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Grosse Bühne Nr. 261 | 21. Oktober bis 3. November 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass. Wohnen mit 2000 Watt – Wie Energiesparen vom Sofa aus möglich ist Richtig Abschied nehmen – Der Tod als Quell des Lebens Statisterie als eigener Kosmos

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Surprise Strassenmagazin 261/11

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Grosse Bühne

Nr. 261 | 21. Oktober bis 3. November 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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Richtig Abschied nehmen – Der Tod als Quell des Lebens

Statisterie als eigener Kosmos

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Macht stark.

www.strassenmagazin.ch ❘ www.strassensport.ch ❘ Spendenkonto PC 12-551455-3Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99

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Ihre Meinung!Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, [email protected]. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3

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EditorialSich gegenseitig warm geben

Fragt man die Statisteriechefin am Theater Basel, welche Eigenschaften der idealeStatist habe, kommt es wie aus der Pistole geschossen: Zuverlässigkeit, Pünktlich-keit und – Kollegialität. 40 Leute können nur dann zusammen auf der Bühne ste-hen, wenn sie auch in der Kantine miteinander gut auskommen. Es geht nicht da-rum, dass man auf der Bühne persönlich zu Ruhm und Ehre kommt. Sondern umdie Produktion, zu der alle ihren Teil beitragen. Nur so ist Theater möglich.

Auch die 2000-Watt-Gesellschaft ist ein Gemeinschaftswerk, zu dem alle ihren Teilbeitragen müssten. Die Mieter des sogenannten 2000-Watt-Hauses in Zürich habeneinen Vertrag unterschrieben, in dem sie sich verpflichten, ihren Energieverbrauchauf jährlich 2000 Watt zu reduzieren. Es ist ein Vertrag mit dem Rest der Welt, under ist natürlich symbolisch gemeint, provokativ. Ein Zürcher SVP-Gemeinderat hatsich denn auch provozieren lassen und gemeint, der ökologische Wohnungsbauentspreche einer «Ostblockmentalität». Wir finden: Vielleicht sind globale Ziele nunmal nur mit ein wenig «Ostblockmentalität» zu erreichen. Auch wenn wir den Ausdruck unglücklich gewähltfinden – immerhin haben 2008 die Zürcher Stimmberechtigten dem Legislaturziel der Stadt zugestimmt, wel-ches bis 2050 die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft erreichen will. Man wird nicht gezwungen, sich gegensei-tig warm zu geben. Aber es ist zwingend, sich gegenseitig zu unterstützen, damit alle weiterhin warm haben.

In den Tod dagegen muss jeder allein. Nach dem Abgang von der irdischen Bühne muss man sich nicht mehrmit Kollegen in die Kantine setzen. Die Journalistin Eva Rosenfelder stellt in ihrem Text über den Umgangmit dem endgültigen Abschied aber fest, dass es für Trauernde einfacher wird, mit dem Tod umzugehen,wenn sie dabei begleitet werden – von Freunden, von professionellen Trauerbegleitern. Der gemeinschaftli-che Umgang mit dem Verlust hilft.

Statisterie, Wohnungsbau, Trauer: Wir vereinen in diesem Heft Themen aus den verschiedensten Lebensbe-reichen. Und kommen im Zeitalter des Individualismus doch zu einem gemeinsamen Schluss: Was wir tun,ist für andere wichtig, was andere tun, ist für den Einzelnen wichtig. Und falls wir uns täuschen sollten, er-reicht der genannte Gemeinderat die Zürcher Legislaturziele vielleicht ja auch im Alleingang.

Wir wünschen Ihnen gemütliches Beisammensein in der Herbstzeit.

Diana Frei

Übrigens: Die Rubrik Zugerichtet zählt zu den meistgelesenen Heftinhalten. Die Autorin Isabella Seemannabsolviert bis Ende Jahr einen Auslandaufenthalt. Bis zu ihrer Rückkehr wird sie von der Zürcher Gerichts-reporterin Yvonne Kunz vertreten.

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DIANA FREI

REDAKTORIN

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Inhalt03 Editorial

Zusammenrücken05 Basteln für eine bessere Welt

Gute Miene zum bösen Spiel06 Aufgelesen

Freude auf dem Friedhof06 Zugerichtet

Shopping an der Bahnhofstrasse07 INSP-Kampagne

Selbstbestimmtes Leben08 Porträt

Einsatz für Niedrigqualifizierte16 Trauer

Heilige Momente21 Kurzgeschichte

Dorothee Elmiger: Über den Pass22 Le mot noir

Milchbüchleinrechnung23 Culturescapes

Politische Tänze24 Kulturtipps

Farbstift für Jacques Tati26 Ausgehtipps

Schandfleck von Bern 28 Verkäuferporträt

Zukunft für die kleinen Söhne29 Programm SurPlus

Eine Chance für alle!30 In eigener Sache

ImpressumINSP

Ende September verlangten die Palästinenser vor derUNO die Anerkennung als Staat. Daraus wird vorläu-fig nichts, doch der Vorstoss brachte neue Dynamik ineinen alten Konflikt. Nach den Umstürzen in den ara-bischen Staaten werden die Karten neu gemischt. DiePalästinenser verlangen vehement mehr Selbststim-mung, während sich Israels Beziehungen zu Ägyptenund der Türkei verschlechtern. Kommt es zu einerneuen Intifada? Oder ist nun endlich Frieden möglich?Stimmungsbilder aus einem Land vor einer völlig un-gewissen Zukunft.

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Die Stadtzürcher Bevölkerung hat sich vor drei Jahrenper Abstimmung das ehrgeizige Ziel gesetzt, eine2000-Watt-Gesellschaft zu werden. Während die einennoch darüber debattieren, ob das überhaupt realistischist, wohnen andere bereits in «2000-Watt-Häusern».Das Auskommen mit einem Minimum an Energie istdort erklärte Pflicht, rechte Politiker wittern «Ostblock-Mentalität». Wir wollten wissen: Wie lebt es sich tat-sächlich im Energiesparhaus?

12 TheaterZahnrädchen in der OperIn der Oper stehen Liebende, Getriebene und Morden-de im Rampenlicht, tiefe Emotionen werden verhandeltund grosse Themen. Das Volk dagegen tummelt sich inWirtshäusern, auf Volksaufläufen. Dazu braucht es Sta-tisten, oft und oft massenhaft. Am Theater Basel ist mitden Jahren in der Statisterie eine Gemeinschaft zu-sammengewachsen, für die das Theater zur Heimat ge-worden ist. Emotional, intellektuell.

10 PalästinaIm neuen Nahen Osten

18 2000-Watt-Gesellschaft Ostblock oder Öko-Luxus?

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Basteln für eine bessere WeltAls aufmerksame Leser der Weltverbesserungsseite sind Sie von uns in den letzten Wochen gezielt an die Urne geführt worden. Fairer-weise lassen wir Sie nun auch mit den Folgen nicht alleine. Das Prinzip «Gute-Miene-zum-bösen-Spiel» gehört bei den Politikern ja zum1×1. Sollte Ihnen jedoch die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stehen, dass schon wieder die Falschen gewählt wurden, setzen Siesich in den Tagen des Wahlkaters beim Gang in die Öffentlichkeit doch einfach unsere Gute-Miene-Maske auf.

1. Schneiden Sie – nicht bevor Sie die darauffolgende Seite mit unserer beliebten Gerichtskolumne und den aktuellen Berichten aus der Welt der Strassenmagazine gelesen haben – die Maske entlang der Umrisse aus.

2. Kleben Sie sie auf ein Stück dünnen, biegsamen Karton (z.B. die Frühstücksflocken-schachtel) und schneiden sie noch einmal entlang der Umrisse aus – auch die Augen.

3. Machen Sie mit einer Ahle zwei Löcher an den bezeichneten Stellen und knüpfen Sie einGummiband dran, sodass Ihnen die Maske weder herunterrutscht noch die Luft zum Atmen nimmt.

4. Sie könnten nun sogar bedenkenlos in der SF-«Arena» auftreten.

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AufgelesenNews aus den 90 Strassenmagazinen,die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Wie auf dem Strich

Düsseldorf. Rumänische Verkäuferinnen derStrassenzeitung FiftyFifty werden von vielenPassanten offenbar als Freiwild betrachtet.Sie werden unverfroren angeglotzt, müssensich schmierige Komplimente anhören oderwerden mit Sprüchen angemacht wie «Wieviel die Stunde?», «Komm ficken, ich gebe dirGeld dafür» oder einfach «Ficki Ficki». Diemeisten Roma-Verkäuferinnen sind tiefgläu-big und empfinden die Angriffe nicht nur alsDemütigung, sondern auch als Schande. Diejüngste von ihnen ist 16 Jahre alt.

Umarmung für den Mörder

Kiel. Eine positive Erfahrung machte ein Lü-becker Häftling bei seiner ersten «Ausfüh-rung», obwohl ihm diese aus Anlass des To-des seiner Mutter gewährt wurde. Auf demFriedhof schloss ihn eine Ex-Nachbarin ohnezu zögern in die Arme, obwohl sie wusste,dass er seine Freundin ermordet hatte. Dieshabe ihm die Zuversicht gegeben, dass es einLeben nach dem Gefängnis gibt. Der 41-Jäh-rige ist einer der Häftlinge, die ihre Erfahrun-gen in der Schreibwerkstatt verarbeiten, die«Hempels» im Lübecker Gefängnis eingerich-tet hat.

Geprellte Taglöhner

München. In der Stadt der Schickeria gibt esimmer mehr türkischstämmige Bulgaren, dieauf der Strasse leben. Sie kommen als Tag -löhner und werden von Kleinunternehmernschamlos ausgebeutet. Wenn sie Glück ha-ben, bekommen sie zehn Euro für fünf Stun-den Packarbeit. Wenn sie Pech haben, werdenSie auch noch um ihren Hungerlohn geprellt.Werden sie zurückgeschickt, kommen siekurz darauf meist trotzdem wieder. Denn inihrer krisengeschüttelten Heimat erwarten sieauch nur Arbeitslosigkeit, Gewalt und Diskri-minierung.

