Surprise Strassenmagazin 214/09

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Santa Bob Dylan im Weihnachts-Interview Nr. 214 | 4. bis 17. Dezember 2009 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass. Konsumankurbler – mit Alternativgeld gegen die Krise Sonderfall Tessin: Der Kanton, der vergessen ging

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Surprise Strassenmagazin 214/09

Transcript of Surprise Strassenmagazin 214/09

  • Santa BobDylan im Weihnachts-Interview

    Nr. 214 | 4. bis 17. Dezember 2009 | CHF 6. inkl. MwSt. Die Hlfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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    Sonderfall Tessin: Der Kanton, der vergessen ging

  • 2 SURPRISE 214/09

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    Seite bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, [email protected]

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  • 3SURPRISE 214/09

    Inhalt04 Editorial

    Frostiger Wind04 Leserbriefe

    Lebendige Mnner05 Basteln fr eine bessere Welt

    Sing durch die Blume06 Aufgelesen

    Altersarbeit06 Zugerichtet

    In Panik geraten07 Mit scharf

    Frauen an der Macht07 Erwin

    ... muss sparen08 Portrt

    Die Frau und die Herzen10 Schweiz

    Hinter den Bergen im Tessin22 Wrter von Prtner

    Mit den Augen des Rckkehrers23 Kabarett

    Klamauk im Doppelpack24 Kulturtipps

    Mit Giftpflanzen durchs Jahr26 Ausgehtipps

    Nicht allein an Weihnachten28 Verkuferportrt

    Ich trume von einer sicheren Existenz

    29 Projekt SurplusChance fr alle!Starverkufer

    30 In eigener SacheImpressumINSP

    Klaus Spahni ist Kunstmaler. Trotzdemsind seine Bilder nicht von Hand gemacht,denn Spahni malt mit dem Mund. Die Vorweihnachtszeit ist fr den genossen-schaftlich organisierten Mundmaler einewichtige Schaffenszeit.

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    Titelbild: Sonymusic/William Claxton

    Das htte man nicht erwartet: Bob Dylan hat einWeihnachtsalbum eingespielt. Im Exklusiv-Inter-view fr Strassenmagazine entpuppt sich der wort-karge Snger als Purist und erklrt, weshalb auchein Rockstar Weihnachtslieder originalgetreu sin-gen sollte.

    16 Alternative WhrungenEs geht auch andersUrsprnglich war Geld als Instrument gedacht,um den wirtschaftlichen Austausch zu erleich-tern. Doch das Mittel zum Zweck hat sich ver-selbststndigt lngst schon beherrscht das Gelddie Menschen, nicht umgekehrt. Doch es gehtauch anders: Beim Handel mit Alternativwhrun-gen ist das Geld wieder das, was es mal war.

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    13 Bob DylanHis Bobness in Weih nachtslaune

    20 KunstMundgemalt und handverlesen

  • 4 SURPRISE 214/09

    Ihre Meinung!Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20,

    Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, [email protected]. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt,

    die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behlt sich vor, Briefe zu krzen.

    Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3

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    FRED LAUENER,

    GESCHFTSFHRER

    EditorialKontraproduktiv

    Advent ist auch fr Surprise eine besondereZeit. Es ist kalt draussen, und die Tage sindkurz. Besonders hart trifft es jene Menschen,die keine Familie oder gute Freunde haben.Einsamkeit tut im Advent und zur Weih -nachtszeit besonders weh. Surprise fhrt des-halb in der Vorweihnachtszeit immer wiederAnlsse und Aktionen durch, die auf die Situ-ation von Menschen in sozialer Not aufmerksammachen. Adventsfenster, Weihnachtsfeiern frdie Surprise-Verkuferinnen und -Ver kuferund ffentliche Veranstaltungen. Dieses Jahrwollten wir am 11. Dezember mit der Bevlke-rung von Zrich eine Adventsnacht unterfreiem Himmel verbringen. Einmal selber dieKlte und den Wind spren, der Menschenentgegenschlgt, denen eine warme Stubefehlt. Uns aber auch wrmen mit Suppe undBrot. Wir wollten den Kundinnen und Kundendes Strassenmagazins persnlich Danke sagenfr ihre Untersttzung und Solidaritt. Zu-sammensitzen am Lagerfeuer und Liedern undGeschichten lauschen. Die Behrden der Stadt Zrich haben dieseVeranstaltung nun aber verboten. Die Stadtpo-lizei lehnte unser Bewilligungsgesuch ab: DerAnlass wrde eine kontraproduktive Aus-strahlung gegenber den Bemhungen derStadt Zrich im sozialen Bereich aussenden.Ein frostiger Wind, der nicht nur unseren Ver-kaufenden, sondern dem ganzen Projekt Sur-prise in der Adventszeit aus Zrich entgegen-schlgt. Offenbar nicht als kontraproduktiv beurteiltder Songwriter Bob Dylan die Arbeit von Surprise und rund 80 weiteren Strassenmaga-zinen, die in einem internationalen Netzwerkzusammengeschlossen sind. Deshalb mchteich Ihnen das Exklusivinterview mit dem wortkargen Knstler ab Seite 13 besonders ansHerz legen. Darin ussert er sich unter ande-rem zu seiner persnlichen Beziehung zuWeihnachten und Weihnachtsliedern.

    Ich wnsche Ihnen gute Lektre.

    Herzlich,

    LeserbriefeDer Fleischkonsum hat nicht nur Tierleidzur Folge, er trgt auch zum Umwelt- undWelthungerproblem bei.

    Nr. 212: Mensch, Mann! Was ist los mitdem starken Geschlecht?

    Es gibt sie, die Mnnerbewegung!Hey, Surprise-Redaktoren, warum lasst Ihr dieFrauen was zur Mnnerfrage machen? Machtdoch eine eigene Nummer aus Eurer Perspekti-ve! Nichts gegen Ironie. Aber leider haben diebeiden Frauen gar nicht recherchiert und derPsychoanalytiker ist schlecht informiert. Es gibtsie, die schweizerische Mnnerbewegung! Alseinziges Land in Europa haben wir einen na-tionalen Dachverband der Mnner- und Vter -organisationen (www.maenner.ch) und einehervorragende schweizerische Mnnerzeitung(www.maennerzeitung.ch). Was es braucht,sind noch mehr Mnner, die nicht nur funktio-nieren, sondern als Mann lebendig bleiben wol-len und auch bereit sind, dafr zu kmpfen.Christoph Walser, Zrich

    Zensur ist zweischneidigDer Artikel Plakatverbote Zensur gibt esnicht, aber sie hilft gefllt mir, weil er ausge-wogen ist. Zensur ist zweischneidig und nichtimmer wirksam oder gar kontraproduktiv.Aus diesem Grund ist mir eine klare Haltung,und soweit mglich auch ihre Bekundung,dort, wo Grenzen bei der Werbung klar ber-schritten werden, sehr wichtig. Ich bitte alleMuslime und Musliminnen um Verzeihung fr das Plakat der Befrworter der Anti-Mina-rett-Initiative, welches Hass, Wut und Angstschrt. Samuel Vozeh, Uettlingen

    Ethikschule statt FleischkonsumVor rund einem Jahr habe ich in Surprise einenArtikel ber die Ethikschule in Allschwil gelesen. Ich war erfreut, dass Sie ein so zu-kunftsweisendes Projekt vorstellen. Ich bin derberzeugung, dass die wichtigste Aufgabe desheutigen Menschen ist, ein Mitgefhl zu ent-wickeln, und es den anderen Lebewesen zu ermglichen, ein lebenswertes Leben zu fh-ren. Der Fleischkonsum insbesondere in un-seren Breitengraden steht dazu im Wider-spruch. Er hat nicht nur immenses Tierleid zurFolge, sondern trgt auch betrchtlich zumUmwelt- und Welthungerproblem bei. DasLoblied, das in Surprise unfortschrittlicher-weise der Metzgete (Volksbrauch Metzgete Dem Schwein zur Ehre, Anm. d. Red.) galt,htte dem Wirken und Bestehen der zehnjh-rigen Ethikschule Mensch und Tier gesungenwerden sollen.Sarah Heiligtag, Zrich

  • Schneiden Sie aus einem weissen Filzstck

    die Edelweiss-Bltenbltter aus.

    Nhen Sie mit einem Faden die beiden Filztei-

    le in der Mitte zusammen. Befestigen Sie im

    gleichen Arbeitsschritt eine kleine Perle (aus

    Holz oder Kunststoff) im Mittelpunkt.

    Aus einem gelben Filzstck schneiden Sie

    den Bltenstempel aus.

    Nhen Sie auf der Rckseite des Filz-Edelweiss

    eine Sicherheitsnadel an zwei Stellen an.

    Stecken Sie sich das Edelweiss an den Kragen

    und singen Sie aus voller Kehle ein Lied.

    5SURPRISE 214/09

    Basteln fr eine bessere WeltDie Wahl des grssten Schweizer Hits 2009 hats gezeigt: Wir sind ein heimatverbundenes Volk. Wer sich bei den Schweizern Gehr ver-schaffen will, muss nicht in erster Linie musikalisch innovativ sein, sondern die richtigen Kleider tragen: Je mehr Folklore-Blmchen amRevers stecken, desto grsser die Gewinnchance. Mit dem selbst gebastelten Edelweiss sind deshalb auch wir die Grssten und seies nur unter der Dusche.

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  • 6 SURPRISE 214/096

    AufgelesenNews aus den 90 Strassenmagazinen,die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehren.

    Schweinegrippe

    Manchester. Besonders gefhrdet, die Schwei -negrippe zu bekommen und sie nicht unbe-schadet zu berstehen, sind Obdachlose: Erstens haben sie oft unzureichenden Zu-gang zu hygienischen und medizinischenMitteln und zweitens ist ihr Immunsystemvielfach stark geschwcht. Um eine best-mgliche Versorgung obdachloser Menschenzu gewhrleisten, haben sich in England nundiverse Hilfsorganisationen mit Kranken -husern und Notschlafstellen zusammenge-schlossen.

    Rechtes sterreich

    Graz. Whrend der neuste UNO-Bericht zumThema Migration auf die Chancen hinweist,die die Zuwanderung fr Produktivitt und Innovation eines Landes bedeutet, wird insterreich das Asylgesetz weiter verschrft;die Auslieferungshaft ausgeweitet, der Ab-schiebeschutz whrend des laufenden Ver-fahrens abgeschafft und die unabhngigeRechtsberatung gekrzt. Damit luft ster-reich der Empfehlung des UNO-Berichts ent-gegen: Um Diskriminierungen vorzubeu-gen, mssen die Rechte von Migranten ge-strkt werden.

    Jobben im Altersheim

    Hannover. Immer mehr Senioren in Nieder-sachsen mssen einen Job annehmen, weilihre Rente nicht ausreicht: In der RegionHannover sind es bereits 34 Prozent mehrPensionierte als noch vor vier Jahren. Da esin Zukunft immer mehr Menschen gebenwird, die keine geraden und lckenlosen Er-werbsbiografien vorweisen knnen, wird derTrend schwer zu stoppen sein. Die Gewerk-schaften fordern deshalb von der Landes-regierung die flchendeckende Festlegung ei-nes Minimalstundenlohns von neun Euro.

    ZugerichtetEin Mann sieht rot

    Das Leben hat tiefe Furchen in Brunos*Gesicht hinterlassen. Der 39-Jhrige wirktfrhvergreist, seine Hibbeligkeit und das l -ckenhafte Gebiss weisen auf eine lngereDrogenkarriere hin. Glaubt man ihm, ist die-se aber abgeschlossen. Bruno bezieht IV undverdient sich bei einer Kontakt- und Anlauf-stelle mit dem Einsammeln von gebrauchtenSpritzen ein Zubrot. Es ist das einzige, wasich krperlich noch schaffe. Und psychisch.Und es ist wichtig, dass man etwas zu tunhat. Und ein Dach berm Kopf. In einemHeim fr betreutes Wohnen. Vorher war ichobdachlos. Er redet viel und in Bruchst-cken, als hpfe er von einer Gedchtnisinselzur nchsten.

    Dann wrden wir jetzt zur Anklage ber-gehen, sagt der Richter behutsam. Wir ha-ben da Gewalt und Drohung gegen Behrdenund Beamte, Sachbeschdigung und ber-tretung des Betubungsmittelgesetzes. Bru-no bedachte einen Angestellten des Bevl -kerungsamtes, der ihn wegen fehlendenWohnsitzes aus dem Personenregister gestri-chen hatte, mit den Worten: Ich werde dem-jenigen, der mir an die Substanz geht, ohnezu zgern etwas ber den Kopf ziehen. Aufjede Aktion folgt eine Reaktion. Der Beamtenahm Bruno ernst und zeigte ihn an.

