schmitzmas 09

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ANTJE WAGNER JOEUX NOEL! FRÖHLICHE WEIHNACHTEN! mit illustrationen von dirk uhlenbrock

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die weihnachtsgabe der buchhandlung schmitz

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ANTJE WAGNERJOEUX NOEL! FRÖHLICHE WEIHNACHTEN!

mit illustrationen von dirk uhlenbrock

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Rita mochte Weihnachten. Weihnachten war eine Zeit zum Wohlfühlen. Und Rita fühlte sich

wohl. Liebevoll sah sie über all die Dinge, die sie sorgsam zusam-mengetragen hatte und die ihre kleine Wohnung behaglich machten: die Kristallschale, ein Geschenk ihrer tschechischen Tante Tereza, deren Glas zu feinen, fantasievollen Schneeflocken geschnitten war. Die Königin der Nacht auf dem Fensterbrett – ein bizarr geformter Kaktus, der einen interessanten Schatten warf. Das türkische Beistell-tischchen, auf dem sich die Pyramide drehte. Bei jeder Runde stieß ein Engelchen mit seinem Ärmchen gegen eine Metallschelle, dann machte es leise Kling. Rita hatte sich mit einem heißen Kakao auf ihren Sessel am Fenster zurückgezogen, auf dem Schoß einen ihrer guten rotgoldenen Teller, darauf ein Stück Marzipanstollen. Sie hat-te die Beine behaglich ausgestreckt. Alles war an seinem Platz, war perfekt. Gerade wollte sie die Zungenspitze in die feine Puderzuckerschicht

am Stollenrand eintauchen, als es an der Tür klopfte. Rita setzte den Teller ab und starrte auf die Tür. Das musste ein Versehen sein. Sie bekam nie Besuch. Höchstens vom Heizungsableser oder den Zeu-gen Jehovas. Sie würde einfach nicht aufmachen! Kling machte die Pyramide

dazu, und Rita blieb sitzen und nahm den Teller wieder auf, als wäre nichts geschehen. Da klopfte es wieder.

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»Frau Simon«, hörte Rita jetzt eine Stimme gleich vor ihrer Woh-nungstür. »Bitte machen Sie auf. Ich hab ein … Problem …« Es war eine angenehme Stimme. Eine weiche, knabenhafte Stim-

me, die sie an eine bestimmte Werbung im Kino erinnerte, wo junge Leute in einer tief verschneiten Hütte am Kamin zusammensaßen und eine leichte Zigarettenmarke rauchte. F6 oder war es Kabinett?Es klopfte wieder. »Frau Simon?«Rita stand zögernd auf, ging zur Tür und schob sie auf.Und als sie dann die ungewöhnlich blasse Person mit den dunklen

Augen ansah, passierte etwas Seltsames: Sie hatte das Gefühl, kurz zu träumen … von irgendwoher kannte sie diese Augen … und dann fiel es ihr ein: Der Engel auf der Weihnachtskarte von Tante Tereza hatte solche Augen. Irgendwie unschuldig und doch auch … »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der junge Mann und riss sie aus

ihren Gedanken. »Ich brauch Ihre Hilfe, ich …« Rita sah in Richtung des ausgestreckten Fingers und verstand sofort. Aus seiner Wohnung drang dicker Qualm!Statt irgendwas zu unternehmen, stand der Mann vor Rita und

knetete nur hilflos die Hände. Da rannte sie los. Sie rannte in die Nachbarwohnung, den Rauchwolken entgegen, drang hustend bis in die Küche vor, riss den Ofen auf, griff geistesgegenwärtig nach zwei Topflappen und zog das Malheur hervor – ein schwarzes Ding, das sie ins Abwaschbecken warf und den Wasserhahn darüber aufdrehte.

