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Der Erste Weltkrieg

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Der Erste Weltkrieg

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Stephan Burgdorff • Klaus Wiegrefe (Hg.)

Der Erste WeltkriegDie Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Karen Andresen, Wolfram Bickerich, Jochen Bölsche, Georg Bönisch, Stig Förster, Christian Habbe, Per Hinrichs, Gerhard Hirschfeld,Christoph Jahr, Hans Michael Kloth, Siegfried Kogelfranz, Gerd Krumeich, Romain Leick,Vejas Gabriel Liulevicius, Fritjof Meyer, Joachim Mohr,Norbert F. Pötzl, Jan Puhl, Johannes Saltzwedel,Michael Schmidt-Klingenberg, Bruno Schrep, Alexander Smoltczyk, Michael Sontheimer, Stefan Storz,Hew Strachan, Rainer Traub, Hans-Ulrich Wehler

Deutsche Verlags-AnstaltMünchen

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Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

© 2004 Deutsche Verlags-Anstalt, Münchenund SPIEGEL-Buchverlag, HamburgAlle Rechte vorbehaltenGestaltung und Satz: DVA /Brigitte MüllerDruck und Bindearbeiten: GGP Media, PößneckPrinted in GermanyISBN 3-421-05778-8

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Inhalt

11 Vorwort

Der Krieg und die Folgen

13 Der Marsch in die BarbareiDer Erste Weltkrieg: Wegbereiter für Lenin und HitlerVon Klaus Wiegrefe

23 Der zweite Dreißigjährige KriegDer Erste Weltkrieg als Auftakt und Vorbild für den Zweiten WeltkriegVon Hans-Ulrich Wehler

Der Kriegsausbruch

36 „Seine Schuld ist sehr groß“Gespräch mit dem Wilhelm-II.-Biografen John Röhl über die Verantwortung des Kaisers für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs

44 Der Krieg der GeisterDer nationalistische Wahn von Schriftstellern, Gelehrten und KünstlernVon Rainer Traub

54 „Ein Hammerschlag auf Herz und Hirn“Der Mythos von der Kriegsbegeisterung der Volksmassenim Herbst 1914Von Jochen Bölsche

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Die Westfront

59 Das große SterbenDer zermürbende Stellungskrieg in Frankreich, der Millionen Soldaten das Leben kosteteVon Romain Leick

73 Krieg gegen den KriegWie Soldaten versuchten dem mörderischen Gemetzel zu entkommenVon Stefan Storz

79 Der Wettlauf der IngenieureNeue Waffentechnik und moderne Produktionsmethodenentschieden über Sieg und NiederlageVon Christian Habbe

84 „Wacht an der Somme“Der Erste Weltkrieg als PropagandaschlachtVon Gerd Krumeich

91 Der letzte MannCharles Kuentz ist der einzige noch lebende Frontkämpferder deutschen ArmeeVon Alexander Smoltczyk

97 „Let op, Levensgevaar“Der Elektrozaun an der belgisch-niederländischen GrenzeVon Gerhard Hirschfeld

101 Granaten im GartenDer Schlachtfeldtourismus in FlandernVon Per Hinrichs

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Die Ostfront

105 Der vergiftete SiegDer gnadenlose Kampf um Länder und Völker im Osten EuropasVon Vejas Gabriel Liulevicius

118 „Polen, das sind wir“Marschall Pilsudski ist bis heute in Polen ein gefeierter HeldVon Jan Puhl

121 „Lenin arbeitet nach Wunsch“Der Zusammenbruch des ZarenreichsVon Fritjof Meyer

127 Grausige HimmelfahrtDie irrwitzigsten Gefechte des Kriegs führten Österreicher und Italiener in den AlpenVon Georg Bönisch

Der Krieg im Reich

134 Der Kampf in den KüchenWie die Mangelwirtschaft die Deutschen zur Revolution triebVon Michael Schmidt-Klingenberg

147 Der „Schatten-Kaiser“Die Statistenrolle Wilhelms II. während des Ersten WeltkriegsVon Joachim Mohr

150 Schlange vorm BordellDer Niedergang der bürgerlichen SexualmoralVon Siegfried Kogelfranz

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154 Im Windkanal der AvantgardeDie Wirkung des Kriegs auf die KulturVon Johannes Saltzwedel

162 „Wieder einer, wieder einer!“Die Furcht vor Spitzeln und Spionen löste auf allen Seiten Massenhysterie ausVon Hans Michael Kloth

167 Ersatzmarmelade und K-BrotWie der Erste Weltkrieg die Wirtschaft veränderteVon Wolfram Bickerich

172 Verkäufer des TodesDie stattlichen Profite der WaffenproduzentenVon Norbert F. Pötzl

178 Gebrochen an Leib und SeeleDas Heer der Krüppel, Zitterer und BlindenVon Bruno Schrep

185 Sündenböcke der NiederlageDie Radikalisierung des AntisemitismusVon Christoph Jahr

190 Das Debakel der ArbeiterbewegungDer Krieg zerstörte den Traum von der internationalen Solidarität der ArbeiterVon Rainer Traub