    Ich bin halt in Panik geraten, wimmertBruno, denn die Streichung aus dem Perso-nenregister habe auch die Streichung seinerIV-Rente bewirkt. Ihre Sorge verstehe ich,sagt der Richter und wechselt zu einer schar-fen Tonlage, aber nicht die Drohung. Die Beamten waren in Angst und Schrecken ver-setzt. Denn andere Klienten hatten ihreDrohworte in die Tat umgesetzt.

    Das war vllig falsch, lenkt Bruno ein,ich war ja selbst mal Beamter. Er hatte denBeruf des Pstlers ausgebt, bevor er insSchleudern kam und aus der Bahn geriet. BeiPunkt zwei der Anklageschrift, es geht umSachbeschdigung, wird er wieder munter undlchelt selbstgefllig vor sich hin. FUCK BLO-CHER diese wenig originelle Parole hatteBruno auf eine Hauswand gesprayt. Ich habebloss meine politische Meinung kundgetan,sagt er trotzig. Und ich bin nicht der einzigeder so denkt. Da knnten Sie Recht haben,meint der Richter lakonisch. Aber den Scha-den trgt ja nicht Herr Blocher, sondern derHausbesitzer. Der Richter lsst sich nicht auf weitere Gesprche ein und liest die Antrge des Staatsanwalt runter: Den Bedingten vom letzten Mal hat sich Bruno vergeigt, die Geld-strafe von 120 Tagesstzen zu 30 Franken sei zu vollziehen und die von der Stadtpolizei si-chergestellten zehn Gramm Betubungsmittel,die er sich angeblich wegen Rckenschmerzengekauft hatte, seien zu vernichten. Ou nei!Das wre aber schade um die gute Ware, ruftBruno: Ich hab ja schliesslich bezahlt dafr.Die Gerichtsschreiber glucksen hinter vorgehal-tener Hand. Nur der Richter bleibt gefasst: Ja,das glaube ich Ihnen, dass Sie das schade fin-den. Und verurteilt ihn zu einer Geldstrafe vonzehn Tagesstzen zu 30 Franken, aufgeschobenbei einer Probezeit von drei Jahren, sowie einerBusse von 400 Franken. Das Heroin und dasKokain, die Feinwaage mit Etui und der Portio-nierer werden vernichtet.

    *persnliche Angaben gendert

    ISABELLA SEEMANN ([email protected])

    ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

    ([email protected])

  • 7SURPRISE 214/09 7

    VON JULIA KONSTANTINIDIS

    Drei Frauen regieren die Schweiz. Braucht es diese Betonung oderknnen wir im 21. Jahrhundert von der Selbstverstndlichkeit, dassFrauen in den obersten Etagen der Schweiz angekommen sind, aus-gehen? Nein, knnen wir nicht. Und drfen wir auch nicht. Klar sindwir froh, dass wir nicht mehr unsere BHs verbrennen mssen, um aufuns aufmerksam zu machen. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dasses lediglich knapp 40 Jahre her ist, seit die Frauen berhaupt politischmitmischen knnen. Erika Forster, neu gewhlte Prsidentin des Stn-derats, war damals bereits 27 Jahre alt. Doris Leuthard, designierteBundesprsidentin fr das Jahr 2010, war immerhin acht Jahre alt.

    Als die jngste Nationalratsprsidentin aller Zeiten, Pascale Bruderer,1977 zur Welt kam, war die Diskussion um das Frauenstimmrecht aufnationaler Ebene zumindest glcklicherweise kalter Kaffee. Seither isteiniges gegangen, Bruderers Laufbahn zeigt es.

    Nach den lautstarken Kmpfen haben sich die Frauen im nun fr siezugnglichen Politsystem heraufgearbeitet und nehmen je lnger destomehr Einfluss, auch in Institutionen, deren Machtgefge ursprnglichmnnlichen Charakter hat. Dass sie dabei unauffllig, vermittelnd undkonsensbewusst vorgehen, kann etwas mit ihrem Charakter zu tun ha-ben, muss aber nicht. Sie als Langweilerinnen oder sprde Karrieristin-nen abzutun, ist zu einfach. Denn ihr Verhalten basiert auf strategischenberlegungen: Indem sich die Frauen teilweise in bestehende (Macht-)Strukturen einfgen, knnen sie ihre Anliegen zielgerichteter am dafrbestimmten Ort anbringen. Und sie knnen darauf Einfluss nehmen,dass sich gerade diese Strukturen verndern. Dafr machen sie sich ei-ne ur-schweizerische Polittradition zu eigen, die von Mnnern begrn-det und geprgt wurde: die viel beschworene Konsenspolitik.

    LandesregierungFrauen an der Macht

    ERWIN muss sparen VON THEISS

    Zwar sind die drei Frauen an der Spitze der Schweizer Regierung derBeweis fr die politische Erstarkung der Frauen, sie sind aber immernoch die Ausnahme. Ausser im Bundesrat, sind die Frauen in derSchweizer Politik weiterhin stark untervertreten, das Land in SachenGleichberechtigung in vielen Punkten nach wie vor im Hintertreffen:Lohngleichheit sowie Berufs- und Karrierechancen sind nur zwei derBereiche, in denen Gleichstellung mehr Versprechen als Tatsache ist.

    Trotzdem wollen jngere Frauen nicht mehr die ganze Zeit auf ihreUngleichbehandlung hinweisen. Sie ernten die Frchte der ersten Stun-de der Frauenbewegung und das zu Recht. Doch die Frchte zu einemrein sthetischen Stillleben verkommen lassen, das wollen wir nicht. DieFrauen mssen dran bleiben, in neuem Stil. Wir haben den Vorteil, dasswir Teil sein knnen von Politsystemen, Institutionen und grossen Unter-nehmen. Wir kennen diese Gebilde von innen und knnen ihre Organi-sation und Infrastruktur in Frage stellen, ohne gleich auf die Barrikadenzu steigen. Wir knnen die inhaltlichen Themen von Polit- oder Unter-nehmensprogrammen setzen und so Richtung Gleichstellung steuern.Also, weiter so.

    Nur weil die drei wichtigsten Gremien der Schweiz nun von Frauenprsidiert werden, hat sich noch nicht alles gendert. Aber Pascale Bru-derer, Erika Forster und Doris Leuthard werden der Macht ein neues,weibliches Gesicht geben.

    Dank den Pionierinnen der feministischen Bewegung nehmen immer mehr Frauen Einfluss an Orten derMacht. Das ist schn es braucht aber noch mehr von ihnen.

  • 8 SURPRISE 214/09

  • 9SURPRISE 214/09

    VON YVONNE KUNZ (TEXT) UND ANDREA GANZ (BILD)

    Wie so oft bei erfolgreichen Frauen klaffen auch bei Franziska BernetSelbstbild und Aussenwahrnehmung weit auseinander. Wenn sie ihrenBlick durch die klinisch saubere Brille auf einen richtet und ihre Aussa-gen mit chirurgischer Przision formuliert, wirkt sie fast surreal perfekt.Scharf gezeichnet und in Titan gegossen. Mit knappem Nein schmet-tert sie ein Klischee nach dem andern ab: Sie ist kein Operationsgenie,das ansonsten ein von Zweifeln oder gar Schten durchdrungenes Dasein fristet. Auch keine schneidewtige Karrierefrau, die neben ihremBeruf kein Leben hat. Sie habe auch nicht doppelt so gut sein mssenwie ihre mnnlichen Kollegen. Im Gegenteil. Allerdings gebe es immernoch Leute, die sich nicht von einer Frau operieren lassen wollen. Meis-tens Frauen.

    Erst bei der Frage, ob sie arrogant sei, hlt die 51-Jhrige kurz inne,wiegt den Kopf hin und her, verknotet ihre kleinen, starken Hnde undmeint schliesslich: Eigentlich nicht. Exzentrisch? Auch nicht. Abersehr entscheidungsfreudig, was sie auf ihr Fachgebiet, die Herz- undThoraxchirurgie zurckfhrt. Ihre Bestimmtheit wird von der Umweltoft als Kaltherzigkeit wahrgenommen. Das verletzt mich sehr. Einer-seits weil diese Qualitten bei ihren mnnlichen Kollegen konsequentals Strke und berlegenheit gesehen wrden, andererseits weil sieganz grundstzlich sehr emphatisch sei. Vieles liege an der Art undWeise, wie man mit Patienten und Angehrigen kommuniziere. Das ge-linge ihr besser als den Mnnern, ist Bernet berzeugt. Nur schon, weildie Leute glauben, dass sie es als Frau besser knne und sich ihr des-halb schneller anvertrauen.

    Sie erzhlt von einem jungen Mann mit einer Aortendissektion, einRiss in der Hauptschlagader. Eine sehr ernste Diagnose, bei der immereine Notfalloperation angezeigt ist. Die Frau des jungen Mannes warauch dabei, mit einem Baby. Das gibt einem schon zu denken, meintsie. Denn sie wusste, dass die Operation leicht tdlich enden knnte.Dass es gut kam und er sein Kind aufwachsen sehen wird, zhlt fr dieMedizinerin zu den absoluten Highlights ihrerKarriere. Oder jedes Mal wenn ein Herz nachder Operation spontan wieder zu schlagen be-ginnt. Franziska Bernet htte auch erzhlenknnen, dass sie mit ihrem Team als eine der ganz wenigen ihres Fachsin der Schweiz knstliche Herzklappen bei schlagendem Herzen einset-zen kann. Dass sie es nicht tut, frdert eine hinter ihrer Bestimmtheitversteckte Qualitt zu Tage, die man so bei Chirurgen nicht erwartenwrde: Bescheidenheit. Sie kann sich nicht mal erinnern, was sie nachihrer ersten Herztransplantation gemacht hat.

    Mit der Belastung, dass in ihrem Fach ein Fehler schnell mal schwer-ste Konsequenzen haben kann, hat sich die gebrtige Baslerin arran-giert. Wenn ein Patient nach dem Eingriff stirbt, hilft ihr die nchterneAnalyse: War es die richtige Indikation? War etwas bei der Operation

    Portrt100 Prozent Sachlichkeit,100 Prozent Mitgefhl Am Herzzentrum der Zrcher Hirslanden-Klinik steht nur ein einziger weiblicher Name aufder Chirurgenliste: Franziska Bernet.

    oder bei der Nachbehandlung? Wenn sie jedes Detail noch einmaldurchgegangen ist und sagen kann, dass sie gleich entschieden htte, seies fr sie in Ordnung. Der Tod sei in der Herzchirurgie nun einmal einstndiger Begleiter. Was Franziska Bernet immer wieder fasziniert, sinddie Extreme: Wie wenig es manchmal braucht und wie viel es ande-re Male braucht, bis jemand stirbt. Sie nennt es Schicksal. Wenn einerviele Komplikationen bersteht, glaubt Franziska Bernet, sei seine Zeiteinfach noch nicht abgelaufen. Wenn es hingegen zu Ende geht, dannspren das die Patienten: Manche Leute haben extrem Angst vor demTod. Meine Erfahrungen zeigen mir, dass sie nicht unbedingt falsch lie-gen. Sehr grosse Angst ist immer ein Warnsignal.

    Trotz oder gerade wegen ihrer grossen Verantwortung vertraut dieChirurgin nicht auf irgendwelche Rituale vor Operationen oder Talisma-ne, sondern auf fachliche Vorbereitung. Bevor sie den OP betritt, gehtsie ein letztes Mal die Akten durch und schaut sich vorhandenes Bild-material an. Fast tglich ffnet sie Herzen, findet sie schn anzusehen,nimmt sie in die Hand. Einen Raucher erkennt sie an den strkeren Ver-kalkungen der Gefsse, ein dicker Herzmuskel weist meist auf einen hohen Blutdruck hin. Zeig mir dein Herz und ich sag dir, wer du bist?Nein, meint sie lachend, eher umgekehrt: Wenn sie jemand in derSprechstunde sieht, kann sie sich das Herz vorstellen.

    Franziska Bernet stammt aus einfachen Verhltnissen. In der Schulewar sie eine Minimalistin, tat immer nur das Ntigste. Erst wollte sie In-strumentierschwester werden, aber dann fand sie bald einmal: Eigent-lich will ich selber operieren. Da zwei ihrer drei Geschwister ebenfallsstudierten, musste sie sich ihr Medizinstudium selbst finanzieren, mitSitzwachen im Spital an jedem zweiten Wochenende und einem kleinenStipendium. In dieser Zeit eignete sie sich jene Charakterzge an, vondenen sie heute sagt, sie seien entscheidend gewesen: Disziplin, Be-harrlichkeit, Robustheit. Eine Mimose drfe man nicht sein.