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Dann rannte sie zum Küchenfenster und riss es auf. Sie sog die frische Luft gierig ein. »Sind Sie verletzt, Frau Simon?« rief der junge Mann besorgt aus

dem Hausflur. Rita warf einen kurzen Blick über die Küche. Da stapelten sich Teller in der Spüle, der Tisch war fleckig, und auch der Boden müsste gewischt werden. Das Wohnzimmer dahinter war ebenfalls ein einziges Durcheinander. Er schien allein zu leben, und er schien kein Händchen für Hausarbeit zu haben oder gar dafür, eine Wohnung behaglich herzurichten. Aus irgendeinem Grund rührte sie das. »Frau Simon? Haben Sie sich verbrannt?« Sie drehte sich um. »Nein.« Er stand noch immer im Hausflur. Jetzt wendete er den Kopf und

sah zu ihrer Wohnungstür, aus der ein anheimelnder, rötlicher Schein drang. Rita hatte lange gesucht, bis sie diesen Lampenschirm gefun-den hatte, der das elektrische Licht mit Wärme überzog. Sie sah, wie er sehnsüchtig ihr türkisches Tischchen und die Kristallschale betrachtete, die das zitternde Licht der Pyramidenkerzen einfing und in ihren geschliffenen Schneeflocken spiegelte. Zögernd nur drehte er sich wieder um und sah zu seiner eigenen Wohnung, die kalt und unaufgeräumt und verqualmt war, dann zog er den Kopf zwischen die Schultern. Da empfand sie plötzlich ein Gefühl, für das sie keinen Namen

hatte, das sich aber warm wie eine Hand um ihr Herz legte. Sie be-trachtete ihn, diesen schüchternen Mann mit den Augen von Tante Terezas Engel und mit der Stimme einer leichten Zigarettenmarke und sagte: »Wissen Sie was: Ich habe mir vorhin eine viel zu große Kanne heiße Schokolade gemacht.« Sie formulierte es so feinfühlig sie konnte, weil sie spürte, dass er viel zu höflich dafür war, sie zu bitten, in ihrer Wohnung warten zu dürfen, bis der Qualm sich bei ihm verzogen hat. »Vielleicht mögen Sie eine Tasse mit mir trinken? Es wäre einfach schade darum…«»Aber …« Er sah sie verlegen an. »Nur, wenn es wirklich nicht …«»Das ist eine Einladung«, sagte sie lächelnd.

Als er auf dem Sofa saß und vorsichtig mit der Hand über den rot-grüngestreiften Stoff fuhr, den sie passend zu den Vorhängen ausge-

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wählt hatte, als sie einen zweiten rotgoldenen Teller und eine weitere Tasse vom Bord genommen und ihm eingeschenkt hatte, als sie ihm dann ein Stück Marzipanstollen mit dem verzierten Kuchenmesser abschnitt und sah, wie sehr er das alles bewunderte – da empfand sie sich selbst plötzlich als etwas Besonderes. »Ich krieg das einfach nicht hin«, sagte er. »Was meinen Sie?«»So eine Gemütlichkeit«, sagte er. »Ach«, sagte sie lächelnd, »Meine Tante Tereza sagt immer: Das

Wichtigste ist, dass der Fußboden aufgeräumt ist. Dann kommt alles andere von allein.« Er lachte. »Ich glaube, ich bin ein hoffnungsloser Fall, Frau Simon.« »Sagen Sie Rita zur mir« sagte sie. »Bitte.«»Noel«, sagte er fröhlich. »Ich heiße Noel.«Da krachte es. Es kam vom Korridor. Es krachte und polterte, als

würde jemand mit Bällen um sich werfen. Es hörte gar nicht mehr auf. »Was ist das denn«, sagte Rita erschrocken. Sie drehte sich zu ihrem

Gast um, der noch blasser geworden zu sein schien. Als er aufstand und durch das Zimmer ging, um ihre Wohnungstür einen Spalt weit zu öffnen und hinauszuspähen, folgte sie ihm. Sie sahen, wie ein Koffer von einem Berg Hosen und Pullover her-

abglitt. Dann ging die Wohnungstür von gegenüber auf und ein Platzregen aus Herrenschuhen folgte. Das Gesicht einer Frau er-schien dabei im Türspalt, auf der Stirn eine große Falte. Sie zischte dem jungen Mann zu: »Fröhliche Weihnachten!« Dann knallte die Tür ins Schloss. Rita drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht war jetzt so weiß wie die

Puderzuckerschicht auf ihrem Stollen. Er rief: »Lili, ich dachte wir … wir …«Aus der Nachbarswohnung kam nur ein herzhaftes »Verpiss dich!«

Dann hörten sie, wie ein Staubsauger angeschaltet und etwas hin- und hergeschoben wurde. Er lehnte matt an Ritas Wand. »Ich hab nicht gewusst, dass sie sie

schon entlassen würden«, flüsterte er. »Wenn ich sie zwinge, aufzu-machen und die Wohnung zu verlassen, bekommt sie vielleicht einen Rückfall.«

