Spektrum 24 ws 2014 15

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SPEKTRUM # 24 www.mh-stuttgart.de Wintersemester 2014/15 Magazin der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart ISSN 1868-1484 2007150201415 KUNST VERANTWORTUNG

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  • SPEKTRUM

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    Magazin derStaatlichen Hochschule fr Musik und

    Darstellende Kunst Stuttgart

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    KUNST VERANTWORTUNG

    Gemeinsam mehr als eine Bank

    Musik ist mehr als Klang

    Die Sparda-Bank Baden-Wrttemberg steht ihren Kunden nicht nur als Wirtschaftspartner zur Seite sondern teilt auch ihr kulturelles und soziales Engagement mit ihnen. Wir freuen uns, dass wir die Staatliche Hochschule fr Musik und Darstellende Kunst Stuttgart als Frderer begleiten drfen und wnschen allen Studierenden viel Erfolg.

    www.sparda-bw.de

    Kunst Region

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  • 30.01. - 01.02.2015

    MUSIKHOCHSCHULE STUTTGA

    RT

    WWW.MH-STUTTGART.DE/RIS

    INGSTARS

    STAATSORCHESTER STUTTGA

    RT

    LEITUNG: JOHANNES KLUMPP

    DIE HOCHSCHULEN FR MUSIK STUTTGART, FREIBURG UND KARLSRUHE PRSENTIERENGEMEINSAM MIT DER SPARDA-BANK BADEN-WRTTEMBERG RISING STARS! 6.DEUTSCHER

    HOCHSCHULWETTBEWERB ORCHESTERDIRIGIEREN17.-24.01.2015

    HochschulSinfonieOrchester Stuttgart

    Stuttgarter Kammerorchester

    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR

    ANMELDESCHLUSS: 01.10.2014

    In Zusammenarbeit mit dem Gefrdert von der

    In Kooperation mit dem

    www.mh-stuttgart.de/dirigierwettbewerb

  • Dr. Regula Rapp, Rektorin

    EDITORIAL SPEKTRUM # 2 4 _ 0 1

    W

    LIEBE LESERIN, LIEBER LESER!

    eil Verantwortung sich auch auf der Haut gut anfhlt. In der August-Ausgabe der Bahnzeit-

    schrift mobil (08.2014) wirbt eine Anzeige mit diesem Satz fr Naturmode. Gefhlte Verantwortung? Verantwortung ist offensichtlich in aller Munde, es ist eine Art moralisches Modewort unserer Zeit geworden ein Modewort, das jetzt auch noch in der Mode angekom-men ist! Vor dem Hintergrund der sich rasch wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen und allgegenwrtigen Bedrohungen ist der Ruf nach Verantwortung berall zu hren. Dabei muss immer wieder definiert werden, wer nun warum wofr wirklich verantwortlich ist, sonst bleibt auch das wie so viele andere Modeworte ein folgenloses Gerede. Der Volkswirtschaftler und Philosoph Birger P. Priddat hat im Kursbuch 176 mit dem Titel Ist Moral gut? festgehalten: Moral hat ein Personalproblem. (Hamburg 2013, S. 134) Und in der Tat: Wenn wir niemanden finden, der sich der viel diskutierten Verantwortung stellt, wird sie nicht wirksam.

    Fest steht: Wir haben Verantwortung fr das, was wir in unserer Hochschule fr Musik und Darstellende Kunst tun. Da wir nicht nur junge Knstlerinnen und Knstler,

    Pdagoginnen und Pdagogen ausbilden, sondern auch als eine Institution wahrgenommen werden, die mit Erlebnis-versprechen assoziiert wird, die Konzerte, Auffhrungen, Veranstaltungen prsentiert, ist diese Verantwortung sehr vielfltig, und wie sie genau aussieht oder aussehen knnte, thematisieren unsere Kolleginnen und Kollegen sowie ei-nige Gastautoren auf den folgenden Seiten.

    Ob sich alle dieser Beschreibungen und Untersuchungen dann auch zu einem Ganzen zusammensetzen lassen, ist fraglich. Sie bilden jedoch einen eminent wichtigen Aspekt unserer Wirklichkeit ab, einen Aspekt, den wir eben mit der Verantwortung, gefhlt oder wahrgenommen, auer-halb der Hochschule gemeinsam haben. Dabei darf aber nicht bersehen werden, dass solche begrifflichen Infla-tionen nicht nur Mode-, sondern oft auch Symptomcha-rakter haben. In diesem Sinne ist die weithin zur Belie-bigkeit trivialisierte Forderung nach mehr Verantwortung als Ausdruck einer ernsten Problemlage zu deuten. Die im Zuge der wissenschaftlich-technischen Entwicklung zu-nehmende Risikodichte, die globale Gefhrdung des ko-systems der Erde und die wachsende Komplexitt der so-zialen Systeme haben zu einer tiefen Krise der modernen Gesellschaft gefhrt, fr die der Verantwortungsbegriff eine Lsungsperspektive aufzeigen soll. (Kurt Bayertz, Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995, Vorwort)

    Die Verantwortung ist in aller Munde, ihre Analyse und Anwendung sind demnach nicht nur Aufgabe des Bil-dungswesens respektive einer Hochschule fr Musik und Darstellende Kunst. Die Geschichte des Verhltnisses zwi-schen Verantwortung und Kunst ist noch nicht geschrie-ben. Wir haben fr diese Ausgabe des Spektrum einen Fra-gebogen entwickelt zu diesem Themenkomplex, der sich an Menschen wendet, die mit dem einen oder dem ande-ren oder mit beiden Phnomenen zu tun haben.

    Wir freuen uns ber Ihr Interesse an unseren Ideen und Taten, besonders natrlich ber den Besuch unserer zahl-reichen Veranstaltungen, ber Ihr Feedback und Ihre Kri-tik. Im zweiten Teil unseres Magazins finden Sie auch in dieser Ausgabe wichtige Informationen zu Produktionen, Themen und Projekten aus den verschiedenen Arbeitsbe-reichen der Hochschule sowie einige Berichte zu diversen Ereignissen und abgeschlossenen Projekten.

    Ich wnsche viel Freude und Gewinn beim Lesen!

  • INHALT

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    SOZIALWESEN KUNSTvon Sabrina Hlzer

    POSTMODERNES THEATERvon Prof. Dr. Bernd Stegemann

    FREIHEIT DER KUNSTvon Dr. Birgit Schneider-Bnninger

    ZUR SACHEUnsere Fragen! Ihre Antworten!

    FREIHEIT VS. VERANTWORTUNGFragen an Sibylle Lewitscharoff

    KUNST UND VERANTWORTUNG IN DER NEUEN MUSIKDokumentiert von Lea Roller

    ZUR SACHEDr. Regula Rapp und Albrecht Lang

    ICH ZUSCHAUER UND DIE ANDERENvon Peter Grohmann

    ZUR SACHEHans Georg Koch

    MIT FSSEN TRETEN?von Frederik Zeugke

    WER IST WOFR VERANTWORTLICH?von AS & PCDC, aus dem Franzsischen von Katja Simon

    KNSTLERISCHE EIGENVERANTWORTUNGvon Jan Jedenak

    ZUR SACHEFriedrich Schirmer und Werner Schretzmeier

    ZU BESUCH BEIM THEATER DER WELTvon Mattea Cavic

    PINBALL-GEWINNER DER ARDJahrestag auf Parkbank von Simon Kubat & Jonas Bolle

    ZUR SACHEVerena Stoiber und Wolfgang Michalek

    FERTIG FR FREIES?von Prof. Stephanie Rinke

    ALLES IN BEWEGUNGPetra Stransky, nachgefragt von Frederik Zeugke

    PATEN VERLEIHEN FLGELErika Heintzeler im Gesprch mit Miriam Klglich und Christoph Walesch

    EXISTENZ DURCH MUSIKProf. Christian Lampert und Prof. Henning Wiegrbe im Gesprch mit Christof M Lser

    UNIVERSALE VERANTWORTUNGvon Barbara Maurer

    STUTTGARTER JUNGSTUDIERENDE GLNZENvon Stefanie Jaschke

    KLINGENDE INTEGRATIONvon Ahmed Baydur

    ZAHLENWERKE & KUNSTWERKE VERBINDENvon Martin Hettich

    RISING STARS!von Dr. Cordula Ptzold

    DIE GOLDENE BULLE KAISER KARLS IV.von Prof. Dr. Peter Rckert

    AUSGEZEICHNETProf. Dr. Heinrichs erhlt das Bundesverdienstkreuz

    SPEKTAKULRES INSTRUMENTARIUMProf. Helmut Deutsch im Gesprch mit Prof. Jrg Halubek

    6. DEUTSCHER HOCHSCHULWETTBEWERB ORCHESTERDIRIGIERENvon Simone Enge

    DIE HARFENISTIN IVA PENNER BEIM ECHTZEIT | WERK_STATT_FESTIVAL ^

  • SPEKTRUM #24_03

    IMPRESSUMDr. Regula Rapp

    Prof. Franziska KtzProf. Dr. Hendrikje Mautner-ObstKatja Simon (bis 31.07.2014)Jrg R. Schmidt Frederik Zeugke

    Frederik Zeugke, Jrg R. Schmidt

    Jrg R. [email protected] Prof. Christian Bsen, Mattea Cavic, Prof. Helmut Deutsch, Simone Enge,Prof. Jrg Halubek, Erika Heintzeler, Prof. Dr. Matthias Hermann, Jan Jedenak, Hans Georg Koch, Miriam Klglich,Prof. Franziska Ktz, Albrecht Lang,Prof. Angelika Luz, Prof. Christian Lampert,Christof M Lser, Prof. Hermann Pallhuber, Dr. Cordula Ptzold, JProf. Dr. Friedrich Platz, Dr. Regula Rapp, Tilmann Reinbeck, Prof. Stephanie Rinke, Lea Roller, Prof. Dr. Sointu Scharenberg, Jrg R. Schmidt, Bernd Schmitt, Katja Simon, Petra Stransky, Prof. Rainer Tempel, Christoph Walesch, Prof. Henning Wiegrbe, Frederik Zeugke

    AS & PCDC, Ahmed Baydur, Christine Fischer, Bjrn Gottstein, Peter Grohmann, Martin Hettich,Sabrina Hlzer, Stefanie Jaschke, Jean-Baptiste Joly,Sibylle Lewitscharoff, Barbara Maurer, Wolfgang Michalek, Pressestelle MWK, Prof. Dr. Peter Rckert, Friedrich Schirmer, Dr. Birgit Schneider-Bnninger, Werner Schretzmeier,Prof. Dr. Bernd Stegemann, Verena Stoiber, Katharina von Radowitz, Katharina Weienborn Gertrud [email protected]

    Staatliche Hochschule fr Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, Pressestelle

    Hannes Beer Kunstwerk Stuttgart

    Oliver Rckle www.oliverroeckle.de(Alessia Park, Probenfoto zu Die Fette Seele von Klaus Lang)

    Oliver Rckle, Christoph Kalscheuer (66/67), Wolfgang Theilacker-Beck (32), Horst Rudel (26),Thomas Niedermller (61), Stephan Walzl (65),Frauke Wichmann (64), Privatfotos

    Gmhle-Scheel Print-Medien GmbH, Waiblingen

    3.500 Exemplare, Spektrum erscheint halbjhrlich Hochschuleigene Beitrge bei Quellenangabe zum Nachdruck frei! Die Redaktion behlt sich vor, Texte zu krzen und redaktionell zu bearbeiten.

    Nutzen Sie auch die Online-Ausgabe. Unter www.mh-stuttgart.de/hochschule/spektrum finden Sie alle Beitrge dieses Magazins.

    ISSN 1868-1484 Stuttgart, im September 2014

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    MIKROTONALITT PRAXIS UND UTOPIEBuchvorstellung von Dr. Cordula Ptzold

    BERGNGE NEUE WEGE ZUR INSZENIERTEN MUSIKvon Lea Roller

    METASTARJProf. Dr. Friedrich Platz im Gesprch mit Prof. Dr. Sointu Scharenberg

    AUFBRUCH IN VERGESSENE WELTENLive-Hrspiel von Prof. Christian Bsen

    START UP!von JProf. Dr. Platz & Prof. Dr. Scharenberg

    OB KUHN AN DER MUSIKHOCHSCHULEim Gesprch mit Dr. Regula Rapp

    EIN JAHR MUSIKGYMNASIUMvon Prof. Dr. Matthias Hermann

    JUNGE OHREN PREIS & TAKTWECHSELvon Katharina von Radowitz

    FALSCHE BRSTE, ECHTE BRTE... ber Haydns Orlando Paladino von Bernd Schmitt

    BLITZLICHTER FLASHING WINDSvon Prof. Hermann Pallhuber

    BIG MONDAY NIGHTS & JAZZ & POPFESTIVALvon Prof. Rainer Tempel

    MH NEWS

    PREISE UND AUSZEICHNUNGEN

    VERANSTALTUNGSBERSICHT

    PARTNER, SPONSOREN UND FRDERER

    SIND NOCH LIEDER ZU SINGEN?von Dr. Cornelia Weidner

    ^ ANNA-LENA MICHEL MIT BAND BEIM HOCK AM TURM

  • 04_ SPEKTRUM #24

    SOZIALWESENKunst

    VON SABRINA HLZER

    A uf den ersten Blick scheinen Kunst und Verant-wortung zwei diametrale Instanzen. Kunst, der Lebensraum des Freigeistes, die Bhne ber-

    bordender Emotion, grer als wir selbst, Schutzraum fr das, was uns sonst nicht gelingen will, Fenster an der Wand, Schlachtfeld fr Idealisten, Kreative, Knner und Spinner, Hochbegabte und Kmpfer, Trumer und ewig Liebende; die Kunst, Plateau der Schnheit in ihrer Vollkommenheit und Negation, Verherrlichung und Dekonstruktion, Kunst: die Liebe des Menschen zu seiner Fhigkeit, das Andere zu tru-men, zu erheben und zu postulieren, ob ideell, politisch oder ganz konkret. In der Kunst fhlt sich der Mensch frei von den Fesseln des Alltags, indem er ihn bersteigt, an-greift, gestaltet oder zerstrt. Immer fhlt er sich frei, weil er ihm scheinbar nicht unterliegt.