Der Zerfall der Imperien

198 Der globalisierte KriegDer Erste Weltkrieg war nicht nur eine europäische KatastropheVon Stig Förster

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211 „Ein Volk auf der Schlachtbank“Der Massenmord an den ArmeniernVon Karen Andresen

215 Der Traum von der SeemachtDie Kaiserliche Marine sollte die Vorherrschaft der Briten brechenVon Michael Sontheimer

224 „Er hat den Mut eines Löwen“Aufstieg, Fall und erneuter Aufstieg Winston Churchillsim Ersten WeltkriegVon Michael Sontheimer

Das Kriegsende

229 „Wir hauen ein Loch hinein“Ludendorffs Niederlage an der WestfrontVon Michael Sontheimer

235 Der Unfriede von VersaillesDer Friede von Versailles vertiefte die Spaltung EuropasVon Klaus Wiegrefe

Die Kriegsschuldfrage

240 Wer war schuld?Wie es zum Ersten Weltkrieg kamVon Hew Strachan

256 „Ein Buch wie ein Sprengsatz“Gespräch mit dem Historiker Konrad H. Jarausch überden Streit um die These von der deutschen Alleinschuld

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263 Dokumente zum Ersten Weltkrieg

296 Gedenkstätten des Ersten Weltkriegs in Europa

299 Internet-Adressen

301 Autorenverzeichnis

304 Sach-, Orts- und Personenregister315 Fotonachweis

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Vorwort

Der Erste Weltkrieg war nicht nur eine europäische Katastrophe. Erwar ein globales Gemetzel, in dem Abertausende Soldaten aus Asienund Übersee für den imperialen Wahn der europäischen Groß-mächte Deutschland, Frankreich und England sterben mussten. Fastzehn Millionen Soldaten verbluteten auf den Schlachtfeldern vonFlandern bis ins chinesische Tsingtau. Mindestens ebenso viele kehr-ten als nervliche oder körperliche Wracks, als Zitterer oder Krüppelin die Heimat zurück.

Und nicht nur das: Die weltweite Auseinandersetzung, die mitdem Zerfall von vier Imperien endete und die KolonialmächteGroßbritannien und Frankreich ins Wanken brachte, markiertauch den Beginn einer neuen Epoche. Sie brachte den AufstiegLenins und Stalins sowie zwei Jahrzehnte später die Nazi-Barbareimit sich. Adolf Hitler, der den Krieg als Gefreiter miterlebt hatte,beschloss „Politiker zu werden“ und die „Schmach von Versailles“zu tilgen.

Wer war verantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs,den Briten und Franzosen noch immer den „Großen Krieg“ nennen?Diese Frage beschäftigt viele Historiker bis heute. Hatte das deut-sche Kaiserreich die Tragödie willentlich angezettelt, oder war derKrieg lediglich Ergebnis von Missverständnissen und diplomatischerInkompetenz? „Wechselseitiger Argwohn hatte wechselseitige Para-noia geschürt“, urteilt Hew Strachan, Professor für Militärge-schichte an der Universität Oxford. Wilhelm-II.-Biograf John Röhlhingegen, bis 1999 Professor für Europäische Geschichte an derUniversity of Sussex in Südengland, vertritt die Ansicht, der deut-sche Kaiser habe „sehr große Schuld“ am Ausbruch des ErstenWeltkriegs gehabt.

Strachan und Röhl sind zwei der insgesamt acht renommiertenWissenschaftler, die in diesem Buch über – so der Bielefelder Histo-riker Hans-Ulrich Wehler – die „Urkatastrophe des 20. Jahrhun-derts“ und den Auftakt des „zweiten Dreißigjährigen Krieges“schreiben. Eine Vielzahl weiterer Beiträge, die sich mit Ursachen, Ver-

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lauf und Folgen des mit unvorstellbarer Härte ausgetragenen Waf-fengangs befassen, stammt aus der Feder von SPIEGEL-Autoren.

Der Dank der Herausgeber gilt nicht nur den Verfassern der Texte,die zum Teil bereits im SPIEGEL erschienen sind. Er gilt auch denen,deren Namen in der Regel nicht genannt werden: dem KollegenUlrich Schwarz, der einen großen Teil der Artikel redigiert hat; denzahlreichen Dokumentaren, die, koordiniert von Dr. Wilhelm Tappe,die Manuskripte Wort für Wort überprüften und Fehler korrigier-ten; dem Bildredakteur Claus-Dieter Schmidt, der die zum Teilunveröffentlichten Fotos ausgrub; den Bild-Dokumentaren, welchedie Bilder überprüften; den Grafikern Ludger Bollen und GernotMatzke, die informationshaltige Karten und Schaubilder entwarfen;der Sekretärin Angelika Kummer, die Eingang und Korrektur derManuskripte überwachte; den Schlussredakteuren Lutz Diedrichs-Schneider, Reimer Nagel und Hans-Eckhard Segner, die für ein sau-beres Schriftbild sorgten.