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»Sie hat ein psychisches Problem?« fragte Rita vorsichtig. Sie wollte ihm nicht zu nahe treten. Er nickte betreten, und da empfand sie auf einmal ein großes Mitgefühl. »Haben Sie jemanden, bei dem Sie über Nacht bleiben können?« Er schüttelte den Kopf, dann sagte er mit stockender Stimme: »Ich

hab nicht mal genug Geld für ein Hotel … ich meine … meine Ar-beit ist … sie ist nicht so …« Er verstummte. Augenscheinlich war es ihm peinlich, über seine finanziellen Verhältnisse zu reden. Rita, die ihn auf keinen Fall hatte beschämen wollen, sagte rasch: »Bleiben Sie bis morgen hier. Dann hat sich die Lage drüben sicher beruhigt. Sie können auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Außerdem hab ich eine Ente im Ofen. – Nicht verbrannt.«Er sah sie an, und ein Leuchten breitete sich auf seinem Gesicht aus,

ein ganz ungewöhnliches, irgendwie kindliches Leuchten, ganz so, als wäre sie, Rita, die Spenderin von Trost und Liebe und Hoffnung. »Danke«, sagte er leise. »Sie glauben nicht, was mir das bedeutet.«Am nächsten Morgen sahen sie, dass Lili das Schloss ausgewechselt

hatte. »Ich werde nicht darauf bestehen, dass sie meine Wohnung verlässt«,

sagte er mit fester Stimme. »Ich werde mir eine neue suchen. Ich kann es nicht riskieren, sie in Aufregung zu versetzen.« Rita war be-eindruckt von seiner Rücksicht. Es war der 25. Dezember und ein Feiertag, und am nächsten Tag

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war auch ein Feiertag, und danach kamen diese Tage kurz vor Silves-ter, wo alle verreist waren und niemand eine Wohnung vermietete. Er redete davon, in eine Pension zu ziehen, aber sie wusste ja, dass er kaum Geld hatte und bot ihm an, bis zum neuen Jahr zu bleiben.

Am 1. Januar begann er, sämtliche Wohnungsangebote anzurufen. Er tat es von der Telefonzelle aus, und Rita sah vom Fenster, wie er hinter der zerbrochenen Scheibe stand, den Hörer ans Ohr presste und wie der Atem weiß vor ihm aufstieg. Als er wieder hochkam, bedrückt den Kopf schüttelte und sich in die Hände blies, brachte sie ihm eine Tasse Tee und hielt ihm ihr eigenes Telefon hin. Er wollte abwehren. »Bitte tun Sie mir den Gefallen«, sagte Rita.

Auch nach drei Wochen hatte er nichts gefunden. Alle Wohnungen waren entweder zu teuer, zu weit draußen, oder eine Haussanierung stand kurz bevor. Er war verzweifelt. Rita beruhigte ihn. Solange er nichts Passendes gefunden hätte, könne er bei ihr wohnen, sagte sie. Sie hatte ihm erlaubt, ihren Computer und das Internet zu nutzen,

während sie auf der Arbeit war, und er loggte sich in Wohnungsbör-sen ein, las Anzeigen, gab selbst welche auf. Aber er fand nichts. Ende Februar fragte Rita vorsichtig: »Noel, vielleicht solltest du

noch mal mit Lili reden?« Da sah er sie so entsetzt an, dass sie sich

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auf die Zunge biss. »Das würde sie nicht verkraften«, sagte er leise.»Ich hab sie im Supermarkt gesehen«, wagte sie dennoch einzuwer-

fen. »Sie sah eigentlich ganz fröhlich aus.«»Das ist ja das Gefährliche«, sagte Noel. »Man kann es nicht sehen.