    Es bereitete ihr auch nie Schwierigkeiten, dass sie nur am Woche-nende Zeit hatte fr ihre inzwischen 19-jhrige Tochter. Als Sonntags-mutter habe man auch eine Sonntagsbeziehung, die Konflikte focht ih-

    re Mutter aus, die einen grossen Teil der Erziehungsarbeit bernommenhatte. Das liegt nicht allen Frauen. Franziska Bernet erklrt sich die Ab-senz von Frauen in ihrem Beruf damit, dass viele dem klassischen Familienbild mehr Gewicht beimessen. Wenn sie sich fr Kind und Familie entscheiden, dann wollen sie auch prsent sein. Sie selbst habeder Familie nie diese Bedeutung beigemessen. Ich habe mich immermehr ber den Beruf definiert. Franziska Bernet ist berzeugt, dass siebald keine Ausnahmeerscheinung mehr sein wird und sich in nicht allzu ferner Zukunft weitere Frauennamen auf dem Schild beim Klinik-eingang finden werden.

    Sehr grosse Angst ist immer ein Warnsignal.

  • 10 SURPRISE 214/09

    TessinVergessen hinter dem Berg

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  • 11SURPRISE 214/09

    VON BARBARA HOFMANN

    Der Stadtprsident von Basel ruft nach einer Razzia bei SchweizerBanken in Deutschland die Bewohner seiner Stadt auf, die Augen offenzu halten nach deutschen Spionen. Polizei und Grenzwache bittet erum erhhte Aufmerksamkeit. An der Grenze stehen Fahrzeuge derdeutschen Finanzpolizei und filmen Einreisende. Bahnreisende berich-ten von merkwrdigen Fragestellern beim Personal der Transitzge,und am Basler Bankenplatz sollen Bankkunden von unaufflligen Her-ren fotografiert worden sein, bevor sie das Gebude betreten konnten.An den Grenzbergngen nach Deutschland verteilen indessen attrak-tive Damen Flugbltter, auf denen zur Vermgensdeklaration eingela-den wird.

    Unglaubliche Szenen spielen sich ab an der Schweizer Grenze. Sounglaublich, dass sie nicht wahr sein knnen, denn sonst htten sielngst eine diplomatische Krise ausgelst.

    Der erste Krieg der SchweizDas alles geschah aber dennoch und tatschlich in den letzten Wo-

    chen; zwar nicht in Basel, aber im Tessin, an der Grenze zu Italien.Denn nicht Deutschland, sondern Italien hat den Scudo fiscale aus-gerufen: Seit dem 15. September knnen italienische Brger im Aus-land gehaltene Vermgenswerte straffrei nach Italien zurckbringenund diese gegen eine kleine Sondersteuer von fnf Prozent legalisierenlassen. Diese Steueramnestie, oder eben Scudo fiscale, endet am 15.Dezember. Bis dahin drften die Spannungenan der Sdgrenze anhalten. Vorgnge, die vonder eidgenssischen ffentlichkeit nur beilu-fig wahrgenommen, von den italienischenMedien aber als geradezu dramatisch beurteiltwerden: Scudo fiscale la prima guerra della Svizzera, der erste Kriegder Schweiz, titelte die italienische Tageszeitung Repubblica im Okt-ober. Roberto Forte, Sekretr der grenzbergreifenden schweizerisch-italienischen Arbeitsgemeinschaft Regio Insubrica, rief in einem Briefan die Regierungen in Bern und Rom zur Mssigung und zum Dialogauf. Vergeblich. Eine berhitzte Reaktion jagt die andere. Die Italienerfahren schweres Geschtz auf und die Tessiner agieren so, wie sie sichfhlen: allein und alleingelassen.

    Immerhin, Mitte November reiste eine Delegation der Tessiner Re-gierung nach Bern und konfrontierte Bundesprsident Hans-RudolfMerz mit einem ganzen Katalog von Forderungen. Merz zeigte zwar

    Verstndnis, mehr aber nicht. Und so reisten die Tessiner nach ein paarfreundeidgenssischen Umarmungen ohne verbindliche Zusagen wie-der zurck hinter den Gotthard. Der Tessiner Regierungsprsident Gabriele Gendotti (FDP) bezeichnete die Gesprche mit Merz hflichals konstruktiv. Er machte aber auch deutlich: Wir sind es gewohnt,uns Versprechungen anzuhren. Wir wollen jetzt aber auch Fakten.

    Bern hat den Scudo fiscale lange als Tessiner Problem betrachtet.Aber der Scudo geht die ganze Schweiz an, klagte der Verwaltungs-ratsdelegierte der Tessiner Treuhandfirma Fidinam, Giorgio Antonini,krzlich im Tages-Anzeiger. Antonini bringt die Stimmung im Sdkan-ton auf den Punkt: Man fhlt sich alleingelassen vom Rest der Schweiz.

    Das ist nichts Neues. Aus Deutschschweizer Optik ist das Tessin hin-ter den Bergen weit ab vom eidgenssischen Geschehen. Umgekehrtfllt es den Tessinern immer wieder schwer, sich entschlossen und kohrent fr die eigenen Anliegen einzusetzen. Der Chef des Privat-fernsehens Teleticino, Marco Bazzi, wundert sich nicht: Das Tessin seiviel zu sehr mit sich selbst beschftigt und stndig in interne Streitereienverwickelt. Klientelismus und Partikularinteressen mit Blick auf kurzfris-tige konomische Vorteile stnden dem Kanton immer wieder im Weg.

    Nicht nur die Bewohner, schon die Topografie des Kantons sorgt fastzwangslufig fr unterschiedlichste Interessen. Durchquert man denKanton von Norden her, fhrt man am Armenhaus Leventina vorbei,gelangt ins touristische Locarnese, rastet im reichen Lugano und landetschliesslich, nach ein paar Kilometern zersiedelten Gewerbegebiets im Mendrisiotto an der Grenze zu Italien. Sptestens hier begreift

    man, wie schwierig es sein muss, in dem facettenreichen Kanton ge-meinsame Interessen zu finden. Unentschlossenheit sei typisch fr denSdkanton. Er neige mehr zum berlebensknstler als zum Siegertyp,sagen (selbst-)kritische Beobachter in der Sdschweiz fast einhellig.Wer gengend Unternehmungsgeist aufbrachte, sei immer schon ge-gangen und habe es ausserhalb des Kantons zu etwas gebracht. Dasgeht von den Architekten, die St. Petersburg erbauten, bis zur heutigenGenfer Polizeichefin, die diesen Posten in ihrer Heimat Tessin nie er-halten htte. Umgekehrt wurde einer der wichtigsten Pfeiler der kanto-nalen Wirtschaft, die Hotellerie, durch Deutschschweizer und Ausln-der initiiert.

    Das Tessin neigt mehr zum berlebensknstlerals zum Siegertyp.

    Seit Wochen piesackt Italien das Tessin auf der Jagd nach Steuerflchtlingen. Bern schaut zuund nimmts achselzuckend zur Kenntnis. Im Tessin fhlt man sich wieder einmal alleingelas-sen und fragt sich, ob man berhaupt noch dazugehrt, zur Schweiz.

  • 12 SURPRISE 214/09

    Schweiz Tourismus sagt es so: Der Sdzipfel der Schweiz heisst Tes-sin. Hier wird italienisch gesungen, gut gegessen und lustvoll den Son-nenseiten des Lebens gehuldigt. Doch begehrt das italienisch singende,bacchantische Vlklein hinter der grossen Tunnelrhre auf und wagt,Ansprche zu stellen, erntet es allenfalls paternalistisches Wohlwollen.Wie etwa bei der Ausmarchung der Bundesrats-kandidaten, anlsslich dieser die helvetischenMeinungsfhrer pltzlich eine nicht existierendelateinische Solidaritt beschworen und sichum die Forderungen ihrer Landsleute im Sdenfutierten: CVP-Prsident Darbellay meinte gegenber Journalisten, par-teipolitische berlegungen htten Vorrang vor regionalpolitischen derSdschweiz. Marco Solari, Prsident des Tessiner Tourismusverbandesund des Locarneser Filmfestivals, der stets die wichtige Rolle des Tessinals Brcke zwischen Nord- und Sdeuropa betont, sagt: La solidariten Suisse nxiste pas die vom Norden und Westen immer wiederproklamierte Solidaritt innerhalb der Schweiz existiert nicht. Solariwar als Mediator berufen worden, als im Frhjahr 2008 anlsslich dergeplanten Schliessung der SBB-Industriewerksttten die Tessiner zuTausenden auf die Strasse gingen. Im mchtigen Norden kam das nichtgut an. In der NZZ hiess es auch dazu, die betriebswirtschaftlichenberlegungen der SBB htten Vorrang vor den regionalpolitischen Inter-essen des Tessins.

    Vterliches SchulterklopfenLegendr ist der Ausspruch von alt Bundesrat Pascal Couchepin, der

    im Mai 2000 vor einer Abstimmung zu den bilateralen Vertrgen bei einem Besuch im Tessin die ngste der Bevlkerung vor dem ber-mchtigen Nachbarn Lombardei lapidar mit dem Satz wegfegte: SeienSie doch froh, dass Sie nicht Sizilien zum Nachbarn haben.

    Solch vterliches Schulterklopfen des grossen Bruders im Nordenkrnkt die Tessiner zutiefst. Die Motive fr die paternalistische Haltungreichen in eine Zeit zurck, als die Tessiner noch Untertanen der Urkantone waren und in den Akten der eidgenssischen Tagsatzungenals arme Vasallen jenseits der Berge bezeichnet wurden.

    Bis heute ist das Tessin stark fremdbestimmt geblieben. Das gilt frden Finanz- und Dienstleistungs- wie auch fr den Industriesektor.Dort, wie auch bei Entscheidungen der ffentlichen Hand, kmpft derKanton oft vergeblich darum, angehrt und ernst genommen zu wer-den sei es beim konstanten Abbau von Tessiner Arbeitspltzen inBundesbetrieben bis zur versuchten Schliessung der SBB-Industrie-werksttten von Bellinzona im Frhjahr 2008.

    Was im Tessin fehle, sagt TV-Mann Bazzi, seien Leute, die dyna-misch genug sind, mit Siegeswillen etwas zu riskieren und dafr aufsGanze zu gehen.

    Von den gut 300 000 Menschen, die im Kanton Tessin leben, sind et-wa 200 000 Eingeborene, ein Drittel sind Deutschschweizer und Aus-lnder. Kommen dann im Sommer noch die Touristenstrme dazu, fh-len sich die Tessiner rasch verunsichert. Dann wird jeweils auch ein an-deres Faktum wichtig: Mit der Deutschschweiz verbindet das Tessin140 Kilometer Grenze mit Italien ber 200.

    Mit der Deutschschweiz verbindet das Tessin140 Kilometer Grenze mit Italien ber 200.

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    Das Tessin als Brcke zu Sdeuropa funktioniert, die Solidaritt mit dem Tessin innerhalb der Schweiz nach Meinung seiner Bewohner nicht.

  • 13SURPRISE 214/09

    Bob Dylan hat in seiner Karriere schon oft berrascht. Ein Weihnachtsalbum htte aber wirklich niemand vonihm erwartet. Auf Christmas in the Heart singt Dylan mit heiligem Ernst traditionelle Weihnachtslieder, die Er-lse der Platte spendet er zugunsten von Lebensmittelprogrammen fr Bedrftige. Im Exklusiv-Interview frStrassenmagazine spricht der mittlerweile 68-Jhrige ber Kindheitserinnerungen, unglubige Kritiker, Singenin Fremdsprachen und seine eigenen Weihnachtswnsche.

    Bob DylanReligion ist nicht fralle gemacht

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    INTERVIEW: BILL FLANAGAN

  • 14 SURPRISE 214/09

    Wie war Weihnachten in der Kleinstadt, wo Sie aufwuchsen?Eine Menge Schnee, Jingle Bells, Sternsnger, die von Haus zu Haus zo-gen, Pferdeschlitten in den Strassen, Kirchturmglocken, Krippenspiele.Diese Art von Dingen.

    Ihre Familie war jdisch hatten Sie als Kind jemals das Gefhl,von der Weihnachtsstimmung ausgeschlossen zu sein?Nein, berhaupt nicht.

    Wie stellen Sie sich ein gutes Weihnachtsessen vor?Kartoffelpree mit Bratensauce, gebratener Truthahn und Kohl, Rben,Gebck, Maisbrot und Cranberry-Sauce.

    Wie verbringen Sie die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr?Mit Nichtstun und vielleicht damit, ein wenig ber ein paar Dinge nach-zudenken.

    Waren Sie ber Weihnachten schon einmal im Ausland und er-staunt darber, wie das Fest in anderen Lndern gefeiert wird?Ich war einmal in Mexico City. Dort trifft man auf eine Menge Darstel-lungen der Szene, in der Maria und Josef eine Unterkunft suchen.

    Zu Weihnachten gibts viel bessere Songs als zu anderen Feierta-gen haben Sie dafr eine Erklrung?Eine gute Frage. Ich weiss es nicht. Vielleicht weil das Fest in der ganzenWelt verbreitet ist und jeder auf seine eigene Art einen Bezug dazu hat.