    Aber was ist der Preis fr solch herrliches Tun? Wie weit kann man gehen, wie gro darf es sein, ein Kunstwerk, das allen Realitten zum Trotz massenhaft Gelder verschlingt, Talente verschleit, Kindheit zerstrt, Normalitt und Be-streben nach Sicher-heit verhhnt, wie weit kann man gehen, wenn Geld zwischen Auffangstationen fr Gewaltopfer, Hilfs- und Menschenrechtsorganisati-onen, sozialen Instanzen und kulturellen Einrichtungen ver-teilt wird? Wo bleibt unsere Verant-wortung? Aber auch diese Frage scheint nicht zulssig. Unsere Gesellschaft braucht Kunst wie soziale Instanzen, das wissen wir nicht nur aus Zeiten der Not und des Krieges. Fragt man Knstler selbst, scheint es bei vielen geradezu umgekehrt: je grer der Lei-densdruck, desto kreativer das Schaffen. Kultur ist Tatsache, ist Grundrecht. Wir brauchen sie, in einer jeder Gesellschaft adquaten Form.

    So knnte ich jetzt den Diskurs fortsetzen, den Streitkrfte von Knstlern, Kulturpolitikern, Intendanten, Kulturma-nagern, eigentlich alle fhren... alles schon gedacht, gehrt, gefochten, gewonnen und verloren. Das Spannungsfeld von Kunst und Realpolitik bleibt bestehen, die Frage, die ein Re-gisseur sich stellen mag Verbrauche ich Hunderttausende, um auf einem renommierten Festival ein kritisches Thea-terstck ber sexuelle Gewalt zu machen, oder engagiere ich mich fr Projekte, die eben diese Hunderttausende fr die Behandlung, Heilung und Reintegration sexuell Misshandel-ter investieren? Was ich sonst meinem Steuerberater gebe,

    mit der Frage, welche Investition mehr Ertrag erbringt, ist hier nicht kalkulierbar, es lsst sich nicht errechnen.

    Am Ende ist es eine subjektive Frage, die Entscheidung eines Subjektes, Teil einer vielschichtigen Gesellschaft darber, was es in dieser vermag, Entscheidung ber den Standort von seinem Standort aus, wie es agieren, handeln, wie es wirken kann. Ein Arbeiter kann in die Gewerkschaft gehen und Tau-senden helfen oder wie Brecht als Knstler auf Tausende wir-ken, die auf Tausende wirken und dann in Gewerkschaften gehen. Es gibt keine Antwort, auer dass es unsere Verant-wortung ist, uns aufrichtig zu bemhen, uns auszudrcken

    in unserem echten Bedrfnis, zu agieren in einer Ge-sellschaft, deren Teil wir sind.

    Gehen wir dem noch einmal auf den Grund. Wikipedia sagt Der

    Begriff der Verantwortung be-zeichnet nach verbreiteter

    Auffassung die Zuschrei-bung einer Pflicht zu einer handelnden Person oder Personengruppe (Sub-jekt) gegenber einer anderen Person oder Personengruppe (Ob-jekt) aufgrund eines normativen Anspruchs, der durch eine Instanz eingefordert werden

    kann und vor dieser zu rechtfertigen (zu beant-

    worten) ist. Handlungen und ihre Folgen knnen je

    nach gesellschaftlicher Praxis und Wertesystem fr den Ver-

    antwortlichen zu Konsequenzen wie Lob und Tadel, Belohnung, Bestrafung

    oder Forderungen nach Ersatzleistungen fhren. Die Beziehung (Relation) zwischen den be-

    teiligten Akteuren knpft am Ergebnis des Handelns an.

    Und wie mit einem Windsto knallt das Fenster zu: Pflicht, ein Wort, an dem Schwei hngt, Lustlosigkeit und Angst, Pflicht, das Gegenteil von Lust und Leichtigkeit. Pflicht, der Widersacher von Inspiration und Kreativitt. Meine Pflicht ist es, kreativ zu sein scheint ein Widerspruch. Ta-del, Belohnung, Bestrafung... Schnell wird an dieser ffentlichen Meinung klar, womit man es hier zu tun hat. Knallharte Konsequenzen. Wer Verantwortung trgt, kann in die Pflicht genommen werden, wird zur Verantwortung gezogen, wie man so schn zu sagen pflegt. Irgendetwas ist harsch und hart, ist voller Unbehagen. Manager werden mo-natlich mit einem Spitzenhonorar entschdigt, das andere in ihrem ganzen Leben nicht verdienen, weil sie Verantwor-tung tragen, zur Rechenschaft gezogen werden knnen. Ehepaare, die sich nicht mehr lieben, qulen sich durch ein gemeinsames Leben, weil sie Verantwortung fr ihre Kin-

  • SPEKTRUM #24_05

    der haben. Wenn eine Katastrophe geschieht, muss es einen geben, der die Verantwortung trgt und schnell fllt einem der alttestamentarische Sndenbock ein, der von Snden be-legt in die Wste gejagt wird.

    Aber gibt es noch eine andere Sicht? bernehmen scheint hier das Zauberwort. Habe ich frh genug und in meinem Leben dosiert Verantwortung bernehmen drfen, scheint sie mir ein wertvolles Gut. Denn mit Verantwortung ist auch Handlungsfhigkeit verknpft. Wenn ich Verantwortung fr etwas bernehme, befhige ich mich zu handeln und gebe mir damit die Mglichkeit aktiv zu sein und damit auch, et-was mit zu gestalten. Scheint uns das stets mit Vorsicht zu rezipierende Wikipedia in seinem Sprachgebrauch auch an dieser Stelle eher die negative Sicht auf das zu suggerieren, was aktives Handeln im Fall des Versagens mit sich bringen kann, so gibt es auch eine positive Chance in der Verantwor-tung, die darin besteht, durch Handeln zu gestalten.

    Und zum Glck knnen wir das Fenster wieder einen Spalt ffnen: betrachte ich Verantwortung als selbst gewhlte Mglichkeit zu handeln, entsteht in erster Linie Freiheit. Auch vernachlssigt unser aller Wikipedia den Aspekt der Verantwortung gegenber sich selbst. Auch in der Entschei-dung zur Selbstbestimmung liegt eine Verantwortung, nm-lich die, mich um mich zu kmmern, Sorge fr mich zu tra-gen. Und wieder werde ich an ein religises Gebot erinnert: Liebe Deinen nchsten, wie Dich selbst. Eigentlich knnte dieses gttliche Gebot auch von einem Verhaltensthera-peuten stammen, denn jeder von uns kennt es, liebe ich et-was an mir nicht, kann ich dies auch an einem anderen nicht lieben. Hups, jetzt sind wir bei der Liebe gelandet, berle-gungen zur Verantwortung scheinen auch etwas mit Liebe zu tun zu haben. Weil Verantwortung auch immer bedeutet, sich um etwas oder jemanden zu kmmern, der Wille, dafr zu sorgen, dass es dem oder das, wofr man Verantwortung bernimmt, gut geht. Der Wille zum Wohle dessen zu han-deln, fr das man Verantwortung trgt, sei es fr ein Lebewe-sen oder ein gemeinsames Ziel.

    Genau hier scheint mir eine interessante Stelle zu sein und ich verliere dabei den Zusammenhang zur Kunst nicht aus den Augen die Verantwortung fr sich selbst aber auch die Verantwortung fr andere. Geben wir dem Verhaltensthera-peuten Recht und quittieren, dass wir nur dafr sorgen kn-nen, dass es anderen gut geht, wenn es uns selbst gut geht, dass wir uns nur um andere oder etwas kmmern knnen, wenn wir uns um uns selbst kmmern knnen. Ein Hun-gernder kann nicht fr andere kochen, ein Liebloser kann keine Verantwortung fr ein Kind bernehmen, ein vollstn-dig Mittelloser kann nichts Materielles spenden. Betrachten wir diese Entscheidung zur Handlungsfhigkeit sich selbst und anderen Gegenber, scheinen wir an den Ursprung des Menschen zu rhren: wir sind und bleiben (vorerst!) ein von einem Menschen geborenen Wesen, wie sehr wir uns auch zu perfektionieren versuchen. Wir sind soziale Wesen und damit naturgem zur Verantwortung geboren. Verant-wortung ist ambivalent, weil sie den Konflikt zwischen dem

    einzelnen und der Gemeinschaft beinhaltet, eine Sache, die uns als soziale Wesen betrifft und genauso ist Kunst nicht die Sache eines Einzelnen, sondern eine soziale Aktivitt und da-mit Ausdruck sozialer Beziehung.

    In meinem eigenen Berufsfeld, der Regie, gab es in den 70er und 80er Jahren nicht wenige Regisseure, die erst dann am Abend nach der Premiere wohligen Schlaf fanden, wenn sie von mindestens einem Drittel des Publikums lauthals in Grund und Boden gebuht wurden. Gerne wurde dies mit dem Statement die Meinung des Publikums ist mir egal beantwortet, aber hinter dieser - gern von mittelmigen Nachahmern zum Schutze der eigenen Verletzlichkeit weiter gefhrten Trotzhaltung - verbarg sich weit mehr. Sie waren geleitet von der Idee der Verantwortung eines Knstlers ge-genber einer Gesellschaft voller Doppelmoral und Unge-rechtigkeit, voller Krieg und Ausbeutung. Das Publikum war diese Gesellschaft, die kritisiert werden sollte, es sollte an-gegriffen, attackiert werden, genau im Zentrum dessen, was ihm das Liebste und Heiligste war, der gepflegten, aus aristo-kratischen Zusammenhngen hervor gegangenen Opernkul-tur. Ganz anders zeigt heute ein Regisseur wie Calixto Bieito seine gesellschaftskritischen Inszenierungen gern einem Publikum, dessen Nachfrage ihn zu einem Spitzenverdiener z.B. auf den Salzburger Festspielen machte. Ist das Verant-wortung in der Kunst, weil er das Publikum kritisiert, das ihn dafr feiert, dass er es knstlerisch attackiert? Inwiefern kann ich ein System kritisieren, in dem ich agiere?

    Hier wird die Diskussion interessant und zugleich heikel, po-litisch, sthetisch, philosophisch, inhaltlich.

    In diesen Zusammenhngen positioniert sich der Knstler als handelndes Individuum einer Gesellschaft gegenber. Er empfindet es als seine Pflicht gegenber der Gesellschaft mit-tels seiner Kunst zu agieren, Stellung zu nehmen, notfalls an-zugreifen, kriegerisch, aggressiv. Wo Kunst als Fluchtraum, als Enklave, als Fenster zu einer Welt betrachtet werden kann, die dem Individuum temporre Entlastung von empfun-dener Unvollkommenheit und Begrenztheit verschafft, um in der Gesellschaft wieder positiv agieren zu knnen, hat hier Kunst die Funktion der Attacke, einer willentlichen Erscht-terung, die im besten und aufrichtigsten Falle Vernderung hervorrufen soll. Die aufrtteln soll, zu verndertem, ver-bessertem, zu verantwortlichem Verhalten. Immer wieder wird in unserer Spagesellschaft genau das gefordert, die Verantwortlichkeit der Knstler als Angreifer gesellschaft-licher Missstnde.

    In unserer Zeit, in der Medien, allen voran das Internet al-les offenbaren und ermglichen, wird aber auch eine andere Stimme immer lauter, die sagt ich will das nicht mehr se-hen. Zeitungsmeldungen, Dokumentationen, Fernsehen, Radio, Internet, nicht zuletzt unsere Mglichkeiten, in kr-zester Zeit weit zu reisen und die Missstnde auf der Welt auch auerhalb unseres eigenen Landes persnlich zu erfah-ren, all das konfrontiert uns mit einer Masse an Elend, die wir angesichts der Komplexitt der Welt und ihrer Zusammen-

  • SPEKTRUM #24_07

    hnge nicht mehr wirklich verstehen knnen. Wir fhlen uns ohnmchtig. Viele von uns wissen nicht mehr, wie sie handeln knnen, weil sie die direkten Ursache-Wirkungs-Prinzipien ihres Handelns nicht mehr erkennen bzw. weil sie in wirtschaftlichen Zusammenhngen stehen, aus deren Konsequenzen sie nicht heraus treten knnen, es sei denn, sie stiegen komplett aus.