Wir widmen dieses Buch unserem SPIEGEL-Kollegen MichaelSchmidt-Klingenberg, dem Autor des Beitrags über die politischeSituation im Deutschen Kaiserreich. Michael schrieb diesen Artikelals letzten vor seinem viel zu frühen Tod. Uns fehlt nun nicht nureiner der besten Schreiber des SPIEGEL, sondern auch ein Freundund stets kluger Ratgeber bei der Aufbereitung großer Stoffe.

Stephan Burgdorff und Klaus Wiegrefe

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Der Marsch in die Barbarei

Der Weltkrieg von 1914 bis 1918 war der erste totale Krieg inder Geschichte der Menschheit. Er verhalf Wladimir IljitschLenin an die Macht und legte den Keim für den Aufstieg desPostkartenmalers Adolf Hitler zum verbrecherischen Diktator.

VON KLAUS WIEGREFE

Am Abend vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zumDeutschen Reich stand der britische Außenminister Edward Greyam Fenster seines Amtszimmers und blickte auf den Londoner St. James’s Park, in dem gerade die Lampen angezündet wurden.Grey befiel an diesem 3. August 1914 eine dunkle Vorahnung. „Inganz Europa gehen die Lichter aus“, sagte er zu einem Freund undfügte hinzu: „Wir werden es nicht mehr erleben, dass sie wiederangezündet werden.“

Der Erste Weltkrieg dauerte bis 1918, und doch erwiesen sichGreys Worte als schreckliche Prophezeiung: Einen stabilen Friedensollte es in Europa 31 Jahre lang – bis 1945 – nicht mehr geben.

Der Friedensvertrag von Versailles, der Deutschland um mehr alsein Zehntel seiner Fläche verkleinerte und zu gigantischen Repara-tionszahlungen verpflichtete, beendete zwar offiziell das Gemetzelauf dem Schlachtfeld. Aber der „Krieg in den Köpfen“, so der His-toriker Gerd Krumeich, tobte noch Jahrzehnte weiter.

Nichts machte Adolf Hitler, 1914 Kriegsfreiwilliger im bayeri-schen Reserve-Infanterie-Regiment 16, so populär wie seine Dro-hung, die „Schmach von Versailles“ auszulöschen. Für KrumeichsKollegen Hans-Ulrich Wehler ist der Erste Weltkrieg daher derBeginn eines „zweiten Dreißigjährigen Krieges“ (siehe Seite 23).

Die gute alte Friedenszeit – für die Eltern, Großeltern und Urgroß-eltern der heute lebenden Europäer waren dies die Jahre vor 1914.Mit boomendem Optimismus hatten viele Menschen auf dem altenKontinent das neue Jahrhundert begrüßt. Sie glaubten an eine gol-dene Zukunft mit mehr Freiheit, Fortschritt und Wohlstand.

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DER KRIEG UND DIE FOLGEN

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Der Erste Weltkrieg zerstörte unwiederbringlich dieses Vertrauen.Millionen Männer erlebten und erlitten Gewalt von solch massiverBrutalität, wie sie bis dahin in der Geschichte der Menschheit un-vorstellbar war – ein idealer Nährboden für Faschisten und Kom-munisten mit ihren Wahnvorstellungen vom Rassen- oder Klassen-kampf.

Es war der Krieg, der dem Rechtsanwalt Wladimir Iljitsch Lenin1917 die Gelegenheit gab, in Russland jene Diktatur zu errichten,unter deren Nachwirkungen Osteuropa noch lange leiden wird. Ohnedie Erschütterungen des Weltkriegs wäre auch dem einstigen Post-kartenmaler Hitler der Griff nach der Macht nie gelungen.

In der blutigen Auseinandersetzung zwischen den MittelmächtenDeutschland und Österreich-Ungarn sowie der Entente aus Groß-britannien, Frankreich und Russland zeigte die Moderne ihr anderesGesicht – es war eine hässliche Fratze.

Die industrielle Dynamik, welche die Europäer zu den Herrschernder Welt hatte werden lassen, wandte sich erstmals gegen die Be-wohner des alten Kontinents. Der Erste Weltkrieg war der erste totaleKrieg. Die Eisenbahn – Sinnbild des Fortschritts – brachte MillionenSoldaten an die Front, dort gerieten sie in eine gigantische, hochtechnisierte Tötungsmaschinerie von bislang unbekannten Ausmaßen.