    Wie kamen Sie auf die Idee, ein Weihnachtsalbum aufzunehmen?Ich hatte schon hufiger darber nachgedacht. Walter Yetnikoff hatmich vor vielen Jahren zum ersten Mal auf die Idee gebracht, als er nochPrsident meiner Plattenfirma war.

    Warum wurde seinerzeit nichts draus?Es war nicht konkret. Ausserdem gab es zu dieser Jahreszeit immer ei-ne Flut von neuen Aufnahmen und ich wusste nicht, wie sich meine vonanderen abheben knnte.

    Wenn zeitgenssische Knstler Weihnachtsalben aufnehmen,versuchen sie hufig, einen neuen Blickwinkel einzunehmen. BillyIdol hat ein RocknRoll-Weihnachtsalbum produziert, Phil Spec-tor hat seine bombastische Wall of Sound um den Weihnachts-baum aufgebaut es gibt Weihnachtslieder in jedem Stil, von Reg-gae bis Heavy Metal. Sie aber spielen klassische Weihnachtliederin traditionellen Arrangements. War von Anfang klar, dass Sie dieSongs auf diese Weise spielen wollten?Oh ja, sicher, anders htte ich sie gar nichtspielen knnen. Diese Songs sind ein Teil mei-nes Lebens, genau wie Folk-Songs. Und auchdie muss man auf klassische Art spielen.

    Bei Ill Be Home for Christmas klingen Sie verzweifelt, so alswrden Sie den Song im Gefngnis singen und er wre ihr einzigerAnruf. Gehen Sie manchmal wie ein Schauspieler an einen Songheran?Nicht mehr als es der Jazzsnger Nat King Cole es getan htte. DieseSongs verlangen nicht viel Schauspielerei. Sie spielen sich quasi selbst.

    Versuchen Sie, in verschiedenen Aufnahmen unterschiedlicheEmotionen einzubringen?Eigentlich nicht. Die Emotionen waren bei einzelnen Aufnahmen ziem-lich gleich. Vielleicht ist die Modulation anders, wenn wir die Tonart n-dern, und manchmal kann sich das auch auf den emotionalen Klangauswirken.

    Gibt es Weihnachtslieder, die Sie zwar mgen, von denen Sie aberdachten, dass Sie sie nicht singen knnten?Eigentlich nicht. Es gab welche, die ich nicht aufnehmen wollte. DasKonzept war, die bekanntesten Songs aufzunehmen.

    Christmas Blues ist ein alter Song von Dean Martin. Was hat Siedaran gereizt?Es ist einfach nur ein schnes Lied.

    Das Polka-Stck Must Be Santa habe ich noch nie gehrt. Wohaben Sie das her?Ich kenne den Song von einer Gruppe namens Brave Combo, einer Bandaus Texas, die bekannte Stcke neu interpretiert und so ganz neu Ein-blicke in diese Songs ermglicht. Sie sollten ihre Version von Hey Ju-de hren. Mein Bezug zu diesem Lied kommt wohl daher, dass ich inmeiner Jugend gerne Polka hrte.

    Haben Sie Christmas on Death Row, dieses Rap-Weihnachts-album, gehrt?Ich glaube nicht.

    Hren Sie berhaupt Rap-Musik?Ich hre mir keine Rap-Sender an, ich whle keine Rap-Songs in derJukebox aus, und ich gehe auch nicht zu Rap-Konzerten also kannman wohl sagen, dass ich mir nicht sehr oft Rap-Musik anhre.

    Haben Sie irgendeinen Bezug zu Rap?Ich liebe das Reimen nur um des Reimens willen. Das ist eine unglaub-liche Kunstform.

    Sie waren ein junger Mann, als Sie von Minnesota nach New YorkCity zogen. War Weihnachten in New York anders?Weihnachten war in New York ziemlich gleich, nur noch grsser.

    Hatten Sie Heimweh?Eigentlich nicht, ich habe nicht gross darber nachgedacht. Ich habe dieVergangenheit nicht mit nach New York genommen. Nichts aus meinerVergangenheit spielte fr meine Zukunft eine Rolle.

    Adeste Fideles singen Sie in Latein. Haben Sie vorher schon ein-mal in einer Fremdsprache gesungen?Habe ich. Und zwar auf Franzsisch, Italienisch und Spanisch. Im Lau-fe der Jahre wurde ich von meiner Plattenfirma gebeten, in diesen Spra-chen zu singen, und so habe ich hier und da mal einen Song aufge-

    nommen. Keines der Stcke wurde aber verffentlicht. Ich wusste auchnie so recht, ob ich eine bersetzung von einem meiner Songs singenoder ein Original in der jeweiligen Sprache neu aufnehmen sollte. Per-snlich tendiere ich zu Letzterem: Ich wollte immer schon einmal Songsvon Edith Piaf singen.

    La vie en rose? Unbedingt. Oder Sous le ciel de Paris, Pour moi tout seule und viel-leicht noch ein oder zwei andere.

    Was hat Sie davon abgehalten?Nun, in meinem Kopf kann ich mich diese Songs singen hren, aber umdas umzusetzen, msste mir jemand Arrangements schreiben und ichwsste nicht, wer das knnte.

    Weihnachtslieder sind Teil meines Lebens, genau wieFolk-Songs. Man soll nicht daran herumpfuschen.

  • 15SURPRISE 214/09

    Sie haben Grosskinder. Haben Sie bei derAufnahme daran gedacht, dass in vielenJahren Ihre Enkel diese Platte ihren eige-nen Kindern vorspielen werden?Ich weiss nicht, was meine Enkel von irgendeiner meiner Platten halten.Ich weiss nicht einmal, ob sie sie berhaupt kennen. Die lteren viel-leicht.

    Sie interpretieren die Melodien dieser Weihnachtslieder wesent-lich detailgetreuer als Live-Versionen ihrer eigenen Songs. Den-ken Sie, dass man an diesen Stcken nicht herumpfuschen sollte?Das denke ich tatschlich. Wenn man den Kern der Musik erreichenwill, darf man das nicht tun.

    O Little Town of Bethlehem singen sie auf eine sehr heroischeArt. Da ist etwas fast schon trotziges in der Art, wie Sie singen: The hopes and fears of all the years are met in thee tonight (Die Hoffnungen und ngste aus all den Jahren vereinigen sich heu-te in dir). Sie vermitteln den Song wie jemand, der wirklich glaubt.Nun, ich bin wirklich glubig.

    Einige Kritiker scheinen nicht so recht zu wissen, was sie von die-sem Album halten sollen. Einer schrieb: Manche Songs klingenironisch. Wnscht er uns wirklich allen ein frhliches und besinn-liches Weihnachtsfest? Steckt ein gewisser Anteil von Ironie indiesen Songs?berhaupt nicht. Solche Kritiker betrachten das Album von aussen.Ganz sicher sind das weder Fans noch sonstige Hrer, fr die ich spiele.Ihnen fehlt dieses aus dem Bauch heraus kommende Verstndnis frmich oder meine Musik oder dafr, was ich tun kann und was nicht sie haben einfach keine Ahnung.

    Ein anderer Kritiker verglich dieses Album mit dem Schock vondamals, als Sie nach Ihren folkigen Anfngen pltzlich Einflsseaus der Rockmusik verarbeiteten. Warum ist es schockierend,wenn Bob Dylan eine Weihnachtsplatte macht?Da mssen Sie andere fragen.

    In der Zeitung Chicago Tribune hiess es, dem Album fehle es anRespektlosigkeit. Das ist eine vllig verantwortungslose Aussage. Gibt es nicht schon ge-nug Respektlosigkeit auf der Welt? Wer braucht noch mehr davon? Be-sonders zu Weihnachten.

    Der Erls des Albums geht zugunsten von Weihnachtsessen frMenschen, die von der Frsorge leben. Warum haben Sie als Emp-fnger die Hilfsorganisationen Feeding America, Crisis UK unddas Welternhrungsprogramm ausgewhlt?Weil sie Essen direkt an die Menschen verteilen. Keine militrische Or-ganisation, keine Brokratie, keine Regierungen, mit denen man sichauseinandersetzen muss.

    Welche Snger verbinden Sie mit Weihnachten?Johnny Mathis und Nat King Cole. Doris Day.

    Und Bing Crosby?Klar, White Christmas war immer ein grossartiger Song.

    Haben Sie ein Lieblingsweihnachtsalbum?Vielleicht das der Louvin Brothers (US-Gesangsduo, das in den 50er-Jahren grosse Erfolge mit Gospel-Songs feierte). Ich mag all diese religi-sen Weihnachtsalben, wo lateinisch gesungenen wird. Die Lieder, dieich als Kind gesungen habe.

    Viele Menschen mgen eher die weltlichen Songs.Religion ist nicht fr alle gemacht.

    Verschicken Sie selber Weihnachtskarten?Das habe ich schon lnger nicht mehr getan.

    Wie whlen Sie Geschenke aus?Ich versuche, ein passendes Geschenk fr die jeweilige Person zu finden.

    Kaufen Sie in letzter Sekunde ein?Immer.

    Geben Sie irgendwelche Hinweise auf das, was Sie sich von IhrerFamilie wnschen?Nein. Dass es ihnen gut geht das reicht mir als Geschenk.

    Was ist das schnste Weihnachtsgeschenk, das Sie je bekommenhaben?Lassen Sie mich berlegen ... Oh ja, ich denke, es war ein Schlitten.

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    Gibt es nicht schon genug Respektlosigkeit auf derWelt? Wer braucht noch mehr davon?

  • 16 SURPRISE 214/09

    Bildlegende

    Quote.

    Nicht nur die Gier der Finanzspekulanten, auch die Natur des Geldes an sich trgt Schuld ander aktuellen Wirtschaftskrise. Aber es gibt Hoffnung: Komplementrwhrungen wie WIRoder der Basler BonNetzBon sind auf dem Vormarsch und haben Anhnger bis weit in die Finanzszene.

    Alternative WhrungenDie Kreislaufbeschleuniger

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  • 17SURPRISE 214/09

    VON STEFAN MICHEL

    Wir mssen uns von der globalen Monokultur des Bankengelds alseinzigem Zahlungsmittel verabschieden. Der das sagt, ist weder Kapi-talismus-Gegner noch Anti-Materialist. Es ist Bernard Lietaer, belgischerFinanzwissenschaftler, EU-Zentralbanker und preisgekrnter Wh-rungsspekulant. Im Gesprch mit der deutschen Wirtschaftszeitschriftbrand eins erklrt er weiter: Mehr Nachhaltigkeit und Robustheit er-halten wir nur durch Verringerung der Effizienz.

    Geld muss arbeiten, sagt der Volksmund. Damit ist gemeint: Geldmuss sich vermehren. Entweder indem man es gegen Zins jemandemleiht oder indem man damit etwas macht, das Gewinn einbringt. Mankann Lebensmittel kaufen, einen Kuchen backen und diesen zu einemPreis verkaufen, der ber den Kosten fr die Lebensmittel, den Strom,die Abnutzung des Ofens liegt. Richtig, so arbeitet nicht das Geld, son-dern der Mensch. Schneller geht es auf dem Fi-nanzmarkt. Man kauft eine Aktie, hofft darauf,dass andere das gleiche tun, verkauft sie vorder Mehrheit und streicht die Differenz ein. Istder Einsatz hoch genug, lassen sich in der Zeit,die man fr die Herstellung eines Kuchens braucht, ein paar Millionenverdienen. Zum Glck wird trotzdem noch gebacken, wenn auch fastnur noch in Fabriken, deren Aktien an der Brse gehandelt werden auch mit unser aller Erspartem. Es sei denn, wir haben es zu Hause ver-steckt oder bei einem der wenigen alternativen Geldinstitute eingelegt.

    Das andere GeldDer Zwang, Zins oder Gewinn zu erwirtschaften, wird verstrkt

    durch die Eigenschaft des Geldes, in Sekundenschnelle dorthin zu flies-sen, wo noch mehr Profit lockt. Die meisten Menschen hingegen blei-ben an ihrem einen Ort. Die Migration ist eine Schnecke im Vergleichzum berschalljet der weltweiten Finanzstrme. Der Umsatz reiner Fi-nanzmarktgeschfte bersteigt den der Realwirtschaft deshalb je nachBerechnungsweise um das Vierzig- bis Siebzigfache. Geld, gedacht alsneutrales Instrument, um den Gtertausch zu erleichtern, hat lngst be-gonnen, diesen zu bestimmen. Wir sind dem Franken, dem Euro, demDollar ausgeliefert, so scheint es.

