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Psychopathologie und Verlaufsforschung

Schattauer 2014 Nervenheilkunde 9/2014

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SchlsselwrterPsychopathologie, Verlaufsstudien, tiopa-thogenese, Systemtheorie

ZusammenfassungPsychopathologie und Verlaufsforschung sind traditionell eng miteinander verbunden. Historisch bestand ein zentrales Ziel der Ver-laufsforschung in der Validierung der auf der klinisch-psychopathologischen Querschnitts-symptomatik basierenden, kategorialen Klas-sifikationen von bestimmten Patientenpopu-lationen. Die tiopathogenese der so gefun-denen Zustands-Verlaufs-Einheiten sollte biologisch entschlsselt werden. Jedoch fan-den sich weder einheitliche Verlaufstypen noch konnte die tiopathogenese der meis-ten psychiatrischen Erkrankungen aufgeklrt werden. Auch die durch operationalisierte Di-agnosemanuale erhhte Reliabilitt psychi-atrischer Diagnosen nderte an diesem Um-stand nichts. Die mit der globalen Einfhrung operationalisierter Diagnosemanuale einher-gehende Dekonstruktion psychiatrischer und psychopathologischer Schulen hinterlie ein Theoriendefizit, welches, solange die biologi-sche Ursachenaufklrung psychischer Erkran-kungen in greifbarer Nhe schien, hinnehm-bar war, nun aber berwunden werden muss. Funktionale und theoretische Psychopatholo-gie oder die Entwicklungspsychopathologie bieten vielversprechende Anstze, die durch integrative Forschungsanstze weiterentwi-ckelt werden mssen. Die konzeptuellen Rah-menbedingungen hierfr knnen z. B. aus der Systemtheorie oder der Theorie zu komplexen adaptiven Systemen abgeleitet werden.

KeywordsPsychopathology, course and outcome studies, etiopathogenesis, systems theory

SummaryPsychopathology, course and outcome studies are traditionally closely connected with each other. From an historical perspec-tive a major purpose of course and outcome studies can be seen in the validation of noso-logical concepts based on descriptive psy-chopathology. In a second step, etiopatho-genesis of those nosological concepts were to be deciphered. Unfortunately however, so far neither the nosological concepts have been validated nor has the etiopathogenesis been explained. This situation has not been changed by an improved reliability of oper-ationalized diagnoses either. The global intro-duction of operationalized diagnostic sys-tems led to a deconstruction of psychiatric and psychopathological schools and tradi-tions and left psychiatry with a theoretical deficit which was tenable as long as there was hope for an early uncovering of the bio-logical causes of mental illnesses. However, in the current situation this theoretical deficit needs to be overcome. In that respect, func-tional and theoretical psychopathology as well as developmental psychopathology are promising new approaches which should be further developed by an integration of other disciplines. The conceptual framework for this scientific venture can be derived from systems theory or theory of complex adaptive systems.

KorrespondenzadressePriv. Doz. Dr. Ronald BottlenderKlinik fr Psychiatrie und PsychotherapieMrkische Kliniken GmbH, Klinikum LdenscheidPaulmannshher Str. 14, 58515 LdenscheidTel. 02351/463560, Fax 02351/[email protected]

Pychopathology, course and outcome studiesNervenheilkunde 2014; 33: 591598eingegangen am: 20. April 2014,angenommen am: 5. Mai 2014

Psychopathologie ist die Lehre von den krankhaften Erscheinungen psychischer Funktionen. In einer stark durch biologi-sche Paradigmen beeinflussten Medizin im Allgemeinen und Psychiatrie im Speziellen wurde die oft als ungenau und subjektiv charakterisierte Psychopathologie immer wieder kritisiert und von manchen Auto-ren sogar fr tot erklrt (1). Nichtsdesto-trotz stellt die Psychopathologie nach wie vor die Grundlage der psychiatrischen Di-agnostik und Nosologie dar. Bemerkens-wert ist in diesem Zusammenhang, dass das Aufkommen der standardisierten Di-agnosesysteme (1980: DSM-III, 1990: ICD-10 Kapitel F) und damit die weltweite Vereinheitlichung psychiatrischen Diag-nostizierens die Bedeutung der Psychopa-thologie als wesentliche Grundlage psychi-atrischen Diagnostizierens einerseits zwar unterstrich, andererseits aber zu einer Ver-armung der Vielfalt an psychopathologi-schen Traditionen und psychiatrischen Schulen fhrte. Im Zeitalter der globalen operationalisierten psychiatrischen Diag-nostik wird Psychopathologie im Wesentli-chen als deskriptive Psychopathologie ver-standen, die sich auf das reine Erfassen von fr die Diagnosestellung relevanten Symp-tomkriterien beschrnkt.