Sie war vor ihrem Zusammenbruch ganz genauso: fröhlich. – Aber gut, wenn du willst, rede ich mich ihr«, sagte er plötzlich entschlos-sen. »Ich kann verstehen, dass du langsam genug hast von meinem Besuch. Ich sag ihr, sie soll raus, und dann bin ich morgen schon wieder drüben. In meiner Wohnung. – Vielleicht geht’s ihr wirklich besser. Vielleicht bricht sie nicht zusammen. – Ja, ich versuch’s. Ich geh rüber.«»Nein!«, rief Rita erschrocken. »Wenn sie so labil ist, dann wäre es ja

… kriminell … such einfach weiter nach einer anderen Wohnung.« Doch Mitte März wurde Rita unruhig. Noel berichtete von seinen

täglichen Ergebnissen bei der Suche, aber sie schaffte es irgendwie nicht mehr, sich mit ihm zu freuen, dass er wieder gerade noch so geschafft hatte, einem Halsabschneider zu entkommen. Er erzählte davon, wenn sie abends von der Arbeit kam. Er erzählte mit aufgereg-ter Stimme, während sie in der Küche stand und etwas kochte, was er dann mit großer Begeisterung und viel Lob verschlag. Er erzählte, während sie abwusch oder im Wohnzimmer Staub wischte und seine Sachen vom Boden auflas. Ihr war längst aufgefallen, dass er nichts zum Haushalt beitrug. Aber

er war doch ihr Besuch, dachte sie, sie war seine Helferin in der Not. War es nicht geschmacklos, in so einer Situation Hausarbeit oder gar Geld zu verlangen?Doch als sie im Mai an Lilis Tür klopfte, war sie fest entschlossen.

Irgendwie war sie zu der Vermutung gekommen, dass Noel mit seiner Beschreibung von Lili eventuell übertrieben hatte. Rita hörte Schritte hinter der Tür, sie sah, wie der Spion sich ver-

dunkelte. Da sprach sie durch die Tür: »Ich würde gern mit Ihnen über Noel reden.« Der Spion wurde wieder hell. Und dann: nichts weiter. Die Tür blieb zu. Doch als Rita am nächsten Tag zur Arbeit ging, hing ein geflochte-

ner Kranz aus Knoblauchzehen an Lilis Tür. Vielleicht war sie doch verrückt, dachte Rita verwirrt.

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Im Juni fuhr sie in den Urlaub, und als sie im Juli wiederkam, war Noel immer noch da. Die Wohnung sah wie ein Saustall aus. Es war unbegreiflich, wie er das geschafft hatte: Auf jedem freien Fleck stan-den Teller mit Essensresten, der Boden knirschte beim Gehen, und kein Sitzmöbel war mehr unter den ganzen Klamotten zu sehen. Er saß mit hochgeschobenen Schultern da und flüsterte: »Ich krieg

das einfach nicht hin allein, Rita.« Sie stand da, mit ihrem Koffer in der Hand. Der Ärger blähte sich

in ihren Mund und wollte endlich über ihre Lippen, und sie holte Luft – da trat er einen kleinen Schritt beiseite, wie um sich vor ihr zu schützen, und ihr Blick fiel auf den Kaktus. Sofort sackte ihre Wut zusammen. »Das gibt’s doch nicht …« flüsterte sie. »Die Königin der Nacht be-

kommt eine Blüte!« Sie stürzte zum Fensterbrett, betrachtete den Kaktus, die winzige Blütenknospe auf seinem Haupt. »Sie blüht nur einmal im Leben. Einen Tag. An Weihnachten.« Sie war so glücklich, dass sie beschloss, nicht mehr sauer zu sein.

Im August war sie jedoch mit ihrer Geduld am Ende. Sie begann selbst nach Wohnungen für ihn zu suchen. Nach der Arbeit kaufte sie sämtliche Tageszeitungen und durchforstete die Anzeigen. Er ging auf jeden ihrer Vorschläge begeistert ein. Doch nach einer

Weile stellte sich immer heraus, dass irgendetwas an der Wohnung nicht stimmte: »Hast du gesehen, die haben eine Katze im Haus – ich bin doch extrem allergisch«, sagte er. Oder: »Das ist mit Mietstaf-felung und Zeitbindung. So was ist wie ein Sklavenvertrag, Rita.« Oder: »Ein Asbestdach? Ich dachte, Asbest ist lebensgefährlich?« Und jedesmal wischte er dann selbst die Bedenken beiseite und sagte: »Egal! – Mir ist völlig klar, dass ich hier raus muss. Und wenn du meinst, das mit dem Asbest ist ok, dann zieh ich da ein, Rita. Ja, ich tu’s. Ich geh gleich hin und unterschreib den Vertrag!« Und jedesmal hörte sich Rita erstaunt dabei zu, wie sie einlenkend sagte: »Nein, du hast Recht – das ist eine Zumutung. Wir finden etwas anderes.«Er suchte wirklich. Wann immer sie nach Hause kam, hing er am

Telefon und redete mit einem Vermieter oder einer Vermieterin. Er nickte Rita dann eifrig lächelnd zu, wies auf den Hörer und hielt den Daumen hoch.