    Doch es gibt Alternativen: Zahlungsmittel, die anders funktionieren.Sie heissen Chiemgauer, LETS oder Toronto Dollar. Sie werden nicht vonZentralbanken ausgegeben, sondern meist von Unternehmen, die sieauch in Zahlung nehmen. Ihre wichtigste Eigenschaft ist, dass sie keineZinsen abwerfen. Horten lohnt sich nicht. Die radikalsten verlieren mitder Zeit an Wert und werden deshalb noch schneller wieder eingesetzt.Da sie die Landeswhrung nicht berflssig machen, sondern ergnzen,nennt man sie Komplementrwhrungen; die regional ausgerichtetenauch Regiogeld. Weltweit existieren Tausende von ihnen. Die einen rich-ten sich explizit gegen die effizienz- und wachstumsorientierte Wirt-schaft, andere sind schlichte Werbeinstrumente einiger Geschfte. Bchergutscheine, Lunch- oder Reka-Checks sind die bekanntesten Beispiele. Sie sind so viel Wert wie Geld, manchmal etwas mehr (Reka-

    Checks fr 100 Franken kosten zwischen 84 und 96 Franken), knnenaber nur an bestimmten Stellen eingelst werden. Bonus-Flugmeilen haben sich zu einem elektronischen Zahlungsmittel mit Milliardenum-satz entwickelt.

    Zur Gruppe der politischen Gegenwhrungen gehrt der BaslerBonNetzBon (BNB): Rund 70 Geschfte nehmen diesen an. Mit BNBkann man sich verpflegen, sich die Haare schneiden oder sich massie-ren lassen. Elektro-, Holz- oder Metallarbeiten, Veloreparaturen, Druck-und Computerauftrge werden gegen BNB erledigt. Das Basler Regio-geld kauft Bcher, Konzerttickets und bernachtungen. Ein BNB entspricht einem Franken. Der Gegenwert in der Landeswhrung bleibtauf der Bank hinterlegt. Jeder der gut 20 000 in Umlauf befindlichenBons ist gedeckt. Man kann sein Bon-Guthaben jederzeit in Franken zu-rcktauschen, erhlt jedoch fr 100 BNB nur 95 Franken. Man gibt siealso besser aus und genau das ist ihr Zweck. Das Geld soll zirkulieren.

    Herausgegeben wird der BNB von der Genossenschaft Netz Sozialekonomie. Sie will nicht nur eine zinsfreie Alternative zum Geld schaf-fen, sondern zugleich lokal orientierte, biologisch produzierende, selbst-verwaltete und sozial engagierte Betriebe frdern. Fr diese ist das BNB-Netzwerk gnstige Werbung. Wer Bons hat, muss sie in einem derangeschlossenen Geschfte wieder ausgeben. Das funktioniert so langegut, wie man im gleichen Wert kaufen wie verkaufen will. Einige Be-triebe lassen sich deshalb ihre Leistungen und Produkte nicht vollum-fnglich in BNB bezahlen: Solange der Zimmermann den Holzhndlernicht mit Bons bezahlen kann, wird er seine BNB nicht mehr los, oderer braucht Jahre, um genug Biofleisch und Massagen zu beziehen.

    Viele laden ihre BNB im Basler Genossenschaftsrestaurant Hirschen-eck ab, welches zu den Grndungsmitgliedern des Netzwerks gehrt.Roger Portmann strt das genauso wenig wie seine Kollegen vom Hir-scheneck-Kollektiv: Frher waren wir ein Bons-Grab, aber eher, weilnicht alle Mitarbeitenden daran dachten, sie wieder auszugeben. Heu-te wre es nicht einmal mehr ntig, Rechnungen wenn immer mglichmit BNB zu begleichen. Wir haben einen Kredit von der Genossen-schaft, den wir in BNB zurckzahlen knnen, erklrt Portmann. DerSchuldzins liegt weit unter dem Marktblichen. Das Krfteverhltniszwischen dem Alternativgeld und dem Franken relativiert allerdings denfinanziellen Vorteil: Von den 300 000 Franken, welche das Hirscheneckaufnahm, um eine Renovation zu finanzieren, kommen nur 10 000 ausder sozialen konomie.

    WIR: Weisser Ritter oder Schwarzer Peter? In einer ganz anderen Grssenordnung bewegt sich die unter Schwei-

    zer KMU gebruchliche Komplementrwhrung WIR. Schweizer Klein-unternehmer, die sich im Wirtschaftsring (WIR) zusammengeschlossenhatten, schufen sie 1934 als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise.

    Komplementrwhrungen werfen keine Zinsen ab:Horten lohnt sich nicht.

  • 18 SURPRISE 214/09

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    Fhren in Sozial rmenSozial rmen stellen hohe Anforderungen an Leitung und Mitarbeitende. Im Spannungsfeld von unter-nehmerischer Ausrichtung und sozialen Zielen werden von Fhrungskrften entsprechend hohe integrative Fhigkeiten erwartet: Das Selbstverstndnis als Fhrungsperson und Mglichkeiten der Personalent-wicklung in der eigenen Organisation sind zentrale Aspekte zum Erfolg.

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  • 19SURPRISE 214/09

    Ursprnglich war WIR als sogenanntes Schwundgeld konzipiert. Gabman es nicht rechtzeitig wieder aus, verlor es an Wert. Der so in Ganggebrachte Kreislauf half diversen kleinen und mittleren Unternehmen,die Krise der Dreissigerjahre zu berstehen. 1952 wurde der Negativzinsabgeschafft und WIR massentauglich. Heute gehren dem Netzwerkber 70 000 Betriebe an, vom Blumenladen bis zum Traktorenhndler.Besonders verbreitet ist die Abrechnung in WIR im Baugewerbe und inder Hotellerie. WIR-Kleber in Rezeptionen wei-sen darauf hin. 2008 wurden Geschfte berinsgesamt 1,6 Milliarden WIR-Franken get-tigt. Milliardenumstze in Gutscheinen? Ist dasnicht ein Kartenhaus? Gedeckt sind die WIR-Guthaben durch die WIR-Bank, welche auch konventionelle Bankgeschfte abwickelt. Ihr Spre-cher Herv Dubois meint, auf die Sicherheit angesprochen: Wir unter-liegen den genau gleichen Vorschriften wie jede andere Bank derSchweiz.

    Im Gegensatz zum BonNetzBon liegt dem WIR keine bestimmteWeltanschauung zugrunde, sondern nur die berzeugung, dass es sinn-voll ist, wenn KMU eine schneller zirkulierende Alternative zum Fran-ken haben. Finanzwissenschaftler Lietaer, der grosse Stcke auf sie hlt,hat errechnet, dass WIR in der Schweiz konjunkturelle Schwankungenmildert. So froh die einzelnen Betriebe um den Zusatzumsatz in derKomplementrwhrung sind, so schnell will sie jeder wieder loswerden,da sie ja keinen Zins bringt. Der Schreiner Erich Binz erklrt: Wenn ichweiss, dass ich fr einen Auftrag eine grssere Summe WIR erhaltenwerde, versuche ich schon vorher, etwas in dieser Hhe in WIR zu kau-fen. Es heisst, WIR sei unbeliebt. Tatschlich ist es eine Hassliebe. Manist froh, wenn man in der Komplementrwhrung bezahlen kann. Er-haltene WIR gibt man wie einen Schwarzen Peter so schnell als mglichweiter. Genau das ist ihr Zweck.

    Es gibt Hndler, welche WIR-Guthaben weit unter ihrem eigentlichenWert aufkaufen bis zu 50 Prozent werden abgeschlagen. Das wider-spricht den Statuten der WIR-Bank, ist aber gemss Bundesgericht legal.WIR hat alle Attribute der seinerzeitigen Ostblock-Whrungen: Eineberbewertete, nicht konvertierbare Whrung fr einen Markt mitmehrheitlich nicht wettbewerbsfhigen Unternehmen, die dadurch vomMarkt abgeschottet werden, ereifert sich ein Blogger auf der Websitedes Tages-Anzeigers. Ganz anderer Meinung ist Daniel Waldvogel, dermit seiner Jet Schweiz IT AG Computer importiert und ausserdem mitImmobilien handelt. Natrlich nehme auch ich lieber Franken,schliesslich kann ich in Taiwan nicht mit WIR bezahlen. Aber ich habenoch nie Probleme gehabt, WIR loszuwerden. Waldvogel hat schonmehrere Huser mit gnstigen WIR-Krediten gebaut. Selber verkauft erdie neusten Computer-Modelle nur gegen Franken. Sind sie drei Mona-te alt, gibt er sie zum selben Preis in WIR. Keine andere Bank, betont ermehrmals, komme den KMU in der aktuellen Krise so entgegen wie die WIR-Bank. Geradezu begeistert ist er vom Vorschlag, den BernardLietaer im September gegenber dem Tages-Anzeiger usserte: DieSchweiz solle erlauben, Steuern in WIR zu bezahlen.

    Steuerrckzahlung in GutscheinenDas Gegenteil, nmlich eine Steuerrckzahlung in Gutscheinen, er-

    hielt vor Kurzem die Bevlkerung der Stadt St. Gallen. Jede Einwohne-rin und jeder Einwohner hatte im August einen Gutschein ber 50 Fran-ken in der Post. Whrend eines halben Jahres darf jedes Geschft aufStadtgebiet diesen entgegennehmen und bei einer Bank in Franken um-tauschen. Ein Impulsprogramm fr die St. Galler Wirtschaft im Wert vonber 3,6 Millionen Franken. Ein simpler Steuerrabatt wre wohl auf denmeisten Konten liegen geblieben. Drei Monate nach dem Versand sindzwei Drittel der St. Galler Gutscheine eingelst worden. Mitgeprgt hatdiese Aktion Reinhold Harringer, Leiter des stdtischen Finanzamts undeiner, der die Bcher Lietaers genau gelesen hat. Er engagiert sich in einer Zeittauschbrse und ist berzeugt: Eine Erhhung der Lebens-

    qualitt ist nicht vom verfgbaren Geld abhngig. Als Vorteile von Regiogeld und Zeittausch zhlt er auf: Sie knnen sinnvolle Ttigkeitenfrdern, Bedrfnisse ohne Geldeinsatz decken, neue Bettigungsfeldererffnen und einen Anreiz bilden, etwas zu unternehmen, was auf demnormalen Markt keine Chance htte.

    Wenn Bernard Lietaer von der Effizienz des Bankengelds spricht,dann meint er dessen Eigenschaft, sich blitzschnell dorthin zu bewegen,

    wo mehr Zins und mehr Wachstum mglich ist. So werden Aktivitten,die keinen kurzfristigen finanziellen Gewinn versprechen, an den Randgedrngt und ausserdem natrliche und soziale Ressourcen vernichtet.Die Monokultur des Bankengelds besteht darin, dass der Weltmarktund die meisten nationalen Mrkte nach diesem Schema funktionieren.Die landwirtschaftliche Monokultur kann hohe Ertrge abwerfen, aberein einziger Schdling kann sie zerstren. Dem gleichen Risiko ist dasdominierende Whrungssystem ausgesetzt. Um die Weltwirtschaft robuster und nachhaltiger zu machen, schlgt Lietaer, der massgeblichan der Entwicklung des Euros beteiligt war, eine weltweite Komple-mentrwhrung namens Terra vor. Obschon es Grund genug gibt, sichnach alternativen Zahlungsmitteln umzusehen, drfte es noch langedauern, bis sie sich durchsetzt. Fr die lokalen Zahlungsergnzungs-mittel spricht schon einiges mehr. In den letzten zwanzig Jahren sindaus einigen Dutzend einige Tausend geworden. Und mit jeder Krise wer-den es mehr.

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    Die Steuern mit WIR bezahlen das wrs.

  • 20 SURPRISE 214/09

    Klaus Spahni ist seit seiner Kindheit an Armen und Beinen vollstndig gelhmt und ist dennoch Knstler geworden. Zu Besuch beim 69-jhrigen Mundmaler in St. Gallen, der seit 45 Jahren der Genossenschaft mund- oder fussmalender Knstler angehrt.

    KunstVon Mund gemaltVON ANNA WEGELIN (TEXT) UND LUC-FRANOIS GEORGI (BILD)

  • 21SURPRISE 214/09

    Weihnachten hat lngst begonnen. In der Familie wird darber ge-stritten, ob man dieses Jahr bei den Eltern oder den Schwiegerelternfeiert. Beim Grossverteiler stapeln sich die Guetzli im Multipack. Undallerlei Nichtregierungsorganisationen bescheren uns Spendenaufrufeper Post. So auch die Genossenschaft mund- oder fussmalender Knst-ler (GMFK), von der wir sechs Weihnachtskarten mit Kuverts erhalten,verbunden mit dem freundlichen Angebot, diese fr 16 Franken 50 zukaufen, um die mittlerweile 50-jhrige Selbsthilfeorganisation zu unter-sttzen. Der von Mund geschriebene Werbebrief stammt vom St. GallerKnstler Klaus Spahni, seit 1964 Genossenschaftsmitglied.