ZugerichtetSchlecht gepokert

Richter sind bestimmt verdammt gute Po-kerspieler. Richterinnen natürlich auch. Da-mit soll nicht gesagt sein, sie wären charak -terschwache Spielernaturen. Ein Pokerface istbei ihnen quasi eine déformation profession-nelle. Wenn ihre Blicke auf den Angeklagtenruhen, ist ihren Mienen nichts zu entneh-men, das irgendwelche Rückschlüsse daraufzuliesse, was dahinter vorgeht. Selbst dannnicht, wenn sich ein Beklagter um Kopf undKragen redet oder ein Verteidiger völligenStuss von sich gibt. Nicht mal dann, wenn ei-ne Staatsanwältin aus- und abschweifend mitmonotoner Stimme ein Plädoyer abliest, dasauch als Foltermethode geeignet wäre. Dassdann gerade die Richterin mit dem verständ-nisvollen, gar mitleidigen Gesicht oft knall-harte Strafen verhängt oder umgekehrt derRichter mit dem bohrenden, stets leicht ange-widerten Blick regelmässig Milde zeigt, istimmer wieder erstaunlich.

Noch erstaunlicher war deshalb, was sichvor kurzem vor einem Zürcher Gericht ab-spielte. Vorsitzender war der Angewiderte,auch die Mitleidige war dabei und einer, deres in Vollendung schafft, überhaupt keinenAusdruck zu haben. Doch an jenem Tagschimmerte bei allen drei ein Hauch Ungläu-bigkeit durch. Die Angeklagte, erstinstanzlichdes Betrugs und der Urkundenfälschung in 81Fällen schuldig gesprochen und zu 36 Mona-ten Haft verurteilt, beharrte auf einem Frei-spruch. Das war noch nicht alles; Gründe zurUngläubigkeit gab es in diesem Fall zuhauf.

Was in der Anklageschrift steht, würdesich auch in einem Klatschheft gut machen.Demnach soll die erheblich jüngere Freundineines schwerst alkoholkranken Mannes die-

sen in dessen letzten Lebensmonaten um rund650000 Franken erleichtert haben. Auf Checkshabe sie seine Unterschrift gefälscht und mitdem Geld unter anderem die Leasing-Raten fürden BMW ihres Ex berappt und sich ein paarExtras gegönnt.

Wer nun «Klischee!» denkt, stellt sich wohleine etwas zu gebräunte Frau mit etwas zublonden Haaren und etwas zu viel Make-upvor. Und Schwindel erregend hohe Absätze,sehr grosse Brüste, eher kleines Hirn. Wer übereinen Sinn fürs Detail verfügt, komplettiert dasKlischee mit künstlichen Fingernägeln, schul-terfreiem Top und ordinärer Sprache. Und hät-te bis ins letzte Detail recht.

«Also, noch mal», sagte der Gerichtspräsi-dent, nicht mehr nur ungläubig, sondern ver-ständnislos. «Wie schafften Sie es, Monat fürMonat so viel Geld auszugeben?» Darauf dieAngeklagte, ebenfalls verständnislos: «GehenSie doch mal an die Bahnhofstrasse, dann wis-sen Sie, wie schnell 10000 Franken weg sind.»

Nicht mal ihr Anwalt schien ihr zu glauben,dass sie die Checks in vollem Einverständnisdes Verstorbenen gefälscht hatte. Geradezu em-pört war der Staatsanwalt. Hätte sie sich nichterdreistet, das Urteil weiterzuziehen, hätte erdie Sache auf sich beruhen lassen. Nun aberverlangte er eine Strafverschärfung auf 48 Mo-nate. Das Verdikt des Gerichts hätte klarer nichtsein können. «Frech, eiskalt und glasklar schul-dig.» Es erhöhte die Strafe von 36 auf 47 Mo-nate. Fazit: Wer schlecht pokert, sollte seineEinsätze niedrig halten.

YVONNE KUNZ ([email protected])

ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

([email protected])

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Mehr als sechs Millionen Menschen in 40 Ländern stimmen für Menschenwürde statt Armut, indem sie Strassenzeitungen kaufen. Damit unterstützen sie die Verkäufer auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Im Gegenzug erhalten sie unabhängige Magazine, die man gerne liest. Wer Strassenmagazine kauft , setzt ein Zeichen für eine bessere Welt.

Ihre Stimme für die Menschenwürde.

MenschenwürdeArmut

In Europa und Nordamerika gehören Strassen-magazine vielerorts zum Stadtbild. Auch inLändern wie Argentinien, Sambia, Malawi undauf den Philippinen etablieren sie sich lang-sam. Gerade sind in Taiwan und Südkoreaneue Zeitschriften auf den Markt gekommen.Weitere werden demnächst in Nigeria, Grie-chenland und Finnland folgen, denn INSP ex-pandiert weltweit.Über INSP und die vielsprachige Onlinenach-richtenagentur Street News Service (SNS) tau-schen die einzelnen Strassenmagazine Erfah-rungen, Ideen und Artikel aus. Im nächstenJahr wird INSP in einer globalen Aktion Spen-den und Werbegelder generieren. Zudem sollenmit SNS die Möglichkeiten des digitalen Aus-tauschs verstärkt werden. All diese Aktionendienen den Bedürfnissen und Rechten der Ver-käufer auf der ganzen Welt. Diese Menschensind und bleiben der Mittelpunkt unserer Ar-beit, Menschen wie Josiane Graner.Unterstützen Sie weiterhin den Verkäufer Ihreslokalen Strassenmagazins und geben Sie IhreStimme für die Menschenwürde. ■

www.streetnewsservice.org

Josiane Graner: «Jedes Mal, wenn ich einExemplar von Surprise verkaufe, verdiene ich2.70 Franken. Dank diesen Einahmen kann ichmeinen Lebensunterhalt ein Stück weit selb-ständig bestreiten», sagt die 59-jährige Stras-senverkäuferin. Trotz der täglichen Schwierig-keiten ist Josiane Graner zufrieden, denn derVerkauf des Strassenmagazins hat ihr Lebenverändert und Hoffnung zurückgebracht. Josiane Graners Geschichte ist kein Einzelfall.Seit 1994 haben mehr als 200000 Menschenauf der ganzen Welt die Möglichkeit bekom-men, durch den Verkauf eines Strassenmaga-zins ein Einkommen zu verdienen. Dahintersteckt ein Konzept, das soziales Unternehmer-tum mit unabhängigem Journalismus verbin-

Sechs Millionen Stimmenfür die Menschenwürde

det, um Armutsbetroffenen zu helfen. Das Ge-schäftsmodell ist einfach: Verkäufer erwerbendie Magazine zu ungefähr der Hälfte des Ma-gazinpreises und verkaufen das Heft anschlies-send an ihre Kunden. Die Leser der Strassen-magazine helfen den Verkäufern, ein würdigesEinkommen zu verdienen und ihre Armut zulindern. Das ist die Schlüsselbotschaft der2011er-Kampagne «Ihre Stimme für die Men-schenwürde» – geleitet vom InternationalenNetzwerk der Strassenmagazine (INSP). INSP wurde 1994 gegründet und blickt auf eineerfolgreiche Geschichte zurück. Heute lesen6,2 Millionen Menschen in 40 Ländern 112Magazine. Strassenmagazine bieten hochwerti-gen, unabhängigen Journalismus, der nur füreine Gruppe Partei nimmt: die Schwachen. David Schlesinger, Vorsitzender von ThomsonReuters China, ist Ehrenpräsident von INSP. Ersagt: «Reisen Sie durch die Welt und kaufen Sieein Strassenmagazin oder eine Strassenzeitungund Sie tun nicht nur Gutes, Sie bekommenauch etwas Gutes.» Lisa Maclean, Geschäfts-führerin von INSP, fügt hinzu: «Die INSP-Stras-senmagazine sind in der einzigartigen Position,Geschichten, Meinungen und Themen zu pu-blizieren, die in den Massenmedien normaler-weise nicht erscheinen. Sie sind unabhängig,treten als starke Stimme für den sozialen Wan-del auf und hinterfragen den Status quo.»

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VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) UND DAVIDE CAENARO (BILD)

Das Eckbüro im obersten Stock ist hell und funktional möbliert: eingrosser Schreibtisch, ein Besprechungstisch mit vier Stühlen, zwei Zim-merpflanzen. Die vielen Ordner und Dokumente in den Regalen an derWand zeugen von unermüdlichem Einsatz und Wissensdurst. Keine Fra-ge: André Schläfli, seit 19 Jahren Direktor des Schweizerischen Verban-des für Weiterbildung SVEB, lässt sich nicht gerne vom Wesentlichenablenken. Neben der Tür hängt seit diesem Frühling die silbern glän-zende Auszeichnung, die ihm von der «International Adult and Conti-nuing Education Hall of Fame» der University of Oklahoma für seineVerdienste im Bereich der Weiterbildung verliehen wurde. «Es ist einegrosse Ehre, als erster Schweizer dort aufgenommen worden zu sein»,sagt Schläfli.

Zeit, etwas zurückzulehnen also? «Nein! Man muss sich bewusstsein, dass es in der Weiterbildungslandschaft jede Menge Baustellengibt und dass beispielsweise die Weiterbildungsforschung in derSchweiz noch in den Kinderschuhen steckt», entgegnet Schläfli und fügtan: «Hier schlummert ein riesiges Potenzial, an dessen Entwicklung ichweiterhin mitwirken will.» Zwei Millionen Menschen besuchten in derSchweiz jährlich eine Weiterbildung und private Anbieter würden Tau-sende verschiedener Zertifikate und Diplome vergeben.

Besonders am Herzen liegt Schläfli die gezielte Förderung von Nie-drigqualifizierten: «Wissen und Weiterbildung sollten für alle Menschengleichermassen zugänglich sein. Wenn etwa ein 40-jähriger Maurer jah-relang sehr gute Arbeit geleistet hat, sich aber beruflich nicht weiter-entwickeln kann, bloss weil er über keinen Abschluss verfügt, bedeutetdies für den Betroffenen Frust.» Gleichzeitig gehe volkswirtschaftlichsehr viel Potenzial verloren. «Schon 1998 hat der Verband den Anstossgegeben, dass auch jemandem mit einer einfachen Ausbildung weiter-führende Möglichkeiten offen stehen», sagt Schläfli. Seit 2007 setzt derBund nun entsprechende Massnahmen um.

Die Interessenvertretung der schweizerischen Weiterbildungsinstitu-tionen gegenüber Bund, Kantonen und Privaten ist eine der vielen Aufga-ben des SVEB-Direktors. «In Bezug auf meinepolitische Haltung bin ich für andere Menschenvermutlich nicht einfach einzuschätzen», sagtSchläfli. «Ich tendiere zu linken Ansichten, ver-trete aber auch liberale Werte. Das ist prägendfür meine Arbeit.» Reines Kosten-Nutzen-Denken ist Schläfli fremd:«Weiterbildung ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch etwas Be-reicherndes, ein Stück Lebensqualität.»