Terrorwaffen wie das deutsche „Parisgeschütz“ schleuderten ihretödliche Last über eine Distanz von 130 Kilometern; Maschinenge-wehre der amerikanischen Marke Maxim feuerten bis zu 600 Kugelnpro Minute ab. Allein am 12. September 1918 verschossen die Ame-rikaner bei einem Angriff in vier Stunden 1,1 Millionen Granaten.

Mehr als 60 Millionen Soldaten aus fünf Kontinenten kämpftenzwischen China und den Falkland-Inseln, auf knapp 4000 MeterHöhe in den Alpen und in den Tiefen des Atlantischen Ozeans umden Sieg und ihr Leben. Beinahe jeder Sechste fiel – im Durchschnitt6000 Mann täglich –, schätzen die Autoren des neuen Standard-werks „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“*. Millionen kehrten alsKriegsversehrte heim.

Das Grauen von Bombenterror, Flucht und Vertreibung, welchesdie Deutschen erst gegen Ende des „Dritten Reichs“ erlebten, wirkt

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DER KRIEG UND DIE FOLGEN

* Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): „Enzyklopädie ErsterWeltkrieg“. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2003.

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heute wie ein vielfach verstärktes Echo jenes Schreckens, den deut-sche und österreichische Truppen 30 Jahre zuvor nach Frankreich,Belgien oder Serbien getragen hatten.

Über 800 000 Belgier flohen 1914 vor den Deutschen ins Ausland;mindestens 60 000 Belgier ließ Wilhelm II. aus den besetztenGebieten verschleppen. Diese sowie 15 000 osteuropäische Judenmussten im Reich Zwangsarbeit verrichten. Städte wie das belgischeYpern bestanden 1918 nur noch aus Ruinen.

Im belgischen Tamines oder in Dinant wurden Hunderte vonZivilisten als Vergeltung für vermeintliche Partisanenangriffe er-schossen. Deutsche Soldaten benutzten beim Kampf um Lüttichoder Namur Geiseln als menschliche Schutzschilde. Fotos aus Ser-bien zeigen österreichische Soldaten vor gehenkten Zivilisten – ähn-lich den umstrittenen Aufnahmen in der Hamburger Wehrmachts-ausstellung über die Verbrechen deutscher Militärs im ZweitenWeltkrieg.

Noch gab es Barrieren, die erst bei Hitler fielen. Am 4. September1914 schlug Kaiser Wilhelm II. vor, 90 000 russische Kriegsgefan-gene auf der Kurischen Nehrung verhungern zu lassen, wogegen derpreußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn sich sofort ver-wahrte. Fünf Tage später freilich plädierte der 55-jährige Monarchdafür, die von Belgien und Frankreich nach einem Sieg zu annektie-renden Gebiete ethnisch zu säubern und das dann frei gewordeneLand an verdiente Unteroffiziere und Mannschaften zu vergeben.Niemand widersprach. Die Niederlage ließ aus Wilhelm sogar einenradikalen Antisemiten werden, der von der Vergasung der Judenfabulierte.

Der erste Dreißigjährige Krieg – zwischen 1618 und 1648 – hin-terließ ein verwüstetes Mitteleuropa und traumatisierte die Men-schen für Jahrhunderte. Es ist wahrscheinlich, dass der zweite eineähnliche Langzeitwirkung entfaltet. Allerdings ist die Erinnerung andas damit verbundene Grauen unterschiedlich ausgeprägt. Der OstenEuropas sieht im Holocaust und im Vernichtungskrieg zwischen1939 und 1945 die zentralen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. ImWesten des alten Kontinents hingegen ist der „Große Krieg“ (LaGrande Guerre) jener zwischen 1914 und 1918 geblieben.

In der Knochenmühle von Verdun oder auf den Killing Fields vonFlandern starben viermal so viele Franzosen, dreimal so viele Belgier,

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doppelt so viele Briten wie im Zweiten Weltkrieg. Allein am 1. Juli1916 verloren die Briten rund 60 000 Soldaten.

Die Erinnerung an die Opfer wird bis heute hochgehalten. Am 11. November – zum Jahrestag des Waffenstillstands 1918 – geden-ken die gut 35 000 französischen Gemeinden in Feierstunden derToten; der Präsident legt einen Kranz am Pariser Arc de Triomphenieder. Reisen zu den belgischen Schlachtfeldern gehören in vielenenglischen Schulen zum Pflichtpensum. Briten stellen über die Hälfteder 500 000 Besucher, die jährlich in Flandern die Minenkrater beiMenin oder den Soldatenfriedhof Tyne Cot besuchen.

Diesseits des Rheins hat die Beschäftigung mit Auschwitz die Er-innerung an Verdun schon vor Jahren verdrängt. Die Bilder, die Helmut Kohl und François Mitterrand 1984 Hand in Hand an denGräbern von Verdun zeigen, entfalteten in der Bundesrepublik nichtannähernd jene symbolische Kraft wie in Frankreich.