    Diese Stimme verlangt in der Kunst nach Entlastung, nach Erholung, nach Hoffnung im Sinne dessen, dass ich mich auf-laden kann, Kraft schpfen kann, inspiriert werde, wieder he-raus treten kann, um handeln zu knnen. Und das alte Wort, das uns heute schmunzeln lsst, wenn von Erbaulichkeit die Rede ist, knnte so etwas gemeint haben. Etwas, das einen wieder aufbaut. Etwas, das einem angesichts von Not, Wirt-schaftsmacht, Ausbeutung und Krieg vor Augen und Ohren fhrt, welche Qualitten wir als Menschen auch haben, wel-che Fhigkeiten und Begabungen zu sozialer Strke, Mensch-lichkeit und Verbundenheit. Wenn alle Kunst angreift, nur Kritik gezeigt wird, keine Mglichkeit, keine Hoffnung, wird das Publikum nicht mehr reagieren knnen, wenn alle Kunst aufbaut, Freirume kreiert, inspiriert und lebendig macht, wird nicht gengend reflektiert.

    Verantwortung und Kunst sind im besten Falle zwei Sei-ten der Handlungsfhigkeit zum Wohle dessen, wofr der Knstler die Verantwortung bernimmt. Kunst ist keine Kunst ohne den Betrachter. Kunst ist Beziehung. Wir kennen den Typus des introvertierten Knstlers, der in Zurckzie-hung malt, schreibt, komponiert, kreiert, menschenscheu an fernen Orten lebend. Als Mensch ist er ein Einsiedler, aber mit seinen Werken tritt er in Beziehung, denn sie werden be-trachtet. Die Werke haben eine Wirkung auf die Gesellschaft, die sie rezipiert. Die Verantwortung, welche Wirkung dies ist, kann der Knstler nicht bernehmen. In seinem kreativen Prozess jedoch bernimmt er die Verantwortung fr das, was er ausdrcken will, fr das, woran er mit seinem Werk handelt. Auch hier befindet sich ein neuralgischer Punkt: wenn wir definieren, was Kunst ist, knnen wir sagen, Kunst ist das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Das stimmt. Aber wir wissen, dass dies nur ein Aspekt ist. Beziehen wir uns auf den vielsagenden Slogan Ist das Kunst oder kann das weg? wird stets ein weiterer Aspekt benannt, der ein Werk zu einem Kunst-Werk werden lsst: der Aspekt des berper-snlichen. Nun ist das berpersnliche oft ganz persn-lich. Die von Leo Navratil erforschte Kunst psychiatrischer Patienten zeigte dies auf entwaffnende Weise. Hier entstand im Spannungsfeld von Werk und Betrachter Kunst, die je-der rational begrndbaren Verantwortung enthoben war, weil der Knstler im Zustand der Kreativitt, nicht ber das Mittel der Vernunft verfgen konnte. Dennoch zeigen sich bei genauer Analyse im Werk eines Menschen in einem hoch-psychotischen Zustand berpersnliche Qualitten, die im Werk eines Twombly oder Picasso anhand hoch entwickelter knstlerischer Fhigkeiten intellektuell nachweisbar sind.

    So hat das, was das Ergebnis eines kreativen Prozesses durch den Betrachter in den Stand der Kunst erhebt, vielleicht mit einer Sprsamkeit des Einzelnen gegenber seiner Verbin-dung mit dem Ganzen zu tun, ob sich diese ganz unbewusst oder naiv zeigt, intuitiv gestaltet wird oder sich sehr bewusst mit knstlerischen Techniken ausdrckt. Immer ist es das Handeln eines Individuums gegenber der Gesellschaft bzw. aus der Gesellschaft heraus. Und vielleicht liegt hier der un-trennbare Zusammenhang zwischen Kunst und Verantwor-tung: sich im kreativen Prozess nicht abzuschneiden von sei-ner eigenen Natur als einem unbedingt sozialen Wesen, als einem Teil der Gesellschaft.

    Sabrina Hlzer, 1968 in Gummersbach geboren, beginnt 1988 in Kln ihr Studium

    der Musikwissenschaft, Philosophie, Pdagogik und Germanistik an der Alber-

    tus Magnus Universitt, das sie 1994 mit ihrer Arbeit ber Gustav Mahler als

    Regisseur und Dramaturg mit Auszeichnung abschliet. Whrend des Studiums

    arbeitet sie als Regieassistentin und Abendspielleiterin an verschiedenen deut-

    schen Bhnen. Von 1994-1997 fhrt sie eine Gastdozentur fr musikdramatischen

    Unterricht an die Hochschule der Knste nach Berlin. 2002 erhlt sie eine Gast-

    professur fr musikdramatischen Unterricht am Mozarteum in Salzburg. Weitere

    Gastlehrauftrge und Jurorenttigkeiten fhren sie an die spanische Universitt

    UNED, die Technische Universitt Berlin und die Detmolder Schule fr Architektur

    und Innenarchitektur. Ab 1997 konzipiert, entwickelt und inszeniert sie zahlreiche

    Musiktheater-Projekte.

    2011 grndet sie in Vertiefung ihres wachsenden Interesses fr die Wahrnehmung

    des Publikums als mit-schpferischem Teil der Auffhrung das Label Into the

    Dark fr ihre Arbeiten im lichtlosen Raum. In einer Serie von drei Produktionen

    choreographiert die Regisseurin darin mit dem Solistenensemble Kaleidoskop in

    den Sendeslen des ehemaligen DDR-Funkhauses Berlin Nalepastrae musika-

    lische Werke in vlliger Dunkelheit. Das artifizielle Dunkel wird darin zur Inszenie-

    rung musikalischer Bewegungschoreographie. Im Dezember 2012 erscheint im

    Funkhaus der letzte Teil der Serie mit dem Titel Dark was the Night, in dem die

    Regisseurin und das Ensemble ihre Erfahrungen aus dem ersten Teil spielerisch

    verarbeiten.

    Sabrina Hlzer erhlt mehrfache Auszeichnungen in Fachzeitschriften wie Opern-

    welt, Klassik Heute und Die Deutsche Bhne. Fr ihre Inszenierung des Werkes

    Tragdia. Der unsichtbare Raum von Adriana Hlszky erhlt die Zeitgenssische

    Oper Berlin 2001 den Debut- Preis der Akademie Musiktheater Heute der Deut-

    schen Bank Stiftung. 2013 wird die Regisseurin mit dem Belmont-Preis der For-

    berg-Schneider-Stiftung ausgezeichnet, der zu den hchst dotierten Preisen fr

    knstlerisches Schaffen in Europa zhlt. Sabrina Hlzer lebt und arbeitet in Berlin

    und Wiesenburg.

    www.sabrinahoelzer.com

    IMPRESSION AUS DEM ECHTZEIT | WERK_STATT_FESTIVAL

  • 08_ SPEKTRUM #24

    ls der Schweizer Theatermacher Milo Rau 2013 in Moskau die Prozesse wegen Verletzung religiser Gefhle gegen die Punkband Pussy Riot und die

    Knstler der Ausstellung Vorsicht Kunst! mit Laien und Be-teiligten nachstellte, gab es einige berraschungen. Fr west-liche Beobachter war vor allem das sehr knappe Ergebnis der Moskauer Schffen, mit dem nun die Knstler freigesprochen wurden, verwunderlich. Die eigentliche Pointe aber lag in den Auftritten des Fernsehmoderators Maxim Schewtschenko, der sich als religiser Anklger in seiner Argumentations-strategie bei postmodernen Diskursen bediente. Er stilisierte sich zum Vertreter einer Opfergruppe, die als Glubige erst lange unter der Verfolgung in der Sowjetunion gelitten haben und deren gerade wiedergewonnene Glaubensfreiheit nun durch einen westlichen Werterelativismus er-neut diffamiert wird. Die abenteuerliche Konstruktion, Stalin und den Kapita-lismus zu den beiden Hauptgeg-nern orthodoxer Christen in Russland zu erklren, erwies sich als berraschend ro-bust. In den Moskauer Prozessen, so wie sie in dem gleichnamigen Dokumentarfilm zu sehen sind, schaffte es keiner, die brisante Verbindung von or-thodoxem Glauben und oligarchischer Struktur des Systems Putin offenzulegen, da es sogar in dem knstlerischen Rahmen des Reenactments nie-mandem gelang, die Glau-bensperformance als Propa-ganda einer mafisen Macht-clique blozustellen. Denn sobald jemand in die Nhe einer solchen Aus-sage kam, sprang Maxim Schewtschenko auf die Seite des gekrnkten Opfers, dem nun sein innerstes Heiligtum beschmutzt wird. Was tun? fragte Milo Rau nach diesen Erfahrungen zu Recht.

    Was ist also aus dem linken Projekt der Postmoderne gewor-den, das Machtstrukturen dekonstruieren und liberale Frei-heiten durchsetzen wollte? Hinter dem Rcken der postmo-dernen Aufklrung haben sich deren Methoden und Argu-mente in sehr funktionstchtige Propagandainstrumente fr fundamentalistische Weltanschauungen und marktglubige Neoliberaler verwandelt. So wie der orthodoxe Fernsehmo-derator seine widersprchlichen Argumente zusammenklebt und sie in einer Performance von Betroffenheit wirkungsvoll

    absichert, wird inzwischen jeder Standpunkt in einem sub-jektiven Gefhl begrndet. Die Dekonstruktion politischer Haltungen hat heute, wo sich alle Positionen gegenseitig re-lativieren, zu irrationalen Letztbegrndungen gefunden, die performativ beglaubigt werden.

    Was die Meinungsfhrer perfekt beherrschen, wird zur An-forderung fr jeden Angestellten. Die tgliche Arbeit muss nicht mehr nur getan werden, sie muss auch glaubwrdig performt werden. Im englischen Wort der Performance liegt dieser Doppelsinn schon vorbereitet: Es meint die Dar-stellung und die Leistung. Der Angestellte ebenso wie die Aktie performen die Leistung und mssen Performance, also Leistung bringen. Es reicht nicht mehr aus, etwas zu leisten,

    man muss diese Leistung auch erbringen wollen und diese subjektive Bereitschaft berzeu-

    gend darstellen knnen.

    Fr das Schauspielen hat der Siegeszug des Performativen

    komplizierte Folgen. Als falscher Vater diese Ent-

    wicklung gilt Bertolt Brecht. Dessen Hin-weis, dass der Schau-spieler sich selbst und eine Sache zu zeigen habe, lie sich allzu leicht mit der post-modernen Forderung nach einer Abschaf-

    fung der Reprsenta-tion verbinden. Hier-

    bei wird jedoch berse-hen, dass die Differenz

    zwischen Spieler und Sache bei Brecht eine politische

    ist, nmlich die des spielenden Zeitgenossen, der uns seine Sicht

    auf die Zusammenhnge der Entfrem-dung durch ein verfremdendes Spielen zeigt.

    Verabschiedet man sich von dem Weltentwurf des Sozialismus und damit der Kritik von Gesellschaft, die durch Entfremdung und Ungleichheit geprgt ist, wird genau die gleiche Spielweise zu einer narzisstischen Feier des Subjekts. Nun wird nicht mehr Entfremdung anschaubar, sondern das Subjekt selbst macht sich zum unendlich komplizierten Ve-xierbild: Bin ich Schauspieler oder ein echter Mensch, tue ich nur so als ob, oder habe ich wirklich ein Problem? Und genau dieses Vexierbild ist der sthetische Ausdruck fr die postmoderne Paradoxie, in der alle Widersprche als unauf-hebbare und damit unvernderliche Wahrheiten festgestellt werden.

    Das Schauspielen wird zum Schausein und damit zur herr-schenden Form des postmodernen Realismus. Der perfor-mative Anteil am Schauspielen wird absolut gesetzt und ver-abschiedet sich damit von der Mimesis und der Darstellung Erschienen in Die Zeit, Nr. 18, 2014

    Postmodernes

    THEATERVON PROF. DR . BERND STEGEMANN

    A

  • SPEKTRUM #24_09

    von Figuren und Drama. Zugleich wird damit die dialek-tische Lge des Theaters verleugnet, indem eine unmittelbare Wahrheit in der Prsenz behauptet wird. In der Arbeit der Mimesis ist allen bewusst, dass im Theater gelogen wird und sich darum Wahrheit ereignen kann. Das Schausein leugnet hingegen diese Lge des als ob, indem es auf die Darstellung von etwas auerhalb der Performance liegendem verzichtet. Das Augenblinzeln des Performers bei seinem Auftritt soll signalisieren, dass er echt geblendet ist und den Augen-kontakt mit den Zuschauenden sucht. Die Authentizitt der Experten des Alltags ist eine andere Form der Wahrheitsbe-hauptung. Urheber des Textes und Sprecher sollen identisch sein, was schon daran zu sehen ist, dass der Sprecher offen-sichtlich kein Schauspieler ist, sondern ein echter Mensch. Welche Authentizitt hier zur Erscheinung kommen soll, wo es sich doch um entfremdet lebende Mitmenschen handelt, bleibt dabei unbefragt. Die Experten erscheinen als mit sich selbst identische und darum immer als etwas possierliche Existenzen. Dieser behagliche Eindruck ist jedoch nicht in deren realer Existenz begrndet, sondern ein Inszenie-rungseffekt, der unbemerkt und wohl auch ungewollt aus dem Zwang resultiert, die Laien zu schtzen. Sie werden in Arrangements und Spiele gehllt, die ihre Unsicherheit und Schutzlosigkeit auf der Bhne abfedern.

