das Internet und insbeson-dere die sozialen Netzwerke zu einer derHauptbühnen des Politikbetriebs entfalten.Die Erfahrungen in den USA zeigen: Werdas erkennt und zu seinem Vorteil zu nut-zen versteht, hat die Nase vorn.

Das Internet und die sozialen Medien sindheute ein fester Bestandteil unseres All-tags. Die zunehmende Digitalisierungnimmt Einfluss auf Gesellschaft, Wirt-schaft und nicht zuletzt die Politik. Das In-ternet ist nicht nur in der Demokratie an-gekommen, es gestaltet sie inzwischen mitund prägt inhaltliche Debatten. Dabei gehtes längst nicht nur um netzpolitische The-men. Deshalb wird auch die Kommunika-tion über politische Themen in und übersoziale Medien von entscheidender Bedeu-tung für die Parteien im Bundestagswahl-kampf 2013 sein. Berufliche und privateNetzwerke werden zu Plattformen für dendirekten und ungefilterten Austausch mitdem Wähler und damit zu einem unver-zichtbaren Instrument für die Wahlkämpfer.

Wolfram Sauer

„Demokratie ist mehr als einDenken in Likes und Dislikes.“

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Aus dieser Selbstverständlichkeit herausentsteht ein Anspruch an die Politik. Wiefrüher erwartet wurde, dass ein örtlicherBundestagskandidat sich persönlich beimStammtisch oder auf dem Marktplatz denFragen der Bürger stellt, ist es heute uner-lässlich, eine gut gepflegte Präsenz im In-ternet und in sozialen Netzwerken zu ha-ben. Es reicht kein sporadisch gefüllter Auf-tritt, in dem regelmäßig die neuesten Pres-semitteilungen verlinkt werden.

Der Internetnutzer möchte aktuelle undunterhaltende Informationen, er möchtefragen dürfen und individuelle Antwortenbekommen, er möchte seine Meinungkundtun und kollaborieren. Wesentlichsind dabei Authentizität, Transparenz undDialogbereitschaft. Es ist jedoch ein Trug-schluss zu glauben, die Internetkommuni-kation ersetze das private Gespräch. Dempersönlichen Handschlag wird sie nichtden Rang ablaufen können. Der Dialogüber das Internet ergänzt den klassischenWahlkampf und reichert ihn an. Kommu-nikation wird mehrdimensional. „Surf glo-bal, connect and govern local“ könnte dasMotto lauten.

Die modernen Formen der mobilen Kom-munikation haben in den vergangenen Jah-ren in einem schleichenden Prozess die Po-litik verändert, aber auch die Art, wie sichBürger an Politik und Demokratie beteili-gen wollen. Die Wähler sind firmer gewor-den im Umgang mit dem Internet – wenn-gleich auf unterschiedlich hohem Niveau.Sie kennen die Tricks und Tücken, die Vor-teile und die Gefahren. Sie abonnieren ausfreien Stücken Nachrichten von Politikernin ihren Netzwerken, verbreiten Stand-punkte in eigenem Namen und wirken da-mit als Multiplikatoren im politischenKontext. XING- oder Facebook-Profile ei-nes Politikers sind für viele Wahlberech-tigte keine Sensation, sondern eine Selbst-verständlichkeit.

Wolfram Sauer wechselte im Februar des Jahres als neuer Public Policy Manager zum Betreiber des führenden professionellen Netzwerks im deutschsprachigen Raum XING.

Akzeptanz und Anwendung der neuen Me-dien dürfen allerdings nicht als Allheilmit-tel missverstanden werden. Die Hoffnung,direkte Demokratie, ständige Erreichbar-keit und totale Transparenz seien die Lö-sung für das Problem der Politikverdros-senheit, ist eine Illusion. Demokratie istmehr als ein Denken in Likes und Dislikes.Der Mausklick zur Abstimmung ersetztnoch keine Inhalte. Die Einarbeitung insThema, die Erarbeitung von Sachthemensteht in der Politik im Mittelpunkt.