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Weil er so angenehm reden konnte, zogen sich die Gespräche meist in die Länge, wurden persönlicher, und wenn Rita dann in der Küche stand, Kartoffeln schälte und hörte, wie Noel am Hörer lachte und über Dinge plauderte, die gar nichts mehr mit der Wohnung zu tun hatten, konnte sie es nicht ändern – sie verspürte Groll. Einen tief sitzenden, nagenden Groll. Das war seit etwa September so.Später stand er neben ihr und fragte neugierig: »Was gibt’s denn

heute?« »Kartoffelsuppe«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Meine Lieblingssuppe! Keiner kann die so gut kochen wie du,

Rita!« Aber selbst das hatte nicht mehr dieselbe Wirkung. Sie wollte ihm sagen, dass er sich das zweite Schälmesser nehmen oder wenigs-tens den Geschirrspüler ausräumen sollte, oder dass er, wenn er schon nicht den Staubsauger in die Hand nahm, seine Klamotten aufsam-meln könnte – da klingelte schon wieder ihr Telefon, und ein neues »Vermietergespräch« begann. Es machte ärgerlich. Es erschöpfte sie auch. Sie hörte ihn lachen,

und selbst das Lachen erschöpfte sie. Ihr Blick flatterte nervös davon und fand schließlich Halt an der Königin der Nacht, die still und zärtlich ihre Knospe trug und nährte. »Hör zu«, sagte sie im Oktober mit fester Stimme, »die Wohnung

ist zu klein für zwei.«

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»Aber Rita«, sagte er betroffen. »Denkst du etwa, dass ich hier woh-ne? Ich bin doch nur …« und seine Stimme war plötzlich ganz dünn. Wie die eines verletzten Vogels. Sein Blick war auf sie gerichtet, er-schrocken, groß, offen. Sie hatte das Gefühl, sie könnte bis in den Grund seiner Seele sehen. »Ich wusste nicht, dass ich dir so auf den Geist gehe. Ich … ich geh am besten jetzt sofort.« Und mit fliegenden Händen packte er seinen Koffer. Irgendwie schaffte er, ihre beschützende Seite zu berühren. Sie sagte:

»Hör auf damit, Noel. Du gehst mir nicht auf den Geist, aber viel-leicht könntest du … naja … ein bisschen intensiver suchen.« Plötz-lich tat er ihr leid. War sie etwa herzlos? Er bemühte sich doch so. Sie fühlte sich plötzlich so müde. An diesem Tag ging sie früh ins Bett. Vielleicht brütete sie etwas aus, jedenfalls verschwand die Müdigkeit

nicht. Auch nach Wochen nicht. Sie war nervös bei der Arbeit, Dinge fielen ihr aus den Händen, sie schnitt sich tief mit dem Schälmesser. Rita wusste: Sie musste ihn jetzt bitten zu gehen, egal wohin. Einfach weg. Sie brauchte Zeit für sich. Sie war schon ganz überreizt.Doch an dem Dezemberabend, als sie es ihm sagen wollte, stürzte

er ihr entgegen, nahm sie bei den Händen. »Jetzt beginnen die Feri-en«, rief er, und seine Augen sprühten vor Optimismus. »Die ganzen Studenten machen Urlaub. Da finde ich etwas zur Zwischenmiete. Garantiert. Ich hab mich damit abgefunden, dass ich im Moment

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nichts Permanentes finde. Ich nehme jetzt, was ich kriege! Nur noch ein paar Tage, Rita.« Sie nickte und wendete den Kopf ab. Um ihn nicht ansehen zu müs-

sen, nahm die Gießkanne und beträufelte vorsichtig die Königin der Nacht. Die Knospe gedieh. Ein kleines Wunder, das an Weihnachten blühen würde.