    In seiner gegenwrtig hufigsten Form wird das Performa-tive zu einer selbstreferenten Figur. Das Theater untersucht das Theater und entfaltet all die Spielformen von Verweige-rung und berforderung, die das postdramatische Theater kennzeichnen.

    Der Text wird zu einem Bestandteil unter anderen, seine Dra-maturgie strukturiert weder die Theaterereignisse noch wird darin eine Geschichte erzhlt. Das Sprechen auf der Bhne ist nicht mehr das Handeln von Figuren in Situationen, sondern formale bung. Das Schauspielen entwirft keine Figuren, deren Handlungen plausibel und anschaubar gemacht wer-den, sondern verweist zuerst auf die eigene Anwesenheit, die mit sich selbst ins Spielen kommt. Der postmoderne Death of Character wird konsequent vollstreckt, indem sowohl die dramatische Figur als auch die dialektische Lge des Schau-spielers abgeschafft werden.

    So begleiten die performativen Formate im Theater den Um-bau des Subjekts von einem widerstndigen Menschen in die postmoderne Form einer allzeit reaktionsbereiten Service- und Konsumkraft: Widersprche werden nicht mehr als kri-tisierbare Entfremdungen, sondern als Herausforderungen begriffen, und Vereinzelung nicht mehr als beklagenswerte Entsolidarisierung, sondern als Chance zur Selbstverwirk-lichung. Damit zementiert der postmoderne Realismus die ewige Gegenwart des Marktes als Natur. Dialektik wird zer-schlagen in Selbstreferenzen und Paradoxien.

    In der Inszenierung El Sndrome de Wendy findet die spa-nische Autorin, Performerin und Schauspielerin Anglica Liddell eine Spielweise, die man in Ermangelung eines besse-ren Vokabulars wohl epischen Realismus nennen knnte. Im

    Zentrum dieser Inszenierung steht der Monolog einer Frau, die nicht in diese Welt passt. Anglica Liddell tobt, wtet, tanzt und spricht den Text eine gute Stunde lang und nutzt dabei alle Techniken performativer Hervorbringung von Weiblichkeit, Gefhl und Bhnenprsenz. Sie ist Rockstar, Transvestit, Tnzerin und Poetry Slamerin in einem rasanten Wechsel. Jeder Ausdruck und jede Identitt wird mit ganzem Einsatz von Krper und Stimme hervorgebracht und ist gleichzeitig ein vorgefhrtes Zitat. Zusammengehalten wer-den diese exzessiven Entwrfe von Frauenbildern durch den Text, der einen unbndigen Hass auf sich selbst und die Welt formuliert. Die Grenzgnge zwischen den Identitten sind der Ausdruck dieser Heimatlosigkeit und zugleich deren Ursache. Ob die Sprecherin nun die Performerin Liddell ist, oder ob die Schauspielerin Liddell eine Figur entstehen lsst, wird als dialektische Bewegung zum gesellschaftlichen Aus-druck von unmglicher weiblicher Existenz in einer falschen Welt. Entfremdung wird anschaubar und berforderung wird erlebbar sowohl als reales Ereignis auf der Bhne wie als mimetisches Ereignis im Theater.

    Die performative Wende ist die wohl der zentralste Angriff der Postmoderne gegen Schauspielen und Subjektivitt. Sie kann inhaltlich begriffen werden und fhrt dann zu Figuren wie der des orthodoxen Verteidigers, oder formal, womit sie die mimetische Arbeit eines dialektischen Schauspielens zer-strt und im Schausein endet. Beide Ausdrucksformen ha-ben politische Konsequenzen fr das alltgliche Handeln.

    Die Schauspieler-Performerin Anglica Liddell lsst erah-nen, was zu gewinnen wre, wenn die komplizierte Technik des absichtlich unabsichtlichen Schauspielens die Grenzen der performativen Wahrheiten berschreiten knnte. Dann knnte ein Realismus des Krpers und der Seele entstehen, der Abbild und Prsenz, Mimesis und Performativitt zu-gleich wre.

    Bernd Stegemann, 1967 in Mnster geboren, ist Dramaturg an der Schaubhne

    am Lehniner Platz und Professor fr Theatergeschichte und Dramaturgie an der

    Hochschule fr Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Er promovierte mit einer

    systemtheoretischen Arbeit bei Manfred Brauneck und arbeitete an zahlreichen

    Theatern und fr Festivals. Von 1999 bis 2003 war er Chefdramaturg am TAT in

    Frankfurt am Main und von 2004 bis 2007 Dramaturg am Deutschen Theater Berlin.

    Er hat die Reihe Lektionen bei Theater der Zeit begrndet. Bisher erschienen sind

    die Bnde 1 Dramaturgie, 2 Regie, 3 und 4 Schauspielen (Berlin 2009 und 2010).

    Zahlreiche Publikationen zur Dramaturgie und Kunst des Theaters, zuletzt Kritik

    des Theaters, Berlin 2013. (Taschenbuchausgabe 2014.)

    BUCHEMPFEHLUNG

    Bernd StegemannKritik des TheatersHardcover mit 338 SeitenVerlag Theater der ZeitISBN 978-3-943881-02-8Preis: 24,50

  • SPEKTRUM #24_11

    FREIHEIT DER KUNSTZwischen konomischen Prmissen & knstlerischen Notwendigkeiten

    VON DR. BIRGIT SCHNEIDER-BNNINGER, DIREKTORIN DES KULTURAMTS DER LANDESHAUPTSTADT STUTTGART

    DER SCHAUSPIELSTUDENT ALEXEJ EKIMOV IM ECHTZEIT | WERK_STATT_FESTIVAL

    einrich Bll provozierte in seiner 3. Wuppertaler Rede 1966: Kunst ist Freiheit! Was sie braucht, einzig und allein braucht, ist Material Freiheit

    braucht sie nicht, sie ist Freiheit. Das klingt gut, aber: Kunst war in unserem europischen, von der Antike und von der christlichen Religion her geprgten Verstndnis nie frei von der Instrumentalisierung durch politische und konomische Macht. Die Aufklrung brachte das Postulat der Autonomie der Kunst im Verstndnis einer Befreiung von klerikaler und feudalistischer Fremdbestimmung. Friedrich Schillers Po-stulat Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit steht fr die-sen neuen, emanzipatorischen Ansatz.

    Dieses Denken ist zutiefst europisch, wirkt mit globaler Aus-strahlung fort als Ergebnis des europischen (Kultur-) Impe-rialismus. Heftig modifiziert, in der Wirkung sogar verstrkt durch die zeitlich folgende US-amerikanische konomisie-rung, die den Stellenwert von Kunst wesentlich nur im Rah-men der Marktmechanismen begreift. Eine Entwicklung, die sich, knstlerische Potentiale nivellierend, weiter globalisiert unabhngig von politischen Systemen und ohne Rcksicht auf gewachsene Kulturrume.

    KUNST ALS REFLEXIVE INSTANZGefahr ist im Verzug, wenn sich Kulturpolitik auf Markt-mechanismen respektive Fragen der finanziellen Kultur-frderung reduziert. Kunst ist oft ihrer Zeit voraus, nimmt Zeitenwenden vorweg. Smtliche Schwellenzeiten, wo groe technologisch-wirtschaftliche Sprnge entstanden, sind auch kulturelle Schwellenzeiten gewesen. So wie die Kunst-entwicklung in Europa in den Jahren vor dem Ersten Welt-krieg das gesellschaftliche und politische Zusammenbrechen der Belle poque mit faszinierend innovativen Anstzen nicht nur in der Bildenden Kunst, sondern ebenso in Musik, Literatur, Theater prgte. In Stuttgart war die avantgardistische Weienhofsiedlung eine Antwort auf den chaotischen Beginn des 20. Jahrhun-derts. Die Bauhaus-ra ist eine Zeit ungeheurer Beschleuni-gung und Vernetzung gewesen ein ganz aktuelles Thema, wie auch das am Bauhaus diskutierte Verhltnis von Technik, Wirtschaft und Moral. Kunst obliegt heute mehr denn je die Verantwortung, ber die Folgen des Fortschritts nachzuden-ken. Da wir lngst in einer Welt leben, in der sich auch die nachteiligen Begleiterscheinungen ungehemmten Wachs-tums nicht mehr ignorieren lassen, mssen fr die Gegen-wart relevante Fragen im Kontext der Kunst neu gestellt und verhandelt werden. Die Knste mssen von daher eine refle-

    xive Instanz sein, die den Betrachter bewegen, inspirieren, anregen, ermutigen, erheben, aufreiben. Der Publizist Robert Jungk sieht die Aufgabe der Kultur darin, die Gesellschaft stndig zu konfrontieren mit anderen Mglichkeiten.

    WILL KUNST WIRKEN, BRAUCHT SIE PARTNER: DIE FFENTLICHKEITEin Kulturstaat, in dem zu leben wir uns wie auf einer Insel der Seligen preisen knnen, trgt Verantwortung fr die Kunst um der Kunst willen. Er sollte die im Grundgesetz festgeschriebene Kunstfreiheit ermglichen und ihr dazu Rahmenbedingungen sichern, die die Freiheit der knstle-rischen Entfaltung gestatten. Ein Autor ohne Leser, ein Kom-ponist, ein Orchester oder ein Chor ohne Hrer, Bildende Kunst ohne Betrachter, Theater oder Ballett ohne Zuschauer: Freiheit der Kunst erfordert Kultur fr alle und mit allen.

    Das macht Kunst zu einer der kostbarsten Waren unserer Zeit: kein Luxus, sondern Lebenselixier. Knftig geht es da-rum, fr einen erweiterten Kulturbegriff zu streiten, der die gesamte Stadtgesellschaft umfasst. Es geht um Persnlich-keitsentwicklung und Teilhabe.

    Damit bernimmt Kultur auch eine zentrale Bildungsauf-gabe: Sie bringt und hlt Menschen zusammen. Es sind die Knste, der Raum des Emotionalen, in dem gleichberechtigt ber das kulturell Gemeinsame, aber auch ber das Tren-nende und in einer Differenz wieder dialektisch Verbindende und damit ber das Anerkennenswerte im gesellschaftlichen Miteinander verhandelt wird. Aus der Vielfalt der Kulturen entsteht eine neue Kultur der Kulturen.

    KUNST UND KULTUR IN STUTTGARTStuttgart selbst ist Chiffre fr Kultur. Die Landeshauptstadt ist 2014 zum zweiten Mal mit dem Prdikat Kulturhaupt-stadt Nr. 1 ausgezeichnet worden und bietet Kultur auf Welt-niveau. Die Strke der Stuttgarter Kulturlandschaft beruht auf einem qualitativ und in der Vielfalt kreativen Mix, den kaum eine andere vergleichbare Stadt aufweisen kann einem Zu-sammenspiel von groen Museen, Theatern, Hochschulen, groen und kleinen Theatern, Orchestern, Chren, Galerien und vielen weiteren Kulturangeboten bis hin zu einer dyna-mischen Kreativszene. Das Kulturamt trgt eine besondere Verantwortung fr den Erhalt und die Weiterentwicklung dieser kulturellen Vielfalt. Die Arbeit der Kulturverwaltung dient dem Ziel, die kulturelle Infrastruktur in der Stadt lang-fristig zu sichern und auszubauen. Ferner verstehen wir uns im System Kultur als Moderator, der Impulse setzt oder pro-duktiv aufgreift. Der ausgeprgte Kulturkonsens quer durch

    H

  • 12_ SPEKTRUM #24

    alle politischen Fraktionen liefert eine solide Basis fr die Sicherung und Weiterentwicklung der bestehenden Kultur-landschaft und die Strkung kultureller Bildung. Das alles sind beste Voraussetzungen, um Kunst und Kultur nicht nur als Standortfaktor, sondern auch als Orientierungsressource einer humanen Zukunft zu begreifen.

    MITVERANTWORTUNG VON STAAT UND GESELLSCHAFT FR KUNST UND KULTURFr ein lebendiges und innovatives Klima ist entscheidend, was vor Ort selbst wchst. Stuttgart hat in einem breit ange-legten Beteiligungsprozess, der 2011 auf Initiative der sach-kundigen Brger im Ausschuss fr Kultur und Medien in Gang gesetzt wurde, fr eine Strkung des Lokalen pldiert und die Vision einer Brgergesellschaft in der Kultur po-stuliert. Die kulturellen Leitlinien, die im Prozess Kultur im Dialog entwickelt wurden, manifestieren: Die Veranke-rung der gesamten Kulturlandschaft im Selbstbewusstsein der Stadt ist eine Gemeinschaftsaufgabe.

    In den verschiedenen Handlungsfeldern definiert sich Stutt-gart als kreative (Werk-)Stadt, als urbanes Labor fr Kunst und Kultur: Kunstproduzenten sind Stadtproduzenten. Knstlerische und kulturelle Projekte bernehmen wichtige urbane, soziale und konomische Funktionen fr die Stadt-gesellschaft, vernetzen diese und tragen zum Diskurs bei.

