Russland HEUTE

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SEITE 5 SEITEN 10 UND 11 SEITE 8 Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. www.russland-heute.de Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Ein Sängerpaar aus Russland am Rhein Er und sie. Die Amerikaner haben im Irak ihre Ziele verfehlt, aber die UN zurück ins Spiel gebracht, meint Fjodor Lukjanow. SEITE 9 Saddam und sie. Stahlmagnat Mordaschow sucht kein schnelles Geld. SEITE 4 Er und TUI. Mittwoch, 3. April 2013 Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Die Russen beißen an auf den Bioköder. In Moskau entstehen erste Biolä- den, deren Regale aber mit überteuerten Importprodukten gefüllt sind. Denn es mangelt an lizenzierten Produzenten. Bio ist deshalb Luxus. Und was macht der Normalo? Der kauft lieber auf den Märkten ein. SEITEN 6 UND 7 ÖKOPRODUKTE BIOQUALITÄT NUR FÜR DIE OBEREN ZEHNTAUSEND? Harter Brocken Zypern THEMA DES MONATS Was machen sieben russische For- scher von der Universität Jakutsk und sechs deutsche Geologen vom Alfred-Wegener-Institut für Po- lar- und Meeresforschung bei – 30 Grad im äußersten Südosten der russischen Provinz Jakutien? Sie entnehmen dem tiefsten See Einsam und vergessen starb Hein- rich Vogeler vor 71 Jahren in der kasachischen Steppe. In die Sow- jetunion war der in Bremen auf- gewachsene Künstler auf der Flucht vor den Nazis und auf der Suche nach einer besseren Welt Am 23. März verstarb im briti- schen Exil mit 67 Jahren der ehe- malige Oligarch Boris Beresows- kij. In den 1990ern war er der erfolgreichste Strippenzieher zwi- schen Politik und Wirtschaft und galt als Prototyp des machthung- rigen Oligarchen. Beresowskij gehörte zu denjenigen, die Wla- dimir Putin in den Präsidenten- sessel hievten. Dieser trieb ihn später ins britische Exil. Seine letzte Niederlage erlitt er 2012 vor Gericht gegen seinen ehemaligen Partner Roman Abramowitsch. SEITE 12 Forscher im ewigen Eis Unterm roten Stern Beresowskij – Ende einer Ära gekommen. Rainer Maria Rilke hatte ihm 1900 die Augen für Russland geöffnet. Und Vogeler glaubte fest an das kommunisti- sche Experiment. SEITE 5 Derzeit wird in Russland und Deutschland emsig an zwei Tele- skopen gearbeitet. Sie gehören zum Observatorium „Spektr-RG“, das 2014 in Betrieb gehen soll. Allein sein Flug zum Lagrange- Punkt L2 wird drei Monate in An- spruch nehmen. Die Teleskope er- forschen Galaxien, in deren Zen- tren schwarze Löcher liegen. Dunkle Materie in Sicht INTERNETPORTAL RUSSLAND-HEUTE.DE Putinsatire für das Wohnzimmer RUSSLAND-HEUTE.DE/22569 Neuer Trend Skifahren in Tschetschenien RUSSLAND-HEUTE.DE/22371 Rettet die EU in Zypern mit Steuergeldern russische Olig- archen? Die Frage geistert durch die westlichen Medien, und die Schätzungen der auf der Geldinsel angeblich „ge- bunkerten“ Milliarden kennen keine Obergrenze. Aus Mos- kau kam der zypriotische Finanzminister Michalis Sarris (auf dem Foto) mit leeren Händen zurück. Warum Russ- land der Tat zunächst einen Dialog vorgezogen hätte. SEITE 2 der Region Bohrkerne, um aus sei- nen Bestandteilen Rückschlüsse über den Klimawandel zu ziehen. Wie genau das geht, erklärt Kli- maforscher Bernhard Diekmann in seinem Gastbeitrag. KOMMERSANT PRESSEBILD AFP/EASTNEWS ITAR-TASS Frisch und aktuell auf russland-heute.de Unsere Nachrichten in Ihrer Sprache

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Die Ausgabe vom 3. April 2013

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SEITEN 10 UND 11

SEITE 8

Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

www.russland-heute.deEin Projekt vonRUSSIA BEYOND

THE HEADLINES

Ein Sängerpaar aus Russland am Rhein

Er und sie.

Die Amerikaner haben im Irak ihre Ziele verfehlt, aber die UN zurück ins Spiel gebracht, meint Fjodor Lukjanow.

SEITE 9

Saddam und sie.

Stahlmagnat Mordaschow sucht kein schnelles Geld.

SEITE 4

Er und TUI.

Mittwoch, 3. April 2013 Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

Die Russen beißen an – auf den Bioköder. In Moskau entstehen erste Biolä-den, deren Regale aber mit überteuerten Importprodukten gefüllt sind. Denn es mangelt an lizenzierten Produzenten. Bio ist deshalb Luxus. Und was macht der Normalo? Der kauft lieber auf den Märkten ein. SEITEN 6 UND 7

ÖKOPRODUKTEBIOQUALITÄT NUR FÜR DIE OBEREN ZEHNTAUSEND?

Harter Brocken Zypern

THEMA DES MONATS

Was machen sieben russische For-scher von der Universität Jakutsk und sechs deutsche Geologen vom Alfred-Wegener-Institut für Po-lar- und Meeresforschung bei – 30 Grad im äußersten Südosten der russischen Provinz Jakutien? Sie entnehmen dem tiefsten See

Einsam und vergessen starb Hein-rich Vogeler vor 71 Jahren in der kasachischen Steppe. In die Sow-jetunion war der in Bremen auf-gewachsene Künstler auf der Flucht vor den Nazis und auf der Suche nach einer besseren Welt

Am 23. März verstarb im briti-schen Exil mit 67 Jahren der ehe-malige Oligarch Boris Beresows-kij. In den 1990ern war er dererfolgreichste Strippenzieher zwi-schen Politik und Wirtschaft undgalt als Prototyp des machthung-rigen Oligarchen. Beresowskijgehörte zu denjenigen, die Wla-dimir Putin in den Präsidenten-sessel hievten. Dieser trieb ihnspäter ins britische Exil. Seineletzte Niederlage erlitt er 2012 vorGericht gegen seinen ehemaligenPartner Roman Abramowitsch.

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Forscher im ewigen Eis

Unterm roten Stern

Beresowskij – Ende einer Ära

gekommen. Rainer Maria Rilke hatte ihm 1900 die Augen für Russland geöffnet. Und Vogeler glaubte fest an das kommunisti-sche Experiment.

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Derzeit wird in Russland undDeutschland emsig an zwei Tele-skopen gearbeitet. Sie gehörenzum Observatorium „Spektr-RG“,das 2014 in Betrieb gehen soll.Allein sein Flug zum Lagrange-Punkt L2 wird drei Monate in An-spruch nehmen. Die Teleskope er-forschen Galaxien, in deren Zen-tren schwarze Löcher liegen.

Dunkle Materie in Sicht

INTERNETPORTAL RUSSLAND-HEUTE.DE

Putinsatire für das WohnzimmerRUSSLAND-HEUTE.DE/22569

Neuer Trend –Skifahren in TschetschenienRUSSLAND-HEUTE.DE/22371

Rettet die EU in Zypern mit Steuergeldern russische Olig-archen? Die Frage geistert durch die westlichen Medien, und die Schätzungen der auf der Geldinsel angeblich „ge-bunkerten“ Milliarden kennen keine Obergrenze. Aus Mos-

kau kam der zypriotische Finanzminister Michalis Sarris (auf dem Foto) mit leeren Händen zurück. Warum Russ-land der Tat zunächst einen Dialog vorgezogen hätte.

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der Region Bohrkerne, um aus sei-nen Bestandteilen Rückschlüsse über den Klimawandel zu ziehen. Wie genau das geht, erklärt Kli-maforscher Bernhard Diekmann in seinem Gastbeitrag.

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2 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPolitik

„Vor zehn Jahren herrschte noch Enthusiasmus“Igor Iwanow, ehemaliger Außen-minister und Präsident des Rus-sischen Rates für Internationale Angelegenheiten (RIAC) erklärt, wie Russland und die EU ihr gegenseitiges Misstrauen über-winden können.

Zuweilen fühlen sich die Bezie-

hungen zwischen Russland und

der EU an wie im Kalten Krieg.

Täuscht der Eindruck?

Ich erinnere mich sehr gut, dass vor zehn Jahren beim ersten Gip-feltreffen der EU mit Russland kolossaler Enthusiasmus herrsch-te. Viele gewannen den Eindruck, wir hätten den Kalten Krieg wirk-lich hinter uns gelassen. Damals erfolgte die Festlegung, dass Russland nicht EU-Mitglied sein kann. Deshalb wurde ein aus-gesprochen rationaler Weg gewählt: die Schaffung gemeinsamer Räume. Ein gemeinsamer Raum bedeutet in erster Linie gemeinsa-me Gesetze, Rechtsnormen, ge-meinsame Regeln des Geschäfts-verkehrs und für Kapitalbewegun-gen, für die Mobilität der Menschen. Damals haben wir zum ersten Mal die Visafreiheit zur Sprache ge-bracht. Doch anstatt an Kraft zu gewinnen, kam der Prozess allmäh-lich zum Stillstand.

Wo lagen die Ursachen dafür?

Europäische und russische Unter-nehmer suchen heute mehr und mehr nach Möglichkeiten der Zu-sammenarbeit. Für uns ist Euro-pa der wichtigste Handelspartner, und zwar mit einem derartigen Abstand, dass in absehbarer Zu-kunft niemand Europa in dieser Rolle ersetzen kann. Die Wirt-schaftsbeziehungen sind also weit entwickelt – die Politik ist jedoch dahinter zurückgeblieben.

Woher kommt das Misstrauen?

In den Jahren des Kalten Krieges resultierte das Misstrauen aus der ideologischen Unvereinbarkeit. Heute rührt es daher, dass die eine Seite nicht weiß, was die andere tun wird. Warum ist das Beispiel Zypern so exemplarisch? Weil den Europäern klar war, dass Russ-land auf Zypern eigene Interes-sen hat. Und wenn in Bezug auf das dortige Bankensystem derart stringente Entscheidungen gefällt

werden, sollte man in der EU nurzu gut begreifen, dass das die rus-sischen Interessen tangiert. Manhätte uns zumindest vorab infor-mieren sollen. Bei einer solchen Unvorherseh-barkeit des Handelns entstehenÜberraschungsmomente, in denendie erste Reaktion ist: Das richtetsich gezielt gegen uns, man willuns eins auswischen, dann wer-den wir eben Gleiches mit Glei-chem vergelten. Und so sind wir,statt nach konstruktiven Lösun-gen zu suchen, mit Ping-Pong indiese Dynamik hineingeraten. Fürdie Zukunft brauchen wir statt-dessen den Dialog.

Was kann ein Dialog bewirken?

Er löst die Probleme nicht, aberer zeigt sie auf, und danach sindweiterführende Verhandlungennotwendig. Aus strategischer Sicht sehe ichfür die Beziehungen zwischenRussland und Europa keine ernst-haften oder unüberwindbarenProbleme, die uns zu einer Ver-schärfung der Konfrontationdrängen würden. Wir könnendurchaus unterschiedliche Stand-punkte vertreten. Heute entwi-ckelt sich die Lage weltweit so dy-namisch und unvorhersehbar, dasses keine Patentrezepte gibt. Manmuss nach Lösungen suchen. Aufdieser Suche können natürlich ver-schiedene Ansichten und Ansät-ze aufeinandertreffen, wie sie jaauch zwischen den Ländern derEU oder den BündnispartnernUSA und EU existieren.

INTERVIEW IGOR IWANOW

Das Interview erschien bei derNachrichtenagentur

RIA Novosti

Die Zypernkrise zieht weitere Kreise

Zypern Das Vorgehen der EU löst Debatten in Russland aus

ALEXANDER SOTIN, NADESCHDA PETROWA, MAXIM KWASCHAKOMMERSANT DENGI

Am 24. März einigte sich die

zyprische Regierung mit der

Eurogruppe auf einen Fahrplan

zur Bankenrettung. Erstmals

sollen deren Gläubiger an ihrer

Rettung beteiligt werden.

Präsident Wladimir Putin nann-te diese Lösung ungerecht, unpro-fessionell und gefährlich, Premi-erminister Dmitri Medwedew erklärte, die Pläne der Zyprioten schienen auf eine „Beschlagnah-mung fremden Vermögens“ hin-auszulaufen. Die Ursache darf darin vermutet werden, dass auf Zypern eine große Menge „russi-schen“ Geldes angelegt ist. Und ein sowohl in Russland als auch in ausländischen Medien fest veran-kertes Gerücht besagt: Vor ihrem Volk verstecken nicht nur Tausen-de korrupte Beamte ihre Millio-nen, sondern vor Letzteren auch nicht sonderlich gesetzestreue Unternehmer.