Konrad Adenauer saß noch im Palais Schaumburg in Bonn, als derErste Weltkrieg das letzte Mal die breite Öffentlichkeit der altenBundesrepublik beschäftigte. Das war Anfang der sechziger Jahre.Der Historiker Fritz Fischer hatte behauptet, das Kaiserreich tragedie Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Fischer zer-störte damit die Lebenslüge der Generation, die in Hitlers Weltkriegbloß einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte sehen wollte undnicht etwa die Endstation eines lange zuvor eingeschlagenen Sonder-wegs.

Nach der so genannten Fischer-Kontroverse erlahmte die öffent-liche Anteilnahme allerdings rasch. Erst 2004, zum 90. Jahrestag desKriegsausbruchs 1914, wendet sich die Aufmerksamkeit des nungeeinten Deutschland dem Krieg des Kaisers erneut zu. Geschichts-studenten drängen sich in Seminare und Vorlesungen zum ErstenWeltkrieg. „Das Interesse ist enorm“, beobachtet Dorothee Wier-ling, Historikerin an der Universität Hamburg. Der Publizist MichaelJürgs verkaufte von seinem Buch über den „Weihnachtsfrieden“ 1914innerhalb weniger Wochen über 30 000 Exemplare. Verlage und TV-Anstalten haben sich auf den neuen Trend eingestellt.

Ein gutes Dutzend Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg ist imFrühjahr 2004 auf den Markt gekommen. Die öffentlich-rechtlichenSender zeigen Serien, die sich mit dem Kaiser beschäftigen odereinen kompletten Überblick des Kriegs versuchen.

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Gerhard Hirschfeld, Geschichtsprofessor und Direktor der Biblio-thek für Zeitgeschichte in Stuttgart, erklärt das neue Interesse miteiner besonderen „Dialektik der Erinnerung“. Der Erste und derZweite Weltkrieg würden bei der Aufarbeitung des 20. Jahrhundertszunehmend „zusammen gedacht“. Die Aufmerksamkeit, die Wil-helms Schlachten nun zuteil wird, wäre demnach logische Folge derDebatten über die Kollektivschuld-These Daniel Goldhagens, dieWehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschungoder die Entschädigung der Zwangsarbeiter.

Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs nahm ihren Anfang am 28. Juni 1914 im bosnischen Sarajevo, wo der österreichische Thron-folger Erzherzog Franz Ferdinand zu Besuch weilte. Bei der Fahrtdurch die Stadt bog dessen Fahrer falsch ab. Als er wenden wollte,sprang der 19-jährige serbische Gymnasiast Gavrilo Princip vor undfeuerte zweimal in den offenen Wagen. Die Erzherzogin war soforttot, der Thronfolger starb zehn Minuten später. Princip gehörte zu einem siebenköpfigen Terrorkommando junger Serben, die voneinem großserbischen Reich träumten. Die Teenager hatten Bombenund Pistolen vom serbischen Geheimdienst erhalten.

Seit langem drängten die Falken in der Wiener Regierung aufeinen Krieg gegen Serbien, um den serbischen Nationalismus, derdas marode Vielvölker-Imperium schwächte, als „Machtfaktor amBalkan auszuschalten“. Nach dem Attentat gewann die Kriegsfrak-tion die Oberhand.

Und da der greise Kaiser Franz Joseph fürchtete, Russland könneden slawischen Brüdern beispringen, bat er den deutschen Verbün-deten um Rückendeckung. Als am 5. Juli 1914 der Wiener Bot-schafter im Neuen Palais in Potsdam Wilhelm II. über eine geplante„Isolierung und Verkleinerung Serbiens“ unterrichtete, gab „Höchst-derselbe“ seine „volle Unterstützung“. Damit setzte die „Juli-Krise“ein – der Anfang vom Ende einer langen Epoche des Friedens.

Seit Napoleon, also etwa hundert Jahre, hatte es in Europa keinengroßen Krieg mehr gegeben. Die regierenden Fürstenhäuser waren engverwandt: Zar Nikolai II., Kaiser Wilhelm II. und König George V.waren Cousins. Man konnte ohne Pass von London bis an die russi-sche Grenze reisen. Außenhandelsboom und Goldstandard hatteneine Verflechtung der Volkswirtschaften zur Folge, die erst gegenEnde des 20. Jahrhunderts wieder erreicht wurde.

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Die Juli-Krise 1914

28. Juni Der bosnische SerbeGavrilo Princip erschießt den öster-reichischen Thronfolger Franz Ferdi-nand in Sarajevo. Wien erwägt eineStrafaktion gegen das internatio-nal weitgehend isolierte Serbien.

5. Juli Österreichs Kaiser FranzJoseph bittet Wilhelm II. umUnterstützung. Das DeutscheReich soll Russland – den mächti-gen Verbündeten Serbiens – voneinem Eingreifen abschrecken.Wilhelm II. sagt zu, „in gewohnterBündnistreue“ an der Seite Wienszu stehen.