Am 23. Dezember hörte sie Stimmen, als sie nach Hause kam. No-els Stimme und … die Stimme einer Frau. Sie schob die Tür auf, vielleicht etwas zu heftig, denn sie sah, wie die Frau zusammenzuck-te, dann sagte sie mit fragendem Blick zu Rita: »Wer ist das, Noel?« Kling machte die Pyramide. »Oh, das ist nur Rita«, sagte er. »Eine gute Bekannte.« Und zu Rita:

»Das ist Anna. Sie vermietet eine Wohnung. Ich hab sie eingeladen, damit sie sich einen Eindruck von mir machen kann. – Willst du auch ein Glas Wein?« Rita sah über den Tisch, sah, dass er die Gemüsetorte, die sie am

Abend zuvor gebacken hatte, angeschnitten und auf ihren guten Tel-lern serviert hatte, dass auch der gute Wein, den sie für die Feiertage gekauft hatte, geöffnet dastand. »Ja, ist das nicht eine gute Idee von Noel?«, sagte die Frau und lachte

ein hohes, glitzerndes Lachen. »Wenn man jemanden in seine eige-nen vier Wände einlädt, dann kann der andere genau erkennen, was für ein Mensch er ist. Ob sorgsam oder eher … nachlässig. Und bei Noel ist alles perfekt. Er hat ein geregeltes Leben, er kocht sogar. Alles hat seinen Platz, und es ist so nett und freundlich. Finden Sie nicht auch?« Kling. Rita hob den Blick und sah die Frau an. Eine Frau, hoch wie eine

Tanne, mit schlankem Hals, auf dem – wie eine schmucke Weih-nachtsbaumspitze – ein hübscher Kopf saß. Augen darin wie grünes Glas, die sie kühl musterten. Als Rita nichts erwiderte, sagte sie mit einem leichten Unterton: »Wollen wir aufhören, Noel? Ich meine, wenn Sie Besuch haben, ist es vielleicht besser, wenn ich …« »Nein, nicht«, sagte Noel erschrocken, und dann sah er Rita bittend

an. »Rita wollte nur kurz Hallo sagen …« Kling. Rita wollte protestieren, wollte diese Frau mit den Glasaugen aus

der Wohnung werfen, aber plötzlich empfand sie eine Kraftlosigkeit

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wie noch nie. Sie fühlte sich seltsam leicht und überflüssig, wie ein ausgetrunkenes Glas auf dem Tisch. Ihre Schultern rutschten nach vor, sie sagte: »Stimmt, ich wollte nur Hallo sagen.« Und damit dreh-te sie sich auf dem Absatz um und ging. Sie konnte es nicht fassen, aber sie ging die Treppen hinab, Schritt

um Schritt, stieß die Tür zu dem kleinen Café an der Ecke auf, schob sich auf einen Holzstuhl an einem Tisch in der Ecke und bestellte einen Schnaps. Und dann noch einen.

Am nächsten Tag war Heiligabend, und sie arbeitete nur bis mittags. Als sie heimkam, lief sie dem Briefträger in die Arme, der ihr einen Brief in die Hand drückte. »Den hat Ihr Mitbewohner mir mitgege-ben, aber ich sehe gerade, er hat vergessen, eine Marke draufzukle-ben. Vielleicht könnten Sie ihn wieder mit hochnehmen?« Der Brief war an eine Anna adressiert. Die gestrige Anna etwa? Sie

drehte den Brief um. Und als sie dann sah, was hinten, quer über die Lasche geklebt war, stieß sie einen hohen Schrei aus, als hätte je-mand auf sie geschossen. Ihre Hand flog zu der Stelle zwischen ihren Brüsten, wo einen kurzen Moment lang eisige Stille herrschte, bevor ihr Herz weiterschlug und zu wirbeln anfing, wie ihre Füße, die die Treppen empor rannten. Sie riss die Wohnungstür auf. Er saß da und telefonierte, doch als er sie sah, legte er schnell auf. »Rita«, sagte er und Furcht stand in seinem viel zu weißen Gesicht.

»Was ist mit dir? Du siehst grauenhaft aus!«Sie hielt ihm den Brief hin und schrie: »Wie konntest du? –

Du … du Mörder!«Dann zupfte sie vorsichtig die Blüte vom Umschlag und barg sie in

ihrer Hand wie ein kleines, totes Tier. »Du hast sie einfach geköpft«, schluchzte sie. »Meine Königin der Nacht. Für … für dieses Weib!«»Rita, beruhige dich«, sagte er. »Wenn ich gewusst hätte, dass du …

ich meine, ich wollte einfach, dass es diesmal klappt. Ich wollte, dass sie mich nimmt, und ich wollte auf Nummer sicher gehen. Alle Frau-en mögen Blumen. Der Kaktus hatte geblüht, und da dachte ich …« Sie schrie. Sie hielt sich die Ohren zu und schrie einfach nur. Dann

fiel ihr Blick auf die Kristallschale auf dem Tischchen, die er als Aschenbecher missbraucht hatte. In den zart geschliffenen Schnee-flocken saß klebriger Dreck, ein paar Dattelkerne lagen auch darin.