Dollars aus RusslandNach Schätzung der Agentur Moody’s haben russische Banken auf Zypern zwölf Milliarden US-Dollar angelegt, die Einlagen russischer Unternehmen bei zy-prischen Banken betragen 19 Mil-liarden Dollar. Genannt wurden auch bedeutend höhere Beträge, die sich auf bis zu 40 Milliarden Euro belaufen, diese Schätzun-gen können jedoch kaum der Re-alität entsprechen. Schließlich leben und agieren auf Zypern nicht nur russische Staatsbürger und Unternehmen. Der Chef von Zyperns Zentralbank Panikos De-metriades nannte in einem Inter-view mit der Zeitung Wedemosti eine wesentlich kleinere Größen-ordnung von fünf bis 10 Milliar-den Euro. Premier Medwedew erklärte, warum Russland so indigniert re-agiert: „Eine große Zahl unserer öffentlichen Strukturen funktio-niert über Zypern, ihre Gelder

sind derzeit aus unerfi ndlichen Gründen eingefroren.“ Auch viele große russische Unternehmen wie Rosneft oder Nornikel wickeln ihre Geschäfte mit ihren Bank-kunden und Partnern über das zyprische Finanzwesen ab. Wozu hat die EU-Troika eine Ban-kenkrise auf Zypern und mögli-cherweise mittelfristig in ganz Südeuropa provoziert? Denn selbst im Falle eines Inkrafttre-tens des ersten Rettungspakets musste mit einem Bank-Run ge-rechnet werden. Jetzt ist er un-vermeidlich. Wozu riskiert man vernichtende öffentliche Kritik und lässt sich von Kommentato-ren „Borniertheit“ und „Dumm-heit“ vorwerfen?

Zypern als ideales OpferEs gibt mehrere Antworten: Ers-tens liegt der Eurozone und ins-besondere Deutschland viel daran, der Welt zu demonstrieren, was einem Land geschieht, das über seine Verhältnisse lebt und dabei auf die Hilfe der Starken setzt. Zypern ist das ideale Opfer: ein kleines und nicht systemrelevan-tes Land, dessen Kollaps die deut-sche Wirtschaft kaum ernsthaft erschüttern dürfte. Wie die Ver-werfungen des Finanzsystems sich auf den Lebensstandard der Zy-prioten auswirken, interessiert die Deutschen nicht. Aber Zypern eig-net sich besonders dafür, die Lek-tion für Griechenland, Portugal, Spanien und Italien zu veran-schaulichen. Setzt Haushaltskür-zungen und Steuererhöhungen durch und folgt den Anweisun-gen aus Berlin!Zweitens wählen die Deutschen im September. Angela Merkel muss der Bevölkerung Härte und Konsequenz demonstrieren. Sie hat den schlech-ten Ruf, Steuergelder für die Ret-tung schwacher und peripherer Länder zu verschleudern, die nicht gewillt sind, ihren hohen Lebens-standard zu drosseln und ihre Schul-den zu zahlen. Mögliche Verluste russischen Vermögens spielen für Merkel keine Rolle. Sollen für die

Bewältigung der Zypernkrise zyp-riotische Faulpelze, mafi ose Russen oder sonst wer zur Ader gelassen werden, aber bitte keine rechtschaf-fenen deutschen Bürger. Zum Dritten ist ein Schlag gegen Zypern ein wirtschaftliches Ex-periment. Was passiert, wenn Steueroasen zerstört werden? In Zeiten, in denen Haushalte aus den Fugen geraten und jeder Cent dreimal umgedreht wird, bekom-men Offshore-Geschäfte als zu-sätzliche Einnahmequelle für Politiker ein immer größeres Ge-wicht. Der Krieg gegen Offshore-Finanzplätze eröffnet den Staats-kassen neue Einnahmequellen. Man schreckt jedoch davor zu-rück, „Vorzeigeländern“ wie Ir-land oder Luxemburg an den Kra-gen zu gehen. Das wäre schwer zu legitimieren. Eine überschau-bare Offshore-Zone wie Zypern, die noch dazu de facto bankrott ist und „Vermögen der russischen Mafi a und Gelder aus korrupten Geschäften“ beherbergt, wie es unlängst in einem Bericht des BND hieß, ist dagegen die ideale Zielscheibe eines Angriffs.

Dieser Text erschien im Magazin Kommersant Dengi

Milliarden US-Dollar betragen die Ein-lagen russischer Banken und Unter-nehmen auf Zypern, schätzt der zy-prische Zentralbankchef Demetriades.

Milliarden Euro wird das EU-Hilfspaket für Zypern beinhalten. Für die Ban-kenrettung sollen die Spareinlagen der Bürger angetastet werden.

5 bis 10

10

ZAHLEN

März 2013: José Manuel Barroso und Dmitri Medwedew hatten sich in Moskau nur wenig zu sagen.

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3RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Wirtschaft

WIRTSCHAFTS-

KALENDER

MESSE

RUSSLAND PRÄSENTIERT SICH

AUF DER HANNOVER MESSE

8. BIS 12. APRIL, HANNOVER

Die Russische Föderation ist in diesem Jahr Partnerland der wichtigsten Technologiemesse der Welt. Mit sei-ner Ausstellung wird das Land die globalen Interessen und die Ausrich-tung seiner Hauptindustriezweige und Konzerne darstellen. › hannovermesse.de

KONFERENZ

RECHTSKONFERENZ RUSSLAND

15. APRIL, FRANKFURT/MAIN, ZENTRALE

DER DEUTSCHEN BANK AG

Zum 1. März hat sich das russische Zivilgesetzbuch gravierend geändert. Rechtsexperten namhafter Kanzleien informieren umfassend und praxisnah über diese Neuerungen sowie über Compliance-Risiken in den Bereichen Korruption und Kartellrecht. › ost-ausschuss.de

KONFERENZ

LOGISTIKKONFERENZ MIT

DER IHK RUSSLANDS

25. APRIL, MOSKAU, GOSTINY DWOR

Über Möglichkeiten zur Verbesserung der „Integration von Logistikprozes-sen im Eurasischen Korridor“ disku-tieren Vertreter verschiedener russi-scher Ministerien sowie internationale Aussteller und Besucher der Messe Trans Russia. › wirtschaftsclubrussland.com

SYMPOSIUM

MODERNE TELEKOMMUNIKATION

IN DEUTSCHLAND UND

RUSSLAND

3. BIS 5. MAI, TÜBINGEN, EBERHARD KARLS

UNIVERSITÄT

Was sind die Potenziale moderner Kommunikationstechnologie für Wirt-schaft und Gesellschaft? Was bedeu-tet sie für die Demokratie? Darüber diskutieren Experten beider Länder. › dialog-ev.org

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE

RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

RUSSLAND-HEUTE.DE

ALEXEJ POPOWITSCHFÜR RUSSLAND HEUTE

Auf der am 8. April beginnen-

den HANNOVER MESSE präsen-

tiert sich mit UralVagonZavod

auch eines der größten und

traditionsreichsten Maschinen-

bauunternehmen Russlands.

Russland ist in diesem Jahr Part-nerland der weltweit größten Industriemesse. Prominent ver-treten sein wird dort auch Ural-VagonZavod (UVZ), eines der größten russischen Maschinen-bauunternehmen. Gemeinsam mit dem kanadischen Konzern Bom-bardier Transportation mit Sitz in Berlin wird UVZ auf der Messe ein 1 : 1-Modell der Straßenbahn-wagen Bombardier Flexity Out-look sowie verkleinerte Modelle von Straßenbahnen und U-Bahn-waggons ausstellen. Den Startschuss für die enge Ko-operation des russischen und ka-nadischen Konzerns setzte eine im Juli 2012 in Jekaterinburg un-terzeichnete Vereinbarung. Der Vertrag regelt die Nutzungsrech-te der russischen Seite an moder-nen Produktionstechnologien, Personalschulungen in europäi-schen Bombardier-Werken und gemeinsame Entwicklungen. Bereits in der ersten Phase der Zu-sammenarbeit soll ein Lokalisie-rungrad von 50 Prozent erreicht werden. Die modernen Straßen-bahnwagen und bald möglicher-

Eine Supertram für Moskau

Transport Russland erneuert Schienenverkehr

weise auch U-Bahnwaggons werden in einem der UVZ-Werke gefertigt. „Wir sind überaus erfreut, eine Vereinbarung mit einem Unter-nehmen wie UVZ unterzeichnet zu haben“, sagt Germar Wacker, Präsident des Bereichs Straßen- und Stadtbahnen bei Bombardier Transportation. „Das Unterneh-men ist Russlands größter Wag-gonhersteller. Wir sind sehr zu-versichtlich, mit einem Partner diesen Formats unser Projekt zum Erfolg zu führen. Und wir stellen uns auf eine langfristige Zusam-menarbeit ein.“

Ein Bedarf von 6500 WagenHans-Peter Engel, Verkaufsleiter bei Bombardier Transportation für Mitteleuropa und Russland, erläutert die Entscheidung für einen Eintritt auf den russischen Markt: „Gemeinsam mit den Ex-perten von UVZ haben wir den russischen Markt eingehend er-forscht und uns davon überzeugt, dass er für uns ein wichtiger stra-tegischer Absatzmarkt ist. Als weltweit führender Hersteller im Segment Straßen- und Stadtbah-nen sind wir sehr daran interes-siert, unsere modernen Techno-logien in Russland auf den Markt zu bringen. Etwa 6500 Wagen sind erforderlich, um den bestehenden Fahrzeugpark zu erneuern.“Alle Großstädte seien auf effizi-ente, ökologische und bequeme

Transportmittel angewiesen, so Wacker. Diese Merkmale erfüllen seiner Auffassung nach ideal die Straßen- und U-Bahn. Moskau bildet da keine Ausnahme – vor allem angesichts der bevorstehen-den Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2018. Nach den Worten von Maxim Liksutow, stellvertreten-der Bürgermeister Moskaus und

Leiter des Verkehrsdepartements, ist in den letzten beiden Jahren bereits die Hälfte des Fahrzeug-parks auf Schienen modernisiert worden. Nun kommen auch Straßenbahn-züge von Bombardier nach Mos-kau: Im Dezember vergangenen Jahres gewannen UVZ und Bom-bardier eine Ausschreibung über

120 moderne Straßenbahnen miteinem Volumen von 200 MillionenEuro.

Perspektive GUSUVZ stellte die breit gefächerteProduktlinie der Niederfl urstra-ßenbahnen von Bombardier vor,die bereits in vielen europäischenStädten eingesetzt werden. Siezeichnen sich durch hohen Kom-fort und Sicherheit aus und sindzudem dank geringer Wartungs-und Energiekosten im Unterhaltgünstig. Der Generaldirektor von UVZOleg Sijenko ist überzeugt, dassBombardier Transportation heutedie weltweit besten und moderns-ten Straßenbahnzüge herstellt.„Entsprechend des Vertrags mitBombardier werden wir uns auchan allen zukünftigen Ausschrei-bungen in den GUS-Staaten be-teiligen“, so Sijenko.

Die modernen Trams für die russische Hauptstadt werden auf Basis von Flexity 2 produziert.

Dmitri Medwe-

dew (rechts)

und der Gene-

raldirektor von

UralVagonZa-

vod Oleg Sijen-

ko bei der

Unterzeichnung

des Abkom-

mens zwischen

UVZ und dem

Konzern Bom-

bardier Trans-

portation

IM GESPRÄCH

Wir haben die einfallsreichsten HackerDer stellvertretende Minister für Kommunikation und Medien Mark Schmulewitsch spricht mit Elena Schipilowa von Russland HEUTE über die Entwicklung der Informationstechnik zum führen-den nicht-rohstoffbasierten Ex-portsektor und über die junge Generation russischer „IT-niki“.

Ihr Ministerium will die Export-

zahlen der IT-Branche an die

Zahlen der Rüstungsindustrie an-

gleichen. Wann ist es so weit?

Anfang der 2000er-Jahre expor-tierte Russland Software in einem Wert von 200 bis 300 Millionen US-Dollar jährlich, 2012 lag der Export schon bei vier Milliarden.

reits wettbewerbsfähige Produk-te auf den Weltmarkt gebracht. Und alle haben mal als Start-ups begonnen. Die Frage ist, ob sie in Russland bleiben und nicht ins Ausland abwandern, wo die Be-dingungen für IT-Unternehmen häufi g günstiger sind.

Wie kann man diese Unterneh-

men in Russland halten?