    Die Zukunft einer Stadt wird auch kulturell geschrieben.Heit: Kultur brauchen wir nicht nur, weil sie mndig macht und weil unsere Identitt entscheidend von ihr geprgt wird. Kultur ist auch fr Wirtschaft, Gesellschaft und Stadtent-wicklung unverzichtbar, weil sie ein Katalysator der Kom-

    petenzbildung ist. Denkt man sich also ein Fortschreiten der Kultur, so wre eine Arbeitsteilung zwischen der Kommunal-verwaltung, die rechtskonform handelt und den mndigen Brgern das Richtige. Die Konkurrenz, die Reibung zwischen beiden Polen, brchte jene Energie, welche Kultur antreibt. Im Positionspapier des Deutschen Stdtetages vom Novem-ber 2013 heit es: Kultur in der Stadt ist mehr als Kultur von der Stadt. Und weiter: Die Zivilgesellschaft mit Mzenaten-tum, Ehrenamt, Vereinen, Kirchen, Kunstproduzenten und nicht zuletzt die freie Kulturszene mssen auf Augenhhe als gleichberechtigter Partner einbezogen werden. In Stuttgart wird dieser Dialog praktiziert mit Mehrwert fr alle Betei-ligten. Kulturpolitik und Kulturverwaltung sehen sich in der Rolle des Mittlers: Sie mssen zwischen konomischen Pr-missen und knstlerischen Notwendigkeiten vermitteln und gleichzeitig Akzente setzen. Wenn freiwilliges Engagement eine Selbstverstndlichkeit ist, dann sind wir angekommen in der Brgergesellschaft, wo jeder Einzelne Verantwortung fr die kulturelle Stadtgesellschaft bernimmt und Kultur als brgerschaftliche Angelegenheit verstanden wird. Der er-weiterte Imperativ lautet: Kultur durch alle.

    Dr. Birgit Schneider-Bnninger (*1963) leitet seit Januar 2014 das Kulturamt der

    Landeshauptstadt Stuttgart. Zuvor war die promovierte Historikerin in Wolfs-

    burg Leiterin des Geschftsbereichs Kultur und Bildung. In Stuttgart liegen ihre

    Schwerpunkte auf der Weiterentwicklung der Kulturlandschaft, der Kommunikati-

    on, Vernetzung und Dialog von Stadtverwaltung und Kulturszene sowie dem Ausbau

    der kulturellen Bildung.

    ZUR SACHEUnsere Fragen! Ihre Antworten!

    Ich bin verantwortlich fr

    Ich wre gern verantwortlich fr

    Wie viel Erfolg brauchen Sie ganz persnlich?

    Liefern Sie durch Ihre Existenz einen Beitrag zur Vermehrung des Glcks auf Erden?

    Ich geniee Kunst, die

    Kunst sollte meiner Meinung nach

    Nach Brecht kommt erst das Fressen und dann die Moral. Was ist Ihnen wichtig?

    Vorbild fr mein Denken und Handeln ist

    Wem glauben Sie nichts mehr?

    Wie viele Geheimnisse tragen Sie momentan mit sich herum?

    Wie ist Ihr Verhltnis zur Wahrheit?

    Bitte ausfllen, abtrennen und an folgende Adresse schicken!Musikhochschule Stuttgart, Jrg Schmidt, Urbanstrae 25, 70182 Stuttgart

  • SPEKTRUM #24_13

    FREIHEIT VS. VERANTWORTUNGFragen an Sibylle LewitscharoffDAS MAIL-INTERVIEW FHRTE PROF. FRANZISKA KTZ

    F r das 19. Jahrhundert lag die Verantwortung des Knstlers im unbedingten Ausdruck seines eigenen Talents, das 20. Jahr-hundert sah seine Verantwortung teils in der Vernderung

    der gesellschaftlichen Verhltnisse, teils in Variationen des immer wie-derkehrenden lart pour lart. Wo siehst du dich und deine Kunst in diesem gespannten Feld?

    Im lart pour lart sehe ich mich am wenigsten, wiewohl es eine kunsteigene Freiheit geben muss, die sich nicht von ge-sellschaftspolitischen Leitlinien beherrschen lassen darf. Am eigenen Talent zweifle ich zu sehr, als dass ich diesem zu un-bedingtem Ausdruck verhelfen wollte. Sagen wir es so: mit Blick auf andere, hochmgendere Talente versuche ich das meinige zu schulen und das Beste daraus zu machen.

    Das Beste daraus machen wenn nicht lart pour lart, dann zu welchem oder wessen Besten denn?

    Das Beste, welches ich vielleicht vermag, kann nur im eige-nen Dafrhalten liegen. Ein solches Dafrhalten muss sich allerdings dem Zweifel aussetzen, und zwar fortdauernd. Ein wirklich objektives, durch und durch verlssliches Krite-rium fr die Beurteilung der eigenen Arbeit gibt es nicht. An einem Urteil, das standhlt, mssten im Ernstfall sehr viele Menschen einer Gesellschaft beteiligt sein, ebenso die Toten, vielleicht sogar Gott.

    Als Schriftstellerin erhebst du Deine Stimme fr wen oder was stehst du damit ein?

    Meine Stimme erhebe ich so gut wie nie. Ich tat es nur zwei Mal deutlich: Gegen Amazon mit voller Wucht, und dann hielt ich einen langen Vortrag ber moderne Arten des Ster-bens und ber knstliche Machenschaften bei der mensch-lichen Fortpflanzung. Im letzteren Fall gab es eine ffentliche Emprung, die sich gegen exakt zwei Stze eines fnfzigmi-ntigen Vortrages richteten, die immer und immer wieder zitiert wurden. Absurd! Inzwischen stehe ich dem ziemlich gleichgltig gegenber. Ich muss bald ins Grab, und da ist es mir egal, ob manche Forscher alsbald dazu bergehen wer-den, Kaulquappeneier mit menschlichen Zellen zu verset-zen. Mein politisches Credo ist eigentlich simpel: es ist gegen Grausamkeit und Folter gerichtet, und was das sthetische anlangt gegen eine verkommene, wrdelose Darstellung menschlicher Figuren in Romanen und Filmen, und insbe-sondere auf dem Theater.

    Wie lautet dann dein sthetisches Credo, wrdest du es ins Positive wenden?

    Romane und auch das Theater betreiben ihre Hauptgeschfte darin, an die Komplexitt, an das Gloriose und auch an die Verworfenheit der menschlichen Existenz zu rhren. Die sich natrlich wandelt. Wiewohl mich die attischen Trag-dien ergreifen, wiewohl ich von Dantes Commedia fasziniert bin, lechzt ein Teil von mir danach, das Hier und Heute dar-zustellen und gedanklich zu erfassen. Dabei versuche ich da-ran zu erinnern, dass mit der lebendigen, jetzigen Existenz des Menschen vielleicht noch nicht alles gesagt ist. Um einen kstlichen Ausdruck von Heimito von Doderer zu verwen-den: ich wurmisiere gern in der jenseitigen Welt herum.

    Wenn bis in diese aufgeklrten Zeiten die alte Kunst sich als Gottesdienst verstand, unser Himmel jetzt aber leer sein soll oder Gott uns vielleicht aufgegeben hat, knpfst du trotzdem an diese Tradition an. Siehst du in der Fortschreibung dieser Tradition auch so etwas wie eine Verantwortung?

    Schwierig. Vielleicht gibt es in einem entfernten Hallraum meiner selbst diese Verantwortung, dann wre sie gewisser-maen inkarniert. Aber das Schreiben bleibt letztlich ein freiheitlicher Akt, der nicht allzu sehr von Verantwortung, von Sorgen und Umsicht und Rcksicht umstellt sein darf, sonst bringt man nichts Gescheites zu Papier. Obendrein gilt: das Unbewusste schreibt mit.

    Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart als Tochter eines bulgarischen Vaters und

    einer deutschen Mutter geboren, studierte Religionswissenschaften in Berlin,

    wo sie, nach lngeren Aufenthalten in Buenos Aires und Paris, heute lebt. Nach

    dem Studium arbeitete sie zunchst als Buchhalterin in einer Werbeagentur. Sie

    verffentlichte Radiofeatures, Hrspiele und Essays. Fr Pong erhielt sie 1998

    den Ingeborg-Bachmann-Preis. Es folgten die Romane Der Hfliche Harald

    (1999), Montgomery (2003) und Consummatus (2006). Der Roman Apostoloff

    wurde 2009 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Blumenberg

    (2011) stand auf der Shortlist fr den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien der

    Band Vom Guten, Wahren und Schnen, der die 2011 in Frankfurt und in Zrich

    gehaltenen Poetikvorlesungen versammelt. 2009 gestaltete Sibylle Lewitscharoff

    eine Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv Marbach zum Thema Der Dichter

    als Kind; in ihren Papiertheater-Arbeiten befat sie sich mit Clemens Brentano,

    Johann Wolfgang Goethe, Gottfried Keller, Karl Philipp Moritz und Friedrich Schiller.

    Sibylle Lewitscharoff ist Mitglied der Deutschen Akademie fr Sprache und Dich-

    tung sowie der Berliner Akademie der Knste.

  • SPEKTRUM #24_15 GERHARD STBLER BEI DER LOST & FOUND-KONGRESSERFFNUNG

    KUNST UND VERANTWORTUNGin der Neuen MusikDOKUMENTIERT VON LEA ROLLER

    Kunst und Verantwortung zwei Schlagworte, die unterschiedliche, komplexe und schwierige Ver-bindungen zwischen den Beteiligten an Kunst er-

    ffnen. Wer trgt gegenber wem oder was eine Verantwor-tung, und muss sie bernommen werden? In Bezug auf Neue Musik haben sich mit diesem vielschichtigen Thema Chri-stine Fischer, Intendantin von Musik der Jahrhunderte und knstlerische Leiterin des ECLAT Festivals Neue Musik Stuttgart, Angelika Luz, Professorin fr Gesang und Leite-rin des Studios fr Stimmkunst und Neues Musiktheater an der Musikhochschule Stuttgart, Bjrn Gottstein, Redak-teur fr Neue Musik beim SWR und ebenfalls knstlerischer Leiter des ECLAT Festivals Neue Musik Stuttgart sowie Jean-Baptiste Joly, Grndungsdirektor und knstlerischer Leiter der Akademie Schloss Solitude am 14.07.2014 an einem Run-den Tisch auseinandergesetzt.

    DER INTERPRET UND DAS WERK

    ANGELIKA LUZ (AL): Als Interpretin stehe ich zunchst dem Kunstwerk gegenber in der Verantwortung. Die Partitur ist ein Gebilde von Notation, das viele Fragen offen lsst. Denn Notation ist ein Versuch etwas festzuhalten, das als abstrakte Idee nicht wirklich greifbar ist. Der Interpret versucht anhand dieser bertragung zurckzuverfolgen, was der Komponist gemeint haben knnte. Diesen Vorgang kann man mehr oder weniger verantwortungsvoll ausben. Dabei steht fr mich das Werk im Zentrum, nicht unbedingt der Komponist. Im Werk bleibt immer etwas brig, etwas Ewiges die Abstrak-tion eines ungreifbaren Gedankens. Und diesen Gedanken muss man als Interpret wieder zum Leben erwecken. Das ist eine sehr groe Verantwortung.

    BJRN GOTTSTEIN (BG): Und die Verantwortung des Interpreten ist, dass dem Werk Recht geschieht. Der Interpret hat dem Komponisten gegenber eine Verantwortung, die ihm quasi als Subtext der Partitur, als Vertrauensvorschuss vom Kom-ponisten mitgegeben wird. Er kann diese Verantwortung aber auch ablehnen. Das macht die Geschichte der Interpre-tation ja interessant.

    JEAN-BAPTISTE JOLY (JBL): Ich sehe da auch noch eine andere Ver-antwortung. Eine Partitur ist eine Schrift, und es gibt Schriften in der Menschheitsgeschichte, die wir nicht mehr lesen kn-nen. Die Verantwortung des Interpreten besteht darin, dass di-ese Schrift lesbar wird, sie gelesen und gelebt wird. Dass es eine Brcke gibt zwischen der Intention und dem Erlebten.

    DER KOMPONIST UND DER INTERPRET

    AL: Hat nicht auch der Komponist dem Interpreten gegenber eine Verantwortung? Es gibt Partituren, die nicht auffhrbar sind. Dann kommen Frustration und Fragen auf, die auch im-mer wieder in meiner Rolle als Professorin ein Thema sind. Warum steht dort etwas, das man nicht ausfhren kann? Man muss akzeptieren, dass es um eine Idee geht, die etwas Unge-fhres sein kann, dass man bewusst viel Spielraum zugewie-sen bekommen hat. Ein Erkenntnisprozess, der gar nicht so einfach ist.

    JBJ: Ob Stcke schon hrbar oder spielbar sind, das ist eine Frage, die sich auch an die Zukunft richtet. An eine Zuhrer-schaft, an eine Praxis, die es noch nicht gibt. Jeder Musikologe zitiert dabei die Beethoven-Quartette: sie wurden fr Ohren konzipiert, die es noch nicht gab. Man darf weder beim Inter-preten noch beim Komponisten Fehler suchen.