Auch für ihn selbst war und ist Weiterbildung eine feste Konstante imLeben. «Während des Psychologiestudiums hatte ich einen Kurs bei ei-nem Laufbahnberater, der bei der Suche nach dem richtigen Berufswegnicht einfach auf ein Modell zurückgriff, sondern verschiedene Ansätze

PorträtWeiterbildung für alleEin halbes Arbeitsleben lang setzte sich André Schläfli als SVEB-Direktor für die Weiterbildung ein und erntetedafür internationale Anerkennung. Bis er seine eigene berufliche Bestimmung fand, musste er allerdings eini-ge Kehrtwendungen nehmen.

heranzog. Das war damals, Anfang der 70er-Jahre, noch relativ neu undhat mich geprägt.» Die erste Stelle fand Schläfli gleich im Anschluss andie Universität als Laufbahnberater im Freiburger Seebezirk. Es folgteein Jahr in Minnesota und an der Harvard University in den USA, wo ihnbesonders die Verbindung der Psychologie mit der Werterziehung inter-essierte. Als er mit dem Doktortitel in der Tasche am Zürcher Universi-tätsspital als Neuropsychologe zu arbeiten begann, merkte er aber, dassdie Medizin nicht seine Welt ist: «Die hierarchischen Strukturen dortempfand ich als starr. Zudem gingen mir die Einzelschicksale der Pa-tienten, die durch Tumore, Unfälle oder Blutungen schlimme Schädi-gungen am Gehirn erlitten hatten, sehr nahe.»

Es folgte der Schritt in die Wirtschaft. Schläfli wurde Leiter der Ma-nagement- und Lehrlingsausbildung in der UBS. Dies sei während sechsJahren eine lehrreiche und vielfältige Aufgabe gewesen. Aber: «Mit demProdukt Geld konnte ich mich auf die Dauer nicht identifizieren, deshalbstrebte ich eine neue Herausforderung an.» Seine Suche nach dem rich-tigen Job endete mit der Bewerbung auf die Stelle als Direktor des Weiter-bildungsverbands: Seit 1992 blieb er dieser Aufgabe treu. Unter Schläflials Direktor wurden im Dachverband der Weiterbildungsinstitutionenzahlreiche Grossprojekte geplant und auch umgesetzt: die Entwicklungdes SVEB-Zertifikats, das Lehrkräften ihre Qualifikation bestätigt, dieAusarbeitung des Qualitätsstandards eduQua gemeinsam mit dem Bund,die Vorbereitung eines Weiterbildungsgesetzes auf Bundesebene.

Der Verband wuchs in seiner Zeit als Direktor von sechs auf 24 Mit-arbeitende. Was Schläfli zusätzlich entsprach: «Ich musste keine klassi-sche Verbandsfunktion ausüben, sondern konnte den SVEB mehr wieein Unternehmen führen – mit einzelnen Bereichen, die wirtschaftlicharbeiten mussten.» Hinzu kam die Zusammenarbeit mit internationalenOrganisationen wie der Unesco, der OECD oder der EU. Einen Ausgleichzur Arbeitswelt findet der Vater von zwei erwachsenen Kindern ab undzu bei einem Opernbesuch zusammen mit seiner Frau. «Und übrigensmag ich auch das Phänomen der Zürcher Street Parade», fügt er an. «DieUnterschiedlichkeit von Oper und Techno fasziniert mich.» Gibt es füreinen Mann, der das Thema Weiterbildung mit jeder Faser lebt, über-

haupt noch unentdeckte Interessengebiete? «Ich bin der Meinung, dassman nie ausgelernt hat», sagt Schläfli. «Ich möchte mich zum Beispielmehr mit Philosophie beschäftigen, mit aktuellen Grundsatzfragen wie:Warum gibt es Krieg? Oder: Warum ist der Reichtum ungerecht verteilt?»

60 Jahre alt, seit 19 Jahren glücklich als Direktor beim SVEB. Da wirdsich beruflich nicht mehr viel verändern. Oder? «Mal sehen», meint An-dré Schläfli lächelnd. «Da bin ich mir noch nicht so sicher.» ■

«Ich tendiere zu linken Ansichten, vertrete aber auchliberale Werte.»

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PalästinaGefährliches SchachspielDer Gang der Palästinenser vor die UNO war ein Befreiungsschlag. Ob er den Auftakt für ei-ne Lösung im Nahen Osten bildet oder noch mehr Schaden anrichtet, ist ungewiss. Sicherist: Die Situation in der Region ist so fragil wie nie zuvor.

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VON AMIR ALI

«Wir sind nicht gegen eine friedliche Lösung. Aber wir glauben ein-fach nicht daran», sagte Abdullah Hawaja an jenem Sonntag einer Re-porterin der «New York Times». Der 30-Jährige war einer von TausendenPalästinensern, die im Zentrum von Ramallah zusammengekommen wa-ren, um Mahmoud Abbas zu feiern. Der Palästinenserpräsident kehrteaus New York zurück, wo er vor der UNO seine historische Rede gehal-ten und die Anerkennung eines palästinensischen Staates verlangt hat-

te. «Israel wird nicht aufgeben. Dieses Land kann nur durch Krieg be-freit werden. Was uns mit Gewalt genommen wurde, können wir nurmit Gewalt zurückholen», sagte Hawaja der amerikanischen Zeitungnoch. Diese schockierenden Worte sind Ausdruck der Hoffnungslosig-keit und des fehlenden Vertrauens in die internationale Gemeinschaft.Und die Palästinenser haben allen Grund dazu.

Von einem eigenen Staat sind sie auch nach dem Gang vor die UNOweit entfernt. Und darum dürfte es ihnen auch nicht in erster Linie ge-gangen sein. Für Mahmoud Abbas und seine Palästinensische Autono-

Konfrontation im Westjordanland: Ohne Lösung der Palästinafrage kann es in Nahost keinen Frieden geben.

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miebehörde war die diplomatische Offensive ein Befreiungsschlag – ei-ne Tour de Force, die den Nahostkonflikt wieder auf die Agenda ge-bracht hat. Nur diesem Druck ist es zu verdanken, dass das Nahost-Quartett – die USA, die EU, die UNO und Russland – umgehend einenneuen Fahrplan für einen Frieden hervorzauberte. Nun ist Phase zweides palästinensischen Planes eingetreten: das Ringen um Verhandlun-gen mit Israel.

Die Rede, die Premierminister Benjamin Netanyahu am selben Abendvor der Generalversammlung hielt, war nicht die Antwort aus Jerusalemauf den palästinensischen UNO-Antrag. Die wahre Antwort kam einigeTage später, als die Regierung grünes Licht gab für den Bau von 1100Wohnungen in Ostjerusalem. Ein Schlag für all jene, die gerade nichtan eine notwendigerweise gewalttätige Auseinandersetzung mit Israelglauben.

Die Diplomatie verfolgt bestimmte Interessen gezielt. Wer zu einemderart entscheidenden Zeitpunkt die Gegenseite blossstellt, entlarvt sichselbst. Dass Israel wirklich Frieden will, scheint unglaubwürdig ange-sichts der Weigerung, den Siedlungsbau zumindest einzufrieren. Mitseiner Politik spielt der jüdische Staat all jenen in die Hände, die ihn vonder Landkarte tilgen wollen.

Doch auch die Palästinenser entziehen den Kooperationswilligen aufder anderen Seite der Grenzmauer den Boden unter den Füssen. Denndiese gibt es durchaus, auch ausserhalb der pazifistischen Kreise.«Wenn ich Netanyahu wäre, würde ich einenPalästinenserstaat anerkennen. Danach könn-ten wir über Grenzen und Sicherheitsfragenverhandeln», sagt der Ex-General und Ex-Mini-ster Benjamin Ben-Eliezer. Dass Netanyahudies nicht tat, liegt auch an den Palästinensern.Sie schaffen es noch immer nicht, die ExistenzIsraels zumindest als Realität anzuerkennen. Eine zentrale Rolle spieltdabei der Wortlaut der Erklärung vor der UNO, in der die PalästinenserOstjerusalem als ihre Hauptstadt beanspruchen. Westjerusalem als is-raelische Hauptstadt sucht man darin vergeblich. Diese Art von Zeichenhätte das Ansehen und die Verhandlungsposition Ramallahs gestärkt.Doch für solche Zugeständnisse scheint Abbas’ politische Position zuschwach.

Der neue Nahe OstenDie Israelis sind nervös wie nie. Ihre Welt hat sich in den letzten Mo-

naten fundamental verändert. Mubarak, der Fixstern israelischer Regio-nalpolitik, ist verglüht – und mit ihm die Gewissheit um einen Friedenmit Ägypten, der nie ein Friede des Volkes war. Aussenpolitik wird inKairo zur Innenpolitik. Der regierende Militärrat ist vom Retter der Re-volution zum neuen Feindbild des Tahrir-Platzes mutiert. Er wird keineMöglichkeit auslassen, um sein angeschlagenes Image aufzubessern –oder zumindest nicht unnötig weiter zu verschlechtern. Dass die Si-cherheitskräfte den hässlichen Mob nicht am Sturm auf die israelischeBotschaft in Kairo hinderten, war kein Zufall.

Und auch für den Fall, dass die Ägypterinnen und Ägypter dem-nächst die ersten freien Wahlen begehen: Das macht es für Israel nichtgemütlicher. Wer gegenüber dem verhassten Nachbarn einen schärferenTon anschlägt, hat bessere Chancen, gewählt zu werden. Die Zeiten desmit amerikanischen Dollars bezahlten Schweigens gegenüber Israel sindin Ägypten zu Ende. In dieser Atmosphäre täte der jüdische Staat gutdaran, sich von einer versöhnlicheren Seite zu zeigen und damit die ver-nünftigen Kräfte im bevölkerungsreichsten und wichtigsten arabischenLand zu stärken.

Mit der Türkei hat Israel den zweiten wichtigen muslimischen Ver-bündeten innert weniger als einem Jahr verloren. Die Istanbuler Publi-zistin Nuray Mert glaubt zwar nicht, dass die türkisch-israelische Suppedereinst so heiss gegessen wird, wie sie Erdogan und Netanyahu ge-kocht haben: «Die Türkei sucht eine Führungsrolle in der Region und

sieht antiisraelische Rhetorik als Schlüssel zur Popularität», sagt sie. «Er-dogan hat nicht verstanden, dass kein nicht-arabisches Land die Regionanführen kann.» Und doch zeigt das selbstbewusste Auftreten des eins -tigen «kranken Mannes am Bosporus»: Der Friede mit Ankara wird Je-rusalem in Zukunft mehr kosten – vor allem Zugeständnisse, die sich imBuhlen um die Gunst der arabischen Strasse in bare Münze umwandelnlassen.