Die wichtigsten Voraussetzungen sind ein attraktives Steuersystem und die Verfügbarkeit von Fach-kräften. Bis 2017 gelten in Russ-land Vergünstigungen bei der Sozialversicherungspfl icht für Un-ternehmen, die 90 Prozent ihrer Gesamteinkünfte durch IT-Leis-

tungen erzielen. Deren Abgaben betragen 14 statt 30 Prozent.

Russische Programmierer genie-

ßen den Ruf, geschickter zu sein

als chinesische, indische und

selbst amerikanische Kollegen ...

Sie können bei uns durchaus noch an Einfallsreichtum dazulernen. Wir bilden recht gute Ingenieure aus, aber deutlich zu wenig. Heute ist in Russland weniger als ein Prozent der erwerbstätigen Be-völkerung im IT-Bereich beschäf-tigt. In den USA sind es vier Pro-zent, in Europa über drei. Auf dem Krasnojarsker Wirtschaftsforum im Februar gab es einen runden Tisch zum Thema Fachkräfte-

Seit einigen Jahren steigt er jähr-lich um etwa 20 Prozent. 2012 hat Russland Rüstungsgüter in einem Umfang von 15 Milliarden US-Dollar an andere Länder verkauft. Demnach ist es realistisch, davon auszugehen, dass wir in ein paar Jahren den Rüstungsexport ein-geholt haben.

Haben auch mittelständische Un-

ternehmen und Start-ups eine

Chance auf dem Markt?

Projekte wie Ecwid (E-Com-merce-Plattform), Prognos (ana-lytische Systeme für Unterneh-men), Diasoft (Automatisierung von Banken- und Versicherungs-systemen) und andere haben be-

mangel im IT-Sektor. Unter denTeilnehmern waren zahlreicheVertreter der IT-Wirtschaft – vonStart-ups bis Yandex und Mi-crosoft – sowie große IT-Nutzerwie die Sberbank oder die Welt-bank. Einige in diesem Forumformulierte Grundsätze beginnenwir bereits umzusetzen, etwaeine stärkere Gewichtung vonProgrammier-Olympiaden.

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4 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUWirtschaft

AKTUELL

Während im Februar in der EUso wenige Autos verkauft wur-den wie zuletzt 1990, wächst derrussische Automarkt stetig. ImVergleich zum Vorjahresmonatbetrug der Zuwachs bei Neuzu-lassungen 1,6 Prozent. Laut eu-ropäischem BranchenverbandACEA lag der Rückgang EU-weitbei 9,5 Prozent, in Deutschlandsogar bei 10,5 Prozent.

Russischer

Automarkt wächst

Die russische Unternehmens-gruppe Kirovsky Zavod (Kirow-Werke) hat im März den Bus-hersteller Göppel gekauft. DasThüringer Traditionsunterneh-men mit 120 Mitarbeitern warnach einem Insolvenzverfahrenauf der Suche nach einem fi nanz-kräftigen Investor. KirovskyZavod ist der größte russischeProduzent von Traktoren undBaumaschinen und hat 2012mit 6500 Mitarbeitern einen Um-satz von 550 Millionen Euroerwirtschaftet.

Die USA sind mit 30 Prozentweltweit größter Waffenexpor-teur. Das schreibt das StockholmInternational Peace Research In-stitute (SIPRI) in seiner aktuel-len Studie. Dahinter liegen Russ-land mit 26 Prozent, Deutsch-land (7 Prozent), Frankreich(6 Prozent) und China (5 Prozent).Zum ersten Mal seit 1950 istGroßbritannien nicht mehr unterden ersten fünf der Liste zufi nden.

Kirow-Werke

kaufen Göppel

Die USA führen

Waff enexporte an

SERGEJ SUMLENNYFÜR RUSSLAND HEUTE

Russische Investoren gelten

im Westen als gewinnsüchtig

und wenig vertrauenswürdig.

Die Investition von Alexej

Mordaschow in die TUI AG

zeigt, dass es auch anders geht.

Wehende Fahnen vor den Messe-hallen in Berlin. Die Tourismus-branche feierte im März in der deutschen Hauptstadt ihren Sie-geszug: Bei der Branchenmesse ITB signalisierten über 10 000 Aussteller aus 188 Ländern ihre positive Stimmung. Schon jetzt sind 25 bis 30 Prozent der Som-merreisen der größten Reisean-bieter für 2013 verkauft. Die Branche fl oriert: Die Ausgaben der Deutschen für Auslandsrei-sen sollen 2013 um vier Prozent steigen und einen neuen Rekord-wert von 66 Milliarden Euro erreichen.

Was der Stahlmagnat mit dem Tourismusriesen vorhat

Investitionen Ein russischer Milliardär hat langfristige Pläne mit dem Touristikkonzern TUI

Davon profi tiert auch ein Riese des Tourismusmarkts, die TUI AG. Das Unternehmen ist mit 18,3 Mil-liarden Euro Umsatz und über 73 000 Mitarbeitern ein Beispiel für erfolgreiche Investitionen rus-sischer Unternehmer in westliche Firmen. Seit 2007 erwirbt der rus-sische Milliardär Alexej Morda-schow Schritt für Schritt TUI-An-teile, aktuell hält er 25 Prozent. Der 47-Jährige besitzt ein ge-schätztes Vermögen von 15 Mil-liarden Euro und machte sein Geld im Metallgeschäft. Seine Sever-stal-Gruppe produziert unter an-derem in den USA, Italien und Frankreich Stahl.

Norwegische und russische InvestorenNicht nur westliche Beobachter reagierten 2007 mit Skepsis auf Mordaschows Initiative. Russische Analytiker wunderten sich da-mals, dass das Kerngeschäft des

25 Prozent schwächte er gleich-zeitig die Position des Großak-tionärs John Fredriksen. Der Nor-weger soll eine andere Vision der Entwicklung von TUI haben und mit dem im Februar ausgeschie-denen TUI-Chef Michael Frenzel nicht d’accord gewesen sein. Fren-zel galt als Reformer, der den Kon-zern umbauen und fl exibler ge-stalten wollte – was Mordaschows Plänen entsprach.

Ping-Pong-Effekt für RusslandAllen Vorurteilen gegenüber rus-sischen Investoren trotzend, stell-te sich Alexej Mordaschow als kluger Ökonom, der lieber lang-fristig plant, heraus. Die deutschen Partner lernten den russischen In-vestor schnell zu schätzen: „Herr Mordaschow ist für mich einer der wichtigsten russischen Unterneh-mer, mit hoher Seriosität und vor allem Handschlagfähigkeit“, sagt Klaus Mangold, langjähriger Vor-sitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft und Auf-sichtsratschef der TUI.Seit 2009 baut der Konzern sein Geschäft auch in Russland und der Ukraine massiv aus. Im Früh-jahr 2010 wurde bekannt, dass das Unternehmen über die nächsten Jahre 40 Millionen Euro investie-ren wolle, unter anderem in den Ausbau von 200 eigenen und Fran-chise-Reisebüros. Außerdem will TUI die in Russland bisher wenig bekannte „Geld-zurück-Garan-tie“ einführen.2011 übernahm TUI Russia das große russische Reiseunterneh-men Mostravel. Außerdem kün-digte der Reisekonzern vor we-nigen Monaten an, eine eigene Billigfluglinie in Russland zu gründen. Für den russischen Markt, der wegen der überhöhten Flugpreise seit Jahren leidet und keine echten Billigflüge kennt, wäre die Discount-Airline ein gro-ßer Schub. – Auf diese Weise zeigen die russischen Investitio-nen in Westeuropa auch für den heimischen Markt eine positive Wirkung.

Investors nur wenig mit der Tou-rismusbranche zu tun hatte. Das einfl ussreiche Wirtschaftsmaga-zin Expert vermutete, Morda-schow wolle mithilfe der TUI nur die Kontrolle über das Container-Geschäft ihrer Tochter Hapag-Lloyd erlangen. Doch es kam anders. 2011 beton-te Mordaschow noch einmal sein „langfristiges Interesse am Ge-schäft der TUI AG“. Mit der Er-höhung seiner Anteile auf über

Alexej Mordaschow gilt als

höchst zuverlässiger Investor.

© RIA NOVOSTI

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5RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Wissenschaft

Erkenntnisse aus dem Urschlamm

Forschung Ein deutsch-russisches Team sinniert in Jakutien über das Wetter der letzten Jahrtausende

BERNHARD DIEKMANNFÜR RUSSLAND HEUTE

Was über die Jahrtausende in

die Seen Sibiriens gespült wur-

de, lässt Aussagen darüber zu,

wie sich das Klima verändert

hat – und was wir in Zukunft

zu erwarten haben.

Jakutsk im März 2013. Die Früh-lingssonne macht sich bemerkbar bei ostsibirischer Kälte. Es ist für hiesige Verhältnisse nicht mehr extrem kalt (-40 bis -50 °C), son-dern nur noch sehr kalt. Sieben russische Forscher unter Leitung der Professorin Ljudmila Pestrja-kowa von der Universität Jakutsk und sechs deutsche Geologen von der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung bre-chen auf zum Bolschoje-Toko-See im äußersten Südosten der Pro-vinz Jakutien. Der Weg der beiden vollbepack-ten Lastwagen führt zunächst über den vereisten Fluss Lena und weiter 600 Kilometer nach Süden. Bei Nerjungri geht es auf die Win-terpiste Richtung Osten, 350 Ki-lometer am Fuß des 2400 Meter hohen Stanowoi-Gebirges. Der 14 mal sieben Kilometer große Bolschoje Toko ist mit seinen 70 Metern Tiefe einer der wenigen tiefen Seen Jakutiens. Hier wer-den die Wissenschaftler für die

nächsten zwei Wochen vom andert-halb Meter dicken Eis aus verschie-dene Schlammschichten vom See-grund bergen. Daraus lassen sich das Klima und der Landschafts-wandel der letzten Eiszeit und der laufenden Warmzeit ablesen.

Wie war gestern das Wetter?Derartige limnogeologische Un-tersuchungen an Seesedimenten werden seit mehreren Jahren an verschiedenen Seen Ostsibiriens durchgeführt. Die Arbeitsgebiete reichen von der arktischen Tun-dra im Lenadelta bis nach Kamt-schatka am Pazifischen Ozean. Ähnlich wie die heutigen Wetter-vorhersagen auf einem breiten Netz von meteorologischen Stati-onen fußen, basieren derartige geologische Untersuchungen auf einer möglichst weiten räumlichen Ausdehnung, um die ganze zeit-lich-räumliche Dimension des Umweltwandels in Sibirien erfass-bar zu machen. Die Forscher in-teressiert besonders die Periode seit der letzten Eiszeit vor 20 000 Jahren, die von wiederholten Klimaveränderungen gekenn-zeichnet war und nun in die vom Menschen mitbeeinfl usste Klima-erwärmung mündet.

Schlammige AngelegenheitDabei werden die unterschiedli-chen Schlammablagerungen, die

sich am Grunde des Sees ange-sammelt haben, hinsichtlich der Schwankungen in ihrer Zusam-mensetzung untersucht: In Hohl-formen fi ndet sich verblasener Ver-witterungschutt des Umlands, dazu gesellen sich abgestorbene Reste von Flora und Fauna sowie Mikroalgen und Pollen verschie-dener Pfl anzen. Derartige Faulschlammablage-rungen mit den darin enthaltenen Mikrofossilien werden syste-matisch ausgewertet und erlau-ben Rückschlüsse auf klimatisch bedingte Schwankungen des Was-serstands, Temperaturschwan-kungen, Änderungen der ökolo-gischen Rahmenbedingungen und der Dynamik im Permafrost. Am

Bolschoje-Toko-See macht sich zudem der Einfl uss vorstoßender und rückschreitender Gletscher bemerkbar, die in den Hochlagen des Einzugsgebiets vorkommen. Bisherige Untersuchungen zeigen, dass die wärmste Phase der Nach-eiszeit vor 7000 bis 8000 Jahren war. Damals hatte die Taiga weit in die Tundragebiete des Nordens geragt.

Zehn Meter lange BohrkerneGewonnen wird das Untersu-chungsmaterial mit einem Stech-rohr, das über ein Dreibein von der Eisdecke über lange Seile und ein Hammergewicht in den Grund des Sees getrieben wird. Dann werden bis zu zehn Meter lange

Sedimentkerne geborgen, die imoberen Teil die jungen und ganzjungen Ablagerungen und nachunten die fossilen Schlämme derVorzeit beinhalten. Gearbeitetwird bis Sonnenuntergang, ge-folgt von abendlichen Beprobungs-aktionen in der engen, jedochbehaglich beheizten Hütte amSeeufer. Dabei kommen schöneErinnerungen an die Expeditionzum Billjach-See im Werchojans-ker Gebirge im Frühjahr 2005hoch. Die meisten Expeditionenwährend der letzten zehn Jahrefanden jedoch im Sommer statt.Dann wird von Booten und Flö-ßen aus operiert und die Polar-kleidung durch die Mückenjackeersetzt.