    CHRISTINE FISCHER (CF): Vermeintlich unspielbare Stcke gab es schon immer in der Musikgeschichte. Muss der Komponist wirklich spielbare Werke schreiben? Muss er Position gegen-ber der Gesellschaft beziehen? Oder darf er vollkommen bei sich sein, gleich wie er mit den Interpreten kommuniziert, gleich wie viele Rtsel er dem Interpreten aufgibt, gleich ob er berhaupt einen Interpreten findet? Wie frei ist ein Kom-ponist? Ich pldiere ganz klar fr die Freiheit! Wir befragen Werke ja auch nach ihrem Provokationsgehalt, der nur ent-stehen kann, wenn der Komponist sich nur gegenber sich selbst verantworten muss.

    DER KOMPONIST UND DIE MUSIKGESCHICHTE

    JBJ: Im Vergleich mit Knstlern anderer Kunstgattungen sind die Musiker, die Komponisten diejenigen, die sich am mei-sten gegenber der Musikgeschichte verantworten. Die Mu-siker wissen woher sie kommen; sie wissen wie man schreibt, und sie sehen sich immer in einer Musikgeschichte, in der sie eine bestimmte Tradition annehmen oder ablehnen oder eben provozieren. Insbesondere Musiker beziehen sich ganz bewusst auf eine Musikgeschichte, in der sie eine Verantwor-tung bernehmen.

    CF: Nein, ein Komponist hat keine Verantwortung gegenber einem Kontext, sondern nur gegenber sich selbst. Natr-lich muss er den Kontext kennen, in dem er sich positioniert. Aber was erwarten wir von einem Komponisten, was erlegen wir ihm auf? Erwarte ich wirklich eine Verantwortung des

  • 16_ SPEKTRUM #24 DAS ECHTZEITENSEMBLE UND STUDIERENDE DER SCHLAGZEUGKLASSE BEIM KONGRESS LOST & FOUND ^

    Komponisten gegenber dem Interpreten? Nein! Und auch nicht gegenber einer bestimmten Fortfhrung von Mu-sikgeschichte ein Knstler kann, muss aber nicht darber nachdenken. Er muss sich nicht in die Musikgeschichte ein-ordnen lassen oder sich selbst einordnen wollen. Der hchste Provokationsgehalt wird mglicherweise erreicht, wenn ein Komponist das alles vom Tisch wischt.

    JBJ: Aber man kann nur etwas vom Tisch wischen, wenn man wei was auf dem Tisch liegt. Dann bezieht man Position gegenber der Musik.

    DER VERANSTALTER UND DIE GRENZEN DER KUNST

    JBJ: In Berlin gab es eine Performance, bei der eine Knstle-rin Klebstoff schnffelte bis sie umfiel. In so einer Perfor-mance geht es darum, die Grenzen von Kunst und Leben auszuloten. Was ertrage ich im Namen der Kunst? Da wird die Verantwortung des Veranstalters direkt herausgefor-dert. Wie lange ertragen Sie es im Namen der Kunst, an solche krperlichen Grenzen zu gehen? Sind Sie Zeuge? Mittter? Mitopfer? Oder sind Sie Connaisseur, der Kunst goutiert? Als Veranstalter kommt hier der Moment, in dem es um unsere eigenen Grenzen als Sozialprodukte geht.

    BG: Ob und wie man so eine Situation auf die Bhne bringt, hngt vor allem davon ab, ob das Werk so aufgefhrt werden kann, dass niemand zu Schaden kommt. Da wird deutlich, wie viele Ebenen diese Verantwortung hat.

    CF: Da treffen zwei Themen aufeinander, der Schutz der Knstler und der Schutz der Freiheit der Kunst. Dafr gibt es keine Regel. Es liegt im Ermessen des Veranstalters und in seiner Verantwortung, die richtige Entscheidung zu fllen.

    DER VERANSTALTER UND DIE VERMITTLUNG

    AL: In der Neuen Musik spielt Rtselhaftigkeit eine groe Rolle die wirklich guten Stcke tragen immer eine gewisse Rtsel-haftigkeit in sich, man findet immer wieder etwas Neues und ist nach egal wie vielen Proben nie fertig. Aber abseits dieser Rtselhaftigkeit scheint es manchmal eine Komplexitt zu ge-ben, die nur Fllmaterial ist und den Eindruck des nicht-Ver-stehens vermittelt, was das Publikum Neuer Musik doch im-mer wieder betrifft. Daher ist Vermittlung in den letzten Jah-ren ein wichtiges Thema geworden und kommt sicher auch aus der Verantwortung dem Publikum gegenber eine Nhe oder eine Art von Verstndnis herzustellen. Denn die Neue Musik ist immer noch eine Kunst, die nicht fr die Masse, son-dern fr eine Minderheit ist. Ist das eine Verantwortung?

  • SPEKTRUM #24_17

    JBJ: Neben der Problematik der Banalisierung und Trivialisie-rung muss man auch die Bedingungen, unter denen vermit-telt werden soll, bedenken. Beispielsweise sind die musischen Fcher an der Grundschule abgeschafft worden. Das ist doch Doppelzngigkeit, wenn man diese Fcher auf der einen Seite abschafft und auf der anderen Seite dann Vermittlung fordert, wenn es kein Publikum mehr gibt. So werden falsche Voraussetzungen geschaffen!

    CF: Das wird an den Schulen aber revidiert. Als klar wurde, dass Musik auch fr die kognitiven Fhigkeiten von Bedeu-tung ist, gab es ein politisches Umdenken und die musika-lische Erziehung kam strker ins Bewusstsein. Ein wichtiger Aspekt: Wie sehr wird Kunst instrumentalisiert und was knnen oder mssen wir als Kunstvermittler und Kultur-schaffende tun? Das Verstndnis fr Kunst steht leider oft nicht im Zentrum. Durch Musizieren sollen Kommunikati-onsfhigkeit und soziale Kompetenz gefrdert werden und das Erlernen eines Instruments soll der Verbesserung kogni-tiver Leistung oder der Konzentrationsfhigkeit dienen. Die Aspekte von Kunst spielen dabei keine Rolle. Aber Musik ist kein Lernmittel! Auch an dieser Stelle sind wir Kulturschaf-fende mit unserer Verantwortung in der Pflicht.

    BG: Es gibt da auch hufig ein Missverstndnis. Ich bernehme als Veranstalter nicht die Verantwortung dafr, dass das Pu-blikum das Werk verstanden hat. Ich muss die Verantwor-tung dafr bernehmen, dass das Werk nicht missverstanden wird, das ist meine Aufgabe. Wenn ich aber einen Konzer-trahmen schaffe, in dem alles komplett missverstanden wird, dann habe ich als Veranstalter etwas falsch gemacht. Ich muss einen Rahmen herstellen, in dem eine Kommunikation zwi-schen Komponist und Publikum mglich wird. Wenn dann der einzelne trotzdem nicht versteht, entzieht sich das mei-ner Verantwortung.

    DIE INSTITUTION UND DIE GESELLSCHAFT

    JBJ: Wir streifen das groe gesellschaftliche Thema der Ver-antwortung der ffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, des Bildungsauftrages. Es entsteht doch der Eindruck, dass die Rundfunkanstalten diesen Auftrag nicht so ernst nehmen und Neue Musik nur dulden.

    BG: Das Gefhl, dass die Neue Musik in den ffentlich-recht-lichen Sendern marginalisiert wird, geht wohl nicht zuletzt auf die sptabendlichen Sendepltze zurck. Die Neue Musik ist eine Nische. Trotzdem hat sich beispielsweise die Zahl der Festivals fr Neue Musik im Vergleich seit den 50er Jahren vervielfacht. Auch genieen die Donaueschinger Musiktage eine hohe Prioritt im SWR. Es ist ein Aushngeschild, bei dem alles, was dem Sender zur Verfgung steht, zugegen ist. Das ist schon ein Bekenntnis.

    CF: Diese Haltung des SWR, die auch mit dem Erfolg des Fe-stivals zu tun hat, ist herausragend. In den 50er Jahren wa-ren Neue Musik-Sendungen eine Selbstverstndlichkeit im Rundfunk, unabhngig von einer Quote. Es war ein ge-schtzter Raum mit einem Bildungsauftrag. In Darmstadt zogen sich Komponisten nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit, in der Musik besonders instrumentalisiert wurde, auf den Diskurs ber das eigene Genre zurck. Ihnen war be-wusst, dass sie keine groe ffentlichkeit erreichen, vielmehr wurde die Musik auch vor einer Vereinnahmung auerhalb des Kunstrahmens abgeschottet. Die heute zahlreichen Festi-vals viele wurden ja von Knstlern selbst gegrndet sind auch ein Indikator fr einen Wandel, eine ffnung der Kom-ponisten zu verstrkter Kommunikation, der Hinwendung zur Gesellschaft, dem Bedrfnis, verstanden zu werden.

    JBJ: Im Programmheft zu Lachenmanns Mdchen mit den Schwefelhlzern gibt einen wunderbaren Text von Lachen-mann selbst, in dem eine Passage genau um diese Absage an die Gesellschaft und zugleich die Verantwortung der Kompo-sition selbst gegenber der Gesellschaft und der Musik geht. Genau diesen Widerspruch zeigt das dialektische Verhltnis von Bezugnahme auf die Gesellschaft und zugleich Abkehr von der Gesellschaft:

    Seit temA und Air geht es in meiner Musik um streng aus-konstruierte Verweigerung, Aussperrung dessen, worin sich mir Hr-Erwartungen als gesellschaftlich vorgeformt dar-stellen. Dies bedeutet nicht bloe Antithese, denn so eindeu-tig sind die Dinge nicht. Vielmehr ergeben sich dialektische Arbeits- und Erfindungsprozesse im Zusammenhang mit den verschiedenen Eigenschaften von klingenden Materi-alien, das bekanntlich nirgends frei, sondern berall schon expressiv geladen und belastet ist. [] Das sthetische Ange-bot, die Intensitt, wenn man so will: die Schnheit von Mu-sik ist fr mich untrennbar an das Niveau der Anstrengungen gebunden, mit welcher sich der Komponist derartigen Vor-wegbestimmungen im Material widersetzt: In solcher Ausei-nandersetzung, als Auseinandersetzung mit der darin gebun-denen gesellschaftlichen Wirklichkeit, bildet er diese ab und drckt er sich aus. Mag schon sein, dass er dabei gelegentlich von der Wirklichkeitsferne des eigenen Vokabulars gelhmt wird bis zur Paranoia angesichts der aktuellen Vorgnge, auf die unmittelbar einzuwirken ihm als Musiker verwehrt ist. Dies ist das Problem seiner politischen Wachheit und deren Rckwirkungen auf seine Ziele als Komponist. Glaubwr-dig ist er mir nur in der konsequenten Auseinandersetzung mit den sthetischen Kategorien der von ihm erschlossenen kompositorischen Mittel. [1]

    [1] Helmut Lachenmann, Selbstportrait 1975/2001, in: Programmheft Staatsoper

    Stuttgart, 2001, S. 14-19, S. 15

    Lea Roller wurde 1987 in Stuttgart geboren. Ab 2008 studierte sie an der Hoch-

    schule fr Musik und Darstellende Kunst Stuttgart Schulmusik mit Hauptfach

    Querflte bei Antje Langkafel und Leistungsfach Gesang bei Sylvia Koncza. Seit

    2012 studiert sie Anglistik an der Universitt Stuttgart und seit 2013 Master Musik-

    wissenschaft an der Hochschule fr Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Neben

    ihrem Studium ist sie als Instrumentalpdagogin und in zahlreichen Ensembles

    ttig.

  • 18_ SPEKTRUM #24

    ZUR SACHEDr. Regula RappREKTORIN DER STAATLICHEN HOCHSCHULE FR MUSIK UND

    DARSTELLENDE KUNST STUTTGART

    Ich bin verantwortlich fr die Leitung der Stuttgarter Hoch-schule fr Musik und Darstellende Kunst, meine Motivation, ausreichend Schlaf und gute Ideen.

    Ich wre gern verantwortlich fr Der Mensch wchst mit seinen Aufgaben. Ich bin gerne verantwortlich fr das, was mir anver-traut wurde, ich bin allerdings auch offen fr das, was kommt.

    Wie viel Erfolg brauchen Sie ganz persnlich? So viel, dass es Erfl-lung und Spa bringt, weiter zu arbeiten.

    Liefern Sie durch Ihre Existenz einen Beitrag zur Vermehrung des Glcks auf Erden? Das hoffe ich sehr, besonders fr die Menschen in meiner nchsten Umgebung, dann aber auch fr diejenigen, die davon profitieren, dass ich mich fr Musik und die dar-stellenden Knste einsetze.

    Ich geniee Kunst, die mich wach macht und mir neue Per-spektiven erffnet.

    Kunst sollte meiner Meinung nach fr jeden zugnglich sein.