Erst die alte Garde, dann die GrenzzäuneDiplomatie ist wie Schach: berechenbar, solange man die Züge des

Gegners richtig vorwegnimmt. Liegt man daneben, verliert man dieKontrolle. Die Hektik, die Abbas’ Gang vor die UNO in Jerusalem undWashington ausgelöst hat, zeigt: Die dominanten Kräfte im Nahost-konflikt sind auf dem besten Weg, ihren Einfluss auf dem Brett zu ver-spielen. Die westlichen Mächte sehen sich einer erstarkten Türkeigegenüber, die für ihre Politik gegenüber Iran, aber auch Syrien immerwichtiger wird. Dass niemand den aggressiv auftretenden und offen-sichtlich Grenzen auslotenden Erdogan zurückpfiff, spricht Bände.

In Washington sitzt ein Präsident, der sich einst als Brückenbauerfeiern liess und den Friedensnobelpreis auf Vorschuss verliehen bekam.Nun, mehr als zwei Jahre und eine Revolution später, steht er vor derfast unlösbaren Aufgabe, die US-Interessen im neuen Nahen Osten zu si-chern, ohne dabei gegenüber Israel eine härtere Gangart anzuschlagen.

Robert Fisk, der Grand Old Gentleman des Nahostjournalismus, siehtdiese Chance gar bereits vertan: «Die USA können ihren Besitzstand inNahost nicht wahren. Der ‹Friedensprozess›, die ‹Road Map›, die ‹Oslo-Verträge›: Der ganze Tanz ist vorbei.»

Wer die Lücke füllen wird, ist nicht absehbar. Umso wichtiger sinddie unmittelbaren Reaktionen. Und die bieten allen Grund zu Pessi-mismus. Palästinenser, die noch weniger zu verlieren haben als zuvor,sind unberechenbar. Ein schwacher Abbas ist ein guter Abbas für dieHamas. Und ein bedrängtes Israel ist ein gefährliches Israel.

Exponenten der israelischen Rechten haben in einem Brief an Pre-mier Netanyahu dargelegt, wie das Land aus ihrer Sicht auf den Antragvor der UNO reagieren soll: Israel müsse nach dem «einseitigen Schrittder Palästinenser» die – bis anhin als illegal geltenden – Siedlungen an-nektieren. Ansonsten werde Israel «seine Abschreckungskraft verlierenund die Palästinenser zu weiteren Aktionen gegen Israel auf der inter-nationalen Bühne ermutigen».

Dass die Palästinenser einen solchen Schritt ohne weiteres über sichergehen lassen würden, ist unwahrscheinlich. Eine erneute Eskalationmit den Palästinensern wäre jedoch verheerend. Die nächste Intifada istimmer wieder ein Thema. Und viele im Westjordanland sind überzeugt,dass sich der Aufstand diesmal zuerst gegen die eigene alte Garde inRamallah wenden würde, bevor er sich an die Grenzzäune Israels auf-machen würde.

Ein neuer Krieg in Nahost hätte weitreichende Folgen. Er würde demvom eigenen Aufstieg berauschten Erdogan den Weg zurück zu einerversöhnlicheren Politik versperren. Er würde unmittelbar die Entwick-lung in Ägypten beeinflussen, und dies nicht zugunsten der liberalenKräfte. Die Kettenreaktion, die falsch vorhergesehene Züge des Gegnersdann auslösen würden, hätte Konsequenzen weit über den Rand desSchachbretts hinaus. Weiterhin gilt: Der Nahostkonflikt ist die Mutter al-ler Probleme in der Region. Wer den Islamismus eindämmen, wer Ruhein der islamischen Welt schaffen will, muss Frieden zwischen Israel undden Palästinensern schaffen. ■

Palästinenser, die noch weniger zu verlieren habenals zuvor, sind unberechenbar. Und ein bedrängtesIsrael ist ein gefährliches Israel.

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VON DIANA FREI (TEXT) UND NICOLE PONT (BILDER)

Theater Basel, «Wozzeck»-Hauptprobe auf der Grossen Bühne,Abend. Statistinnengarderobe. Ein langer Kleiderständer mit Kostümen.Langer Tisch in der Mitte, darauf ein Koffer mit Stecknadeln und Näh-zeug der Ankleiderin. Auf dem Tisch Ersatzstrümpfe in mit Nachnamenversehenen Plastiksäckchen. Statistinnen, die sich in Bademänteln aufStühlen sitzend unterhalten. Einige ziehen sich um, suchen in BH undUnterhose gekleidet nach ihren Kostümen. Inspizient über den Lautsprecher: «Bis zum Beginn sind es noch 45 Mi-nuten». Eine Statistin: «Es ist ein Witz, dass wir so früh da sein müssen. Dasnächste Mal muss ich ein Buch mitnehmen.» Ankleiderin (in besänftigendem Ton): «Man muss immer ein Buch mit-nehmen. Man nimmt sich die Zeit zu lesen ja sonst oft nicht.»

Auf dem Tisch liegt ein Buch über Max Reinhard, den Theatererneu-erer und Vorreiter des modernen Musiktheaters mit Hang zu grossenStatistenchören. Orchesterklänge sind zu hören. Man geht in die Maske, eine nach deranderen. Flur entlang, Tür auf ins Treppenhaus, Treppe hoch, Tür auf,Gänge, Gegenverkehr: Orchestermusiker, «Hallo! Hello! Guten Abend!»Flur entlang, Einbiegen zur Maske. Warten. Schminken. Flur, Tür auf,Orchestermusiker, Tür zu, Garderobe. Ein Labyrinth scheinbar, aber je-der weiss, wo es langgeht. Eine einzelne Arie über Lautsprecher.

Die Statistinnen spielen Frauen vom Lande, die mit den Männern imWirtshaus sitzen, trinken. «Und nachher gehen wir mit ihnen mit», sagteine von ihnen, sie sind zum Anschaffen gezwungen. Im Unterrock wer-den sie später für die ärztliche Kontrolle imWartezimmer desselben Arztes sitzen, derWozzeck für seine Experimente missbraucht.

«Wir teilen alle die gleiche Begeisterungfürs Theater», sagt Statistin Carmen, 21, «dasverbindet, auch wenn man aus völlig verschiedenen Lebensweltenkommt und in ganz anderen Lebensphasen steckt.» Sie studiert Thea-terwissenschaft und hat ihren Namen von der Oper «Carmen» von Bi-zet, natürlich. Die meisten ihrer Kolleginnen könnten ihre Grossmuttersein – neben Studierenden haben Pensionierte am ehesten Zeit für Pro-ben und Vorstellungen. Auch Hausfrauen sind in der Statisterie vertre-

ten und Berufstätige, wenn sie flexibel genug sind. Jutta, 65, war Che-mieingenieurin, als sie vor mehr als zwei Jahrzehnten als Statistin an-fing. Irène will in der Statisterie ihre Fühler wieder ausstrecken inRichtung Kunst, Musik. Sie ist Cellistin, hat Rhythmik gemacht undBewegungsarbeit. Nach einigen gesundheitlichen Rückschlägen «fühltsie sich wieder topfit» und hat «Lust, wieder Gas zu geben». Heidi hatim Haus Theaterpädagogikkurse besucht und war als Foyerverantwort-liche für die Garderobièren und Platzanweiser zuständig – nun steht sieseit acht Jahren als Teil des Volkes auf der Bühne. Doris kam in den90er-Jahren von einem sechsjährigen USA-Aufenthalt zurück, eineFreundin nahm sie in die Statisterie mit, in die Pufferzone, die den Kul-turschock des Alltags auffangen half. Josephine, 19, das Nesthäkchenhier, will Gesang studieren.

Statistinnen, Chorherren, Solisten – im Theater sind alle per Du. Inder Statisterie sind viele schon seit 25 Jahren dabei, Rosmarie, Char-lotte, Ruth. Und spielen als Rentnerinnen immer mal wieder leichteMädchen.

Zu Animierdamen aufgestiegen«‹Die Hurenformation zum Auftritt›, hat der Inspizient das letzte Mal

eingerufen», sagt Ruth, 70, «man hört das über den Lautsprecher bis indie Kantine. Das war nicht gerade schön.» Statisten dürfen nicht zim-perlich sein. «Wenn dir das Wort ‹Animierdame› schon wehtut, dannmusst du es gleich ganz vergessen», findet sie. Sie selber kann sich zwarmit ihrer schwarzen Perücke im «Wozzeck» «eigentlich auch nicht ab-finden»: «Ich bin ja nicht mehr ich selber. Aber das ist ja Theater, es ge-hört dazu.» Auch Jutta sagt: «Berührungsängste habe ich überhaupt kei-ne. Wir spielen zwar nicht nur zwielichtige Gestalten, eigentlich eher zu

selten. Ich würde fast alles ohne irgendwelche moralischen Vorbehaltespielen. Das bin nicht ich auf der Bühne, sondern ich bin ein Teil der ge-samten Produktion.»

Die Statistinnen und Statisten sind nackte Sklavinnen in «Turandot»genauso wie versunkene Matrosen mit warzenbesetzten Plastikmaskenim «Fliegenden Holländer». Es liegt in der Natur der Sache, dass sie

Sie singen keine Arien und kennen trotzdem etliche Opern in- und auswendig. Sie stehen bei jeder Vorstellungauf der Bühne, tauchen aber in keiner Besetzungsliste auf. Sie warten stundenlang und sind für alles zu haben:Statisten und Statistinnen. Ein Blick hinter die Kulissen.

Theater Das Volk, das donnern hilft

Statisterie, das ist nicht MusicStar. Hier gibt es keine Bus -chauffeusen, die plötzlich Arien schmettern.

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nicht Helden spielen, sondern gewöhnlichesVolk. Säufer, Dirnen, Sklaven, Tote, Festgesell-schaft oder einfach Menschenmasse. Aber siesind die Zahnrädchen, ohne die die Theater-maschinerie nicht laufen würde. Sie werden auch für technische Aufga-ben hinter der Bühne eingesetzt, sie bedienen die «Verfolger» – die ma-nuellen Scheinwerfer, die die Darsteller auf der Bühne verfolgen. Sie ste-hen bei Beleuchtungsproben als Doubles auf der Bühne, bis Technikund Regie die passende Lichtstimmung eingerichtet haben, und über-nehmen die Betreuung von Kinderstatisten.