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Da hörte sie auf zu schreien und sank auf dem Sessel zusammen, schluchzte nur noch leise. In den Händen die Blüte, die sie zärtlich wiegte. Er nahm das Telefon in die Hand und sagte: »Du brauchst Ruhe, Rita. Eine Umgebung, wo man dir hilft. Du bist ja ganz durch-einander. Ich kenne einen guten Arzt.«Da sprang sie auf. Er wich zurück, riss die Balkontür auf. Bevor sie

reagieren konnte, war er schon auf der Brüstung. »Noel«, sagte sie entsetzt und rannte ihm hinterher. »Mach keinen

Blödsinn.«»Wirf mir meine Sachen nach, Rita«, sagte er. Dann sprang er.

Rita schrie auf und schloss die Augen. Als sie wieder öffnete, stand er unten. Er war wie eine Katze auf seinen Füßen gelandet und sah zu ihr hoch! Das war ein Wunder, aber es war ihr egal. Sie rannte ins Wohnzimmer und raffte seine Sachen zusammen. Hosen, Schuhe, Pullover - und ohne weiter darüber nachzudenken, rannte sie zurück zum Balkon und warf alles über die Brüstung. Sie sah, wie eine Frau aus dem Haus gegenüber gerannt kam. Offen-

bar hatte sie den Vorfall beobachtet und wollte Noel beistehen. Noel rief jetzt: »Rita … Rita, ich dachte, wir…«Als Antwort warf sie seinen Koffer. Als er ihm mit einem großen

Sprung auswich, warf er die Frau um. Die fiel rückwärts in den Schnee. Noel drehte sich um und beugte sich besorgt über sie.

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Und als die Frau die Augen öffnete und Noel ansah, erkannte Rita plötzlich etwas wieder. Sie sah, wie die Frau Noels zerzaustes Haar be-trachtete und die fein geschnittenen, außerordentlich weißen Arme, die aus dem T-Shirt herausragten und so verletzbar aussahen. Er half ihr hoch. Gemeinsam sammelten sie die Sachen in seinen

Koffer. Sie hörte, wie die Frau sagte: »Franziska. – Ich heiße Fran-ziska.«»Noel«, sagte er schüchtern. »Sie brauchen einen Tee zum Aufwärmen«, sagte sie. »Und ich auch.

Ich wohne gleich da drüben. – Und wenn Sie nichts haben, wo Sie diese Nacht bleiben können – da findet sich was. Zu dieser Irren da oben können Sie ja wohl nicht zurück.«Und dann sah sie, wie er seinen Blick auf die Frau heftete, und wie

ein Lächeln sich auf seinem Gesicht ausbreitete, so hell und heftig, wie nur ein Waldbrand sich ausbreitete. »Das kann ich nicht annehmen«, sagte er sanft. »Blödsinn«, sagte die Frau. »Es ist schließlich Heiligabend! Da lässt

man keinen vor der Tür stehen, Noel.«

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Antje Wagner, geboren 1974 in Wittenberg, ist in Wartenburg/Elbe aufgewachsen und studierte deutsche und amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften in Potsdam und Manchester, arbeitete später als Kellnerin und Sprecherin. Seit 2001 arbeitet sie als freie Autorin, schreibt Romane und Erzählungen für Erwachsene und Jugendliche und übersetzt auch aus dem Englischen. Sie lebt in Potsdam.

Dirk Uhlenbrock, 1964 in Essen geboren, lange Zeit tätig alsArtdirector in verschiedenen Wuppertaler und Düsseldorfer Agenturen. Seit 2009 arbeitet er als Kreativdirektor in seiner Heimatstadt in den Bereichen Grafik- und Webdesign bei der ersten liga, büro für gestaltung.

joeux noel! fröhliche weihnachten!Antje WagnerIllustrationen: Dirk UhlenbrockGestaltung: www.ersteliga.deDruck: WAZ-Druck© Antje Wagner, Dirk Uhlenbrock© für diese Ausgabe 2009 Edition Schmitzwww.schmitzbuch.de

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