Scrum - Einführung in der Unternehmenspraxis || Vision und Strategie

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7 Vision und Strategie Mitarbeiter sind sehr häufig zunächst nicht davon überzeugt, dass tief greifende Verän- derungen überhaupt notwendig sind. Selbst vor dem Hintergrund einer herausragenden Dringlichkeit steht in der Regel die Mehrheit der Mitarbeiter auf einem Standpunkt, der zwar die Probleme akzeptiert, der aber nicht einsieht, dass zu deren Lösung erheblicher Wandel notwendig ist. Eher wird der Verzicht auf Urlaub und die Anordnung von Über- stunden akzeptiert, als die eingefahrenen Muster zu durchbrechen. Selbst wenn Sie es ge- scha haben, dass Ihre Mitarbeiter bereit sind, Veränderungen zu akzeptieren, so herrscht doch häufig Uneinigkeit und Verwirrtheit vor. Daher ist es wichtig, die Richtung des Wan- dels klar zu definieren. Eine Vision entwirſt ein Bild von der Zukunſt und vermittelt auf implizite oder explizite Art und Weise, warum es für die Menschen erstrebenswert ist, die- se Zukunſt zu erschaffen. Sie ermöglicht es Ihren Mitarbeitern, Ihrer Führung zu folgen. 7.1 Vision und Strategie im Kontext von Führung und Management John Kotter trennt als einer der wenigen Autoren klar zwischen Führung und Management. Kotter legt dar, dass Führung sich mit Visionen und Strategien befasst, während Mana- gement eher auf der Ebene der Pläne und Budgets agiert. Führung befasst sich also eher mit den strategischen emen abseits des Tagesgeschäſts, während Management sich eher mit den operativen emen auseinander setzt. In diesem Buch haben Sie schon öſter den Begriff der „Führung“ gelesen. Zum Beispiel auch im letzten Kapitel, als es um die „Füh- rungskoalition“ ging. Das Wort „Führung“ habe ich in der von Kotter geprägten Bedeutung verwendet und möchte Ihnen die Gründe dafür darlegen. Denken Sie zunächst an Ihre eigene Karriere zurück. Erinnern Sie sich an die Menschen, die Ihnen bislang auf Ihrem Lebensweg begegnet sind. Welche haben Sie am tiefsten be- eindruckt? Waren das Menschen, die detaillierte Schritte und Zeitpläne sowie Budgets zur operativen Implementierung von Strategien erstellt haben, oder waren es eher visionäre Persönlichkeiten, die es mit ihren Ideen gescha haben, zu begeistern? Ich selbst erinnere 43 D. Maximini, Scrum - Einführung in der Unternehmenspraxis, DOI 10.1007/978-3-642-34823-5_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Mitarbeiter sind sehr häufig zunächst nicht davon überzeugt, dass tief greifende Verän-derungen überhaupt notwendig sind. Selbst vor dem Hintergrund einer herausragendenDringlichkeit steht in der Regel die Mehrheit der Mitarbeiter auf einem Standpunkt, derzwar die Probleme akzeptiert, der aber nicht einsieht, dass zu deren Lösung erheblicherWandel notwendig ist. Eher wird der Verzicht auf Urlaub und die Anordnung von Über-stunden akzeptiert, als die eingefahrenen Muster zu durchbrechen. Selbst wenn Sie es ge-schafft haben, dass IhreMitarbeiter bereit sind, Veränderungen zu akzeptieren, so herrschtdoch häufig Uneinigkeit und Verwirrtheit vor. Daher ist es wichtig, die Richtung des Wan-dels klar zu definieren. Eine Vision entwirft ein Bild von der Zukunft und vermittelt aufimplizite oder explizite Art undWeise, warum es für die Menschen erstrebenswert ist, die-se Zukunft zu erschaffen. Sie ermöglicht es Ihren Mitarbeitern, Ihrer Führung zu folgen.

7.1 Vision und Strategie im Kontext von Führung undManagement

JohnKotter trennt als einer der wenigenAutoren klar zwischen Führung undManagement.Kotter legt dar, dass Führung sich mit Visionen und Strategien befasst, während Mana-gement eher auf der Ebene der Pläne und Budgets agiert. Führung befasst sich also ehermit den strategischen Themen abseits des Tagesgeschäfts, während Management sich ehermit den operativen Themen auseinander setzt. In diesem Buch haben Sie schon öfter denBegriff der „Führung“ gelesen. Zum Beispiel auch im letzten Kapitel, als es um die „Füh-rungskoalition“ ging. DasWort „Führung“ habe ich in der vonKotter geprägten Bedeutungverwendet und möchte Ihnen die Gründe dafür darlegen.