23. Juli Österreich verlangt vonSerbien in einem Ultimatum dieUnterdrückung jeglicher Aktionengegen die österreichisch-ungari-sche Monarchie und eine gericht-liche Untersuchung des Atten-tats unter Mitwirkung WienerBeamter.

28. Juli Österreich erklärt Ser-bien den Krieg, nachdem Belgradsich weigerte, die Wiener Forde-rungen vollständig zu erfüllen.

29. Juli Londons AußenministerGrey warnt, Großbritannien werdeim Fall eines großen KriegesFrankreich beistehen. Vergebensversucht Reichskanzler BethmannHollweg, die Briten zur Neutralitätzu bewegen.

30. Juli Zar Nikolai II. ordnet dierussische Generalmobilmachungan. Bethmann Hollweg drängtWien erfolglos, die Briten als Ver-mittler zu akzeptieren.

31. Juli Deutschland droht demZaren mit einem Krieg, falls Russ-land nicht innerhalb von 12 Stun-den demobilisiere. Das Reich ver-langt zugleich von Frankreich ineinem Ultimatum, sich innerhalbvon 18 Stunden für neutral zuerklären. Der französische Minister-rat beschließt die Mobilmachung.

1. August Deutschland erklärtRussland den Krieg und machtmobil.

3. August Deutschland erklärtFrankreich den Krieg. Der Schlief-fen-Plan sieht vor, die als unüber-windbar geltenden Befestigungenin Ost-Frankreich durch einenEinmarsch in das neutrale Belgienzu umgehen und Frankreich inner-halb weniger Wochen zu besiegen.Anschließend soll die deutscheArmee gegen Russland vorgehen,bevor dort die Mobilmachungabgeschlossen ist.

4. August Großbritannienbegründet seinen Kriegseintrittmit dem völkerrechtswidrigenEinmarsch deutscher Truppen inBelgien.

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Doch zugleich standen sich zwei Machtblöcke zunehmend feind-lich gegenüber. Auf der einen Seite die Mittelmächte Österreich-Ungarn sowie das Deutsche Reich, das nach Vorherrschaft auf demeuropäischen Kontinent strebte; auf der anderen Seite die Ententeaus französischer Republik, konstitutioneller britischer Monarchieund Russlands rückständiger Autokratie – ein verqueres Bündnis,das nur der gemeinsame Gegner Deutschland zusammenhielt. DerMachthunger des deutschen Kaisers ließ Franzosen, Russen undBriten zusammenrücken, obwohl diese wegen ihrer kolonialenInteressen jahrzehntelang miteinander verfeindet waren.

Die Schüsse von Sarajevo und das österreichische Ultimatum setz-ten eine Kettenreaktion in Gang. Russland sprang dem von Öster-reich bedrohten Serbien in der Hoffnung bei, Österreich-Ungarn zu schwächen; Deutschland stellte sich daraufhin offen gegen dasZarenreich, was zur Folge hatte, dass Frankreich seinem Verbün-deten Russland zu Hilfe eilte und Großbritannien schnell folgte.

Einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland glaubteder Große Generalstab nur gewinnen zu können, wenn Deutschlandmit einem Angriff auf Frankreich nicht lange zögerte. Ein fatalerAutomatismus begann.

Über die Frage, welche Seite die Hauptverantwortung für denKriegsausbruch trägt, streiten bis heute die Historiker. Reichskanz-ler Theobald von Bethmann Hollweg gestand einem Journalisten,dass Deutschland einen Teil der Schuld am Ausbruch des Kriegstrage, und fügte hinzu: „Wenn ich sagen wollte, dieser Gedankebedrückt mich, so wäre das zu wenig – der Gedanke verlässt michnicht, ich lebe darin.“ Wilhelm-II.-Biograf John Röhl wirft dem Kai-ser sogar „Verschwörung zu einem Angriffskrieg“ vor (siehe GesprächSeite 36).

Die jungen Soldaten, die im August 1914 an die Front fuhren,ahnten nichts von dem Inferno, das sie erwartete. FranzösischeWehrpflichtige zogen mit leuchtend blauen Röcken und rotenHosen in die Schlacht. Säbel baumelten an den Gürteln der Offi-ziere aller Armeen. Ungarische Husaren übten mit quastenbesetz-ten Waffenröcken Attacken. „Ich finde den Krieg herrlich. Er istwie ein großes Picknick, aber ohne das überflüssige Beiwerk, dasnormalerweise dazugehörte“, notierte der britische Offizier JulianGrenfell.

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Die grauenvollen Zutaten dieses Picknicks: Handgranaten, Flam-menwerfer, Giftgas. Am 22. April 1915 setzten die Deutschen erst-mals in der Geschichte der Menschheit Massenvernichtungswaffenein. Der Einsatz von Gas, den Briten, Franzosen und Russen erwi-derten, kostete Zehntausende das Leben – eine kriegsentscheidendeWende brachte er nicht.