Um die im Kontext der operationalisier-ten Diagnosesysteme stattgefundene Ein-engung der Psychopathologie auf die de-skriptive Psychopathologie sowie die Ab-wendung vom psychodynamischen Den-ken und psychopathologischen Verstehen in der Mainstream-Psychiatrie verstehen zu knnen, ist es hilfreich diese Entwick-lungen vor ihrem historischen Hinter-grund zu betrachten. Bis in die 1970er- und 1980er-Jahre war das psychoanalytische Krankheitsmodell das im amerikanischen Sprachraum vorherrschende psychiatrische Krankheitsmodell. Mit dem Erscheinen des DSM-III mit seinem atheoretischen Ansatz sollte ganz bewusst ein Kontrapunkt zum

Psychopathologie

Psychopathologie und Verlaufs -forschungR. Bottlender1, 21Klinik fr Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Ldenscheid; 2Ruhr Universitt Bochum

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Nervenheilkunde 9/2014 Schattauer 2014

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psychoanalytischen Krankheitsmodell und gegen ein oft als bertrieben und wenig re-liables, psychodynamisches Denken gesetzt werden. Der Wissenschaftspositivismus und naturwissenschaftliche Forschungsop-timismus, der die Einfhrung der standar-disierten psychiatrischen Diagnosesysteme begleitete und frderte, fhrte aber auch dazu, dass Psychopathologie immer mehr nur noch als Mittel zum Zweck betrachtet wurde. Tatschlich dachte man, es sei nur eine Frage der Zeit bis mithilfe einer mg-lichst reliablen Diagnostik, die wahren, nmlich die biologischen Ursachen der kli-nisch definierten Strungsbilder aufgeklrt werden wrden. Diese Hoffnung hat sich bislang allerdings nicht erfllt und so muss selbst nach jahrzehntelanger Forschung auf dem Gebiet der biologischen Psychiatrie (z. B. Genetik, Bildgebung) weiterhin festge-stellt werden, dass die deskriptive Psycho-pathologie, einmal abgesehen von der or-ganischen Ausschlussdiagnostik, nach wie vor die wesentliche, und im Prinzip einzige Grundlage psychiatrischer Diagnostik dar-stellt.

Im Stellenwert der Beschreibung der klinischen Symptomatik unterscheidet sich die Psychiatrie grundlegend von anderen medizinischen Disziplinen. In der Psychia-trie gilt nach wie vor, dass die meisten psy-chiatrischen Krankheitsbilder ohne typi-sche psychopathologische Symptomatik nicht diagnostiziert werden knnen. Fast mchte man sagen, dass psychische Krank-heiten ohne entsprechende Psychopatholo-gie berhaupt nicht existieren. Die Psycho-pathologie stellt somit also weiterhin das einzige konstituierende Element psy-chischer Erkrankungen dar. Im Unter-schied hierzu knnen in der somatischen Medizin z. B. ein Bronchialkarzinom, eine Chorea Huntington oder zahllose andere somatische Erkrankungen mittels labor-chemischer, bildgebender oder genetischer Untersuchungen sogar oft schon vor Ein-setzen der typischen klinischen Symptoma-tik festgestellt und diagnostiziert werden. Das bedeutet, dass somatische Erkrankun-gen auch ohne entsprechende Klinik exis-tieren knnen. Bei psychischen Erkran-kungen ist dies fundamental anders. Im-mer wieder hrt man beispielsweise von somatischen Zufallsbefunden wie einem bei einer Routineuntersuchung diagnosti-

zierten Tumor, der bei dem betroffenen Pa-tienten keinerlei klinische Beschwerden verursachte. Aber von einer ohne jede kli-nische Symptomatik nebenbefundlich, zu-fllig diagnostizierten Schizophrenie oder Zwangserkrankung hat wohl noch nie-mand gehrt.

Ein fr die psychiatrische Diagnostik erschwerender Umstand ist darin zu sehen, dass die psychopathologische Quer-schnittssymptomatik in der Regel nicht pa-thognomonisch, beziehungsweise nicht spezifisch fr bestimmte psychiatrische Krankheiten ist (2, 3). Aus diesem Grunde wurden in der psychiatrischen Nosologie oder Klassifikation traditionellerweise psy-chopathologische Querschnittssymptoma-tik und Krankheitsverlauf und Ausgang miteinander verknpft. Emil Kraepelin und seine Zeitgenossen betrachteten psy-chische Erkrankungen in diesem Zusam-menhang als Zustands-Verlaufs-Einheiten. hnlich dem Krankheitsmodell fr Infekti-onskrankheiten, die im 19. Jahrhundert nach und nach aufgeklrt wurden, wurde auch fr psychische Erkrankungen ange-nommen, dass es klar voneinander ab-grenzbare Krankheitsentitten gebe, bei denen eine bestimmte Ursache jeweils ein charakteristisches klinisches Erscheinungs-bild sowie einen typischen Verlauf und Ausgang mit sich bringen sollte. Unter an-derem vor dem Hintergrund dieser An-nahmen gewannen Studien zum Verlauf und Ausgang psychischer Erkrankungen eine zentrale Bedeutung in der Validierung psychiatrischer Krankheitskonzepte und der psychiatrischen Forschung berhaupt.

Im Folgenden sollen einige ausgewhlte Aspekte der psychiatrischen Verlaufsfor-schung und der Psychopathologie sowie deren Zusammenspiel nher beleuchtet werden. Hierbei wird auch die historische Perspektive bercksichtigt. Der sich im nachfolgenden Text immer wieder finden-de Gebrauch des Begriffs Erkrankung soll brigens keine Verleugnung der Pro-blematik und der schwierigen Definition insbesondere des speziellen Krankheitsbe-griffs in der Psychiatrie darstellen, sondern ist lediglich Ausdruck einer sprachlichen Konvention und einer gewissen Abneigung des Autors gegenber dem heute weithin blichen Strungsbegriff.

Arten von