Die Expedition des Alfred-Wegener-Instituts am Billjach-See im Werchojansker Gebirge, April 2005

Mithilfe des Teleskops eROSITA können Wissenschaftler bis zu 100�000 Galaxienhaufen erforschen.

ALEXEJ KARELSKYRUSSLAND HEUTE

Dunkle Materie und Energie ma-

chen 96 Prozent des Univer-

sums aus, aber Astrophysiker

rätseln über ihre Eigenschaften.

Röntgenteleskope könnten zu

neuen Erkenntnissen führen.

Die Suche nach den schwarzen LöchernAstrophysik Ein neues Weltraumobservatorium soll ab 2014 mehr Klarheit über dunkle Materie und Energie bringen

rerseits das Teleskop eROSITA aus dem Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik. Die Basis des Observatoriums bildet die von der russischen Firma NPO Lawotschkin entwickelte Platt-form „Navigator“.Das Weltraumobservatorium soll dazu dienen, eine umfassende Himmelskarte im Röntgen- und Gammawellenlängenbereich zu erstellen. Mithilfe des Teleskops eROSITA ist es möglich, bis zu 100 000 Galaxienhaufen zu erkun-den. Außerdem erhoffen sich die Wissenschaftler, bis zu drei Mil-lionen neue Kerne aktiver Gala-xien zu entdecken, in deren Zen-trum sich ein supermassives schwarzes Loch befi ndet, und bis zu 500 000 Sterne unserer Gala-xie zu erforschen.Im Herbst 2014 soll das russisch-deutsche Observatorium in Be-trieb genommen werden. Der ei-gentliche Start war für Novem-ber 2013 geplant, doch aufgrund von Verzögerungen in der Her-stellung der Instrumente musste der Abschuss um ein Jahr verscho-ben werden. Dies ist vor allem auf die missglückte „Fobos-Grunt-Mission“ Ende 2011 zurückzufüh-

Die Gespräche über das Welt-raumobservatorium „Spektr-RG“ (Spektrum-Röntgen-Gamma) zwischen russischen und deut-schen Wissenschaftlern begannen im Frühjahr 2005. Drei Jahre später war man sich über die Po-sition der Teleskopplattform einig. Diese soll an einen der fünf soge-nannten Lagrange-Punkte ge-schickt werden, wo sich die An-ziehungskräfte der Erde und der Sonne gegenseitig aufheben. 2009 wurde die Kooperationsverein-barung zwischen der russischen Raumfahrtbehörde Roskos-mos und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR unterzeichnet.Die Hauptinstrumente auf dem Satelliten werden einerseits das russische Röntgenteleskop ART-XC sein, das im Kernzentrum in Sarow entwickelt wurde, ande-

Die fehlgeschlagene „Fobos-Grunt-Mission“ führte lautMichail Pawlinskij, stellvertreten-der Direktor des Instituts fürWeltraumforschung der Russi-schen Akademie der Wissenschaf-ten, dazu, „dass die technischeAusstattung des russischen Orbit-Teleskops ‚Spektr-RG‘ komplettüberarbeitet wurde, unter ande-rem im Hinblick auf die Emp-fangseinheiten, die im Röntgen-und Gammaspektrum arbeiten.Diese werden so umgebaut, dasssie mit ausländischen Bodenkon-trollstationen kompatibel sind.“Die SRG-Mission soll sieben Jahredauern. Drei Monate allein wirdder Flug des Observatoriums zumLagrange-Punkt L2 in Anspruchnehmen. Über vier Jahre hinwegsoll das Observatorium dann achtHimmelsdurchmusterungen vor-nehmen, die verbleibenden dreiJahre wird es als klassisches Ob-servatorium fungieren. Wissen-schaftler erhoffen sich aus dieserMission mehrere Dutzend Tera-byte an Daten.Ursprünglich waren für das Pro-jekt 120 Millionen Euro geplant,allerdings sei es derzeit noch zufrüh, über die endgültigen Kos-ten zu sprechen, so Pawlinskij.Doch eines steht für den Wissen-schaftler bereits fest: Die Missionist in jeder Hinsicht einmalig.

Wo der Lagrange-Punkt L2 liegt

ren. Die Raumsonde „Fobos-Grunt“ hätte Bodenproben vom Marsmond Phobos nehmen und zur Erde schicken sollen, doch der Einschuss der Raumsonde in die Umlaufbahn des Mars war nicht geglückt.

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUThema des Monats

WIKTORIA ANDREJEWA RBK-TV

Der russische Biomarkt wartet

auf seine gesetzliche Ordnung.

Zertifizierte Bioproduzenten

gibt es bisher kaum. Gleichzei-

tig treiben andere mit „Bio“

und „Öko“ viel Schindluder.

KEINE LANGEN SCHLANGEN MEHR VOR MCDONALD’S

DIE RUSSEN ENTDECKEN DIE WEITE BIO- UND ÖKOWELT.

VIELE WAREN WERDEN ABER IMPORTIERT, WEIL EIGENE

PRODUZENTEN FEHLEN. DAS MACHT DIE SACHE TEUER.

TREND BIOPRODUKTE

Mit dem Prädikat „Öko“ schmü-cken sich heute in Russland etli-che Lebensmittel. Was sich aber hinter dieser Bezeichnung ver-birgt, wissen nur wenige Verbrau-cher. „Ein Bioprodukt ist ein Erzeugnis, das auf ökologisch unbelastetem Boden ohne Einsatz von mineralischen Düngemitteln und Pestiziden angebaut wurde. Bei der Verarbeitung wird auf Konservierungsmittel, Emulga-toren und Stimulatoren ver-zichtet. Milch- und Fleischkühen werden keine Antibiotika und Wachstumshormone verabreicht“, erläutert Alexander Konowalow, Eigentümer des Ökobetriebs Ko-nowalowo unweit von Moskau und Begründer der ersten russischen Vereinigung von Bioproduzenten und -lieferanten Ecocluster.Aber solche Lebensmittel sind in den Regalen schwer zu finden, denn es fehlt die eindeutige Kenn-zeichnung. „Man müsste in den Supermärkten Bereiche abgren-zen und die Ware dort mit dem Zusatz ‚Produkte aus ökologi-schem Landbau des Betriebs xy‘ ausweisen, damit die Kunden sich sofort orientieren können“, sagt Konowalow.Das Problem der Ökokennzeich-nung hat noch eine andere Facet-te. Viele Erzeuger, die die grünen Zeichen der Zeit erkannt haben, bringen Lebensmittel auf den Markt, die nur auf der Verpackung „biologisch“ sind. „Bezeichnun-gen wie ‚bio‘ oder ‚ökologisch‘ sind noch lange keine Garantie, dass der Inhalt den Standards der bio-logisch-organischen Landwirt-schaft entspricht“, warnt der Ko-ordinator des Deutsch-Russischen agrarpolitischen Dialogs Florian Amersdorffer.

Eine Frage des GeldbeutelsDie Schicht der Wohlhabenden, die das nötige Kleingeld für Bio-produkte aufbringen kann, ist bis-lang klein, zumal „Bio“ in Russ-land teurer ist als in Europa.Während man im Westen zehn bis 40 Prozent mehr dafür berappen muss, seien die Preise auf dem rus-sischen Markt durchschnittlich doppelt so hoch, erläutert Oleg Mironenko vom Unternehmerver-band Organic. Das liegt auch

daran, dass der Löwenanteil der ökologisch erzeugten Lebensmit-tel aus dem Ausland eingeführt wird. In den Preisen schlagen sich neben Transport und Zoll auch Aufwendungen für die zusätzli-che Zertifi zierung nieder. Nach Mironenkos Auffassung können Erzeugnisse aus dem Ökolandbau nur dann breitere Verbraucher-schichten erreichen, wenn mehr heimische Produkte angeboten werden.

Weitreichende VeränderungenIm Moment noch lässt sich die Zahl der Biobetriebe jedoch an einer Hand abzählen. Nach An-gaben von Konowalow gibt es der-zeit in der gesamten Russischen Föderation nicht mehr als zehn bis 15 nach dem internationalen Standard „organic“ zertifi zierte Unternehmen. Immerhin haben weitere 30 bis 40 Betriebe eine Zertifi zierung beantragt.Der Erwerb einer solchen Lizenz ist allerdings nicht billig. Etwa 2700 Euro muss ein Landwirt zah-len, um „organic“ produzieren zu dürfen. „Es rechnet sich noch

nicht, gesunde Produkte zu erzeu-gen. Ihre Herstellung ist zeitin-tensiv und kompliziert, sie sind daher teurer als die herkömmli-chen und werden nicht massen-haft nachgefragt“, meint Alexej Djumulen, Leiter des Getreide-konzerns Unigrain.Die Hersteller von Bioprodukten hoffen deshalb auf Hilfe „von oben“. Und eine neue Gesetzes-initiative könnte tatsächlich noch in diesem Jahr in Kraft treten: Das russische Landwirtschafts-ministerium hat den Entwurf eines Gesetzes über die „organi-sche Produktion“ von Lebensmit-teln vorgestellt. Gleichzeitig wer-den ein technisches Reglement

und Parameter für einen natio-nalen Standard zur ökologischenLandwirtschaft ausgearbeitet.

Ökologische ZukunftDas Inkrafttreten dieser neuenRahmenbedingungen wird allenMarktteilnehmern transparente-re Grundlagen verschaffen. „Wennder gesetzliche Rahmen erst ein-mal feststeht, werden Akteure aufden Markt treten, die sich an denBestimmungen orientieren undunrechtmäßig handelnde land-wirtschaftliche Betriebe verdrän-gen. Das belebt den Biomarkt“,hofft Konowalow. Laut Ecocluster werden im Jahr2013 importierte und heimische

MORITZ GATHMANNRUSSLAND HEUTE

Datschenbesitzer und Kleinbau-

ern verkaufen in Russland köst-

liches Gemüse, Obst und Milch-

produkte. Das ist teurer als im

Supermarkt, aber an Abneh-

mern mangelt es nicht.

Der russische Winter zeigt noch-mal seine Zähne an diesem Tag Ende März: Über den zentralen Markt der Stadt Kaluga, zwei Stunden südwestlich von Moskau, pfeift ein kalter Wind, die Käu-fer stapfen durch Neuschnee.Nur ein paar der Marktstände unter freiem Himmel sind besetzt. Die 58-jährige Wera Michajlow-na steht dick eingemummelt hin-ter einem Metalltisch, auf dem sie Eingemachtes aller Art anbietet: das Glas Sauerampfer für 70 Rubel (2 Euro), Himbeeren für 100 Rubel (2,50 Euro), in Tüten abgepackte, getrocknete Äpfel. Das alles stammt aus ihrem Gar-ten im Dorf, ein paar Kilometer außerhalb. Dort baut sie von April

setzten eine Datscha darauf undlegten Beete an. Die Idee, einenGroßteil der benötigtenLebens-mittel selbst anzubauen, ist heutelebendiger denn je, weil auch dieRussen verstanden haben, dass dieglänzenden Tomaten aus dem Su-permarkt nicht die schmackhaf-testen sind.Aus manchen Datschenbesitzernwerden mit der Zeit Subsistenz-bauern. Walentina Sujewa ver-kauft im geschlossenen Teil desMarktes. Vor ihr ausgebreitetliegen verschiedene Quarksor-ten, Smetana, der fette russischeSchmand, und ein paar FlaschenMilch. Drei Kühe haben sie undihr Mann, und zwei-, dreimal proWoche verkauft sie auf dem Markt.Und alles Bio? „Zweimal im Jahrüberprüft der Verbraucherschutzdas Wasser, das unsere Kühe trin-ken, und das Heu, das sie essen“,sagt sie. Ihre Milch kostet fast dop-pelt so viel wie im Supermarkt,aber wie immer wird bis zumAbend alles weg sein. Weil’s ein-fach besser schmeckt.

Gartentomaten: im Sommer es-

sen, für den Winter einmachen

Kartoffeln aus dem Kofferraum

Subsistenzbauern Auf russischen Märkten gibt es Bioprodukte ohne jegliches Siegel

Derzeit liegt der Entwurf für ein Gesetz über ökologische Produktion vor. Es könnte noch 2013 in Kraft treten.

ZAHLEN

120 

Millionen US-Dollar werden auf dem rus-sischen Biomarkt

2013 umgesetzt. Der Anteil heimi-scher Produzenten ist jedoch gering.