Georg Büchner hat mit seinem Dramenfragment «Woyzeck», auf demAlban Bergs Opernlibretto basiert, zum ersten Mal überhaupt einen An-gehörigen der Unterschicht ins Zentrum des Geschehens gestellt. «Ichglaub’, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen»,sagt Woyzeck. Im Theater sind es die Statisten, die manchmal donnernhelfen müssen.

Garderobe. Rosmarie steht mit dem Mantel in der Hand am Laut-sprecher und hört der Musik zu. Rosmarie: «Das ist die dritte Szene mit dem Bub. Wenn sie Bum-Bum-Bum singt.»Die Ankleiderin steht mit dem Zeitplan neben ihr. Ankleiderin: «Bei mir steht 21.19 Uhr. Jetzt ist es 21.20. Geht doch schonmal.»Inspizient: «Herr Lawrence zum Auftritt bitte, die Animierdamen bitte…»Alle Statistinnen: «Aaahh! Animierdamen! Wir sind aufgestiegen!»Grosse Bühne, Auftritt Rosmarie.

Eine rabiate Grossmutter (Rosmarie) geht mit ihrem Enkel zum Arzt.Der Bub ist grün und blau, weil er zu Hause geschlagen wird, und auchdie Grossmutter geht nicht zimperlich mit ihm um. Der Arzt untersuchtihn oberflächlich, macht weiter nichts und schickt sie nach Hause. DieGrossmutter sieht, wie Wozzeck vom Arzt bezahlt wird, weil er ihm fürseine Experimente hinhält. Auch sie streckt die Hand hin, um Geld zubekommen, und kriegt natürlich nichts. Abgang. Rosmarie schlägt sich an der Wendeltreppe der Kulisse denKopf an. Hinterbühne.Rosmarie: «Was für eine Hitze.»

Einschlafen auf der HinterbühneEs sei schon so, dass man sich als Statistin selber von einer anderen

Seite kennenlerne, findet Jutta. Rein äusserlich schon: Schülerinnenwerden in ihre ersten High Heels gesteckt, Hausfrauen klimpern mit fal-schen Wimpern, Versicherungsangestellte schlurfen in zu grossen Stie-feln herum. Ruth wurde in den «Soldaten» vom Regisseur aus der hin-tersten Reihe für einen Soloauftritt als Tänzerin herausgepickt. Nicht,dass sie eine tiefere Ahnung vom Tanzen gehabt hätte – aber sie lerntees. Einfach, weil sie der gesuchte Typ war.

«Ich traue mich Sachen zu machen, welche ich normalerweise nietun würde, und ich geniesse sie», sagt auch Jutta, «und das erst noch co-ram publico, vor Leuten, die ich zum Teil kenne. Da ich stark unter Lam-

Statistinnen am Theater Basel: Irène, Carmen, Jutta (von oben links nach unten), Rosmarie, Danielle, Doris, Ruth (rechtes Bild v.l.n.r).

In der Statisterie sind viele schon seit 25 Jahren dabei.Und spielen als Rentnerinnen leichte Mädchen.

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penfieber leide, kommt mir jeder Auftritt wie ein kleiner Sieg über michselber vor.»

Über den Lautsprecher sind die Vorstellungen jeweils im ganzen Hauszu hören. «Bis am Ende einer Produktion kennt man jede Note, das fas-ziniert mich. Ich kenne jede Oper, bei der ich mitgemacht habe, fast aus-wendig», sagt Carmen. Lotti Bürgler rennt bei ihren Lieblingsarien nichtselten aus dem Büro auf die Hinterbühne, um zuzuhören: «Das entschä-digt für alle Momente, die manchmal ein bisschen stressig sind.»

Die schätzungsweise 300 Statisten in der Kartei sind die einzigen Lai-en im Theater, und die Statisteriechefin muss sich auf sie verlassen kön-nen. Wer eine Stunde vor Auftritt nicht im Haus ist, muss anrufen, sonstwird er ersetzt. Lotti Bürgler ist auf Menschenkenntnis angewiesen. «Eskamen schon Neue bei mir ins Büro, da hatte ich das Gefühl: Ich weissnicht. Und sehr oft kamen genau jene nicht an Proben, fehlten bei Vor-stellungen. Manchmal habe ich ein Gespür für Leute – es erschrecktmich fast.»

Statisten müssen warten können. Es kommt vor, dass die Statistenvier Stunden lang zur Bühnenorchesterprobe im Haus sind. Sie kämengegen Schluss irgendwann dran, aber der Dirigent wiederholt eine Stel-le. Und er wiederholt sie. So lange, dass die Statisten um 23 Uhr nachHause gehen, ohne eine Minute im Einsatz gewesen zu sein. Es kommtvor, dass die Statisten alle Proben mitmachen, und nach der Hauptpro-be heisst es dann: «Wir brauchen doch keine Statisten.» Es kommt vor,dass sie beim Warten auf der Hinterbühne einschlafen.

Statisterie, das ist nicht «MusicStar». Es geht nicht um die Hoffnung,entdeckt zu werden. Hier gibt es keine Buschauffeusen, die plötzlichArien schmettern. Werden spezielle Voraussetzungen und Fähigkeiten

verlangt, werden zwar auch Castings gemacht. In solchen Momentenahnt Lotti Bürgler, was Selbstüberschätzung heissen muss. Für «My FairLady» gab es ein Casting. Bedingung: Man muss Walzer tanzen können.«Da war ein Paar, totale Amateure. Man hat ihnen gesagt: Das geht sonicht», sagt die Statisteriechefin, «beim zweiten Mal kreuzten sie wiederauf. Die gleichen zwei, die einfach nicht tanzen können.»

20.35 Uhr. Garderobe. Die Statistinnen sitzen in Kostümen und Ma-ske auf den Stühlen. Jemand isst einen Apfel, andere knabbern Voll-kornkekse.Auftritt Lotti Bürgler.Statistin: «Dürfen wir uns jetzt umziehen?»Lotti: «Nein. Es kann immer sein, dass er plötzlich etwas wiederholenwill.»Statistin: «Falls was ist, sagen wir, du hättest von nichts gewusst. Duhast es nicht erlaubt.»Lotti Bürgler macht ein Handzeichen, das ein bestimmtes Nein andeu-ten soll: «Die Probe dauert ja nur noch zehn Minuten.» ■

Einblick von der Hinterbühne aus: Die Frauen haben sich für die Männer schön gemacht.

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TrauerDie Kunst des AbschiedsZu Allerheiligen werden viele Menschen ihrer verstorbenen Angehörigen und Freunde ge-denken. Für einmal setzen sie sich mit dem Tod auseinander, einem Thema, das in unsererGesellschaft meist verdrängt wird. Doch aus dem Verlust lässt sich auch Kraft schöpfen.

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VON EVA ROSENFELDER

Als Samantha Guerini* die Nachricht erhielt, dass ihr damals 20-jäh-riger Sohn Silvio* Suizid begangen hatte, lag schon eine lange Weg-strecke hinter ihr. Die Pflegefachfrau hat sich bereits Jahre vorher immerwieder mit dem Tod auseinandergesetzt, sterbende Menschen betreutund sich auch mit Sterbebegleitung befasst. Als sie das eigene Kind ver-lor, war ihr die Unterstützung einer einfühlsamen Trauerbegleiterin vonunschätzbarem Wert. «Für mich das Wichtigste und Hilfreichste war die‹Entschleunigung›, welche meine Begleiterin be-wirkte. Sie war es auch, welche die Bestatter da-von abhielt, meinen Sohn sogleich wegzubrin-gen. Sie machte ihnen klar, dass ich von meinemBeruf her gewohnt sei, mit Verstorbenen umzu-gehen, und dass ich meinen Sohn selber waschen und herrichten möch-te.» Die Zeit, die Samantha Guerini so geschenkt wurde, ermöglichte ihr,das unerwartet Geschehene langsam zu erfassen, den Schmerz darüberzu fühlen und ihn ganz langsam anzunehmen. «Wir haben Silvio auf-gebahrt – alle seine Freunde sind gekommen, um von ihm Abschied zunehmen, ihm letzte Zeichen mitzugeben in den Sarg. Es war für uns al-le so beruhigend zu sehen, dass er friedlich aussah.»

In der ersten Nacht nach Silvios Tod hat sie ihren Sohn sehr starkwahrgenommen, sie fühlte seinen Schock: «Was hab ich da nur ge-macht?», schien er zu sagen, und es kam ihr vor, als könne er seinenWeg nicht weitergehen. «Es ist Hilfe da, du musst nur darum bitten»,sagte ihm Samantha Guerini, ein Satz, den sie sich auch für sich selbstimmer und immer wiederholte. Die Trauerbegleiterin ging mit SilviosFreunden in die Aufbahrungshalle, die ihm alle in Gedanken Kraft ga-ben, seinen Weg weiterzugehen. Plötzlich fühlte Samantha, wie etwasaufging, als würde eine dunkle Wand sich öffnen und Licht kommen. Eswar ein heiliger Moment für sie. «Jeder Tod, den ich miterlebt habe, hatetwas Heiliges. Ich denke, oft versagen wir uns diese Gefühle. Wir wei-gern uns, in einen heftigen Schmerz hineinzugehen, und nehmen unsdadurch auch diese heiligen Momente. Heute glaube ich, dass wir nurleben können, wenn wir auch sterben können.»

«Wir sterben, wie wir leben»«Sterben ist ein langer Prozess», sagt Maya Signer, Leiterin der Schule

für Sterbe- und Trauerbegleitung Jemanaja, «in gewissem Sinne beginnter ja auch schon bei der Geburt. Wenn ich auf die Welt komme, sterbe ichin gewisser Weise, lasse ich doch die Geborgenheit des Mutterleibs un-widerruflich hinter mir zurück. Später erleben wir Verluste, Trennungen,Umzüge. In so vielen Situationen gibt es Schwellenerlebnisse, bei denenwir etwas zurücklassen müssen.» Dieses ganz natürliche Verbundenseinmit dem Fluss des Lebens versucht Signer an ihrer Schule zu vermitteln,auch durch Gastdozenten aus verschiedensten Kulturen.

Das Wichtigste bei einer spirituellen Begleitung Sterbender oderTrauernder aber sei es, zu sehen, wo man als Mensch überhaupt selbststehe. Kann der natürliche Prozess, der da geschieht, bejaht werden?Signer hält es dabei für wichtig, Raum zu schaffen für das Geschehen,die Persönlichkeit der Begleitenden bleibe dabei im Hintergrund. «Oftmuss man sich dabei zuerst mit seiner eigenen Angst konfrontieren.Weil der Tod in unserer Kultur sehr verdrängt wird, macht er Angst. Wirsind ja nicht mehr gewohnt, damit umzugehen, wir sehen niemandenmehr sterben, es gibt keine öffentlichen Leichenzüge mehr, Verstorbenewerden normalerweise nicht mehr aufgebahrt.» Der Tod soll möglichstschnell verabschiedet werden. Das erschwert auch das Trauern. Oft neh-men sich die Hinterbliebenen zu wenig Zeit, um ihren Schmerz und dieTraurigkeit zu verarbeiten. Das erschwert das Abschiednehmen.