    Spass am GekrabbelKlaus Spahni (69) stammt aus St. Gallen. Sein Vater war Polizist, sei-

    ne Mutter Schneiderin. Ich bin in einem behteten brgerlich-katholi-schen Umfeld aufgewachsen, erzhlt der Knstler, den wir in seinemAtelier in der St. Galler Innerstadt besuchen. Am 31. August 1949 ver-nderte sich sein Leben fr immer: Der neunjhrige Klaus geht mit sei-nem Vater auf eine Hundedressur. Pltzlich bekommt er irrsinnige Kopf-schmerzen. Wenig spter kann er die Beine nicht mehr bewegen, dannwerden die Arme lahm. Die Diagnose: spinale Kinderlhmung (Polio-myelitis). Er sei sich damals der Tragweite seiner Rckenmarkserkran-kung nicht bewusst gewesen, so Klaus Spahni: Ich erlitt einfach die Situation und versuchte jeden Tag, das Beste aus der komplett neuen Lage zu machen. Klaus erhlt einen Privatlehrer fr den Schulunter-richt zu Hause. Mit zehn hat er ein Schlsselerlebnis, das den Anfangseiner knstlerischen Laufbahn besiegelt. Seine Heilgymnastin stecktihm einen Bleistift zwischen Mittel- und Zeigefinger und setzt ihn vorein leeres Blatt Papier. Klaus wirft seinen lahmen Arm mit Schwungnach vorne, nimmt den Daumen in den Mund, um den Stift besser zufhren, und zeichnet. Das Gekrabbel hat riesigen Spass gemacht, er-innert sich der Knstler, der heute den Pinsel direkt mit dem Mundfhrt, weil dies viel prziser sei.

    Sein zweites Schlsselerlebnis hat er whrend seiner Ausbildungzum wissenschaftlichen Zeichner an der Kunstgewerbeschule St. Gallen(heute: Schule fr Gestaltung) von 1955 bis 1964. Die Schule war einAbenteuer, erinnert sich Klaus Spahni: Ich hatte keine Ahnung, wasauf mich zukommt. Er belegt Kurse in den Fchern Krperzeichnen,Farblehre und Schriftgestaltung, Letzteres beim bekannten Grafiker Willi Baus (19091985), der wesentlich zum Aufbau der Knstleraus-bildung in St. Gallen beitrug. Er soll zuerst eine gerade Linie mit Unter-brchen nach unten ziehen und dann den selben Vorgang in einem Bogen wiederholen. Dann gibt es pltzlich einen Link zwischen Papier,Stift, Linienfhrung und Mund. Klaus Spahni: Ich sprte eine Verbin-dung zu meinen Gefhlen und das machte mich glcklich.

    Kritik ist tabu1964 beendet der 24-jhrige Klaus Spahni seine Kunstausbildung er-

    folgreich. Die Diplomarbeit: ein naturalistischer Karpfen in Aquarell-technik. Im selben Jahr tritt er dem Berufsverband Visuelle GestaltungGSMBA (heute Visarte) bei sowie der Vereinigung der Mund- und Fuss-malenden Knstler (VDMFK). Beiden Organisationen ist er bis heutetreu geblieben. Klaus Spahni nahm in den vergangenen 45 Jahren anzahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland teil. Mehrere seiner Bil-der hngen in der stndigen Sammlung des Kunstmuseums St. Gallen.Heute stellt er kaum mehr aus. Er werde langsam lter und habe nichtmehr so viel Energie, so der Mundmaler. Umso wichtiger sei es, dass dieVereinigung seine Werke verkaufe und ausstelle Klaus Spahni erhltden gesamten Betrag seiner auf diesem Weg verkauften Bilder.

    Die eher kleinformatigen Bilder in seinem Atelier zeigen, dass er einbreites Spektrum an Motiven, Maltechniken und Materialien verwendet.Da sind etwa eine Fasnachtsszene in Aquarell, eine impressionistisch-abstrakte Flche in der Gouache-Technik, eine Bleistiftzeichnung vonMarilyn Monroe, ein kubistisches Harlekingesicht in leuchtenden l-

    farben und ein Selbstbildnis aus der Hippie-Zeit von Klaus Spahni undseiner Lebenspartnerin Kathrin Spahni-Baus (66), die Tochter seinesehemaligen Lehrers Willi Baus. Klaus und Kathrin sind ein ausseror-dentliches Paar. Denn sie bilden nicht nur eine intensive Lebensge-meinschaft Kathrin Spahni, gelernte Heilpdagogin und ebenfallsKnstlerin, begleitet ihren Mann 24 Stunden am Tag. Sie malen auchviele Bilder im Duett. Wir fangen einfach an und fabulieren frei, er-klrt sie. Das einzige Gesetz fr die grsst mgliche Freiheit der Bild-gestaltung: Was der Andere gemalt hat, darf nicht bermalt werden, undgegenseitige Kritik whrend des Malens oder Zeichnens ist auch tabu.Die Spahnis haben ihre Gemeinschaftswerke oft in Ausstellungen ge-zeigt, zuletzt 2008 in der Atelier-Galerie Oertli in St. Gallen.

    Ein Stck UnabhngigkeitMalen ist fr mich ein kreativer Kochkessel, der meine Seele nhrt,

    beschreibt Klaus Spahni die grenzenlose Experimentierlust seinesknstlerischen Schaffens. Und gibt gleich eine Illustration dessen, wasMundmalen konkret bedeutet. Seine Frau platziert ihn vor eine lbild-skizze mit einem farbig-frohen Geflecht aus geometrisch-organischenFormen. In einem raschen Dialog, wie ihn nur ein eingespieltes Teambeherrscht, trgt sie die von ihm gewnschten Farben auf die Palette.Dann schiebt sie ihm einen mit Bambusstbchen, Haushaltsfolie undNaturgmmelis verlngerten Pinsel in den Mund. Sein Blick ist konzen-triert, seine Kinn- und Halsmuskeln treten beim Malen hervor, sein Ge-sicht errtet leicht. Mein Ziel ist es, die Musik des Hell-Dunkel-Spiels,der Farben und Formen sicht- und erlebbar zu machen, beschreibt erseine letztlich spirituelle Arbeitshaltung.

    Klaus und Kathrin Spahni verbringen das Winterhalbjahr wenn im-mer mglich in ihrem einfachen Zweitwohnsitz sdlich von Barcelona.Den Sommer ber sind sie in St. Gallen. Fr ausgedehnte Europareisenwie in jungen Jahren fehlt ihnen die Energie. Kinder haben sie keine:Das wre nicht ohne fremde Hilfe zu meistern gewesen bei Klaus Be-hinderung, so Kathrin Spahni.

    Der Alltag als krperlich Behinderter kostet Geld. Die Beitrge von IVund Hilfslosenentschdigung wrden nicht ausreichen, erzhlt derMundmaler. Die GMFK, beziehungsweise VDMFK, ist fr ihn und seineFrau eine ausserordentlich wichtige Sttze, die ein Stck finanzielleUnabhngigkeit ermgliche. Klaus Spahni erhlt bis an sein Lebensen-de mehrere tausend Franken pro Monat von der Vereinigung. Das findeter unglaublich grosszgig. Im Gegenzug tritt er das Copyright seinervon ihm der Vereinigung zur Verfgung gestellten Bilder ab. Die Verei-nigung verwendet die Motive fr Karten, Kalender und hnliches, ver-breit sie in alle Welt, organisiert Gruppenausstellungen und bringt dieKunstschaffenden zusammen. Dieser Austausch mit Menschen in hn-lichen Lebenssituationen und ihren Angehrigen sind fr Kathrin undKlaus Spahni ebenfalls sehr wichtig: Man teilt die aussergewhnlicheund komplizierte Lebenssituation miteinander.

    50 Jahre Selbsthilfe der Mund- und Fussmalenden

    Die Vereinigung der mund- und fussmalenden Knstler (VDMFK) isteine kommerzielle Selbsthilfeorganisation von rund 700 krperbehin-derten Kunstschaffenden in ber 70 Lndern mit Sitz in Schaan (FL).Sie wurde 1957 vom deutschen Mundmaler Arnulf Erich Stegmann ge-grndet. Der Vertrieb und Verkauf der Produkte Kunstkarten, Kunst-kalender und hnliches via Postversand und Online-Shopping luftber Eigenverlage in den einzelnen Lndern. In der Schweiz ist diesder Kunstverlag Au in Wdenswil, der in der Genossenschaft mund-oder fussmalender Knstler (GMFK) organisiert ist und vor 50 Jahrenebenfalls von Stegmann gegrndet wurde. www.gmfk.ch

  • 22 SURPRISE 214/09

    irgendwie noch nicht begriffen hat, wo ihr Nabel liegt.

    Hier gibt man sich stets viel beschftigt,man hat keine Zeit zu verlieren. Wobei dasstreng genommen nur mglich ist, seit das Ein-kaufen zur Ttigkeit erhoben wurde und nichtmehr als Zeitverschwendung gilt.

    In anderen Lndern braucht man sich umsEinkaufen nicht zu kmmern, weil alles amStrassenrand feilgeboten wird und man des-halb nicht extra Lden aufzusuchen braucht.Man kommt an allem, was man kaufen knn-te, auch so vorbei.

    Was hierzulande auch fehlt, sind die Men-schen, die ohne erkennbaren Zweck herumste-hen oder -sitzen und keiner Beschftigungnachgehen. Sie sind einfach da und betrachteninteressiert das Geschehen um sich herum,manche zu festen Zeiten, manche eher spon-tan. Sie eilen herbei, wenn es etwas zu sehengibt und wiegen fachmnnisch den Kopf,wenn um sie herum etwas Kurzweiliges ge-schieht. Ich habe mir fest vorgenommen, dasauch zu tun. Einfach am Strassenrand stehenund dem Treiben zuschauen. Aber leider binich noch nicht dazu gekommen. Ich bin ein-fach viel zu beschftigt.

    STEPHAN PRTNER

    ([email protected])

    ILLUSTRATION: MILENA SCHRER

    ([email protected])

    Wenn man lngere Zeit im Ausland ver-bracht hat, kommt man sich zu Hause wie einTourist vor. Das hat durchaus Vorteile. Wo eseinem vorher laut und eng vorgekommen ist,ist es pltzlich menschenleer und ruhig. Dingehaben sich verndert, neue Wohnblcke sindim Quartier gewachsen, Autobahnen sind er-ffnet und Bundesrte gewhlt worden, vondenen man noch nie etwas gehrt hat. Lieb-lingslden haben nach dreissig Jahren dichtge-macht. Man nimmt es staunend zur Kenntnisund fragt sich, was man wohl sonst noch allesverpasst hat.

    Wenn mir jemand erzhlen wrde, es seidiesen Sommer ein Gesetz erlassen worden,dass es verbietet, mit alten, dreckigen oder bil-ligen Autos herumzufahren, ich wrde es so-fort glauben. Oder dass fr junge Schweizer dieallgemeine Bartpflicht eingefhrt wurde, und

    fr Frauen zwischen fnfzehn und fnfund-vierzig der Stiefelzwang. Deckt es sich dochmit dem, was ich mit eigenen Augen sehe.

    Zu Hause ist man aber doch kein Fremdermehr oder fllt zumindest nicht als solcherauf. Niemand bleibt mehr stehen, um seineEnglischkenntnisse auszuprobieren: Weyafam?Watsyacantry? Hevaniceday! Niemand bleibtstehen, um einen einfach ein wenig zu be-trachten. berhaupt sind die Menschen furcht-bar geschftig hierzulande. Und effizient. Diezweimintige Wartezeit auf den Bus wird ge-nutzt um am Handy herumzudrcken. Nicht,dass in Indien keine Mobiltelefone verwendetwrden. Aber nur zum Telefonieren, und dasgeht so: Das Handy klingelt. Der oder die An-gerufene nimmt ab, sagt Hallo und beginntnach etwa zwei Sekunden eine Tirade stakka-toartiger, fr unsere Ohren recht harscher T-ne von sich zu geben und hngt wieder auf.Die andere Person scheint nicht zu Wort zukommen und so frage ich mich, ob man in In-dien, wenn man von zu viel Selbstvertrauenoder Eitelkeit erfasst wird, einen guten Be-kannten oder eine Freundin anruft, die einendann wieder in den Senkel stellt. Wenn das derFall ist, schlage ich vor, dies auch bei uns ein-zufhren, denn mitunter wundert einen dieWichtigkeit, mit der die Einheimischen auftre-ten, schon ein bisschen, nachdem man, ausserber Roger Federer, aus der Heimat nichts,aber auch gar nichts gehrt hat, weil die Welt

    Wrter von PrtnerHeimattourismus

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    Kabarett Wir haben keinerlei Skrupel

    VON TARA HILL

    Jasmin Clamor, aus der Asche der Acapickels erheben sich nun dieGessler Zwillinge. Handelt es sich dabei um ein vllig neues Pro-gramm, oder bleiben gewisse Elemente der Acapickels erhalten?Nun, Lotti und Barbara bleiben in gewisser Hinsicht sich selbst. Gleich-zeitig erhalten sie eine ganz neue Identitt. Es ist also nicht alles neu,aber fast alles!