40 

Millionen Hektar Acker-land liegen seit dem Ende der Sowjetunion

brach. Hier könnte ohne Weiteres Bioackerbau betrieben werden.

100 

Prozent müssen Russen draufzah-len, wenn sie statt

eines konventionellen Lebensmittels ein Bioprodukt kaufen wollen.

bis Dezember Himbeeren, Gur-ken, Kohl und Tomaten an. „Wir verbrauchen viel selbst. Doch was übrig bleibt, mache ich ein und verkaufe es auf dem Markt“, er-zählt sie.Andere schicken einfach den Sohn oder die Schwiegermutter, und deshalb ist hier und auf allen an-deren Märkten des Landes ab dem Frühsommer kein Durchkommen mehr: Aus Tüten, Körben und Kof-ferräumen verkaufen die Klein-anbieter Tomaten, Gurken, Topi-nambur, Kartoffeln, Pilze und alle möglichen Beeren. Ob die Produk-te westlichen Biostandards genü-gen, ist dabei nicht immer klar. Das Aroma der Tomaten und Gur-ken spricht allerdings dafür und auch die Tatsache, dass die meis-ten Verkäufer ja das, was sie an-bieten, selber anbauen und essen. Wera Michajlowna etwa verwen-det keinen Kunstdünger, auch aus Kostengründen: „Ich setze Brenn-nesseln und anderes Grünzeug in der Wassertonne an, und das kommt dann auf die Beete.“

Ein bisschen weniger als Wera Michajlowna, nämlich sechs Ar Land, nennt fast jeder Russe sein Eigen. Ein Grundstück dieser Größe stand zu Sowjetzeiten prak-tisch jedem zu, und die Menschen

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NATALIA MICHAJLENKO

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Thema des Monats

Bioprodukte in einem Gesamtwert von 120 Millionen Dollar auf dem russischen Markt abgesetzt. Das sind 20 Prozent mehr als im Vor-jahr, und auch für die kommen-den Jahre wird mit einem jährli-chen Wachstum in Höhe von 20 bis 30 Prozent gerechnet.Trotz des so geringen Anteils rus-sischer Biobauern ist das Poten-zial, ökologisch zu produzieren, beachtlich. Laut Konowalow lie-gen noch immer 40 Millionen Hek-tar Land seit dem Ende der Sow-jetunion brach, die sich über die Jahre in „ökologisch absolut un-belastete und für den Ökoland-bau geeignete Ackerböden“ ver-wandelt hätten.

Doch zurzeit gilt noch: Wer keine teuren und dazu noch „falsche“ Biokartoffeln kaufen möchte, für den bleibt immer noch „Marke Ei-genanbau“: „In Russland ist die Sphäre der privaten Nebener-werbsbetriebe etwa in Datschen sehr entwickelt. In der Regel ar-beiten diese und auch Kleinbau-ern ökologisch-organisch. Wir brauchen ein Gesetz, das es ihnen ermöglicht, sich nach internatio-nalen Standards zertifi zieren zu lassen“, so der Direktor von Eko Kultura Jakow Ljubowedskij. Wer eine Belebung des Biomarkts durch regional erzeugte Produk-te forderte: Hier wären sie zu fi n-den, die Biobauern.

ZWETELINA MITJEWAMOSKOWSKIJE NOWOSTI

Beim Projekt iGarten schauen

Moskauer per Internet den „ei-

genen“ Tomaten beim Wachsen

zu. Das hat aber seinen Preis.

Tomaten und Kohl auf dem Bildschirm

Interaktives Gärtnern Das iGartenbeet vor den Toren Moskaus

zurück. Derzeit werden nur eini-ge Dutzend Beete genutzt. „Die neue Saison hat noch nicht be-gonnen. Viele Saatkulturen wie beispielsweise Erdbeeren, Papri-ka, Gurken und Tomaten kann man im Winter nicht ansetzen. Doch die russische Mentalität er-achtet Gurken und Tomaten als die bei Weitem wichtigsten Ge-müsesorten, ohne die man nicht leben kann“, erklärt Medezkij.

Karotten aus dem iGartenIn seinem Büro zeigen zwei Mo-nitore eine Live-Übertragung aus dem Gewächshaus. Gegen Mittag kommen die ersten Kunden. Eine Frau und ihr Sohn hatten sich be-reits angekündigt: Sie wollen ihre Beete gerne selbst bepflanzen. Schon bald darauf sieht man, wie Mutter und Sohn gemeinsam zwar etwas unbeholfen, aber recht eif-rig die Erde durchwühlen und die Samen in ordent-liche Reihen drücken. So sieht es also in modernen Zeiten aus, wenn städtische Familien „zurück zur Naturkehren“.Solche Familien mit Kindern machen den we-sentlichen Teil der iGarten-Kun-

In Moskau wandelt sich der eige-ne Garten langsam von einem lebensnotwendigen Nahrungsmit-tellieferanten zu einem Eliteser-vice für Anhänger gesunder Le-bensweise. Der Gewächshauskom-plex des Projekts „iGarten“ im Dorf Ostrowzy nahe Moskau er-möglicht es jedem, ein Stück Erde zu mieten und dann via Webcam auf dem Bildschirm zu verfolgen, wie erfahrene Gärtner das selbst ausgesuchte Saatgut pfl egen und gedeihen lassen. Von Tomaten und Erdbeeren bis hin zu Rucola und Petersilie wächst alles und wird bei Bedarf per Kurier direkt nach Hause geliefert.Die Idee für den halb interakti-ven Garten hatte der Vorsitzende des Venture Fonds Synergy Inno-vations Wadim Lobow. 2011 in-vestierte der Fonds 750 000 Euro, mietete ein Gewächshaus an, be-stellte den Boden und installier-te Videokameras. Der „iGarten“ war geboren.

30�000 iGärtnerBereits zu Beginn trafen die Ini-tiatoren eine wichtige Entschei-dung. Sie wollten ausschließlich ökologischen Landbau betreiben und statt chemischer Herbizide und Pestizide nur Brunnenwas-ser zum Gießen und natürliche Düngemittel verwenden.Dieses Gaumenvergnügen hat je-doch seinen Preis und braucht Zeit. Die monatliche Miete für ein sechs Quadratmeter großes Beet beläuft sich auf stolze 150 Euro. In den Genuss der selbst ange-bauten Tomaten oder Gurken kommt man dann erst nach sechs Monaten.Bereits 30 000 gut situierte Mos-kauer haben sich schon ein Stück-chen Erde gesichert. „Unsere Kun-den sind Menschen, denen es nicht egal ist, was sie essen“, sagt Gen-nadij Medezkij, Geschäftsführer von Synergy Innovations. „Das Gemüse in den Supermärkten hal-ten sie für nicht authentisch. Ich würde es eher als ‚Frankenstein-Nahrung‘ bezeichnen. Wer keine industriell produzierten Nah-rungsmittel möchte und genügend Geld hat, kommt zu uns.“Im Sommer 2012 wurden in dem Gewächshaus iGarten mehr als 5000 Beete bewirtschaftet, doch mit Herbstbeginn und dem ers-ten Frost ging die Nachfrage stark

den aus. „Einmal hat uns ein gut betuchter Vater angerufen und um Rat gebeten: Sein Sohn esse nur Chips und Schokoriegel, da sei nichts zu machen“, erzählt Me-dezkij. „Ich habe den Jungen ge-fragt, ob er Obst und Gemüse essen würde, wenn es aus dem ei-genen Garten stamme und er sich selbst drum kümmern müsste. Da der Junge gerne das Computer-spiel ‚Farm‘ spielt, antwortete er sofort: ‚Ja.‘. Wir haben ihm dann ein Beet gegeben, auf dem er Ka-rotten anpfl anzte. Die hat er mit Genuss verspeist.“Momentan verdient der Fonds mit dem iGarten allerdings kein Geld, sucht aber neue Investoren. „Wir bräuchten noch knapp vier Millionen Euro, damit wir zusätz-liche Gewächshäuser mieten und die Produktion ankurbeln könnten. Vielleicht verlegen wir

einige der iGärten auch ins Gebiet

Wladimir, denn dort ist alles viel

günstiger. Einzig die Kosten für die Logistik würden um einiges steigen“,

erklärt Medezkij. In einem Punkt ist er sich

sicher: Ökolebensmittel haben in Moskau eine

große Zukunft.

Teuer aber gut – der iGarten in Zahlen

Die monatliche Miete für einen Qua-dratmeter Erde beläuft sich auf 25 Euro, wobei ein Beet sechs Qua-dratmeter misst. Pro Quadratmeter kann man in einer Saison etwa 20 bis 25 Kilogramm Tomaten, 15 bis 20 Kilo Gurken oder insgesamt ein Kilo Peter-silie ernten. Ein Kilogramm Tomaten

kostet den Gartenbesitzer also sechs bis acht Euro, ein Kilo Gurken acht bis zehn Euro und ein Kilo Petersilie 25 Euro. Zum Vergleich: In den Moskauer Supermärkten kostet das Kilo Tomaten 0,75 bis 2,50 Euro, Gur-ken ein bis 2,50 Euro und Petersilie zwei bis 2,50 Euro.

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUGesellschaft

Ende eines großenManipulators

Nachruf In England starb Boris Beresowskij

VON DER REDAKTIONVEDOMOSTI

In seinem Haus bei London ver-

starb am 23. März Boris Bere-

sowskij. Er war es, der in den

90ern die Spielregeln russischer

Wirtschaft und Politik schuf.

am russischen „Sonntag des Ver-zeihens“, postete er auf Face-book eine Beichte, in der er jene Besonderheiten seines Nachlasses ansprach: Er bereue, dass er zu einem der Urheber informeller Regeln in der postsowjetischen Politik und Ge-schäftswelt geworden sei. Wie die meisten Oligarchen der ersten Welle trieb er die Herausbildung allgemeingültiger Spielregeln voran, die den Schutz der Men-schen- und Eigentumsrechte in Abhängigkeit zu allmächtigen Führungspersonen stellten. In den 90ern war er selbst eine solche Führungsperson, später führte eben diese Technik zu seinem Nie-dergang: Die Sichtweise politi-scher und geschäftlicher Prozes-se als Schaltkreise, bedient von einem „Meister“, überlebte zwar die 90er-Jahre, wurde Beresows-kij aber zum Verhängnis.

Boris Beresowskij war ein Spie-ler und Manipulator, der sich an Einfl ussnahme, Netzwerken und den verschiedenen Rollen, die er innehatte und die ihm zugeschrie-ben wurden, ergötzte. Er wurde zum Prototypen eines Buch- oder Filmhelden und mal mit Faust, mal mit Frankenstein verglichen. Am Ende verwandelte er sich in den unglücklichen König Lear. Der Schachspieler hatte seine eigene Endspieltaktik nicht gut genug durchdacht. Doch sein Nachlass ist absolut real. Und Beresowskij hat dies er-kannt. Ein Jahr vor seinem Tod,

Für ihn war Politik ein Geschäft, in dem die Player und das Resul-tat käuflich waren. Geschäfte waren für ihn Mittel zur Gelder-zeugung, die wiederum für geziel-te Einfl ussnahme nötig war. Das Ausmaß an Beresowskijs Einfl uss wird allerdings oft über-schätzt. Sein großes Selbstver-trauen führte bereits in den 90ern zu Niederlagen. Er scheiterte damit, 1997 den Einzug von Boris Nemzow und Sergej Kirijenko in die Regierung zu verhindern, er

unterlag bei der Privatisierung des Telekomriesen Swjasinwest, und er versuchte vergeblich, Wiktor Tschernomyrdin nach dem Fi-nanzkollaps 1998 wieder auf den Sessel des Premiers zu hieven.Auch überschätzte er seine Rolle bei der Auswahl des Jelzin-Nach-folgers, bei der Gründung des Par-teienbündnisses Jedinstwo (spä-ter Einiges Russland); er hatte be-schlossen, dass die Ereignisse nach seinem Drehbuch abzulaufen hatten. Er hielt sich weiterhin für

einen Strippenzieher und bemerk-te nicht, dass sich die durch seinefi nanzielle Hilfe und mediale Un-terstützung siegreichen „Mario-netten“ zwangsläufi g aus seinerBevormundung herauslösen undseine Waffen gegen ihn selbst rich-ten würden. Er versuchte, die Funktionen einesSpin Doctors – eines in der Öf-fentlichkeit stehenden Politikersmit ungeheuren Befugnissen, einesMannes, der die Schicksale vonMinistern und Gouverneurenlenkt sowie eines Verfügungsbe-rechtigten über Haushaltsmittel– in einer Hand zu konzentrieren.Die Ironie besteht darin, dassBeresowskij, der seinem eigenenPrinzip treu blieb, keinerlei Prin-zipien zu dulden und sich statt aufRegeln nur auf persönliche Kon-takte zu verlassen, schlechte Vor-sorge für seine eigene fi nanzielleSituation getroffen hat – ganz imGegensatz zu seinen Mitstreitern,die er für seine Anhänger undFreunde hielt. Er hat das Spiel,das er sich selbst ausgedacht undgespielt hat, verloren.