Im Sterbeprozess verliert man laut Signer alle festen Rollen, jeglicheKontrolle. Es gelte, alles zu verlassen, auch seinen eigenen Körper. Werbin ich? Was bleibt von mir? Warum gerade ich? Warum gerade jetzt?Befasse man sich mit der Vergänglichkeit schon zu Lebzeiten, verlaufe

die Sterbekrise meist weniger heftig, diese aber gelte es zu überwinden,und dabei bleibe keine Zeit für Maskenspiele. «Sterbende können sehrdirekt sein», meint Maya Signer, «doch auch hier gibt es keine Regeln,als Begleiter gilt es, immer wieder hinzuschauen: Was macht Trauer undTod mit mir? Jemanden zu begleiten, berührt oft die eigene Trauer, dieja jeder Mensch irgendwo in sich trägt.» Man solle versuchen, alles insLeben zu nehmen. «Wir sterben, wie wir leben.» So gebe es mancheMenschen, die sich bewusst mit ihrem Leben und Tod auseinanderset-zen möchten, während andere erst bereit seien, das anzuschauen, wenn

es so weit sei. «Für manche ist Verdrängen richtig. Das alles hat seineBerechtigung. Präsent sein und einen Menschen so zu nehmen, wie erist, das heisst für mich Begleitung.»

Der Tod als Quell des LebensFür die meisten Menschen trägt der Tod ein bedrohliches Gesicht,

was oft durch bildliche Darstellung vom Sensemann noch verstärktwird. In Wahrheit ist es nicht der Tod, der uns erstarren lässt, sonderndie Angst vor dem Tod. Sterben ist neben der Geburt unser grösster Pro-zess. Für Maya Signer ist es ein grosses Geschenk, wenn ein Mensch siedaran teilhaben lässt. «Wohl werde ich jedes Mal mit meiner eigenenTrauer konfrontiert, doch wenn ich sie aushalte, kommt auch eine tiefeFreude. In der Stille ist eine unermessliche Lebendigkeit, im Tod einganz starker Quell des Lebens.»

Auch Samantha Guerini hat diese Erfahrung gemacht. «So tragischder Tod meines Sohnes ist, so sehr ich ihn immer wieder vermisse, oftfühle ich so viel Leichtigkeit, Kraft und Humor von ihm. Manchmalstärkt er mir auch den Rücken, wenn ich zweifle.» Ganz unverhofft füh-le sie dann seine Präsenz und er spreche mit ihr in seiner gewohnt läs-sigen Art und voller Heiterkeit: «Hey, Mutter, geh vorwärts...!» Für dieMutter ist es nicht immer ganz einfach, diese Art von geistigem Ge-spräch mit Silvio zuzulassen: «Manchmal ist es sogar, als würde ichmich verschliessen, weil mir die Kraft oft noch fehlt, mich mit demSchmerz zu konfrontieren, den diese intensive Begegnung im Nachhin-ein auslöst. Ich muss das alles dann auch wieder auf den Boden der Re-alität bringen können, wo ja auch noch mein ganzer Schmerz ist, denich nur in kleinen Schritten verarbeiten kann. Nicht immer kann ichmich in diese Tiefen begeben.»

Wir leben in einer Zeit, in der viele Leute nicht mehr mit der Kircheverbunden sind. Die Folge davon ist das Fehlen von Ritualen, die aberganz wesentlich sind, wenn der Schmerz eines endgültigen Abschiedsauf die Seele einstürmt. Samantha Guerini wusste auf Anhieb, dass fürihren unangepassten, «wilden» Sohn keine normale Abdankung infragekam, auch kein Begräbnis auf einem Friedhof. «Auch hier gab mir mei-ne Begleiterin immer wieder Rückhalt und das Gefühl, dass wir Zeit hät-ten, uns alles in Ruhe zu überlegen. Wir fanden eine unkonventionellePfarrerin, die stimmige Worte sprach. Wir trafen uns am Fluss, wo wirein Feuer entzündeten, Freunde spielten Musik, alle Trauernden legtenein Holz ins Feuer mit ihren Gedanken für Silvio. Begleitet von bren-nenden Kerzen, streuten wir einen Teil von Silvios Asche in den Fluss.Den anderen Teil werden wir, wenn wir innerlich bereit sind, in seinegeliebten Wälder ins Tessin bringen, wo er mit Freunden tagelang in derWildnis gelebt hat.» Samantha Guerini fühlte sich getragen in einemNetz vieler Menschen. «Am meisten aber hat mir geholfen, in diesemProzess meine Zeit zu haben und die Zeit, die wir alle brauchten, umauf unsere Art von ihm Abschied zu nehmen. Das Achten, Respektierenund Wachsamsein meiner Begleiterin war ein grosses Geschenk.» ■

* Name geändert

«Weil der Tod in unserer Kultur verdrängt wird,macht er Angst.»

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2000-Watt-GesellschaftGrüner Wohnen«2000-Watt-Häuser» sind nicht nur mit ressourcenschonender Technik bestückt. Ihre Besitzerhalten die Mieter auch zu ökologischem Verhalten an – eine Selbstverständlichkeit für die ei-nen, Diktatur für die anderen. Ein Hausbesuch.

VON STEFAN MICHEL (TEXT) UND ANDREA GANZ (BILDER)

Das Haus fällt auf, auf den zweiten Blick. Von weitem möchte manArchitekt Raphael Frei noch zustimmen, der sagt: «Es passt sich denumliegenden Häusern mit ihren Erkern und Zinnen an.» Dann sieht manetwas genauer hin. Der beige Bau mit den goldenen Fensterrahmenscheint aus Wellkartonschachteln gestapelt. Und dann das: «Die Be-wohnerinnen und Bewohner dieses Hauses verpflichten sich, ihren ge-samten stetigen Energieverbrauch auf maximal 2000 Watt pro Jahr zureduzieren. Bei Vertragsbruch hat der Rest der Welt Anspruch auf Aus-

gleich oder Schadenersatz.» Dieser Vertrag prangt an der Fassade.«Schrecklich», findet Käthi Grieder, die wie Architekt Frei zu den in diePflicht genommenen Bewohnerinnen und Bewohnern zählt. «Die Typo-grafie ist schlecht, und wer sich nicht an den Vertrag hält, hat nichts zubefürchten.»

Dass die prominent platzierte Vereinbarung nur symbolischen Werthat, bestätigt auch Rolf Hefti von der Baugenossenschaft Zurlinden. Die-se hat das Wohnhaus mitten in Zürich bauen lassen, getrimmt auf dieZiele der 2000-Watt-Gesellschaft. «Das ist Kunst am Bau», erklärt er,«kontrollieren kann die Öffentlichkeit den Energieverbrauch der Bewoh-

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ner natürlich nicht.» Doch der Baugenossenschaft ist es durchaus ernstmit dem Schonen der Ressourcen. Wer in das Haus unweit des Albis-riederplatzes einzog, unterschrieb das genannte – symbolische – Ab-kommen als Zusatz zum Mietvertrag.

Für Käthi Grieder ist das überflüssig, weil sie, so lange sie sich erin-nern könne, darauf achte, die Umwelt möglichst wenig zu belasten.Doch sie relativiert ihre Kritik: «Das ist Klagen auf hohem Niveau. DieWohnung ist toll und die Umgebung gefällt mir.» Wie sich der Appell aufdas Verhalten aller Bewohner des Hauses auswirkt, ist nicht entschei-dend. Dank der Bauweise und der Haustechnik kommen alle quasiautomatisch mit weniger Energie aus. Anders gesagt: Bei gleicher Le-bensweise verbraucht man weniger Energie und produziert wenigerEmissionen als in einem weniger effizienten Haus. Niemand hinderteinen jedoch daran, täglich ein Vollbad zu nehmen, bei Dauerlüftungzu heizen oder elektrische Apparate permanent laufen zu lassen.

«2000-Watt-Haus» haben die Medien das Gebäude an der Badener-strasse 378/380 getauft. Das ist etwas irreführend, da sich diese Ener-giemenge auf Menschen bezieht und nicht aufBauwerke. 2000 Watt pro Person und Jahr, sohaben ETH-Wissenschaftler errechnet, ist derVerbrauch, der die natürlichen Ressourcenlangfristig erhält oder – plakativer formuliert –den Planeten im Gleichgewicht belässt. Die Bevölkerung der Stadt Zü-rich hat sich 2008 per Volksentscheid verpflichtet, bis 2050 eine 2000-Watt-Gesellschaft zu werden. Aktuell liegt der durchschnittliche Ener-gieverbrauch der Schweizerinnen und Schweizer bei mehr als 6000 Wattpro Jahr.

Der Parkplatz als BürgerrechtEinen nicht unwesentlichen Anteil daran hat die sogenannte graue

Energie, die für Herstellung, Transport, Lagerung, Verkauf und Entsor-gung von Produkten benötigt wird. Dazu zählt auch der Bau der Häu-ser, in denen wir leben. Der Wohnkomplex an der Badenerstrasse be-steht zum grössten Teil aus Fertigelementen aus Holz. Der Rohstoffwuchs in der Umgebung von Zürich. Vom Material über die Transportebis zur nötigen Bauzeit achtete die Bauherrschaft darauf, dass Emis-sionen reduziert und Energie gespart wurde. Um die gute Absicht mitZahlen zu belegen, liessen die Verantwortlichen den künftigen Ener-gieverbrauch der Bewohner hochrechnen. Die graue Energie des Wohn-hauses (inklusive dessen Abbruch in ferner Zukunft) floss ebenso in dieKalkulation ein wie die zu erwartende Mobilität der Mieter. ZwischenAlbisriederplatz und Stadion Letzigrund gelegen, ist das Gebiet vomöffentlichen Verkehr bestens erschlossen. Die 35 Parkplätze für die 54Wohnungen entsprechen dem vorgeschriebenen Minimum im Verhält-nis zur Wohnfläche. Das Resultat: Das Gebäude erfüllt die Zielwerte,welche für das Erreichen der 2000-Watt-Gesellschaft nötig sind. Berech-net hat das ein auf Nachhaltigkeitsfragen spezialisiertes Architekturbü-ro in Zürich.