Wer beides beherrscht, Pflicht und Kür, hateinen Standortvorteil. Auch und gerade imNetz. Die Demokratie braucht ein Update.Es gilt, das Social Web als Kommunika-tionsform anzuerkennen und zu verinner-lichen, ohne es überzubewerten. Das Glei-che trifft auch auf den Wähler zu, der ei-nerseits über neue Möglichkeiten der Par-tizipation und Kommunikation mit politi-schen Entscheidern verfügt, ohne glaubenzu dürfen, er säße nun selbst am Hebel derMacht. Die „technischen Voraussetzun-gen“, also die Bereitschaft der Volksvertre-ter und Bürger für eine digitale Runder-neuerung, sind 2013 gegeben.

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Prof. Dr. Michael Hüther

Politik mag Industrie. Zumindest im Grund-satz. Hier kann man zusehen, anfassen undanderen im wahrsten Wortsinne begreifbarmachen, worum es geht, wenn man vonWohlstand und seinem Standort spricht.Wie anders ist dies mit den Kapitalmärk-ten. Weder greifbar, noch erfassbar, dafürintransparent in den Zusammenhängen,unkalkulierbar in den Wirkungen. Schonihre Aufgabe erschließt sich nicht vollstän-dig, während Politik die Finanzierungsleis-tung als Pflicht betrachtet, wird das zu-gleich unvermeidbare Risikomanagement

als gefährlich und irregeleitet bewertet.Während die Finanzmarktkrise 2008/09aus Sicht der Politik dazu passend wie einreinigendes Gewitter Übertreibungen undFehlsteuerungen dieser Problemzone derVolkswirtschaft zu bereinigen schien, stelltdie Staatsschuldenkrise die Kapitalmärktescheinbar über die Politik. Der Primat derPolitik ist in Gefahr. Hilflos und grundlos –so die Politik – wird die Regierung zu Ent-scheidungen genötigt, die sie aus freienStücken so oder zu diesem Zeitpunkt nichtgetroffen hätte.

Zwei, die sich nicht verstehen: Politik und Kapitalmarkt

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Die Wiedergewinnung von Glaubwürdigkeitder Budgetpolitik wird lange dauern undmühsam sein. In dem Maße, wie die Schul-denbremse ihre Wirkung entfaltet, stelltsich die Frage, wie die Assetklassen aus Sichtder Kapitalmärkte neu zu gewichten sind.

Die Politik befreit sich mit der Reduzierungder laufenden Neuverschuldung aus jenerAbhängigkeit von den Märkten, die aus derRolle als Mitspieler resultiert. Die Rolle desAufsehers und Regulierers tritt in den Vor-dergrund.

Das Spannungsverhältnis zwischen Politikund Kapitalmärkten hat tief sitzende Grün-de. Zwischen beiden herrscht funktionsbe-dingt eine Zeitinkonsistenz. Politik denktin Wahlzyklen, schnellen und einfachen Er-gebnissen sowie positiven Einzelfällen. Ka-pitalmärkte transformieren die Erwartun-gen der Investoren auf nachhaltige Ren-dite, setzen auf schnelle Ergebnisse, woschwierige Strukturentscheidungen gefor-dert sind, und lassen sich vom Einzelfallnicht blenden. Kapitalmärkte haben dabeistets eine Option mehr: Sie können den Standort ihres Engagements frei wählen,ihre Rechenschaftspflicht ist global fun-diert. Die darin liegende Sanktionsandro-hung für ein „falsches“ Handeln der Politikwird von dieser als ein Angriff auf ihr Pri-mat verstanden.

Die volkswirtschaftliche Funktion der Ka-pitalmärkte respektive des Finanzsystemsbegründet die Regulierungsaufgabe desStaates. Der Schutz der Sparer, möglicheAusbeutungspotenziale durch unvollstän-dige Einlagenverträge (moralisches Risiko)und die Gefahr von Systemstörungen (sys-temisches Risiko) begründen die Finanz-aufsicht sowie die Regulierung der Bank-bilanzen und der Finanzprodukte. Die Poli-tik versucht damit, das öffentliche Gut derFinanzsystemstabilität zu gewährleisten.

Nun hat die Staatsschuldenkrise auch demLetzten offenbart, dass der Staat nicht nurals Regulierer und Aufseher der Kapital-märkte fungiert, sondern zugleich als Mit-spieler, und zwar als bislang unverzicht-barer. Denn die Staatsanleihen sind als tra-ditionell kreditrisikofreie Liquidität, für de-ren Halten kein Eigenkapital erforderlichist, zur Steuerung der Fristen- und Risiko-transformation im Rahmen der Bankpolitikunverzichtbar. Dieser Vertrag auf Gegen-seitigkeit hat nun keine Basis mehr.