Vom allmächtigen Oligarchen zum verarmten Exilanten

verkauft seinen Anteil an Sibneft für 1,3 Milliarden Dollar an Abramowitsch und verlässt Russland.

2003.

Großbritannien gewährt Beresowskij politisches Asyl.

2005.

In den Medien tauchen Informationen auf, der Oligarch habe die „orange Re-volution“ in der Ukraine mit 15 Milliar-den Dollar gesponsert. Beresowskij ver-kauft den Kommersant.

2007.

Ein Moskauer Gericht verurteilt ihn we-gen Unterschlagung von 215 Millionen Rubel der Fluggesellschaft Aeroflot in Abwesenheit zu sechs Jahren Haft.

2012.

In London verliert Beresowskij den „Jahrhundertprozess“ gegen Abramo-witsch. Er hatte 5,6 Milliarden Dollar ge-fordert, konnte das Gericht jedoch nicht davon überzeugen, dass ihm Anteile von Sibneft und Rusal gehören. Die Richterin bezeichnet seine Aussa-gen als „widersprüchlich und nicht ver-trauenswürdig“ im Gegensatz zu den „genauen und detaillierten“ Antworten von Abramowitsch.

2013.

Boris Beresowskij stirbt am 23. März in seinem Haus in der Nähe der engli-schen Ortschaft Ascot.

1946. Boris Beresowskij wird in Moskau gebo-ren. Die Mutter ist Laborantin, der Vater Ingenieur. Beresowskij studiert Elektro-technik und mathematische Mechanik.Zwischen 1975 und 1989 arbeitet er als Wissenschaftler im Institut für Steue-rungsprobleme der Akademie der Wis-senschaften. Erste Kontakte zum Auto-riesen AwtoWAZ.

1989.

Beresowskij gründet den Autohändler LogoWAZ, der innerhalb von vier Jah-ren zu einem der wichtigsten Unterneh-men Russlands wird.

1993. LogoWAZ schließt einen Vertrag mit der Daimler AG und eröffnet eine Devi-senstelle für Wartungsarbeiten an Mer-cedes-Fahrzeugen. Beresowskij wird in die Familie Jelzin eingeführt.

1994.

Bombenattentat auf Beresowskij im Zentrum Moskaus. Beresowskijs Fahrer wird durch die Explosion getötet, er selbst und sein Leibwächter werden verletzt.

1995.

Der Geschäftsmann beteiligt sich an dem Sender ORT (heute 1. Kanal) und tritt in den Aufsichtsrat ein. Beresowskij gründet mit Roman Abramowitsch das Ölunternehmen Sibneft.

1996.

Beresowskij vereint die wichtigsten Wirtschaftsbosse und verhilft mit deren finanzieller und medialer Unterstützung dem höchst unpopulären Jelzin zur Wiederwahl. Nach der Wahl dankt Jel-zin ihm „für die aktive Beteiligung bei der Organisation und Durchführung der Wahlkampagne“. Er ernennt Beresows-kij zum stellvertretenden Sekretär des Russischen Sicherheitsrats.Beresowskij kauft den Fernsehsender TW-6 und das Verlagshaus Kommer-sant. Im Dezember zieht er als parteilo-ser Abgeordneter in die Duma ein.

2000.

Beresowskij gibt seinen Abgeordneten-sitz vorzeitig ab und erklärt, er wolle sich nicht „am Verfall Russlands und der Etablierung eines autoritären Machtsystems beteiligen“. Er übergibt die ORT-Aktien an einen Miteigentümer,

Das Vermögen von Beresowskij

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CHRONIK

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9RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Meinung

Der

UlenspiegelZEITZEUGE

Sollen EU-Bürger mit ihrenSteuern das Schwarzgeldrussischer Oligarchen ret-

ten? Schon Rettungsaktionen fürGriechenland und Spanien sindhöchst unpopulär. Aber Zypern?Wer sein Land zur Geldwasch-anlage für dubiose Unternehmermacht, denkt sich der brave Spa-rer in der Nord-EU, der musssich nicht wundern, wenn ihmirgendwann das Wasser bis zumHals steht. Auch die Klage des russischenPremiers, einige Behörden seienbetroffen, weil sie Konten aufZypern hätten, stößt auf Ver-wunderung. Behörden mit Kon-ten auf Zypern? Warum nichtauf den Cayman-Inseln? Letz-tere gehören übrigens zu Groß-britannien, wo man ebenfallsnicht auf die Vorteile von Off-shore-Zonen verzichtet. Darumhält man sich auch gleich meh-rere davon. Aber das nur amRande.Das Pokern um Zypern machtdie Schwäche der EU deutlich,die zu einer Stärke Russlandswerden könnte. Wollen die Eu-ropäer ein Land retten, heißt dasvor allem: sparen. Es ist dieStunde der Populisten. Demons-tranten gehen auf die Straße undrecken Plakate mit antideutschenParolen in die Höhe: Brüssel istschuld und die bösen Deutschen,die wieder alle nach ihrer Pfei-fe tanzen lassen wollen. Die Bür-ger der wohlhabenden EU-Län-der jedoch sind wütend, weil siehart arbeiten und Faulpelze aus-halten müssen. Für Russland ist schon die Tat-sache, dass man als möglicherRetter gesehen wird, ein kleinerErfolg. Ein Retter noch dazu, dernicht ständig ermahnt, den Gür-tel enger zu schnallen. Was Russ-land von einem Land wie Zy-pern als Gegenleistung verlan-gen könnte, schreckt dessenBürger nicht: ein paar Anteilean Energiekonzernen, eine An-wartschaft auf die Gasvorkom-men. Was soll’s! Das halbe Landgehört ohnehin schon den Rus-sen. Und die werfen derart mitGeld um sich, dass auch für diekleinen Leute etwas abfällt. Dieselbe Strategie fährt Chi-na in Afrika: Hol dir, was dubrauchst, bezahle so viel wienötig und rede nicht über De-mokratie und Verantwortung.So macht man sich Freunde inder Welt, vor allem als Gegen-bild zum Westen, der zunehmendals heuchelnder Lehrmeisterwahrgenommen wird. Dass auchdie unaufdringlichen Onkel mitdem Geldsack irgendwann eineGegenrechnung präsentieren, isteine andere Frage.

REFLEKTIERT

Zyprische Gedanken

GESCHICHTE ÜBER GESCHICHTE

Im März vor zehn Jahren began-nen die USA im Irak einen Krieg ohne UN-Mandat. Die Interven-

tion sollte demonstrieren, dass Amerika die globalen Prozesse kontrollieren und ihren Verlauf ändern kann. Und führte zu ge-genteiligen Ergebnissen.Mehrere tausend Amerikaner starben, ganz zu schweigen von den Opfern auf irakischer Seite, deren Zahl in die Hunderttau-send gehen dürfte. Der Sturz Saddam Husseins führte dazu, dass der Iran, Erzfeind der USA, den größten Einfl uss in Bagdad erlangte.Die Hunderte Milliarden Dollar für den Irakeinsatz haben die öko-nomischen Probleme des Landes nur vertieft. Und das Vertrauen in Amerika ist verloren, ganz gleich, ob die offiziellen Vertre-ter mit ihrer Behauptung, Hus-sein verfüge über Massenvernich-tungswaffen, die Unwahrheit sag-ten oder daran glaubten.Der Krieg hat auch im Hinblick auf die Eindämmung von Mas-senvernichtungswaffen versagt. Denn jene, die an der Entwick-lung solcher Waffen arbeiten, gelangten zur Überzeugung, es sei Eile geboten. Für sie ist die „Bombe“ Gewähr, ihre Tage nicht am Galgen zu beschließen.Die im Irak gewaltsam begonne-ne und zum spontanen „arabi-

In einen länger andauernden Dis-put um Russlands Geschichte hat sich jetzt Präsident Wladimir

Putin eingeschaltet. Er vertrat die Idee, „richtige“, einheitliche Schul-bücher zu dem Thema auszuarbei-ten, um damit Toleranz und Ein-vernehmen zwischen den Nationa-litäten zu fördern.Allerdings ist die russische Ge-schichte keine, die alle versöhnen würde. Und eine Geschichts-schreibung, die der jetzigen Füh-rung gefällt, wird garantiert nicht ehrlich sein, sondern könnte die Konfl ikte bei der „Völkerverstän-digung“ nur verschärfen. Putin erklärte, die Lehrbücher sollten „im Rahmen einer einheit-lichen Konzeption, im Rahmen einer Logik der historischen Kon-

Fjodor

LukjanowPOLITOLOGE

Semjon

NowoprudskijJOURNALIST

folgenden Mobilisierung als Welt-macht zu positionieren begann, einen Schlag versetzt. Ein Ergeb-nis davon ist die relative, für einen amerikanischen Präsidenten je-doch starke Zurückhaltung, die Obama heute an den Tag legt.Und der Krieg hat den UN-Sicher-heitsrat in die internationale Po-litik zurückgebracht. Als die USA ihn begannen, schienen die Ver-einten Nationen überflüssig zu sein. Doch schnell wurde klar: Anstelle der Nato lässt sich zwar eine „Koalition der Willigen“ rekrutieren, auch ohne UN-Man-dat lässt sich ein Regime stürzen, nicht aber danach etwas Dauer-haftes aufbauen. Unter George W. Bush musste Washington ein-sehen, dass die UN-Strukturen

nicht so nutzlos sind, wie sie ihm schienen.Der Irakkrieg hat die politischen Unterschiede zwischen der Alten und der Neuen Welt verdeutlicht. Führende europäische Staaten

verweigerten ihre Teilnah-me. Die transatlantische Ei-nigkeit hat freilich keinen bleibenden Schaden ge-nommen. Die damalige Bri-sanz der Unstimmigkeiten – in Amerika gab es sogar Aufrufe, alle französischen Waren zu boykottieren – ist verfl ogen.Klar zutage trat, dass die Nato nicht als „Weltpolizei“ geeig-net ist. Die Suche nach einer

neuen Aufgabe für die Allianz hält an, derzeit gewinnt sie Kon-tur als eine regionale Militäror-ganisation, die Aufgaben in un-mittelbarer Nähe der euroatlan-tischen Verantwortungszone löst.Für Russland war der Irakkrieg

aus zweierlei Gründen rich-tungsweisend. Einerseits zerstörte er den Glauben, die westliche Politik sei weitsichtig, bedacht und ra-

tional. Moskau betonte von Anfang an, dass das „Abenteuer“ nichts Gutes bringen würde, und behielt damit recht. Zum anderen begann Russland, sich auf seine eigenen Stärken zu konzentrieren. Denn wie wir sehen konnten, tun einige, was sie wollen, und lassen sich von kei-nerlei Völkerrecht aufhalten. Seit-dem ist Moskau auf die verschie-densten Szenarien eingestellt. Man müsse besonnen, aber ge-fechtsbereit sein. Das ist noch keine Strategie, sondern lediglich Taktik – aber für einige Zeit wird sie funktionieren.