Mietern eine umweltfreundliche Lebensweise nahezulegen, das mageinigen als Schritt in die richtige Richtung erscheinen. Aber nicht allen.Eine «Ostblockmentalität» erkennen rechte Kreise im ökologischen Woh-nungsbau. Der Begriff stammt vom Zürcher SVP-Gemeinderat Bernhardim Oberdorf. Für ihn steht fest, dass die Menschen in solchen Häuserngezwungen werden, grüne Ideale zu befolgen; inklusive Denunzianten-tum bei Verstoss. Hintergrund dieser Aussage ist ein weiterer Entscheidder Stadtzürcher Stimmbevölkerung: Sie reduzierte die vorgeschriebeneMindestzahl an Parkplätzen pro Wohnfläche und erhöhte jene der Velo-abstellplätze. Wo die öffentlichen Verkehrsanschlüsse gut sind, darfgänzlich auf Autoparkflächen verzichtet werden. Bereits ist die Wohn-überbauung Kalkbreite an zentraler Lage mit gerade mal zwei Behinder-tenparkplätzen bewilligt worden – bei 88 Wohnungen.

Die Zürcher Sektionen von Gewerbeverband, Autoclub der Schweiz,Hauseigentümerverband und die Zürcher City-Vereinigung bekämpfen

die angenommene Parkplatzvorlage der Stadt Zürich mit einer Be-schwerde. Sie sehen übergeordnetes Recht verletzt und wollen den Weg-fall von Parkplätzen in der Stadt nicht hinnehmen. Freie Parkplätze fürfreie Bürger, sozusagen.

Heizen mit Abwärme der MigrosNach kommunistischer Verknappung sieht die zweistöckige Vier-Zim-

mer-Wohnung nicht aus, die Raphael Frei zusammen mit seiner Lebens-partnerin bewohnt. Auf zwei Seiten lassen raumhohe Fenster viel Lichtherein, Parkett und gestrichene Tapete vermitteln einen Hauch von Alt-bau. Neben den Fenstern befinden sich diskrete Holzgitter – Raumlüfter,die Frischluft einströmen lassen, ohne dass die Fenster auf die verkehrs-reiche Strasse hinaus geöffnet werden müssen. Geheizt wird unter ande-rem mit der Abwärme der Migros im Parterre. Oft reicht die Sonne, diedurch die grossen, südseitigen Fenster wärmt. Frei berichtet: «Im Febru-ar, als es relativ warm war und oft die Sonne schien, wurde uns selbstbei ausgeschalteter Heizung zeitweise zu warm in der Wohnung.»

Über 40 Prozent der Haushalte in den grössten Städten der Schweizhaben kein Auto. Die Abstellplätze im Parkhaus unter der Badener-strasse 378 und 380 sind alle an Leute vermietet, die dort wohnen. «Dassin der Stadt immer mehr aufs Auto verzichten, beobachten wir nicht»,erklärt Rolf Hefti. Dennoch baut die Baugenossenschaft Zurlinden in Zü-rich-Leimbach eine autofreie Siedlung. Deren Mieter werden sich ver-pflichten, keinen Wagen zu besitzen. Dafür erhalten sie ein Abonne-ment für den öffentlichen Verkehr im ganzen Kanton Zürich. Zudemwerden den 140 Haushalten zwei Car-Sharing-Autos zur Verfügung ste-hen. Bereits bewohnt ist die autofreie Siedlung Burgunder in Bern Büm-pliz – dank einer Ausnahmeregelung, denn auch in Bern gilt eine ge-setzliche Mindestanzahl Parkplätze für jedes Wohnhaus. Die Mietendender Siedlung Burgunder haben unterschrieben, auf ein eigenes Auto zuverzichten. Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät betontegegenüber dem Schweizer Fernsehen: «Wenn sich herausstellen sollte,dass der Vermieter den Verzicht aufs Auto nicht durchsetzt, werden wirverlangen, dass er die Parkplätze nachbaut.»

An der Badenerstrasse muss niemand aufs Auto verzichten. ImGegenteil. Die ressourcenschonende Bauweise gibt ihnen gewissermas-sen einen Startvorteil, brauchen sie doch fürs Wohnen wesentlich we-

Der durchschnittliche Energieverbrauch der Schweizerliegt bei mehr als 6000 Watt pro Jahr.

Durch die diskreten Holzgitter strömt Frischluft.

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niger Energie als die Mehrheit. Ein Freipass fürIntensivautofahrer und Vielflieger ist das aller-dings nicht. Raphael Frei hat seinen persön-lichen Energieverbrauch mithilfe eines Online-rechners abgeklärt. «Ich kam auf etwas unter4000 Watt. Dann begann ich Werte einzugeben, nach denen ich micheinschränken müsste. Was ich auch tat, ich kam nicht unter 3000 Watt.»2000 Watt pro Person sind ein langfristiges Ziel. Um es zu erreichen,sind wesentliche technische Fortschritte und wohl auch Verzicht auf ge-wisse Annehmlichkeiten nötig. Das Paul Scherrer Institut bezeichnet3500 Watt pro Jahr als den tiefsten realistischen Wert. Weniger sei nurmit deutlichen Komforteinbussen zu erreichen.

Mehr Wohnraum pro PersonEin anderer ökologisch ungünstiger Trend macht auch vor dem vor-

bildlichen Wohnhaus an der Badenerstrasse nicht Halt: Die Wohnflächepro Person steigt. Mehr Raum heisst mehr Heizenergie, mehr Beleuch-tung, mehr elektrische Apparate. Nicht zuletzt bedeuten grössere Wohn-flächen mehr verbauten Boden. Begnügten sich die Schweizerinnen undSchweizer nach Angaben des Bundesamtes für Statistik 1980 noch mit34 Quadratmetern pro Person, waren es 2000 schon deren 44. NeuereWerte liegen noch nicht vor. Hält das Wachstum an – und davon ist an-gesichts des Bodenverbrauchs auszugehen –, dann liegen Raphael Freiund seine Lebenspartnerin im aktuellen Schnitt: Ihre Vierzimmerwoh-nung misst 98 Quadratmeter. Bescheidener ist Käthi Grieder, die sich mit

ihrer Partnerin drei Zimmer und gut 80 Quadratmeter teilt. Sie leben so-zusagen in den Neunzigern.

Wie steht es denn nun mit dem prophezeiten tiefen Energieverbrauchan der Badenerstrasse? Die Mieterinnen und Mieter sind erst im Mai2010 eingezogen, es ist also noch sehr früh für ein Fazit. Die Genossen-schaft hat soeben die Nebenkosten für das erste Jahr abgerechnet. Hef-ti erklärt nicht ohne Stolz: «Obwohl wir die Nebenkostenakonti deutlichunter dem Durchschnitt angesetzt haben, müssen wir unseren Mieterneinen wesentlichen Teil zurückzahlen.» Konkret: Im Schnitt bezahlendie Mieter einer Vierzimmerwohnung im ersten Jahr 650 Franken fürHeizung, Kalt- und Warmwasser sowie die Fensterreinigung auf derStrassenseite. Zum Vergleich: In einer anderen, gut zehnjährigen Über-bauung der Baugenossenschaft Zurlinden werden in einer gleich gros-sen Wohnung jährlich alleine fürs Heizen 1300 Franken fällig.

Gegen tiefere Heizkosten hat ausser den Ölverkäufern wohl niemandetwas. Aber natürlich belasten einige lieber die Umwelt stärker, als sichbevormunden zu lassen. Öko-Wohnhäuser sind für sie Feindesland. Undes gibt die anderen, die genau so leben wollen – es sind mehr, als dieWohnungen aufnehmen können, die in den nächsten Jahren gebautwerden. Auch das könnte man Ostblock nennen. ■

Rechte Kreise erkennen im ökologischenWohnungsbau eine «Ostblockmentalität».

Raumhohe Fenster, ein Hauch von Altbau: Raphael Frei wohnt zweistöckig. Der Vertrag als Kunst am Bau – die Mieter haben ihn aber unterschrieben.

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VON DOROTHEE ELMIGER

Wem gehören diese Berge? Mein Bruder sagt, dabei handle es sich janur um aufgeschobenes Gestein. Der Vogel pfeift: die alte Leier. UndFranz Abdu? Er sitzt in einem Sessel und schläft. Das ist der Schlaf desDichters!, flüstert da jemand, er denkt jetzt wohl an die Winde hier andiesem Ort, denkt an Flussfahrten, an Saumpfade, an Dichtung undWahrheit, an Schall und Krawall, die Verzweigungen der Täler, das Rau-schen der Autobahn, an die Zeit und die Mühsal der Menschen: Was istjetzt aus ihnen geworden? Woran ein Dichter so denkt in seinem Schlaf,flüstert da jemand.

Als er aufwachte, sprach Franz Abdu von einer längeren Wanderung,im Schlaf sei ihm der Gedanke gekommen von einer landeskundlichenReise, auf die er sich nun zu begeben gedenke. Die Flüsse als Verkehrs-netz, schlug ich vor. Der Boxer Michael Ibo Sperberbaechel stand beimFenster mit dem schweigsamen Vogel auf seiner Schulter und schlugstattdessen eine Überquerung der Pässe vor. Ja!, rief mein Bruder, diePässe sind sehr naheliegend! Pass wie in Passage, notierte Franz Abdu.

Michael Ibo Sperberbaechel schob das Auto leicht an, der berühmteTrompeter Hans-Peter Finsterhaus stand daneben auf dem Trottoir undblies ein leises fare well, darüber des Boxers Vogeltier.

Wir sind also über den Pass gefahren. Es war ein Schweizer Pass, erunterschied die Schweiz von Italien, das eine von dem anderen Land.Einmal vorwärts sind wir über den Pass gefahren und dann wieder zu-rück. Die Vögel pfiffen hell begeistert aus ihren Verstecken. Einige Bäu-me neigten ihre Wipfel, nickten, ja ja, sie hatten sich ihre Ruhe bewahrt.Auf dem Rücksitz Franz Abdu, Marie-Louise Ach und Marion Jacobo, ne-ben mir mein Bruder, der schlief. Und wir fuhren, wir fuhren, wir fuhrenzusammen über den Pass, unmerklich: Es passierte nichts. Es wehte keineinziger Wind, ein paar Tiere gingen in der Ferne.