    Nach Brecht kommt erst das Fressen und dann die Moral. Was ist Ihnen wichtig? Die Mischung muss stimmen, die Reihen-folge ist nicht so wichtig. Ich habe noch eine Abwandlung im Angebot: Erst kommt das Denken und dann die Moral. Ich will mich doch nicht nur als moralischer Konsument, sondern als moralische Person begreifen. Dafr ist heute allerdings eine Strategie der moralischen Verknappung not-wendig. Wer moralisch sein will, muss sich gut berlegen, zu welcher Gelegenheit und mit welchen Konsequenzen er das sein will. (Heinz Bude in Kursbuch 176 Ist Moral gut? )

    Vorbild fr mein Denken und Handeln Ich habe immer wieder ein Vorbild je nach Lebenssituation; grundstzlich bewundere ich die Kompromisslosigkeit groer Knstler und die Kom-promissfhigkeit groer Politiker.

    Wem glauben Sie nichts mehr? Wer enttuscht wird, hatte einfach zu hohe Erwartungen! Es gilt also, die Anzahl der Erwar-tungen berschaubar zu halten

    Wie viele Geheimnisse tragen Sie momentan mit sich herum? So zwei bis vier

    Wie ist Ihr Verhltnis zur Wahrheit? Ich versuche immer daran zu denken, dass es besser fr mein Gegenber ist, wenn man ihm die Wahrheit wie einen Mantel hinhlt, in den er schlpfen kann, statt sie ihm wie ein nasses Tuch um die Ohren zu schlagen.

    Ich bin verantwortlich fr Als Kanzler der Hochschule bin ich Mitglied des Rektorats und verantwortlich fr Personal-, Ver-waltungs- und Haushaltsangelegenheiten der Hochschule.

    Ich wre gern verantwortlich fr Mein Aufgabengebiet ist so vielschichtig, dass ich mir kein schneres vorstellen kann.

    Wie viel Erfolg brauchen Sie ganz persnlich? Erfolg kommt nicht von alleine. Erfolg muss man erarbeiten und ist das Ergebnis eines Prozesses. Ja, Erfolg ist fr mich wichtig.

    Liefern Sie durch Ihre Existenz einen Beitrag zur Vermehrung des Glcks auf Erden? Glck ist ein vielschichtiger Begriff. Dinge worber der eine glcklich ist, sind dem anderen egal. Ich versuche meine Entscheidungen so auszurichten, dass die Grnde, die ich fr die Entscheidungsfindung herangezogen habe, nach-vollziehbar sind.

    Ich geniee Kunst, die mir gefllt. Aber zur Weiterentwicklung der Persnlichkeit auch solche Kunst, die mich zum Nach-denken auffordert.

    Kunst sollte meiner Meinung nach beim Genuss entweder eine Entspannung bedeuten oder aber Auffordern nachzudenken.

    Nach Brecht kommt erst das Fressen und dann die Moral. Was ist Ihnen wichtig? Ja, aus der Dreigroschenoper. Wovon lebt der Mensch? Jeder antwortet zunchst spontan natrlich Moral, aber ist es nicht wie beim Spieler in Der gute Mensch von Sezuan: Wir stehen selbst enttuscht und sehr betroffen. Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

    Vorbild fr mein Denken und Handeln ist Vorbilder sind Personen, mit denen man sich identifiziert und deren Verhaltensmu-ster man versucht nachzuahmen. Eigentlich versuche ich ich selbst zu sein. Echte Vorbilder habe ich nicht.

    Wem glauben Sie nichts mehr? Ich bin nicht voreingenommen und lehne es ab, von vornherein dem einen etwas zu glauben und dem anderen nicht.

    Wie viele Geheimnisse tragen Sie momentan mit sich herum? Mein Be-ruf bringt es mit sich, dass in manchen Dingen eine Geheim-haltung notwendig ist. Das sind aber keine Geheimnisse, die ich als Herrschaftswissen mit mir rumtrage. Das sind Dinge, die ich fr mich behalte, weil sie mir im Vertrauen anvertraut wurden, dass ich sie nicht weitererzhle.

    Wie ist Ihr Verhltnis zur Wahrheit? Ohne Wahrheit ist ein gutes Zusammenleben unmglich. Es lebt sich mit der Wahrheit einfach leichter und besser.

    ZUR SACHEAlbrecht LangKANZLER DER STAATLICHEN HOCHSCHULE FR MUSIK UND

    DARSTELLENDE KUNST STUTTGART

  • SPEKTRUM #24_19

    V

    ICH ZUSCHAUER UND DIE ANDERENVON PETER GROHMANN

    on Hodscha Nasreddin, dem Weisen aus Ostanato-lien, wird folgende Geschichte erzhlt: Der Hodscha kam einmal in ein fernes Dorf, wo ihn niemand

    kannte. Die Menschen dort waren verzweifelt, denn sie hatten vergessen, wann die Nacht zum Tage und der Tag zur Nacht wird. Fremder, fragten sie den Hodscha, kannst Du uns hel-fen? Unsere Hebamme sagt, die Nacht wird zum Tag, wenn du ein Kamel von einem Pferd unterscheiden kannst. Ein ande-rer wandte ein: Unser Dorflteste behauptet aber, die Nacht wird zum Tag, wenn du den Gartenzaun erkennst, der dein Grundstck von dem des Nachbarn trennt. Und unser Scha-mane, wandte ein Dritter ein, ist sich ganz sicher: Die Nacht wird zum Tage, wenn du einen Apfelbaum von einem Feigen-baum unterscheiden kannst. Wann, Fremder, wird die Nacht zum Tage? Der Hodscha dachte nach. Es wird Tag, wenn ihr in das Gesicht eines Fremden blickt und erkennt: eine Schwester, ein Bruder, ein Mensch wie wir. Solange ihr das nicht erkennt, bleibt es dunkel.

    Es ist lange her, als ich in das Gesicht eines Menschen blickte und mich tuschte. Es war das milde Gesicht eines freund-lichen Apothekers, dem ich die Rezepte reichte. Mit Sorgfalt, ja Wrde suchte er aus, was vom Arzt verschrieben worden war, reichte es mir dann, meist mit ein paar Hustenbonbons und nie, ohne mir noch einmal freundlich zuzunicken oder ber den Kopf zu streichen. Ein kunstsinniger Mensch. Als der Apotheker im Januar 1968 nach lngerer Pause wieder ein Konzert besuchte, begrte ihn das Publikum mit herz-lichem Beifall. Im Anschluss an das Konzert gab es lebhafte Gesprche ber Kunst und Kultur und Politik, ber die Un-gerechtigkeiten auf der Welt, und natrlich: ber Gesund-heit, denn es war ein ungewhnlich kalter Winter - Tempera-turen von minus 30 Grad waren in den ungeschtzten Lagen der Nordalb keine Seltenheit und der Rat des Apothekers Gold wert. Der kunstsinnige Apotheker war ein angesehener Brger in Gppingen und ein erfolgreicher Geschftsmann. Er wusste zu haushalten, auch in seiner Zeit als Auschwitz-apotheker, und gelegentlich, so erzhlte er, gab er fr die Gas-kammern aus Grnden der Sparsamkeit zu wenig Zyklon B aus, sodass der Tod hin und wieder erst 20 Minuten nach Schlieung der Tren eintrat.

    Dieter Schlesak ein AnStifter schreibt dazu u.a. in der ZEIT, dass der Mensch mit dem freundlichen Gesicht an der Ermordung von Zehntausenden von Menschen beteiligt war. Seinen Reichtum nach dem verlorenen Krieg verdankt er denn auch dem geraubten Gold, das von den herausgeris-senen Zhnen der Ermordeten stammte. Er hat sogar soviel Gold aus Auschwitz mitgebracht, dass es nach der Grndung

    der Marktapotheke noch fr einen Schnheitssalon in Reu-tlingen reichte, fr eine Jagd in der Steiermark, fr Latifun-dien sonstwo...

    Die Rede ist von Capesius, Victor, Dr., SS-Sturmbannfhrer, geboren 1907 in Siebenbrgern, Flchtling also und freund-lich zu Flchtlingskindern wie mir, und vor nicht einmal 70 Jahren, wie schnell doch die Zeit vergeht, wie schnell doch vergessen wird, war er noch fr Bayer Leverkusen ttig, die Chemie lag nah, der Karrieresprung reichte bis Auschwitz. 1947 fhrte er die Raitelsberg-Apotheke in Stuttgart, natr-lich unter richtigen Namen, interessierte sich fr den Mn-nergesangsverein, besuchte Kirchenkonzerte ein gebildeter Mensch also, rein zufllig erkannt von einem Holocaust-berlebenden, der ihm ins Gesicht sah. Im Auschwitzpro-zess wurde der Doktor zu neun Jahren Haft verurteilt, das meiste war abgesessen, als er im Januar 1968 wieder die wohl-wollende Aufnahme in Gppingen fand. Wer aber war nun Zuschauer, wer waren die anderen?

    AUF DER SPURENSUCHEWeil der Vater verschollen war wie die Heimat, weil die Ver-gangenheit futsch war und die Zukunft noch nicht entdeckt und die Neugier da war und die Angst wohl deshalb habe ich mich zeitlebens auf den Weg gemacht, das alles zu suchen. Die Sehnsucht, dem nicht Gesehenen und dem noch nicht Gewesenen auf die Schliche zu kommen, hat mich immer wieder verfolgt und eingeholt von frher Jugend an. Was es mit den Erzhlungen der Altvorderen auf sich hat, was sich hinter Gesichtern und Bildern versteckt, was die Inschriften der Grber verschweigen, ob es Schtze gibt in Noten und Texten, das wollte ich wissen. Gelegentlich bin ich fndig und glcklich geworden, aber ich konnte die Schtze nicht fr mich behalten: verrostete Waffen, Gebeine auf den ckern nebenan, Eingemachtes in den Kellern eingefallener Huser, als dem Krieg die Kraft ausging, Verstecktes, Vergrabenes, das nicht Feind noch Freund je finden sollten.

    Bei solchen Suchen stie ich auch in die verschtteten Ver-gangenheiten meiner Seele vor, sah Freund und Feind liegen, Seit an Seit, ohne Mantel, kopflos, die Augen geradeaus er-starrt. Welche Botschaften enthlt jener Berg aus Schuhen, der im Auschwitzer Museum aufgeschichtet ist? Teuerstes Lederzeug, Luxus, Holzpantinen, heruntergekommen von den Fen? Und was sagt mir oder dir oder den anderen je-ner groe Haufen Haare, Haare, Haare ebendort? Die in die Zellenwnde geritzten Zeilen der Verzweiflung in der Stutt-garter Gestapozentrale wurden lngst bertncht: Wort fr Wort vernichtete Gedichte und geheime Botschaften fr die

  • 20_ SPEKTRUM #24

    Nachwelt. Die aber wei oft nur, dass NSU jenes wunderbare Motorrad aus Neckarsulm war, und dass sich ein Besuch des Zweiradmuseums mehr lohnt als einer in Sdpolen: Mit ber 400 Exponaten ist in NSU die grte historische Sammlung von Zweirdern in Deutschland zu sehen ber die Zusam-menhnge mit dem NSU heute oder damals werden spter einmal, vielleicht, wenn Zeit ist, wenn...

    Whrend des Zweiten Weltkriegs baute man im Werk Neckarsulm unter anderem ein Halbkettenfahrzeug mit Motorradgabel ideal fr die Wehrmacht. Die da bauten, waren Deutsche und ihre Zwangsarbeiter, Band an Band, Hand in Hand, denn in die Heimat der Kriegsgefangenen gabs oft nur schlechte Wege kein leichtes Brot also, dort aufzurumen und auszurumen fr den Endsieg, alles, was nicht niet- und nagelfest war sicherzustellen, den Rest zu ver-nichten, auch die Wahrheit. Keine Dichtung also fr Neckar-sulm. Die Zuschauer im Museum sehen aus wie ich.

    ICH BIN KRANKKrank vor Schmerz, wenn ich an die Worte des freundlichen Doktor Capesius denke. Krank vor Trauer, wenn ich Fran-ziskus beten sehe in Lampedusa, beten auf einem Altar, der aus den zerschellten Booten der ertrunkenen Flchtlinge ge-zimmert wurde, beten fr die Lebenden und die Toten. So ein Altar ist eine wahre Kunst. Ich trume immer wieder von Bombergeschwadern, von solchen, die ich als Kind in Dres-

    den im Februar 1945 gesehen habe. Ich ffne die Augen fr Millionen Flchtlinge, die nicht ankommen drfen, nicht bei sich und, erst recht, nicht bei uns zu Hause. Ich schaue zu mit Euch, 19 oder 20 Uhr, Tagesthemen, Tagesschau, Nacht-magazin. Ich bin Zuschauer wie ihr. Die auf der Bhne? Das sind die anderen. Echte Menschen, wenn es heller wird. Will sagen: Kunst und Verantwortung? Das eine nie ohne das an-dere. Jetzt aber Du, Lesende!

    NICHTS GEFUNDENDann suchtin den Bergenim Gesicht der Freundein den alten Gassenim Baum nebenanden roten FadenLernt hren,wie die Steine sprechenWelche FreudePltzlich

    Peter Grohmann, Schriftsteller und Kabarettist, *1937 in Breslau, Initiator der

    Brgerprojekte AnStifter gegen Gewalt und Vergessen, Mitbegrnder des The-aterhauses und zahlreicher zivilgesellschaftlicher Projekte, lebt in Stuttgart.