Dabei schien der Sieg der Deutschen im August 1914, wenigeWochen nach Kriegsbeginn, bereits in Reichweite. Fast alles warnach jenem Plan verlaufen, den in seinen Grundzügen 1905 AlfredGraf von Schlieffen, der scheidende Generalstabschef, entworfenhatte. Schlieffen wollte im Falle eines Zweifrontenkriegs die Zeit,die der Zar brauchte, um seine Truppen im riesigen Russland zumobilisieren, für einen schnellen Sieg gegen Frankreich nutzen. Dochder deutsche Angriff kam im September an der Marne unerwartetzum Stehen. Im November zog sich eine 700 Kilometer lange Gra-benfront wie eine hässliche Narbe von der Nordsee bis an dieSchweizer Grenze.

Der Stellungskrieg begann, und er dauerte fast vier Jahre. VonScharfschützen bedroht, von Ratten und Läusen gequält, musstendie Soldaten in den Gräben ausharren, die oft voll Wasser liefen. Vorihnen tat sich baumloses, von Kratern durchsetztes Niemandslandauf, Pferdekadaver und Leichenteile verbreiteten einen elenden Ge-stank.

Für die meisten Soldaten kam der Tod aus kilometerweit entfern-ten Artilleriegeschützen. „Wir liegen unter dem Gitter der Granaten-bogen und leben in der Spannung des Ungewissen. Über uns schwebtder Zufall. Wenn ein Geschoss kommt, kann ich mich ducken, dasist alles; wohin es schlägt, kann ich weder genau wissen noch beein-flussen“, beschreibt der Veteran Erich Maria Remarque in seinemWeltbestseller „Im Westen nichts Neues“ die Fronterfahrung.

Immer wieder starteten die Generäle groß angelegte Offensiven,die nicht einmal ein Dutzend Kilometer Geländegewinn brachten,aber Hunderttausenden den Tod. Im Londoner Imperial War Mu-seum läuft ein Tonband mit dem Bericht von Sergeant Quinnell über den Angriff seiner Einheit an der Somme am 7. Juli 1917. Um4.15 Uhr setzte das wechselseitige Bombardement ein. In den Grä-ben mussten die Soldaten vier Stunden lang warten. Bevor derAngriff begann, war bereits jeder Vierte tot. Dann kam der Befehl:

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auf die Leiter, raus aus dem Schützengraben. Die Ersten wurdenweggemäht von den feindlichen MG-Schützen.

Warum die Männer bis kurz vor Kriegsende gegen das Abschlach-ten nicht aufbegehrten, zählt bis heute zu den großen Rätseln. Dennnicht Terror hielt die Ordnung an der Front aufrecht. Anders als 30 Jahre später urteilte die deutsche Militärjustiz damals milde. Wares die Kameradschaft, das so genannte Fronterlebnis, das die Sol-daten immer weiterkämpfen ließ? War es die fatalistische Hoffnungdes Einzelnen, er werde durchkommen? Oder wurden die LandserOpfer der gebetsmühlenhaften Propaganda, das Ende des Kriegsstehe unmittelbar bevor?

Der Krieg im Osten war ein ganz anderer. Das Vereisen der Bödenim Winter erschwerte den Stellungsbau enorm. Die Länge der Frontzwischen Ostsee und Schwarzem Meer ermöglichte beiden Seitenimmer wieder Durchbrüche. Kaiser Wilhelm holte zur Abwehr derRussen den 1911 pensionierten General Paul von Hindenburg ausdem Ruhestand. Dem erfahrenen Militär mit dem großväterlichenBart gelang es, die Truppen des Zaren bei Tannenberg 1914 und inMasuren 1915 zu schlagen. Die triumphalen Siege machten Hin-denburg zum Volkshelden und legten den Grundstein für dessen ver-hängnisvolle Karriere nach dem Krieg: Als Präsident der WeimarerRepublik ernannte er 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler.

Die Russische Revolution im Oktober 1917 beendete den Zwei-frontenkrieg. Die russischen Soldaten, meist Bauern, fanden LeninsParole „Frieden, Land und Brot“ allemal attraktiver als das Sterbenan der Front. Im Dezember 1917 nahm eine Delegation im AuftragLenins in Brest-Litowsk Friedensverhandlungen mit den Deutschenauf.

Der Zusammenbruch des Zarenregimes war Wilhelms einzigeChance, den Krieg im Westen noch zu gewinnen. 52 Divisionen mitüber einer Million Soldaten standen in Russland bereit, doch als dieVerhandlungen mit Lenins Delegation stockten, stießen die deut-schen Divisionen bis zum Kaukasus vor – und wurden nicht an dieWestfront verlegt, wo man sie so dringend benötigte.