Fjodor Lukjanow ist Vorsitzender des Think Tanks „Rat für Außen- und Verteidigungspolitik“.

tinuität und eines Zusammen-hangs der unterschiedlichen Etap-pen sowie des Respektierens aller Kapitel der wechselhaften Ver-gangenheit“ gestaltet sein. Was der Präsident da über den „Zusammenhang der Zeiten“ sagt, ist sehr richtig. In Russland sprang man bisweilen mit der Geschich-te um wie Jack the Ripper mit sei-nen Opfern. Was dazu führte, dass das historische Bewusstsein der Nation zerrissen und bruchstück-haft ist, dass wir nicht verstehen, wer wir sind und wohin wir gehen. Bezüglich des Respektierens aller Seiten unserer Vergangenheit lie-gen die Dinge noch schwieriger. Ein normaler Mensch tut sich schwer damit, die Zarenmorde, die Deportation der Tschetschenen, die Stalin’schen Repressionen, die grausame Vergeltung Iwans des Schrecklichen an seinen Unterta-nen oder die Besetzung der balti-

schen Länder zu respektieren: Es gibt zahlreiche Kapitel in unserer Geschichte, die man kennen, je-doch nicht respektieren muss.Putin zufolge soll an konkreten Beispielen gezeigt werden, „dass das Schicksal Russlands durch die Einigkeit verschiedener Völker, Traditionen und Kulturen geprägt wurde.“ Dagegen kann man nichts einwenden. Nur fi nden sich zahl-lose Beispiele dafür, dass diese „Einigkeit“, gelinde gesagt, keine freiwillige war. „Die Schulbücher müssen in gepfl egtem Russisch ab-gefasst und frei von inneren Wi-dersprüchen sowie Doppeldeutig-keiten sein.“ Mit der Vermeidung innerer Widersprüche gerät man erst recht in einen Hinterhalt. Jedes Lehrbuch, das die „einzig richtige“ Version der Ereignisse anbieten will, wird zwangsläufi g andere verzerren. Dafür ist Russ-land zu komplex strukturiert: Die

Einnahme der Stadt Kasan durch Iwan den Schrecklichen wird für die Tataren stets eine andere Be-deutung haben als für das impe-riale Bewusstsein, mit dem sich Putin offenkundig geistesver-wandt fühlt. Ein fundamentales Hindernis für ein allgemein gültiges Schulbuch zur Geschichte Russlands ist auch das Fehlen klarer, allenthalben anerkannter Grundwerte. Wir sind außerstande zu formulieren, wozu unsere Geschichte gut ist. Putin schlägt im Grunde vor, das neue Lehrbuch zu erdichten. Dabei wäre es besser, die historischen Er-eignisse einfach nur darzu-stellen ohne irgendwelche erfun-dene Zutaten und ohne eindeutige Wertungen.

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gazeta.ru

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schen Frühling“ mutierte Demo-kratisierung des Nahen Ostens entmutigt. Die neuen, von der Bevölkerungsmehrheit gewählten Regierungen sind antiwestlich eingestellt. Doch hat der Irakkrieg der Welt auch Nutzen gebracht?In erster Linie hat er dem Selbst-bewusstsein der USA, die sich nach der auf den 11. September

In Russland zerstörte der Krieg den Glauben, die westliche Politik sei weitsichtig, bedacht und rational.

DER IRAKKRIEG UND SEINE FOLGEN

NIJAZ KARIMOW

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUFeuilleton

SIEGFRIED BRESLERFÜR RUSSLAND HEUTE

Auf der Suche nach einer besse-

ren Welt kam der Worpsweder

Künstler Heinrich Vogeler in die

Sowjetunion. Was voll Hoffnung

begann, fand sein Ende in der

kasachischen Steppe.

FÜR EINE BESSERE WELT

EINE VERZWEIFELTE SUCHE, EIN

TRAGISCHES ENDE: ZUM 71. TODESTAG

DES WORPSWEDER KÜNSTLERS

KUNST HEINRICH VOGELER

Das Leben des Künstlers Hein-rich Vogeler ist geprägt von einem Kindheitserlebnis: Nach einer Überschwemmung sah er vom Bremer Elternhaus am Horizont eine in der Sonne golden schei-nende Insel. Das war der von Wasser umschlossene Weyerberg in Worpswede, an dessen Fuße er Jahre später seinen Lebens-mittelpunkt und sein Gesamt-kunstwerk, den Barkenhoff (plattdeutsch für Birkenhof), schaffen sollte. Diese goldene Insel blieb lebenslang das Sinn-bild seiner Suche nach einer bes-seren Welt.

Vogeler als GesamtkunstwerkJohann Heinrich Vogeler kam am 12. Dezember 1872 in einer gut-bürgerlichen Bremer Familie zur Welt. Seine Eltern ermöglichten ihm ein Studium an der Kunst-akademie in Düsseldorf. Dort fühlte er sich schnell beim Ko-pieren antiker Gipsvorlagen vom klassischen Akademiebetrieb gelangweilt. Auf Reisen in die Kunstmetro-polen Belgiens, Frankreichs und Italiens entwickelte er seinen ei-

ihm die Augen mit Erzählungen von seinen Russlandreisen und seinen Begegnungen mit Leo Tolstoi. In Vogeler entstand eine tiefe Zuneigung und ein dauer-haftes Interesse an dem unbe-kannten Land. War dort seine neue Insel?

Zunächst widmete er sich den so-zialen Realitäten im eigenen Land und begann die Ungerech-tigkeiten des Kaiserreichs wahr-zunehmen. Vogeler engagierte sich sozial, gründete 1908 mit sei-nem Bruder eine Möbelfabrik, entwarf preiswerte, stilvolle Se-rienmöbel und konzipierte auch für Arbeiter und Bauern er-schwingliche Wohnhäuser.

Freiwillig an die FrontDer Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte eine Wende in Vogelers Leben. Seine Ehe mit Martha war ge-scheitert, seine Jugendstil-kunst nicht mehr gefragt, und sein soziales Engagement wurde belächelt. Aus dieser Erstarrung entkam er mit seiner Meldung als Kriegsfreiwilliger. In einem Brief an seine Frau schrieb er: „Ich ziehe nun aus, um […] zu leben. Ich suche das Leben, das an anderer Stelle ungewertet verkümmert.“ Er fand das Leben an der Ost-front, wo er Flugblätter russi-scher Soldaten zu lesen bekam, und er erkannte, dass in Russ-land Veränderungen begonnen hatten, die seinen Vorstellungen einer menschlicheren Gesell-schaft nahekamen. Er entlarvte den Krieg als Unterdrückung der freiheitsliebenden Völker und verfasste im Januar 1918 einen Friedensappell an den Kaiser:

„Sei Friedensfürst, setze an die Stelle des Wor-

tes die Tat, Demut an die Stelle der Siegereitelkeit, Wahrheit an-statt Lüge, Aufbau anstatt Zer-störung. In die Knie vor der Liebe Gottes, sei Erlöser, habe die Kraft des Dienens! Kaiser!“ Der Auf-ruf brachte Vogeler einen Auf-enthalt in einer Bremer Irren-anstalt ein.Voller Lebensmut kehrte er im Frühjahr 1918 auf den Barken-hoff zurück. Hier wollte er sich einer neuen Gesellschaftsord-nung zuwenden, die sozialistisch und der christlichen Ethik ver-

Er lebte auf seiner goldenen Insel, abge-schlossen vom wirklichen Leben durch Hecken und die Rahmen seiner Bilder.

„Die Erwartung“ (oben) von 1912 ist einer der Höhepunkte

der Jugendstilphase Heinrich Vogelers.

genen Stil. 1894 ließ er sich in der neu entstandenen Künstler-kolonie Worpswede nieder und erwarb eine alte Bauernkate. Als Jüngster der Künstlergrup-pe nahm er von Beginn an eine Sonderstellung ein. Vogeler malte Märchenbilder, versetzte sei-ne Figuren ins Mittelalter und schmückte seine Grafi ken mit fl o-ralen Ornamenten. Sein Bauern-haus baute er zu einer Villa, den Barkenhoff, um und richtete ihn mit selbst entworfenen Ge-brauchsgegenständen ein. Die-sem Gesamtkunstwerk fügte er seine Frau Martha hinzu, die in von ihm entworfenen Kleidern und Schmuck Modell stehen musste. Als Maler, Designer und Jugendstilgrafi ker erlangte Vo-geler große Anerkennung. Er be-schickte Ausstellungen in vielen deutschen Städten, illustrierte Bücher renommierter Verlage und gestaltete einen Jugendstil-saal im Bremer Rathaus, die heute noch erhaltene Güldenkammer.Bald kamen ihm Zweifel an der Welt, in der er sich eingerichtet hatte: „Ich schuf mir aus meinem privaten Leben eine Abkehr von der Außenwelt, die mir einmal zum Verhängnis werden muss-te.“ Vogeler lebte auf seiner gol-denen Insel, abgeschlossen vom wirklichen Leben durch Hecken, Mauern und die Rahmen seiner Bilder. Rainer Maria Rilke, der 1900 auf dem Barkenhoff lebte, öffnete

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Feuilleton

KULTUR-

KALENDER

FILM

FESTIVAL DES MITTEL- UND

OSTEUROPÄISCHEN FILMS

10. BIS 16. APRIL, WIESBADEN

Zum 13. Mal präsentiert das Festival Filme, die auf deutschen Leinwänden sonst nicht zu sehen sind. Filme aus Ungarn, Georgien, Russland und an-deren Ländern des ehemaligen „Ost-blocks“ geben einen Eindruck von der vielfältigen Wirklichkeit dieser Region. › filmfestival-goeast.de

KUNST

PETER DER GROSSE –

DER BEFLÜGELNDE ZAR

BIS 13. SEPT., HERMITAGE AMSTERDAM

MUSIK

JAZZ MIT IGOR BUTMAN

27. APRIL, BADEN-BADEN

Der herausragende russische Jazz-Saxophonist Igor Butman und das Moskauer Staatliche Jazzorchester geben um 19 Uhr ein Konzert im Weinbrennersaal des Kurhauses. Infos und Karten zu den Veranstal-tungen im Rahmen der II. Russischen Kulturtage in Baden-Baden unter › art-baden.com

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RUSSISCHE KULTUR AUF

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LESENSWERT

In Moskau ist die Hölle los

Teufel auch! Beinahe hätte Ale-xander Nitzberg den Überset-zerpreis der Leipziger Buchmes-se erhalten. Aber die Zeit, alsein Spezialist für schwarzeMagie namens Woland für Tru-bel und Gerechtigkeit sorgte,ist vorbei, ist – russische Lite-ratur! Michail Bulgakow, Arzt,Dramatiker und Schriftsteller,schrieb „Meister und Margari-ta“ in schlimmer Zeit. Geäch-tet und verboten starb er 1940mit nur 49 Jahren. Aber vorherschickte er in seinem Roman,der ab den 1960er-Jahren zumKultbuch wurde, den Teufel,sprich Woland, mit seinem Ge-folge als Teil des ewig Gutenins Moskau der Stalinzeit. Wo-land mischt die atheistischeSowjetgesellschaft mächtig auf.Denn wo ein Teufel, da auchGott! Wer das nicht anerkennt,dem geht es an den Kragen.Erstmals arbeitet der Überset-zer die poetischen Kostbarkei-ten des Romans heraus undverleiht ihm damit den gebüh-renden Rang eines Schlüssel-werks der Moderne. Die sprach-liche Vielfalt und Schönheit, dieNitzberg bei Bulgakow fand,übertrug er in ein aufgerautesDeutsch, das oft kühn gegrif-fen ist und dialektale Färbun-gen kräftig nutzt. Rhythmen,Klänge, Reime und starke Bild-lichkeiten haben Vorrang vorglatten deutschen Lösungen. Eine stark rhythmisierte Spra-che verwendet Bulgakow beson-ders da, wo er als auktorialerErzähler in Erscheinung tritt.Endlich ist nicht nur die be-rühmte Szene an den Patriar-chenteichen, sondern auch dieEröffnung des Pilatus-Romansin der Dynamik zum finalenPunkt hin im Deutschen da: „Imweißen Gewand, blutig umbor-det, trat mit schlurfendem Rei-terschritt am frühen Morgendes vierzehnten Tages im Früh-lingsmonat Nisan …“ Und bittelaut weiterlesen!Die umfangreichen Kommen-tare, die Nitzberg im Anhangan die Kapitel gibt, versetzenjeden neugierigen Leser in Ent-zücken. Die Zeit der übergebü-gelten Übersetzungen ist fürBulgakow endlich vorbei. Ma-nuskripte brennen nicht!

Ruth Wyneken

Michail Bulgakow: „Meister und Margarita“, 608 Seiten, erschienen bei Galiani, Berlin 2012, 29,99 Euro

LESUNG

„MEINE RUSSISCHE

SCHWIEGERMUTTER“

11. APRIL, 20.30 UHR, LEHMANNS,

HANNOVER

Amüsant beschreibt die Hamburger Autorin und Journalistin Alexandra Fröhlich die Unwägbarkeiten einer deutsch-russischen Ehe. › lehmanns.de/page/verhannover

DISKUSSION

„WOHIN STÜRMST DU,

RUSSLAND?“

18. APRIL, 19 UHR, UNIVERSITÄT DER

KÜNSTE, BERLIN

Ljudmila Ulitzkaja, Sachar Prilepin, Ingo Schulze und andere diskutieren über Rolle und Macht des Wortes in ihren Gesellschaften. › adk.de

2013 ist „Niederlande-Russland-Jahr“, das mit einer Ausstellung über Peter den Großen in der Amsterdamer He-remitage eröffnet wird. Sie beschäf-tigt sich mit dem besonderen Einfluss, den die Niederlande auf den großen russischen Reformator hatten. › hermitage.nl

kam mit der Hoffnung, dort den Aufbau einer menschlicheren Ge-sellschaft zu erleben, für die er selbst tätig werden wollte. Seine russischen Reiseberichte aus dem Jahr 1925 sprühen vor Optimismus: „Wie viel schöner und ruhiger sind hier die Men-schen, denen man ins Antlitz sieht, im Vergleich zu den Men-schen des Westens. [...] Freie Men-schen, die das Schlimmste ge-tragen haben, um ihren Kindern den Zukunftsweg zu sichern.“ Vogeler scheint hier seine neue goldene Insel gefunden zu haben und war von ihr geblendet. Künstlerisch veränderte er sich und entwickelte eine moderne,

montageartige Maltechnik. Sein erstes Gemälde als Kom-

plexbild nannte er „Die Geburt des Neuen Menschen“ und wid-mete es seinem Sohn Jan, der im Oktober 1923 in Moskau zur Welt kam. Im selben Jahr entstand das Komplexbild „Rote Metropole“. Der Kreml ist überstrahlt von einem überdimensionalen Sow-jetstern, der an den Stern von Bethlehem erinnert. Bis 1931 pendelte Vogeler zwischen Ber-lin und Russland. Volle Skizzen-bücher und Reisetagebücher zeu-gen von einer kreativen Zeit, doch private Zerwürfnisse und poli-tische Auseinandersetzungen raubten ihm auch Kraft.