    Ich bin verantwortlich fr mich selbst, meine Familie und zusammen mit anderen z. B. fr die Gesellschaft der Freunde, die Internationale Bachakademie und ihren Frderkreis, die Internationale Hugo Wolf Akademie.

    Ich wre gern verantwortlich fr (wenn ich Geld und Macht htte) die Frderung einer Renaissance der Begeisterung fr klassische Musik.

    Wie viel Erfolg brauchen Sie ganz persnlich? Erstens: Erfolg ist keiner der Namen Gottes (Martin Buber). Zweitens: So viel, dass ich nicht das Gefhl haben muss, mein Engagement sei fr die Katz.

    Liefern Sie durch Ihre Existenz einen Beitrag zur Vermehrung des Glcks auf Erden? Das hoffe ich, in bescheidenem Umfang natrlich

    Ich geniee Kunst, die in die Tiefe fhrt, die anspruchsvoll ist und doch zugnglich.

    Kunst sollte meiner Meinung nach weder zu marktorientiert noch zu elitr sein.

    Nach Brecht kommt erst das Fressen und dann die Moral. Was ist Ihnen wichtig? Dass ich auch Stze eines bedeutenden Autors fr ziemlich plump halten darf.

    Vorbild fr mein Denken und Handeln ist Ein Vorbild habe ich nicht, aber es gibt durchaus Menschen, die mich direkt oder indirekt nachhaltig geprgt haben (und prgen).

    Wem glauben Sie nichts mehr? Statistiken!

    Wie viele Geheimnisse tragen Sie momentan mit sich herum? Ich ver-rate nicht einmal, ob ich Geheimisse mit mir herumtrage, geschweige denn wie viele.

    Wie ist Ihr Verhltnis zur Wahrheit? Positiv, ich hasse es, wenn ich angelogen werde.

    ZUR SACHEHans Georg KochVORSITZENDER DER GESELLSCHAFT DER FREUNDE DER STAATLICHEN

    HOCHSCHULE FR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST STUTTGART

  • SPEKTRUM #24_21

    MIT FSSEN TRETEN?VON FREDERIK ZEUGKE

    I n einigen Stdten sind sie unerwnscht Stolper-steine haben in Deutschland eine beispiellose Spur der Erinnerungen gelegt. Whrend in Stdten wie

    Mnchen bis heute die Kunst des Stolperstein-Erfinders Gunter Demnig als unverantwortlich (oder unknstlerisch?) gilt, haben sie in Stuttgart eine lange Tradition. Seit 2003 ver-legt Demnig hier die Steine, die Menschenleben bedeuten, genauer gesagt: von den nationalsozialistischen Deutschen vertriebene und ermordete Menschen. Sie wurden damals nicht nur mit Fen getreten, aber heute frchtet man an-dernorts, die Erinnerung an die Grueltaten wrde mit Hilfe der Kunstaktion mit Fen getreten, also geschndet wer-den.

    Die Debatte ber Erinnerungskultur ist Teil der Erinnerung, schwankt zugleich aber zwischen Anlass und Wirkung, zwi-schen trauriger Geschichte und trostloser Befindlichkeit. Und sie ist Teil einer langjhrigen Diskussion ber Kunst und Knstler. So wird dem Urheber dieser Kunstaktion nach den vielen Jahren, die er dieses endlose Unterfangen betreibt, ins-besondere in der Nhe von Sommerlochberichterstattungen vorgeworfen, dass er seit Jahren dasselbe mache, was dem-nach wohl kaum Kunst sein knne. Oder dass er seinen Le-bensunterhalt damit verdiene, dass diese eine seiner Kunst-ideen ber Jahre hinweg Auftraggeber finde (die keineswegs in erster Linie knstlerische Ziele htten). Auch der Fiskus wollte ihm zwischendurch den knstlerischen Anspruch ab-sprechen: damit wrde der Staat mehr, der Knstler weniger an der Erinnerung verdienen. Vereinzelt sind Interviews zu lesen, Portrtversuche zu Gunter Demnig. Sie bleiben karg.

    Und das ist gut so. Wer hat ein Interesse daran, von dem Kern der Aktion abzulenken? ber Kunst soll man reden, ber Verantwortung ebenso dringlich. Beide gegeneinander aufzuwiegen, ist kaum abwegiger als hier. Hier, das ist zum Beispiel unmittelbar vor den Tren der Hochschule. Seit Juni 2014 sind an der Seite zum Kammertheater zwei Steine einge-lassen. Sie erinnern an Nicolas und Leya Cymbalist. Wo heute die Hochschule fr zuknftige Generationen ausbildet, ha-ben vergangene ihr Leben lassen mssen. Wo heute ein archi-tektonisch verspielter Bau seine aufflligen Markenzeichen reprsentiert, ist vor wenigen Generationen eine Kultur aus Stuttgart verdrngt und beinahe ausgelscht worden. Bei-lufig knnen wir das heute wahrnehmen. Oder ganz gezielt. Wer mit dieser Kunst mehr wissen will, wie verantwortlich heute mit Geschichte, das heit auch: Menschenschicksalen umgegangen wird, ist nur wenige Schritte davon entfernt. Ohne Spiel, ohne Musik. Aber nicht ohne Worte. Klicken Sie zum Beispiel auf Stolpersteine, Stuttgart, Cymbalist, das ist doch keine Kunst oder?

    Frederik Zeugke, geboren 1968 in Schleswig-Holstein. Studierte an der Freien Uni-

    versitt Berlin Germanistik, Allgemeine Vergleichende Literatur-, sowie Film-, Fern-

    seh- und Theaterwissenschaft. Nach seinem Magister 1994 wurde er Assistent und

    Dramaturg Dieter Sturms an der Schaubhne am Lehniner Platz, Berlin. Von 1997-

    2001 am Staatsschauspiel Dresden als Dramaturg. Ressierte dort am Schlossthea-

    ter mit diversen performativen Formaten. Ging 2001 ans Berliner Ensemble, von dort

    2005 ans Staatstheater Stuttgart als Mitglied der knstlerischen Leitung. Seit 2010

    lehrt er an der Staatlichen Hochschule fr Musik und Darstellende Kunst Stuttgart fr

    Dramaturgie und Theatertheorien.

  • WER IST WOFR VERANTWORTLICH?Ist Kunst vernderbare Kunst oder verantwortungslos?

    VON AS & PCDC AUS DEM FRANZSISCHEN VON KATJA SIMON

    m Jahr 1999 war zwar der Behaarungskrieg, von dem die Mnner grtenteils verschont blieben, noch nicht in vollem Gange, trotzdem sollte unser

    Vorhaben ein dem Trend entgegengesetztes Zeichen setzen und gleichzeitig den starren Statuen etwas Menschliches zu-rckgeben. Wir wollten einen neuen Blick auf diese nackten weien Krper ermglichen, die durch die Macht der Ge-wohnheit unsichtbar geworden waren. Der Leiter des Kultur-amts der Stadt, die Direktoren des Naturkundemuseums und des Stuttgarter Zoos, die alle auf der Welle der Glattrasiert-heit zu reiten schienen, schoben sich gegenseitig (wie eine heie Kartoffel) die Verantwortung zu, um nicht selbst eine Entscheidung treffen zu mssen. Erst mit der Untersttzung des Direktors des Institut Franais in Form eines Briefes und der telefonischen Intervention eines engen Freundes konnte der Zirkus schlielich beendet werden: Das Vorhaben sollte nicht zustande kommen. [1]

    Nun schreiben wir das Jahr 2014, der Behaarungskrieg ist vorber, so manche Berhmtheit, egal ob Model, Schauspie-lerin oder Sngerin, stellt dennoch stolz ihre in natrlichem Zustand belassenen Achseln zur Schau und versucht damit dem allgemeinen Trend zur dauerhaften Laserepilation ge-

    gen den Strich zu brsten. Wenn sich diese kleine Wider-standsgruppe trotz allem durchsetzen knnte, wrde der Trend kippen und das Geschft mit Haarimplantationen und Haarteilen boomen wir blickten einer neuen ra entgegen. Unser hinfllig gewordenes Vorhaben knnte endlich reali-siert werden.

    Zu bedenken ist auch, dass whrend wir diese Zeilen schrei-ben, tausende neuer Kunstwerke von zigtausend Knstlern aus aller Herrenlnder geschaffen werden, obwohl die Depots der allerorts aus dem Boden sprieenden neuen Museen und Kunsthallen bereits brechend voll sind. Unser kostengn-stiges Haarprojekt htte den Vorteil gehabt, dass es recyclebar, ja sogar biologisch abbaubar gewesen wre, was ein durchaus ernst zu nehmender Ansatz ist, um den bedrohlichen Anhu-fungen, dem haarstrubenden berfluss Einhalt zu gebieten. Sollten wir nicht ber aufblasbare Kunstwerke nachdenken und endlich das schne, aber leider wieder verworfene Kon-zept der Selbstzerstrung wieder aufleben lassen?

    Uns drngt sich der Gedanke auf, dass es den oben erwhnten Verantwortlichen mit ihrem Nicht-Eingreifen und ihrer ab-soluten Unttigkeit eigentlich fern lag, uns zu entmutigen.

    I

    NYMPHENGRUPPE, PROJET (PROJEKT), 1999 , FOTO RELLISCH, VERLAG AWEKA GMBH / AS & PCDC ^22_ SPEKTRUM #24

  • Auf ihre gewiss hin und wieder mrrischen Art wollten sie uns vielmehr dazu anregen, weiter, schneller zu denken und Umwelt- und Kulturschutz als Einheit zu betrachten. In ihrer selbstlosen, visionren Art bestrkten sie uns darin, unseren Weg in der alten unerschtterlichen Gleichgltigkeit weiter-zugehen.

    AS & PCDC (1996 - ?) haben sich in der aktuellen Kunstszene durch ihre interpassiven

    Inaktivitten (u.a. in Paris, Yvetot, Le Havre, Douala), die man als Gegen-Performances

    bezeichnen knnte, einen Namen gemacht. Seit 2000 vertiefen sie den Ansatz, den

    knstlerischen Einsatz zu minimieren und folgen den Einladungen von Museen, in den

    [1] In einem Brief vom 10. Juni 1998 baten AS & PCDC, die damals eine Ausstellung am Institut Franais mit dem Titel Petites choses voir (Kleine Sehenswrdig-

    keiten) vorbereiteten, beim Oberbrgermeister der Stadt Stuttgart um die Erlaubnis,

    der Wiesennymphe aus der 1809 von Johann Heinrich von Dannecker geschaffenen

    und 1982 vor dem Rosensteinmuseum errichteten allegorischen Nymphengruppe

    Achselhaare anbringen zu drfen. Ihre Intention sei, so schreiben sie, den Bildnis-

    sen fr eine gewisse Zeit ihre Menschlichkeit zurckzugeben. Um die Chancen auf

    eine Erlaubnis zu erhhen fhren sie aus, dass der Eingriff nach den Regeln der

    Kunst vorgenommen und ein Klebstoff verwendet wrde, der rckstandslos entfernt

    werden knne, der Eingriff also keinerlei Spuren hinterlassen wrde.

    Das Schreiben bleibt ohne Antwort. AS & PCDC geben jedoch nicht auf. Sie rufen den

    Kulturamtsleiter der Stadt an, der ihnen rt, sich an den Direktor des Naturkundemuse-

    ums zu wenden, was sie am 15. Oktober desselben Jahres tun, um auch dort mit ihrem

    Anliegen vorstellig zu werden. Vergebens. Um eine Realisierung des Projekts doch noch

    mglich zu machen wird die Ausstellungserffnung um einige Monate verschoben.

    Schlielich ruft Matthias B., Freund von AS & PCDC und Kontaktmann in Stuttgart,

    den Direktor des Museums an, um von ihm seine Zustimmung zu erhalten. Der

    Anfang des Gesprchs ist sehr freundlich, erst als sie zur eigentlichen Sache kom-

    men, zum Haar in der Suppe sozusagen, bringt Matthias B. den Direktor in Rage. Er

    empfiehlt den beiden Knstlern aus Frankreich in ihrem Land zu bleiben, wo sie in

    aller Seelenruhe ihrem Napoleon Federn an den Hut stecken oder der Mona Lisa

    einen Bart ankleben knnten. Aber im Grunde bin ich gar nicht dafr zustndig,

    beendet er wtend das Gesprch. Wenden Sie sich an den Leiter der Wilhelma, des

    Stuttgarter Zoos. Die Skulptur steht auf seinem Gelnde.

    Zwei Briefe waren an genau diesen adressiert worden, der erste von AS & PCDC am

    2. Dezember 1999, ein zweiter acht Monate spter vom Leiter des Institut Franais.

    Beide Schreiben ersuchten den Empfnger das Projekt wohlwollend und einfhl-

    sam zu prfen, beide Briefe blieben unbeachtet. Letztendlich fand die Ausstellung

    nicht statt.

    Ausstellungsrumen zu schlafen (Muse Zadkine, Muse Gustave Moreau, Paris, Mu-

    se des Beaux-Arts de Rouen, Muse Flaubert et dhistoire de la mdecine Rouen, Ch-

    teau dOi