Prof. Dr. Michael Hüther ist seit Juli 2004 Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. 2009 wurde Michael Hüther mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

„Die Wiedergewinnung von Glaubwürdigkeit der Budgetpolitik wird lange dauern und mühsam sein.“

Page 8: Programmmagazin der FNF 01/2013

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Zwei Effekte der so genannten „NeuenMedien“ verändern politische Kommunika-tion gerade besonders stark: die Entste-hung von Formaten zur „Echtzeitkommu-nikation“, etwa durch die Kurzmitteilungenvia Twitter, und die Ausbreitung sozialerNetzwerke, dessen prominentester Vertre-ter Facebook bald mehr als eine MilliardeMitglieder haben wird. Während sich dieEchtzeitkommunikation stärker auf Debat-ten im Vorfeld politischer Entscheidungenauswirken dürfte als auf die Entscheidun-gen selbst, haben die veränderten Öffent-lichkeitsstrukturen in den sozialen Netz-werken Folgen für die interne Struktur po-litischer Akteure. Gerade die deutschenMitgliederparteien sind durch die Möglich-keiten zur Gestaltung „persönlicher Öffent-lichkeiten“ (Jan Schmidt) herausgefordert:Parteiführung und professionellem Partei-management fällt es immer schwerer, Leit-linien und Erscheinungsbild der eigenenpolitischen Marke zu kontrollieren und zu

koordinieren. Aufbau, Struktur und Nut-zungspraktiken der sozialen Netzwerke be-günstigen die individuelle Positionierungeinzelner Politiker mittels persönlicher Pro-filseiten. Spitzenpolitiker erreichen über eigene Profil- oder Fanseiten inzwischenReichweiten im fünfstelligen Bereich. Durchdie Kombination mit Twitter-Kanälen er-höht sich diese Zahl und verzahnt die Pro-filseiten mit weiteren Präsenzen des poli-tischen Spitzenpersonals wie der klassi-schen Homepage oder Abgeordneten- undFraktionsseiten auf den Parlaments-Web-sites – personenzentrierte, nicht parteige-koppelte Öffentlichkeiten sind die Folge.Daraus resultiert ein Wildwuchs politischerKommunikationsangebote, angesichts de-rer die großen Spin-Doctors und PR-Stra-tegen der 1990er Jahre die Hände überdem Kopf zusammengeschlagen hätten. Esist nahezu unmöglich geworden, einheitli-che Botschaften zu formulieren und zuverbreiten.

Christoph Bieber

Politische Kommunikation und Markenpflege im digitalen Zeitalter

Christoph Bieber ist Inhaber der Welker-Stiftungsprofessur Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft an der NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen.

Hatten politische Akteure das Aufkommendigitaler Medien zunächst als Chance zurUmgehung der Gatekeeper des klassischenJournalismus genutzt, so sehen sich insbe-sondere die Parteizentralen nun einemkommunikativen Durcheinander in den ei-genen Reihen gegenüber. Spitzenpolitiker,aber auch die in den sozialen Netzwerkenpräsenten Newcomer sind zusehends in derLage, ihre „persönlichen Öffentlichkeiten“zu kleinen Aufmerksamkeits-Kraftwerkenauszubauen – die besten Beispiele hierfürliefern die Piraten mit der am stärkstenvernetzten Community. In der aktuellenKrise der Mitgliederparteien scheint abergenau diese Unübersichtlichkeit zu einemzentralen Aufgaben- und Problemfeld zuwerden: Mit den Freunden, Fans und Fol-lowern entstehen neue Zielgruppen, diesich nicht immer gut mit der klassischenKlientel der Parteimitglieder vertragen. Die-ses neue Zielgruppenmanagement stelltgerade die etablierten Parteien vor großeProbleme, denn im Grunde sind auch dievorhandenen Strukturen nichts anderes alsein „soziales Netzwerk“ – aber eben einesder alten, analogen Sorte mit deutlichenDefiziten bei der Anschlussfähigkeit an dieKommunikationszyklen der digitalen Me-diendemokratie.