Dort waren bereits die ersten ausgeruhten Soldaten aus Überseeeingetroffen: US-Amerikaner. „Das Dorf war plötzlich voll vonMännern mit Cowboyhüten. Offiziere und einfache Soldaten tran-ken gemeinsam in den örtlichen Kneipen. Und sie schäkerten mit

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den Mädchen in einer Weise, die wir uns niemals getraut hätten“,notierte der britische Soldat Eric Hiscock über die Vertreter derneuen Weltmacht.

Es war wohl der folgenschwerste Fehler Wilhelms II., die größteIndustrienation in den Krieg gezogen zu haben. Des Kaisers Ex-perten hatten geglaubt, mit einem unbeschränkten U-Boot-Krieggegen Frachtschiffe, die Nahrungsmittel und Rohstoffe auch aus denneutralen USA nach Großbritannien brachten, ließe sich Londoninnerhalb von fünf Monaten zum Frieden torpedieren. Stattdessenhatte US-Präsident Woodrow Wilson Berlin den Krieg erklärt.

Mit einer verzweifelten Offensive versuchte die deutsche Führungim März 1918, den Waffengang doch noch zu ihren Gunsten zu ent-scheiden. Aber der Angriff lief sich fest. Der Krieg war verloren.

Sieben Monate hielt die deutsche Armee noch durch. Dann waralles vorbei. Am 10. November 1918 reiste Wilhelm II. aus demOberhauptquartier in Spa direkt ins niederländische Exil. DerReichstagsabgeordnete Matthias Erzberger unterzeichnete die Waf-fenstillstandsbedingungen; am 11. November ab 11 Uhr schwiegendie Waffen. Adolf Hitler beschloss, „Politiker zu werden“.

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Der zweite Dreißigjährige Krieg

Der Erste Weltkrieg als Auftakt und Vorbild für den Zweiten Weltkrieg

VON HANS-ULRICH WEHLER

Denkbar unterschiedliche Zeitgenossen wie Marx’ Freund, derlinksradikale Unternehmermillionär Friedrich Engels, der legendärepreußische Generalstabschef Helmuth von Moltke und der jahr-zehntelang amtierende SPD-Vorsitzende August Bebel – sie alle hat-ten ihn seit Jahrzehnten prophezeit: den „großen Weltkrieg“, wenndie europäischen Großmächte in einem künftigen Konflikt aufeinan-der stoßen würden.

An der Prognose von Engels, einem kompetenten Militärexperten,fällt die bestechende Hellsichtigkeit auf, da er bereits 1887 einen„Weltkrieg von einer bisher nie gekannten Ausdehnung und Heftig-keit“ kommen sah: „Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sichuntereinander abwürgen.“ Die absehbaren Folgen: „Die Verwüs-tungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bisvier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet. Hungersnot,Seuchen, allgemeine … Verwilderung der Heere wie der Volks-massen; rettungslose Verwirrung … in Handel, Industrie und Kredit,endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staa-ten … derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßen-pflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absoluteUnmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer alsSieger aus dem Kampf hervorgehen wird.“

Auch Moltke hatte schon 1890 voll düsterer Ahnungen einen„dreißigjährigen Volkskrieg“ vorhergesehen. Und als ein halbesJahrhundert später General Charles de Gaulle, seit 1940 im Lon-doner Exil, sich an einer Diagnose der Gegenwart versuchte, spracher wiederholt von einem zweiten Dreißigjährigen Krieg, der 1914begonnen habe und erst mit der Niederlage Deutschlands endenwerde.

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DER KRIEG UND DIE FOLGEN

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Stephan Burgdorff, Klaus Wiegrefe

Der 1. WeltkriegDie Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts

Gebundenes Buch, Pappband mit Schutzumschlag, 352 Seiten,14,5 x 21,5 cm51 farbige AbbildungenISBN: 978-3-421-05778-5

DVA Sachbuch

Erscheinungstermin: Juni 2004

Der Krieg von 1914 bis 1918 hat die Welt grundlegend verändert: Das Osmanische Reich,das Zarenimperium und der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zerbrachen, der AufstiegHitlers, Lenins und Stalins hat hier seine Wurzeln, die Kolonialmächte England und Frankreichbegangen zu wanken. Als erster weltumspannder Waffengang kostete dieser Krieg fast 15Millionen Menschen das Leben. Autoren des Spiegel und bekannte Historiker wie Hew Strachan und Hans-Ulrich Wehlerbeleuchten die vielfältigen Aspekte dieser "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts. Sie analysierendie Vorgeschichte mit dem Höhepunkt des Attentats von Sarajevo und der Juli-Krise. Siebeschreiben die verbissenen Kämpfe in Frankreich, Belgien, Italien und im Osten Europas sowiedie globale Dimension der Auseinandersetzung. Sie schildern Hungersnot und Mangelwirtschaftund werfen einen neuen Blick auf die so weitreichenden Folgen dieses Krieges. Ergänzt wird derBand durch kürzlich gefundene Farbaufnahmen.