Denken Sie zunächst an Ihre eigeneKarriere zurück. Erinnern Sie sich an dieMenschen,die Ihnen bislang auf Ihrem Lebensweg begegnet sind. Welche haben Sie am tiefsten be-eindruckt? Waren das Menschen, die detaillierte Schritte und Zeitpläne sowie Budgets zuroperativen Implementierung von Strategien erstellt haben, oder waren es eher visionärePersönlichkeiten, die es mit ihren Ideen geschafft haben, zu begeistern? Ich selbst erinnere

43D. Maximini, Scrum - Einführung in der Unternehmenspraxis,DOI 10.1007/978-3-642-34823-5_7,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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mich mit Freuden an die Visionäre zurück – auch und gerade wenn sie an anderer StelleSchwächen hatten. Das macht sie menschlich.

Denken Sie jetzt an schwierige Situationen Ihres Lebens zurück. Egal ob beruflich oderprivat:Was hat es Ihnen ermöglicht,Mut zu schöpfen, aufzustehen und zu kämpfen?WarendasChecklisten oder war es die Vision einer besseren Zukunft?War der initiale Impuls einekonkrete Handlungsanweisung, oder eine eher abstrakte Strategie?

Versetzten Sie sich jetzt in die Situation eines Ihrer Mitarbeiter hinein: Ihr Chef hatIhnen erklärt, dass das Unternehmen sich in einer Krise befindet. Er hat Ihnen klar gesagt,dass Sie in drei Jahren arbeitslos sein werden, wenn das Unternehmen keinen Weg aus derKrise findet. Zwar hat er deutlich gemacht, dass keineMitarbeiter entlassenwerden sollen –aber Sie wissen ja aus der Presse, wie ernst solche Ankündigungen genommen werden,wenn es hart auf hart kommt. Zwar trifft sich das Management regelmäßig und hat sicheinen klingenden Namen gegeben, aber bisher hat Ihnen niemand gesagt, welchen Weges aus der Krise gibt. Die Gerüchteküche brodelt. Sie wollen aus diesem demotivierendenTeufelskreis ausbrechen, der einzige Weg, der Ihnen dazu einfällt, ist die Kündigung. Daswollen Sie aber nicht:Waswürden Ihre Frau und IhreKinder dazu sagen? Sie wollen helfen,Sie wollen das Unternehmen retten. Sie wissen aber nicht wie. Was brauchen Sie jetzt eher:Eine Vision, die Ihnen die Richtung zeigt, oder einen detaillierten Zeitplan?

Sie werden am Ende des Tages natürlich beides benötigen. Der erste und wichtigsteSchritt ist aber, dass Sie ein Ideal spüren, dem Sie folgen können. Nur wenn Sie dem ausge-malten Zielzustand zustimmen und ihn erstrebenswert finden, werden Sie sich näher mitdemWeg beschäftigen, der dorthin führt. Nur, wenn Sie der Vision vertrauen, werden Sieauch den Menschen, die diese Vision verkörpern, vertrauen können. Um es mit Antoinede Saint-Exupery zu sagen: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Män-ner zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen,sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“

7.2 Vorgehen zur Erstellung von Vision und Strategie

Vision und Strategie sollten Sie innerhalb der Führungskoalition gemeinsam erstellen. Esgeht hier um die Vision desWandels, nicht um die Vision für die Führungskoalition selbst,obwohl diese beiden in der Regel natürlich eng verbunden sind. Beginnen Sie bei der Vi-sionserstellung mit der Dringlichkeit. Schreiben Sie diese auf, am besten auf ein großesBlatt Brownpaper, und hängen Sie es so auf, dass es ständig präsent ist. Ermitteln Sie dannalle, die von dieser Dringlichkeit betroffen sind. Häufig sind das nicht nur eine kleine Mit-arbeitergruppe, sondern alle Mitarbeiter, Aktionäre und Kunden. Brainstormen Sie dannund entwickeln Sie den ersten Entwurf einer prägnanten Vision. Diese Vision muss kurzsein – oft reichen ein bis zwei Sätze – aber trotzdem eine klare Vorstellung im Leser derVision auslösen. Jeder muss sofort ein Bild mit dieser Vision assoziieren. Dieses Bild musserstrebenswert für die Betroffenen sein, also die langfristigen Interessen der Betroffenenansprechen. Auch muss die Vision ehrgeizig sein, um die Mitarbeiter aus Ihrer Routine zu