    Das mssen Sie erklren. Nach dem Ende der Acapickels haben Lotti und Barbara pltzlich ent-deckt, dass sie sich gleichen wie ein Ei dem anderen. Nachforschung ha-ben dann den sensationellen Befund ergeben, dass beide den gleichenVater haben: Einen gewissen Herrn Gessler aus sterreich. Allerdingswurden die Zwillinge bei der Geburt getrennt.

    So wie in der Geschichte vom doppelten Lottchen also?Genau! Die Mutter der beiden ist aber leider bei der Geburt gestorben,und der Vater war mit zwei kleinen Mdchen berfordert. Daher wur-den die beiden weg gegeben: Lotti kam in die Schweiz, Barbara wuchsauf einer schwbischen Alp auf.

    Was bedeutet diese neue Biographie fr die Show? Suchen die Zwil-linge nun eine Art Symbiose?Absolut: Lotti und Barbara versuchen, so symmetrisch wie mglich zusein. Ob diese Symbiose allerdings funktioniert, ist natrlich eine ande-re Frage.

    Als Acapickels traten sie bewusst kleinkariert auf. Ihr neues Pro-gramm soll nun aber grosskariert daher kommen. Was muss mansich darunter vorstellen?Nun, die Gessler Zwillinge haben die Sttzstrmpfe und Gesundheits-latschen gegen Glitzerstrmpfe und hohe Hacken eingetauscht. Es gibtalso ein ganz neues Erscheinungsbild. Da die beiden sich mittlerweilefr alte Las-Vegas-Showhasen halten, geben sie sich auch sehr diven-haft. Und dann kommt natrlich die Big-Band dazu, das Herzstck desneuen Programms: Ein Wahnsinnsapparat aus zwlf Mnnern, der einriesiges musikalisches Spektakel garantiert.

    Wie wollen die Gessler Zwillinge denn gegen ein Dutzend Musikerbestehen?Zu Beginn hat es uns tatschlich schier weggeblasen. Mittlerweile ha-ben wir unsere Mnner aber gut im Griff. Schliesslich bestimmen wir alsGessler Zwillinge, wo es langgeht. Wir haben keinerlei Skrupel, den ty-pischen Bigband-Sound hinter uns zu lassen und alle mglichen Stil-richtungen zu spielen: Von Cumbia ber Mambo bis zu Hawaii-Musik.Darunter natrlich auch Rock. Es wird sehr rockig.

    Frher waren Sie zu viert. Macht es Sie nicht nervs, nun doppelt soviel Verantwortung auf Ihren Schultern zu wissen?Im Gegenteil! Im Unterschied zu frher haben wir in der neuen Showviel mehr Zeit, alle Facetten der Gessler Zwillinge auszuloten. So kn-

    nen wir uns sowohl als Musikerinnen wie als Schauspielerinnen weiterentwickeln. Unser Problem whrend der Proben war eher, dass wir vielzu viele ausgefallene Ideen hatten. Wir htten locker ein Mammutpro-gramm von ber drei Stunden hinlegen knnen. Wir mussten uns alsoselber bremsen.

    Verraten Sie uns eine Ihrer ausgefallenen Ideen? Als absolute Premiere wird es eine Nummer mit Pudeldressur geben.Insgesamt achten wir vor allem auf eine wilde Durchmischung: UnsereRevue soll musikalisch und tnzerisch anspruchsvoll sein, gleichzeitigaber sehr komisch. Das wird auf jeden Fall ein einmaliger Spass.

    Bleibt die Show auch ein einmaliges Ereignis, oder machen die Gess-ler Zwillinge danach weiter?Nun, ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir danach weiter machen.Aber zunchst freu ich mich auf die Geburt dieses Babys.

    Apropos Baby: Sie sind krzlich Mutter geworden. Ist es schwierig,Show und Mutterschaft unter einen Hut zu bringen?Bis jetzt hat es funktioniert auch wenn es ein stndiger Balanceakt ist,Beruf und Privatleben im Einklang zu halten. Ich bin glcklich, dass die-se Jonglage bis jetzt geklappt hat. Aber ich muss schon sagen: Ich binfroh, dass es keine Zwillinge sind!

    Schweizer Tournee, nchste Auffhrungen: 5.12., 19.30 Uhr, Theater 11, Zrich;

    9.12., 20 Uhr, Brenmattsaal, Suhr; 11.12., 20 Uhr, Grosser Konzertsaal, Solothurn;

    12.12., 20 Uhr, Stadtsaal, Wil; 15.12., 20 Uhr, KKL, Luzern; 17.12., 20 Uhr,

    Lorenzsaal, Cham; 18.12., 20 Uhr, Kongresshaus, Biel. www.gesslerzwillinge.ch

    Sind in Las Vegas zu Diven herangewachsen: Die Gessler Zwillinge.

    Als Mitglied der preisgekrnten Kabarett-Truppe Acapickels wurden Lotti Stubli (alias Jasmin Clamor) undBarbara Hutzenlaub (alias Fritz Bisenz) schweizweit berhmt. Nun kehren die beiden schrillen Damen alsGessler Zwillinge zurck. Im Gepck: Noch mehr verrckte Einflle und eine zwlfkpfige Big Band.

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    Kulturtipps

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    AgendaSchierlingsbecher und Poloniumtee

    Alljhrlich die Qual der Wahl: Welche Agenda? Klein oder gross, mitTagen oder Wochen, frs Handtschchen oder das Chefpult? Wersmehr mit dem Inhalt als der Form hat und das Besondere sucht, frden hlt die Giftpflanzen-Agenda das rechte Elixier bereit.

    VON CHRISTOPHER ZIMMER

    Der Exitus durch Gift hat Tradition, ist Teil der grossen Geschichte. Mandenke nur an Sokrates Schierlingsbecher, Kleopatras Schlange, EdgarAllan Poes Opiumdelirien oder all die tdlichen Ranknen nicht nur europischer Frstenhuser auf den toxikologischen Schlachtfeldern imKampf um Krone, Macht und Thron. Doch was den Alten noch gelufigwar, ist im Zeitalter der Fertigpillen verloren gegangen: das Wissen umdie Giftkruter nebst Anwendung, Wirkungsweise und Vorkommen.Dem hilft nun ein Kompendium der aussergewhnlichen Art ab. Her-ausgegeben von Marianne Studer, die auch fr Gestaltung und Texteverantwortlich zeichnet, versammelt die Giftpflanzen-Agenda zwlf be-denkliche Krutlein, die je nach ihrer Bltezeit den zwlf Monaten zu-geordnet sind von Aaronstab und Alraune ber Maiglckchen undSchlafmohn bis zu Tollkirsche und Schierling.Da finden sich ausser viel Wissenswertem auch reichlich Aha-Erleb-nisse und allerlei zum Schmunzeln. Neben den Facts zu den Pflanzenist von den grossen Giftmrderinnen der Kriminalgeschichte die Rede,von den Schwierigkeiten, all die Erbschaftsplverchen und Eifersuchts-wsserchen nachzuweisen, oder von den Giftmorden in den Krimis vonAgatha Christie und den profunden Kenntnissen dieser Autorin, die ih-re Romane nicht nur zur Unterhaltung empfehlen. Auch moderne Gift-anschlge kommen zur Sprache, wie die Dioxinvergiftung des ukraini-schen Prsidenten Juschtschenko (2004) oder der Mord am russischenEx-Spion Litwinenko (2006) mit poloniumhaltigem Tee. Wem von all den Symptomen und Morden bange wird, der kann sich beiden 24 Heilkrutern im Anhang erholen oder sich an den herrlich ma-kabren Comics und Zeichnungen von Andy Fischli aufheitern.Giftpflanzen Agenda 2010. Hrsg. von Marianne Studer. Mit Comics von Andy Fischli.

    CHF 30. Bestellung/Verzeichnis der Verkaufsstellen bei:

    www.andyfischli.ch/aktuell.html

    Theater Der Tod des Verwestlichten

    Fr seinen Politroman Schnee wurde Orhan Pamuk, Literatur-Nobelpreistrger 2006, in seiner trkischen Heimat schwer ange-feindet. Das Luzerner Theater hat das Buch adaptiert und zeigtnun das Schauspiel-Resultat.

    VON MICHAEL GASSER

    Wir sind hier, um seinen Tod zu verstehen. Der Satz des Erzhlers flltgleich zu Beginn und macht klar, dass es in Schnee, einem Schauspielnach Orhan Pamuks gleichnamigen Politroman aus dem Jahr 2002,nichts zu lachen gibt. Das Stck ist eine einzige Rckblende: Es erzhltvom in Berlin lebenden Dichter Ka, der in sein Heimatland, die Trkei,reist, um den Ursachen einer Selbstmordserie junger Frauen in der StadtKars auf die Spur zu kommen. Kaum angekommen, beginnt der grosseSchneefall. Der Ort wird von der Aussenwelt abgeschnitten und das Un-heil, das in einem lokalen Militrputsch endet, nimmt seinen Lauf. Ka istder Intellektuelle, der nicht Stellung nehmen, sondern verstehen will,aber ins Kreuzfeuer der Ansichten gert. Da die Skularen, die in die EUund das westliche Leben wollen dort die Islamisten, die darauf drn-gen, dem Kopftuchverbot an der lokalen Universitt den bsen Garaus zumachen. Das Publikum sitzt im Kreis um die Bhne, ein Kellergeschoss, undschaut dem bitteren Treiben zu. Das siebenkpfige Ensemble schlpft inmehrere Rollen, rennt seit- und vorwrts, hngt am Seil, nimmt rituelleWaschungen vor oder spielt Fussball. Quasi ohne Requisiten. Ein mitun-ter verwirrendes Geschehen, ganz so, als ob man sich gemeinsam mitder Hauptfigur Ka, dem Verwestlichten, erst an die rtlichen Verhlt-nisse gewhnen msste. Bald einmal sprt man: Wichtig ist das Nicht-gesagte, das Angedeutete, die seltene Stille. Dann hlt der Tod Einzug. Kafllt ihm nicht zum Opfer. Noch nicht. Doch er wird gefoltert, was ihnverzweifeln und seine eben gefundene Liebe verlieren lsst. Wie alle gu-ten Menschen tust du Bses, ohne es zu wissen, wirft man ihm an denKopf. Vier Jahre spter wird er von einem Unbekannten erschossen, inBerlin, beim Mandarinenkauf.Das beraus aktuelle Stck kann nicht ganz verhehlen, dass es ur-sprnglich nicht frs Theater verfasst wurde, der losen Erzhlstrngesind zu viele. Was dazu fhrt, dass Schnee nicht immer, aber sehr wohlin einzelnen Episoden berhrt. In diesen dafr sehr.Schnee, nach einem Roman von Orhan Pamuk. Regie: Christina Friedrich.

    UG Luzerner Theater. Weitere Vorstellungen: 10., 11., 12., 17. 18., 23., und

    30.12. sowie 2.1. (Dernire), jeweils 20 Uhr. www.luzernertheater.ch

    Die Ereignisse in der Trkei gehen Ka an die Substanz.

    Im Umgang mit Giftpflanzen

    ist auch der Tod nicht weit.

  • 25SURPRISE 214/09

    KinoVon Zweckehen, Zufllen und demGlckEin alternder Menschenfeind fhlt sich in seiner selbstgewhltenIsolation fernab der Raupen, wie er den Rest der Menschheitnennt, ziemlich wohl. Und findet, ohne es zu suchen, das Glck.