Das Kommunikations- und Markenmanage-ment alter und neuer Parteien muss daherin mehrere Richtungen zielen. Einerseitsgilt es, Antworten auf die Vervielfältigungder Zielgruppen zu finden, andererseitssteht mit der politischen Echtzeitkommu-nikation schon die nächste Herausforde-rung vor der Tür. Spannende Zeiten.

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HerausgeberFriedrich-Naumann-Stiftung für die FreiheitTruman-HausKarl-Marx-Straße 214482 Potsdam-Babelsberg

VerantwortlichKirstin BalkeLeiterin Presse und Kommunikation

KontaktPressestelleTelefon 03 31.70 19-2 76Telefax 03 31.70 19-2 [email protected]

RedaktionMario BurowKlaus FüßmannRuth HolzknechtMeike Naber

Kreative BeratungHelmut Vandenberg Büro für Kommunikation und Werbung

Gestaltungwww.kopf-an-koepfe.de

Gesamt herstellungCOMDOK GmbHBüro Berlin

Auflage70.000Erscheinungsweise halbjährlich

Fotospicture-alliance / ZB (Titel)ddp images (S. 3)picture-alliance / dpa (S. 4/5)picture-alliance / dpa (S. 5)picture-alliance / dpa (S. 7)ddp images (S. 10/11)ddp images (S. 11)ddp images (S. 12)picture-alliance / dpa (S. 13)ddp images (S. 14)

Alle übrigen Fotos:Friedrich-Naumann-Stiftungfür die Freiheit

Impressum

Thomas RietzschelDie Spekulationen der Banker, die Rettungs-schirme oder die Reformen in der Bildungs-und Gesundheitspolitik, die sich am lau-fenden Band ad absurdum führen – allesscheint das Werk ahnungsloser Selbst-darsteller zu sein. Gibt es sie überhauptnoch, die Experten, denen wir uns gutenGewissens anvertrauen dürfen, oder wer-den wir in Wahrheit von Dilettanten ge-lenkt? Niemand durchschaut mehr die Me-chanismen, auf die wir uns Tag für Tag ver-lassen müssen. Schonungslos offen be-schreibt der Autor in seinem großen Essaydas dilettantische Hochamt und scheut sichdabei nicht, Ross und Reiter zu nennen.Zsolnay Verlag, Wien, 201217,90 €, ISBN 978-3-552-05554-4

Rainer HankDie Schuldenlast und die Abwertungenganzer Volkswirtschaften, die die Märktevornehmen, bringen es an den Tag: DerStaat hat sich übernommen, sein in denmeisten westlichen Ländern auf fast 50 %

aufgeblähter Anteil am gesamten wirt-schaftlichen Geschehen führt unweigerlichin die Krise. Rainer Hank zeichnet die his-torische Entwicklung nach, die vom Rechts-staat zum Fürsorge- und schließlich zumpaternalistischen Staat führte, der die Ini-tiative des Bürgers, aber auch sein sozialesGewissen erstickt und ihn in immer mehrLebensfragen reglementiert. Der Bürger re-agiert auf die Entmündigung mit einer sichoftmals irrational entladenden Wut.Blessing Verlag, München, 201219,95 €, ISBN 978-3-89667-421-0

Andrew Ross SorkinMit den „Unfehlbaren“ hat Sorkin ein gutrecherchiertes Buch über die Entstehungder Finanzkrise und vor allem das Handelnder leitenden Personen geschrieben. Vorallem gelingt es Sorkin, detailliert über denAblauf der Finanzkrise zu berichten unddie vielen politischen Ursachen (unverant-wortliche Geldpolitik, fehlgeleitete Re-gulierung, Aufsichtsversagen, Hauseigen-tumsförderung in den USA etc.) zu benen-nen, die die bundesdeutsche Journaillegern ausblendet. Dieses Buch fesselt einenund informiert umfassend, im Gegensatzzum unsinnigen Vorwort, welches man bes-ser überspringt.Deutsche Verlagsanstalt, München, 201024,99 €, ISBN 978-3421044884

LESETIPPS

Die Stunde der Dilettanten

Die Pleite-Republik –Wie der Schuldenstaat unsentmündigt und wie wiruns befreien können

Die Unfehlbaren –Wie Banker und Politikernach der Lehman-Pleitedarum kämpften, das Finanzsystem zu retten –und sich selbst