Kampf dem HitlerfaschismusVor seiner letzten Moskaureise im Juni 1931 schrieb er seiner ersten Frau Martha nach Worps-wede: „Was aus mir in nächster Zeit wird, weiß ich noch nicht, da ich viel drangesetzt habe, nach Rußland zu kommen. Wenn das nichts wird, was naheliegt, komme ich dann gern etwas zur Arbeit zu Euch.“ Heinrich Vogeler kam nach Russ-land und kehrte nie wieder nach Deutschland zurück, denn bei den Nazis stand er auf der Fahndungs-liste. Aus Moskau engagierte er sich gegen Hitler und entwarf an-tifaschistische Plakate und Flug-blätter. In einer Rundfunkanspra-

Nach Russland kam er mit der Hoffnung, am Aufbau einer menschlicheren Gesell-schaft teilzunehmen.

pfl ichtet sein sollte. Mit Gleich-gesinnten gründete er eine Kom-mune und Arbeitsschule, die sich der Erziehung des Neuen Menschen widmete und sich an den vom Anarchisten Pjotr Kropotkin verbreite-ten Idealen der gegenseiti-gen Hilfe orientierte.

„Rote Hilfe“ im Barkenhoff Auch Heinrich Vogeler verbrei-tete seine politischen und päda-gogischen Ideen in Schriften, die den Barkenhoff im ganzen Land bekannt machten. Die Barkenhoff-Gemeinschaft bekannte sich zur Russischen Revolution und sah sich als „Auf-bauzelle der klassenlosen mensch-lichen Gesellschaft“. Trotz ideo-logischer Streitigkeiten, behörd-licher Einfl ussnahmen und großer fi nanzieller Probleme konnte das sozialistische Experiment am Weyerberg bis 1923 bestehen. Da-nach wurde der Barkenhoff ein Kinderheim der Roten Hilfe, in dem Arbeiterkinder Erholung fi n-den konnten.

Aufbruch nach RusslandVogeler brach im Juni 1923 ge-meinsam mit seiner zweiten Frau Sonja Marchlewska zu neuen Ufern auf und reiste nach Mos-kau. Als Schwiegersohn des Le-nin-Freundes Julian Marchlews-ki hatte Vogeler in Russland gleich eine hohe Reputation. Er

Der Rote Stern überstrahlt Karelia und Murmansk (links). Das

Tyrnyaus-Kombinat in Kabardino Balkarien (rechts)

che wandte er sich an deutsche Künstler: „Ich lebe in Sowjet-Russland und habe hier die Mög-lichkeit, meine Kunst treu auszu-üben. […] Deutscher Künstler, für dich gibt es nur eins [...]: Entfalte deine ganze Kraft, um den Hit-ler-Faschismus zu vernichten.“ Seine intensive Schaffensperiode endete mit dem Überfall der Wehrmacht auf Russland.

Tod in der SteppeIm September 1941 brachte man Vogeler mit anderen Exilanten nach Kasachstan. In primitiven Verhältnissen lebte er in einer Kolchose in der Steppe. Die harte Arbeit, eine schwache Gesund-heit und mangelnde Ernährung hielt er nur wenige Monate aus. Seinen Freunden in Moskau klagte er sein Leid: „Wir sind weit weg von der Bahn. Steppe ohne Baum und Strauch. Wind, Wind, Sturm. Sehr schlecht für meine verknöcherte Brust. […] Ich hatte mir das Ende meines Lebens anders gedacht, hatte gedacht, man könnte aktiv sein bis an das Ende.“ Am 14. Juni 1942 starb Vogeler im Krankenhaus der Kolchose Budjonny. Die Suche nach der goldenen Insel, einer Welt, in der alle Menschen friedvoll und glücklich miteinander leben, en-dete in der trostlosen Steppe, ohne dass er das neue Utopia ge-funden hatte.

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPorträt

Ein Leben für das Gold des Meeres 8. MaiÜber den Rekonstrukteur des Bernsteinzimmers Alexander Krylow

Von der Wolga an den RheinMusik Ein russisches Sängerpaar erobert die Deutsche Oper am Rhein

DARIA BOLL-PALIEVSKAYAFÜR RUSSLAND HEUTE

Figaro von der Wolga, Rosina

aus Sibirien: In der Düsseldorfer

Inszenierung des „Barbier von

Sevilla“ stehen Maria Kataeva

und ihr Mann Dmitry erstmals

gemeinsam auf der Bühne.

Eine wunderschöne Baritonstim-me übertönt den Chor der russi-schen Maria-Obhut-Kirche in Düsseldorf. Wieso kommt sie mir so bekannt vor? Das ist doch der Silvio aus Leoncavallos „Pagliac-ci“, den ich neulich in der Deut-schen Oper am Rhein sah!

Russkij Rock oder Mathe?Dass ich den 31-jährigen Opern-sänger Dmitry Lavrov in der Kir-che kennenlerne, ist kein Zufall. Lange Zeit konnte sich der Junge aus Jaroslawl an der Wolga nicht zwischen Mathematik, Priester-amt und einer Karriere als Opern-sänger entscheiden. Alles begann mit der Musikschule, wo der klei-ne Dima im Chor sang. „Seit mei-nem dreizehnten Lebensjahr sang

ich auch in einem Kirchenchor. Mein Vorbild war unser Ober-diakon Vater Georgij – ein ganz hervorragender Bariton. Jedes Mal, wenn ich ihn singen hörte, dachte ich: ‚So will ich es auch können.‘“ Doch seine große Lei-denschaft gehörte der Mathema-tik, und so schrieb sich Dmitry in diesem Fach an der Uni ein. Als Student entdeckte er dann den „Russkij Rock“ und gründete eine eigene Band. „Manchmal haben wir abends ein Rockkonzert ge-geben, und am nächsten Morgen sang ich in der Kirche.“ Am Ende siegte die Musik. Zur Entrüstung der Professoren schmiss Dmitry die Mathematik und begann ein Gesangsstudium.

Maria setzt alles auf eine KarteFür seine Frau Maria Kataeva war von Anfang an klar: „Ich werde Sängerin.“ Schon mit vier Jahren stand die Tochter einer Musike-rin auf der Bühne: „Ich sang nicht nur im Kinderchor, ich erledigte auch ‚Verwaltungsaufgaben‘. Meine Freundin drehte sich vor

lauter Angst ständig weg vom Mi-krofon, also nahm ich ihren Kopf in die Hände und drehte ihn zur großen Belustigung des Publikums zurück. Ich verstand nicht, wie man Lampenfi eber haben kann“, erzählt die zierliche 26-Jährige,

die eher wie eine Ballerina als eine Mezzosopranistin aussieht. Wir sitzen in der Wohnung des Sängerpaares im Düsseldorfer Zentrum. „Wenn mir jemand vor zwei Jahren gesagt hätte, du wirst auf einer der besten Bühnen Deutschlands singen, hätte ich es nicht geglaubt“, sagt Maria.Sie stammt aus dem sibirischen Nowokusnezk, einer Großstadt mit viel Industrie, aber ohne Oper. Wer trotzdem Opern sehen will, schaltet den Fernseher ein oder

fährt ins 400 Kilometer entfernte Nowosibirsk. Aber ihr Wunsch, Opernsängerin zu werden, war so stark, dass sie mit 19 alles auf eine Karte setzte: Sie fl og die 4000 Ki-lometer nach St. Petersburg, um ihr Glück am besten Konservato-

rium Russlands zu versuchen. Im ersten Jahr scheiterte sie, dann klappte es.Und hier traf sie ihre große Liebe. „Kennengelernt haben wir uns beim ‚Barbier von Sevilla‘, aber nicht auf der Bühne, sondern im Publikum“, erinnert sich Dmitry, der damals ebenfalls in Peters-burg studierte. Der Umzug nach Deutschland kam zufällig: Bei einem Casting hörte der Intendant der Deutschen Oper am Rhein den russischen Ba-

riton und engagierte ihn. Ein Jahrspäter folgte Maria ihrem Mann.Die Leitung der Rheinoper warvon der jungen Sängerin so be-geistert, dass sie noch vor dem Ab-schluss des Konservatoriums fürdas Opernstudio engagiert wurde.„Dabei wusste die Jury bei mei-nem Vorsingen nicht, dass wir ver-heiratet sind“, sagt sie.

Der Rhein? „Eher niedlich ...“Das Engagement am Rhein sehensie als große Chance. „In Russ-land gibt es keine richtige Talent-förderung“, erzählt Lavrov, „des-halb ist es sehr schwer, nach obenzu kommen.“ Russische Opern-stars wie Anna Netrebko hättensich erst im Westen einen Namengemacht, sagt er.Aber sie wollen hier auch viel ler-nen. „Die russische Gesangsschu-le ist zwar eine der besten der Welt,aber wir haben leider keine Tra-dition, ein Musikstück in der je-weiligen Sprache zu singen“, er-zählt Lavrov. Stattdessen werdealles auf Russisch einstudiert. Die Sänger haben sich sofort indie Düsseldorfer Altstadt verliebt.Den Rhein haben sie sich aller-dings anders vorgestellt: „Im Ver-gleich zur Wolga oder zu sibiri-schen Flüssen ist er eher niedlich.“Besonders gut gefällt ihnen derungezwungene Umgang der Men-schen. „Es ist hier ganz üblich,dass sich der Intendant in der Kan-tine zu dir setzt und mit dir wiemit einem Kollegen spricht. InRussland würde eine Berühmtheitnicht mal deine Begrüßung erwi-dern“, erzählen sie.

Familie vor ErfolgDas deutsche Publikum ist begeis-tert von dem Sängerpaar. „DieDeutschen reagieren sehr emoti-onal und haben keine Angst, ihreGefühle zu zeigen. Vielleicht hatdies mit einer lockeren Lebens-einstellung des westlichen Men-schen zu tun.“ Allerdings vermissen sie das rus-sische Repertoire. „Leider sind imWesten nur zwei russische Opernrichtig bekannt: ‚Eugen Onegin‘und ‚Boris Godunow‘“, beklagtDmitry. Deswegen hatten sie sichgefreut, im Sommer 2012 bei einemrussischen Liederabend im Foyerder Rheinoper Werke von Tschai-kowski und Rachmaninow vor-stellen zu dürfen.Träumen sie davon, irgendwannberühmt nach Russland zurück-zukehren? „Der große Traum ist,unser Leben lang zu singen“, sagtMaria lachend. „Und wir wolleneine Familie sein. Was nützt einegroße Karriere, wenn die Liebedaran scheitert?“, sagt Dmitry undschaut seine Frau zärtlich an. Im Juli geht ein großer Traum des„singenden Ehepaares“ in Erfül-lung: Dann stehen sie als Rosinaund Figaro in Rossinis „Barbiervon Sevilla“ zusammen auf derBühne, jener Oper, bei der ihreLiebe begann.

1. Maria Kataeva im Kostüm der Rosina aus Rossinis „Barbier von Sevilla“ zusammen mit ihrem Mann Dmitry Lavrov; 2. Maria Kataeva im

Großen Saal der Petersburger Philharmonie; 3. Der Bariton Dmitry Lavrov: 2011 hat er den Emmerich Smola Förderpreis gewonnen.

In ihrer Heimatstadt Nowokusnezk gibt es zwar viel Industrie, aber bis zur nächsten Oper sind es 400 Kilometer.

Leider sind im Westen nur zwei russische Opern richtig bekannt: „Eugen Onegin“ und „Boris Godunow“.

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PAULINE TILLMANN