    VON MICHLE FALLER

    Boris Yellnikoff steht in einer New Yorker Seitenstrasse und erklrt demKinopublikum die Welt. Mit trockenem Witz und einer Mischung ausberheblichkeit und Selbstironie berichtet das selbsternannte Genie vonseinen ngsten und Nten, von seiner Ex-Frau, die er aus Vernunft-grnden geheiratet hat, und von seinem Hinken, das von einem miss-glckten Selbstmordversuch herrhrt. Dies in einem Ton, als spreche ervon einem angebrannten Mittagessen.Aus dem witzigen Zyniker, der gleichzeitig Protagonist und allwissenderErzhler ist, spricht unmissverstndlich der Filmemacher Woody Allen.Nach seinem Abstecher nach Barcelona im letzten Film ist er ins ver-traute Manhattan zurckgekehrt, zu einem in den Ruhestand getretenenPhysiker, der im intellektuellen Freundeskreis den Zustand der Welt be-klagt und mehr oder weniger begabten Kids Schachunterricht erteilt mit pdagogisch nicht ganz unzweifelhaften Methoden. In die wohlge-ordnete Welt der vertrauten Neurosen Yellnikoffs dringt Melody ein, einMdchen um die 20, das aus ihrem Elternhaus in Mississippi abgehau-en ist und Yellnikoff vor seiner Haustr um Essen anbettelt. Jung,hbsch, leicht naiv und liebenswert kurzum: das genaue Gegenteil un-seres Helden.Ich will keine Beziehung, ich will nicht Liebe machen, und ich willmich von der Welt isolieren, stellt dieser klar. Und lsst sich in einemschwachen Moment doch dazu hinreissen, dem Werben der reizendenMelody nachzugeben und sie zu heiraten. Wo andere Komdien aufh-ren, fngt es bei Allen erst richtig an. Melodys Mutter Marietta tauchtauf, eine veritable Reinkarnation der etikettenbewussten Blanche Du-Bois aus Endstation Sehnsucht, die von ihrem Schwiegersohn wenigbegeistert ist. Wenn auch nicht vllig neuartig; das Aufeinanderprallender jdischen New Yorker Intellektuellen und der konservativen Hinter-wldler aus den Sdstaaten mitsamt berwindung der Differenzen ist umwerfend komisch.So lange es nur funktioniert der Filmtitel ist alles andere als eine ro-mantische Umschreibung einer Liebesbeziehung. Und doch scheint amEnde alles gut zu sein. Natrlich kann man einer Allenschen Idylle nurbedingt trauen, doch wenn es ein Genie ist, das uns das Glck prsen-tiert, mssen wir es wohl glauben.Whatever works, Regie: Woody Allen, 92 Min., USA 2009, derzeit in den Deutsch-

    schweizer Kinos.

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    Die 25 positiven FirmenDiese Rubrik ruft Firmen und Institutionenauf, soziale Verantwortung zu bernehmen.Einige haben dies schon getan, in dem siedem Strassenmagazin Surprise mindestens500 Franken gespendet haben. Damit helfensie, Menschen in pre kren Lebensumstn-den eine Arbeitsmglichkeit zu geben undsie auf ihrem Weg zur Eigenstndigkeit zube g leiten. Gehrt Ihr Betrieb auch dazu? DieSpielregeln sind einfach: 25 Firmen werdenjeweils aufgelistet, sind es mehr, fllt jenerBetrieb heraus, der am lngsten dabei ist.

    Mchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet

    werden?

    Mit einer Spende von mindestens 500 Franken

    sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3,

    Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel

    Zahlungszweck:

    Positive Firma + Ihr gewnschter Eintrag!

    Wir schicken Ihnen eine Besttigung.

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    Alfacel AG, Cham

    Kaiser Software GmbH, Bern

    chefs on fire GmbH, Basel

    Statistik Georg Ferber GmbH, Riehen

    Locher Schwittay Gebudetechnik GmbH, Basel

    Schtzen Rheinfelden AG, Rheinfelden

    Responsability Social Investments AG, Zrich

    SV Group AG, Dbendorf

    Baumberger Hochfrequenzelektronik, Aarau

    Scherrer & Partner GmbH, Basel

    VXL AG, Binningen

    Thommen ASIC-Design, Zrich

    Ingenieurbro BEVBE, Bonstetten

    Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Nottwil

    Ernst Schweizer AG, Hedingen

    JL AEBY Informatik, Basel

    iuliano-gartenbau & allroundservice, Binningen

    Druckerei Hrzeler AG, Regensdorf

    KIBAG Kies und Beton

    Inova Management AG, Wollerau

    SVGW, Zrich

    Brother (Schweiz) AG, Baden

    Segantini Catering, Zrich

    Axpo Holding AG, Zrich

    AnyWeb AG, Zrich

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    Die Schne und das Genie: Boris und Melody philosophieren im Park.

  • 26 SURPRISE 214/09

    An offenen Weihnachtsfeiern muss niemand alleine stehen.

    Ausgehtipps

    Auf TourAntithese zum Adventsgebimmel30 Jahre ziehen Gerhard Polt und die Biermsl Blosn schon durch dieLande. Krachledern und hemdsrmlig wie es sich fr Bayern gehrt, trittdas Quartett auf die Bhne. Die Witze sind derb und deftig und doch istPolt, selbst wenn er Zoten fr die Schenkelklopferfraktion reisst, eherein Mann der Zwischentne als ein humoristischer Haudrauf. Ganz hn-lich verhlt es sich mit seinen Mitmusikern: Mgen Trompete und Tubanoch so toben die musikalische Sozialisation bei den Mnchner Philharmonikern knnen die Biermsl Blosn letztlich nicht verhehlen.Solche Gegenstze schaffen Spannung und so hrt man im Jubilums-programm gern noch einmal die schnsten und wstesten Stcke ausdrei Jahrzehnten. Als Antithese zum Adventsgebimmel: Eine satirischeMischung, die jeder Krise den Marsch blst. (ash)15. und 16.12., 20 Uhr, Volkshaus, Zrich; 17.12., 20 Uhr, La Poste, Visp; 18.12,

    20 Uhr Stadttheater, Langenthal.

    Basel/Bern/Luzern/ZrichGemeinsam feiern

    Was, wenn Gesellschaft, Ort oder finanzielle Mittel fr ein schnesWeihnachtsfest fehlen? In vielen Stdten wissen Menschen um die Nte anderer und laden zu einem Weihnachtsfest ein, das offen ist fralle. Wir geben hier eine Auswahl an. Die meisten Feiern werden vonKirchgemeinden oder christlichen Vereinigungen organisiert. Dort er-halten Sie Informationen zu Veranstaltungen in Ihrer Nhe. (juk) Basel: Kundenweihnacht, 25.12., ab 17 Uhr (Trffnung 16.30), Quartierzentrum

    Union, Veranstalter: CVJM Kleinbasel. Mit Essen, Singen und Geschenk.

    Bern: Grosses Weihnachtsfest der Heilsarmee, 24.12. ab 18.30 Uhr, Lampenstr. 5.

    Mit Essen und Musik.

    Luzern: Weihnachten aber nicht allein, 24.12., 18 bis 22.30 Uhr, Pfarreizentrum

    St. Michael. Mit Essen und Musik.

    Zrich: Caritas Weihnacht im Volkshaus, 24.12., ab 18 Uhr (Trffnung 17.30),

    Weisser Saal. Mit Essen, Musik und Geschenk.

    Nein, nicht die heiligen drei Knige, sondern die Biermsl Blosn mit Gerhard Polt.

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    DiSo 1017 Uhrwww.verdingkinderreden.ch

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    Kristofer Astrm beim Nachdenken ber den nchsten Refrain.

    LuzernEs war einmal ein Mller der hatte drei Shne. Als der Mller starb, schauten die Shne im Testament nach, wie das Erbe zu verteilen war: Dem ltesten vermach-te der Vater die Mhle, dem zweitltesten den Esel. Fr den jngstenSohn aber blieb nur der Kater brig. Zwar handelte es sich um einennetten, schlauen und usserst flott anzuschauenden Kater, aber derjngste Sohn war trotzdem unzufrieden: Wie sollte er mit dieser Katzeseinen Lebensunterhalt verdienen und seinen hungrigen Bauch fllen?Da der jngste Sohn mehr pragmatisch als weitsichtig war, beschloss erkurzerhand, seinen Kater zu verspeisen Liebe Tierfreunde, Ruhe bewahren: Das Schicksal dieser Katze wird sichnoch zum Guten wenden. Wer mindestens vier Jahre alt ist, sollte sichunbedingt mit eigenen Augen davon berzeugen. (mek.)Der gestiefelte Kater, Figurentheater, Luzern. 5./6./9.12., jeweils um 15 Uhr.

    Vorverkauf: 041 228 14 14. www.luzernertheater.chNett, schlau und hbsch: Der gestiefelte Kater.

    Symboltrchtiger Engel: Indianerin mit Radiorekorder in der Wste.

    Basel/BernSongwriter-Drhnung

    Wo der Song ohne Schnickschnack im Zentrum steht, zeigt sich schnell,ob einer das gewisse Etwas hat. Die Ahnenliste ist lang und illuster undbis heute fehlt es nie an jungen (meist) Mnnern, die mit Gitarren undeinem Koffer voller Lieder die Welt erobern wollen. Mehrfach bewhrthat sich in dieser Kunst Kristofer Astrm. Ursprnglich begann derSchwede in einer Punkband, dann sprang er solo ins andere Extrem undkultivierte einen eigenwilligen Country-Twang. Das aktuelle AlbumSinkadus gehrt zu den diesjhrigen Highlights in seinem Genre.Scheinbar mhelos gelingen dem Mitdreissiger tolle Songs zwischenkrachendem Rock und Folk-Ballade. Die hrteren Stcke drften Favez-Fans gefallen, die ruhigeren erinnern manchmal an Ryan Adams und inder Knigsdisziplin des Midtempo-Rockers lsst der Astrm BossSpringsteen alt aussehen. Nach den Soloshows im Frhling gibt unsAstrm nun mit kompletter Band die volle Drhnung. (ash)16.12., 21 Uhr Volkshaus Basel; 17.12. 21 Uhr, ISC, Bern.

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    Winterthur Realitten

    Das Werk der bedeutendsten lateinamerikanischen Fotografin derGegenwart wird im Fotomuseum Winterthur ausgestellt: Geboren 1942in Mexiko-Stadt, begann Graciela Iturbide in den 60er-Jahren zu foto-grafieren. Nach dem pltzlichen Tod ihrer sechsjhrigen Tochter im Jahr1970 machte sie die Fotografie zu ihrem Beruf: Die Bilder und Bildzy-klen, die sie seither geschaffen hat, sind symboltrchtig und vielschich-tig. Iturbide arbeitet verschiedene Ebenen der Realitt ineinander, spieltmit Licht und Schatten, um Wahrnehmungen Ausdruck zu verleihen,die zwischen Ahnen und Wissen pendeln. Fr mich ist die Fotografieein Vorwand, um etwas zu erkennen, sagt Iturbide und wenn sie erkennen sagt, bekommt man den Eindruck, sie verwende es als Synonym fr leben. (mek)Graciela Iturbide Das innere Auge, noch bis zum 7.2.2010 zu sehen im

    Fotomuseum Winterthur. www.fotomuseum.ch

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  • 28 SURPRISE 214/09

    VerkuferportrtMir wre jede Arbeit recht

    AUFGEZEICHNET VON RETO ASCHWANDEN

    Geboren bin ich in Mazedonien. In der Schule lernte ich Mazedo-nisch und Serbokroatisch, denn damals gehrte mein Land noch zu Ju-goslawien. Danach liess ich mich zur Kindergrtnerin ausbilden. Spterarbeitete ich in einer Tabak- und in einer Konservenfabrik und eine Zeitlang hatte ich einen eigenen Laden mit Milchprodukten, unter anderemeine grosse Auswahl an verschiedenen Ksesorten. Ich war verheiratetund gebar einen Sohn und eine Tochter. Doch irgendwann bekam ichfurchtbare Probleme mit meinem Mann. Es wurde so schlimm, dass ichschliesslich vor ihm ausser Landes floh. So kam ich 2005 in die Schweiz.Die Kinder musste ich frs Erste in Mazedonien lassen.

    Die erste Zeit lebte ich im Flchtlingszentrum in Allschwil. Dort gabes einen Mann, der Surprise verkaufte. Das schien mir eine gute Sachezu sein und so kam auch ich erstmals zu Surprise. Mir hat es immer ge-fallen, das Magazin verkaufen zu knnen. Es ermglicht mir, ohne So-zialhilfe oder sonstige staatliche Untersttzung zu berleben. Zudembin ich gern unter Menschen. Das hilft mir, mein Deutsch zu verbessern.Komplizierte Diskussionen liegen nicht drin, aber so lange die Leute ineinfachen Stzen mit mir reden, kann ich mich gut unterhalten. BeimVerkaufen habe ich immer gute Laune. Es ist mir wichtig, dass ich aufdem Foto zu diesem Artikel frhlich dreinschaue. Denn so kennen michdie Kunden: Wenn ich beim Zoo Bachleten verkaufe, lache ich immer.

    Inzwischen sind auch meine Kinder in die Schweiz gezogen. MeinSohn ist heute 20, die Tochter 19 Jahre alt, und ich habe auch schon ei-nen einjhrigen Enkel. Gerne wrde ich fr sie sorgen, aber das istschwierig. Die Gesetze hier sind kompliziert und meine Aufenthaltsbe-willigung ist befristet. Das macht die Arbeitssuche sehr schwierig. Oftheisst es: Ohne B-Ausweis knnen wir Sie nicht anstellen. Und den B-Ausweis bekomme ich nur, wenn ich eine feste Anstellung habe. Es istein Teufelskreis. Ich kann verstehen, wieso die Arbeitgeber zgern, Leu