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reißen. Streben Sie keine geringe Steigerung an, sondern fordern Sie, auf einem bestimm-ten Gebiet der Beste zu werden. Um glaubwürdig zu bleiben, muss die Vision außerdemmachbar erscheinen, also realistische Ziele enthalten. Niemand kämpft gerne gegenWind-mühlen oder baut Luftschlösser. Schwieriger wird es bei der Beurteilung, wie spezifischdie Vision sein soll. Einerseits muss sie spezifisch genug sein, um Entscheidungsprozessezu leiten, beispielsweise bei der Erstellung von Strategien und Plänen. Andererseits musssie generisch genug sein, um Spielräume zuzulassen. Die Bedingungen werden sich allerWahrscheinlichkeit nach ändern und es ist kontraproduktiv, wenn Sie alle dreiMonate IhreVision abändern müssen. Wenn Sie es geschafft haben, eine spezifische Vision mit Spiel-räumen zu erstellen, achten Sie auch auf die Kommunizierbarkeit. Sie müssen Ihre Visioninnerhalb von 5Minuten so erklären können, dass jeder der Betroffenen sie versteht. WennSie selbst ins Stocken geraten, sollten Sie Ihren Entwurf erneut überarbeiten.

Diesen ersten Entwurf sollten Sie nochmals Punkt für Punkt hinterfragen. Überprü-fen Sie die Vorstellbarkeit, indem Sie sich Fragen stellen, die eben diese aus verschiedenenSichten testen. Wie wird sich diese Vision auf Kunden/Mitarbeiter/Aktionäre auswirken?Verändert sich der Grad der Zufriedenheit bei einer dieser Gruppen? Spricht diese Visionsowohl die Herzen als auch den Verstand der Betroffenen an? Bedenken Sie dabei auch,dass Sie keine Kompromisse auf Kosten einer der betroffenen Gruppen machen sollten.Bei dem heutigen Wettbewerb auf allen Märkten können Sie es sich weder erlauben, IhreMitarbeiter zu verlieren, noch Ihre Kunden zu verprellen.

Überprüfen Sie die Machbarkeit, indem Sie sich zunächst innerhalb der Führungsko-alition fragen, ob die Vision machbar klingt. Scheuen Sie sich nicht, ein paar nicht direktbeteiligte Mitarbeiter zu involvieren und diese direkt zu befragen. Sorgen Sie allerdings da-für, dass anschließend keine Halbwahrheiten und Gerüchte gestreut werden. Sie sind nochin der Findungsphase – das sollten Sie auch ganz deutlich sagen.

Stellen Sie dann kritisch in Frage, ob Ihr Visionsentwurf offen genug ist, um Raum fürEigeninitiative der Mitarbeiter und Spielraum für sich ändernde Bedingungen zu lassen.Hinterfragen Sie auch, ob Ihre Vision fokussiert genug ist, um Ihren Mitarbeitern eine kla-re Richtung vorzugeben, die auch deutlich macht, welcheMaßnahmen wichtig undwelcheverboten sind. Nur wenn Ihre Mitarbeiter sich mit der Vision identifizieren können, wer-den sie ihr auch folgen. Sollten Sie nicht alle der überprüften Kriterien in Einklang bringenkönnen, konzentrieren Sie sich auf die Kommunizierbarkeit: Nur was Sie kommunizierenkönnen, hat überhaupt einen Wert.

Oftmals zieht sich der Findungsprozess in die Länge, weil zu viele Details mit in dieVision gepresst werden. Lösen Sie sich davon, indem Sie solche Punkte direkt aufschrei-ben und für die Strategieerstellung beiseite legen. Verfeinern Sie Ihre Vision so lange, bisdie gesamte Führungskoalition zufrieden ist. Ein fauler Kompromiss wird sich später anIhnen rächen – lassen Sie sich nicht darauf ein. Rechnen Sie auch nicht damit, die Visi-on an einem Nachmittag erstellen zu können. Es wird eine Vielzahl von Iterationen undeine ganze Menge (auch emotionaler) Energie benötigen, um hier ein gutes Ergebnis zuerreichen. Rechnen Sie eher mit einem Jahr als mit einem Tag – insbesondere dann, wennSie noch keine Analyse der Handlungsalternativen und Notwendigkeiten vorliegen haben.

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Wenn Sie schnelle Ergebnisse benötigen, kann es Sinn machen, zunächst ein kleines Ver-änderungsprojekt mit einer entsprechend kleineren Vision in den Vordergrund zu stellenund erst im zweiten Schritt einen größeren Wandel anzustreben. Das sollten Sie dann al-lerdings auch genau so kommunizieren, damit die Mitarbeiter nicht von einer Flut vonVeränderungsprojekten überrollt werden und das Vertrauen verlieren.

Schreiben Sie die Vision auf ein großes Blatt Brownpaper und hängen Sie es auf. Siekönnen mit der Erstellung der Strategie schon beginnen, bevor die Vision final fertig ist.Finalisieren und kommunizieren können Sie die Strategie aber erst, wenn auch die Visionsteht. Listen Sie alle strategischen Punkte auf, die den Weg zur Erreichung des Ziels klaraufzeigen. Binden Sie alle Personen ein, die Sie für wichtig halten, mindestens aber die ge-samte Führungskoalition. Ziehen Sie alle Daten zu Rate, die Sie benötigen und scheuen Siesich nicht, nachzufragen. Ihre Strategie sollte die gleichen Kriterien erfüllen, wie die Vi-sion. Lediglich der Umfang kann etwas größer ausfallen und der Inhalt darf spezifischersein. Auch Ihre Strategie sollten Sie innerhalb von fünf Minuten grob erklären können,wenn auch nicht im Detail. Denken Sie daran: Was Sie nicht kommunizieren können, istauch nichts wert. Sollten Sie zu sehr in Detaildiskussionen abrutschen, stellen Sie sich öfterdie Frage, ob diese Detailtiefe angemessen für eine Strategie ist, oder ob es sich um opera-tive Umsetzungsfragen handelt. Schreiben Sie diese in letzterem Fall auf, damit sie nicht inVergessenheit geraten, stellen Sie sie aber zurück.

7.3 Das sollten Sie sich merken

Vision und Strategie des Wandels bilden das Fundament Ihres Veränderungsprozesses.Wenn Sie diese Phasenicht voll erfüllen, bricht Ihr Vorhaben früher oder später zusammenund Sie müssen von vorne anfangen. Merken Sie sich die folgenden Punkte:

1. Nur weil die Dringlichkeit akzeptiert wird, heißt das noch nicht, dass Veränderung alsLösung akzeptiert wird. Eine Vision des Wandels gibt eine klare Richtung vor, hin zueiner erstrebenswerten Zukunft.

2. Visionen und Strategien sind Mittel zur Führung Ihrer Mitarbeiter.3. Vision und Strategie werden innerhalb der Führungskoalition gemeinsam erstellt.4. Beginnen Sie bei der Erstellung mit der Dringlichkeit.5. Nutzen Sie alle zur Verfügung stehenden Daten. Wenn Daten fehlen, beschaffen Sie

diese.6. Stimmen Sie Ihre Vision auf die Bedürfnisse der Betroffenen ab.7. Setzen Sie sich herausfordernde aber machbare Ziele.8. Verfassen Sie die Vision spezifisch genug, um als Leitfaden zu dienen, aber generisch

genug, um Spielräume zuzulassen.9. Legen Sie den Fokus auf dieKommunizierbarkeit.Wenn Sie IhreVision nicht innerhalb

von fünf Minuten den Betroffenen vermitteln können, haben Sie noch Arbeit vor sich.10. Hinterfragen Sie Ihre Vision grundlegend aus der Sicht der Betroffenen.

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11. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche und notieren Sie den Rest für später.12. Die Visionserstellung ist ein langwieriger Prozess, der bis zu einem Jahr dauern kann.

Literatur

de Saint-Exupery A (2002) Die Stadt in der Wüste. Rauch Verlag, Düsseldorf