Franz Abdu las auf dem Rücksitz ein Gedicht zur Feier des Tages.Über die Bedeutung des Schweizer Passes, heisst es – so sagte er und sei-ne Stimme zitterte ein wenig, als er merkte, dass wir alle feierlich lausch-ten. Das Gedicht war lang und es wurde deutlich, dass Franz Abdu die-se Fahrt sehr ernst genommen und von allen Seiten beleuchtet hatte. Esendete mit der Frage, ob die Schweizer Pässe verschwinden würden, füh-re man nur lange genug immer wieder darüber hinweg. Aber, sagte Franzdann noch, das Gedicht hätte genauso gut den Titel Bezweiflung derSchweizer Pässe tragen können. Verzweiflung, sagte Marie-Louise.

Es gibt Täler, die sich immer weiter verzweigen, wisst ihr das? Sehtihr die Fabriken am Rande des Flusses stehen? Glaubt ihr eigentlich, dasshier früher die Postkutschen fuhren? Ist das der Eingang zur Alpenfes -tung? Könnte man hier leben? Wie heisst das kleinste Tier, das sich vonFleisch ernährt? Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann? Wem gehörendiese Berge? Mein Bruder sagt, dabei handle es sich ja nur um aufge-schobenes Gestein.

Auf dem Parkplatz beim Aussichtspunkt sassen wir lange Zeit still imAuto. Es hing eine kleine Schweizer Fahne reglos an der Stange. Fastschliefen wir ein, ruhig wie die Bäume, hatten wir keine Angst.

Ein Passant kam einmal vorbei und rief uns zu: Ist er nicht schön, die-ser Pass? Seht ihr, wie die heimatliche Strasse sich windet? Seht ihr dieGämsen, die flanieren?

KurzgeschichteÜber den Pass

Zur Person: Dorothee Elmiger wurde 1985 in Wetzikon ge-boren und wuchs in Appenzell auf. Sie lebtheute in Berlin und in der Schweiz. Ihr erstesBuch «Einladung an die Waghalsigen», das2010 erschien, wurde mehrfach ausgezeichnet.

Mein Bruder, der von dem Lärm aufgewacht war, drehte das Fensterherunter und rief zurück, einige von uns hätten mit eigenen Augen nochnie einen Schweizer Pass gesehen.

Der Mann rief, ja, das sei bedauerlich, aber nicht allen vergönnt, aucher hätte ausländische Freunde. Aber wie stellen Sie sich das vor, rief erweiter, die Strassen wären sofort überlastet, wir blieben auf der Strecke,auf der Strecke, kämen nirgends mehr hin, sässen fest in unseren Fahr-zeugen, die Gämsen machten sich aus dem Staub und die Steinböckeauch. Ja, die Steinböcke, rief er zum Schluss noch, ein gutes Beispiel! Sieseien nämlich unbedingt zu schützen, ja, die Steinböcke hätten nämlichauch schon bessere Zeiten gesehen und es gäbe doch in diesem Land ei-ne Tradition der Hilfestellung. Aber eben, den Steinböcken würde esauch nicht helfen, wenn immer mehr Leute über diese Pässe führen oderwomöglich sogar kurzerhand die Alpen überquerten auf eigene Faustund so durch das ganz natürliche Habitat der Tiere marschierten.

Franz Abdu machte sich auf dem Rücksitz Notizen und mein Brudersagte, das Wandern sei des Müllers Lust.

Was er sich denn da immer aufschreibe, der auf dem Rücksitz, rief derPassant schliesslich noch über den Parkplatz.

Mein Bruder hub schon an zu einer Antwort, da legte ihm Franz dieHand auf die Schulter und stieg aus, er blätterte in seinem Notizheft undlas laut vor: Ich kam aus einer Waldstätte. Es trug mich ein Windstoss aus dem Fenster der Charité.In Dakar betrat eine schwangere Frau das Spital (Hôpital Principal).Oder war es doch am Mittelmeer, wo ich der Mutter entwischte. Es gibt ein Tal, ’s heisst: Elendstal,wer weiss, wer weiss wo. Und ich ziehe mit dem Wetter und den besten Absichten,einmal war alles terra continens, jetzt hab ich längst mehr als drei Staaten durchschritten,oha!,wer weiss, wer weiss wound die Vögel, sie sind doch meist unterwegs.

Wir sassen da und betrachteten die Wechsel des Lichts auf dem Pass.Mein Bruder war wieder eingeschlafen, sein Schlaf war tief. Kaum Ge-räusche mehr: Wir hatten es über diesen Schweizer Pass geschafft unddie Ruhe bewahrt, aber heimlich erwarteten wir ein Gewitter. Wir stu-dierten die Bäume an dieser Stelle der Strasse und ich schlug vor, sie Pi-nien zu nennen. Zedern, sagte Marion mit leiser Stimme, um den Brudernicht zu wecken, und Weiden. Zypressen, sagte Marie-Louise noch,Maulbeerbäume, rief Franz, kurz vor dem ersten Regen, Blitz und Don-ner. Und dann schwiegen wir, als der Wind aufkam, als die Bäume nundoch noch die Ruhe verloren und wir mit ihnen. ■

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nur ein Croissant?», nicke ich. «Kein Croissant – ich weiss nicht, was ich machen soll!»

«Du könntest vielleicht ein paar Hausfrauenanfragen?», denke ich nach. «Dann legen allezusammen und päppeln dein Baby auf, bis esgross und stark ist. Das nennst du dann ‹mitsoliden Erfahrungswerten handeln› oder so.Könnte attraktiv sein!» «Meinst du, sowasgeht?», schöpft Nina wieder Hoffnung. «Undwenn wir das machen, haben wir dann diesenReturn?» «Hast du ein Milchbüchlein?», grinseich. «Vielleicht nehme ich doch einen Kaffee.»

Eine halbe Stunde später in der Papeterie.«Wer ist dieser Freddy überhaupt?», will Ninawissen. «Ich lüfte, er huscht ins Wohnzimmer!Ist doch ein No-Go, oder!», bin ich rapido amAnschlag. «Redest du von diesem Igel», grinstNina endlich zum ersten Mal. «Und ich dachteschon, ich bin der Loser.»

DELIA LENOIR

[email protected]

ILLUSTRATION: IRENE MEIER

([email protected])

Kürzlich samstags im Café. «Keine Ahnungwie ich das Freddy beibringen soll», wedle ichmit einer Zeitung vor mich hin. «Du meinst,dass er aufhören muss, in deinem Wohnzim-mer rumzuhängen?», stiert meine Jugend-freundin Nina in ihren Kaffee. «Ist doch ein to-tales No-Go, oder?» «Nein, ein totales No-Goist, dass keiner mein Projekt kaufen will!»«Versteh ich nicht», bin ich ehrlich überrascht.«Seit wann machst du denn auf Loser?»

«Dabei ist es ein wunderbares Projekt! Fürdie Alten und Kranken und deren Angehöri-ge!», regt sich Nina auf Knopfdruck auf. «EineEntlastung für unser Sozialsystem!» «Klingtdoch gut», nicke ich mit, damit der Kaffee aufdem Tisch bleibt. «Und wo ist das Problem?Sterben die Kunden weg, bevor sie zahlen kön-nen?» «Überhaupt nicht! Es macht nur nichtriesig viel Profit!… Scheisse! Dabei stimmen

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Le mot noirSolider Return

die Zahlen, nichts gefälscht, das Projekt ist ge-sund, aber will es einer haben? Nein!» «Viel-leicht liegt da das Problem», wage ich michlangsam vor. «Du bist zu ehrlich und zu gut?»«Ich klaue hier manchmal die Zeitung», zischtNina den Tränen nah über den Tisch. «Okay,das ist ein bisschen daneben», gebe ich zu.

«Und wenn du dir abguckst, wie andere so-was machen? Die Banken zum Beispiel. Dawird Profit sogar verzockt, und trotzdem rei-tet keiner auf ‹sozial› herum. Wäre vielleichteine Idee?» Aber Nina rührt weiter in ihremKaffee. «Ich werde schon ein Grounding nieverstehn», brütet sie. «Ich meine, kennst dueine Hausfrau, die ein paar Milliarden Minuslocker in ihrem Milchbüchlein verbucht?»«Nein», grinse ich. «Aber wenn die dann sagt,‹Hey, wir sind ein bisschen knapp, tretet malauf die Bremse!, heisst es, sie versteht den Re-turn nicht. Oder sie sabotiere den Buben-traum!»

«Soziales Prestige ist heute nichts mehrwert», heult Nina jetzt wütend in ihren Kaffee.«Dabei kittet das doch die Gesellschaft!» «Undwenn dus einfach umdrehst?», überlege ichvor mich hin. «Der Mörtel dem Backstein sagt,wo er hingebaut wird?» «Kannst du mit deinenMetaphern warten, bis das Projekt in gutenHänden ist?», schüttelt Nina nur den Kopf.«Okay, dann vielleicht noch einen Kaffee?»«Das Projekt hat wirklich Zukunft!», heult Ni-na weiter. «Und das für alle, meine ich!» «Oder

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CulturescapesKulturlandschaften

VON FABIENNE SCHMUKI

Macht Kultur das Land? Oder macht das Land Kultur? Und wie wür-de wohl die Landkarte einer Kulturlandschaft aussehen? «Ich suchenach einer Wurzel, warum es Kunst und Kultur braucht», sagt der Initi-ator und Festivaldirektor von Culturescapes, Jurriaan Cooiman. Keineeinfache Aufgabe. Culturescapes nimmt dafür seit 2003 jedes Jahr einLand unter die Lupe.

«Ursprünglich wollte ich ein Musikfestival in der Schweiz durchfüh-ren, mit dem Schwerpunkt: Was ist das kreative Milieu um Musik he-rum zu dem Zeitpunkt, in dem sie entsteht?», blickt Cooiman zurück.Aus dem Musikfestival ist ein spartenübergreifendes Kulturfestival ent-standen: In 27 Schweizer Städten finden dieses Jahr über 40 Veranstal-tungen aus den Disziplinen Musik, Kunst, Theater, Film, Tanz und Lite-ratur statt. Das Gastland heisst Israel.

Die israelischen Produktionen sind stark geprägt von der Geschichtedes Landes mitsamt seinen Traumata. Für Israel hat sich Cooiman ent-schieden, weil er bei seinen Reisen dorthin feststellte, unter welchemDruck in diesem Land die Kultur entsteht. «Dieser Druck ist im ganzenLand spürbar – es gibt keine definierten Grenzen, das Land besteht ausHunderten von Nationen, aus einer langen Geschichte von Zuwande-rung, unter einer wahnsinnigen Kluft zwischen Reich und Arm, unterder Utopie von Einheit und Sozialismus», erläutert Cooiman seine Wahl.Und was macht die Kunst mit diesen Landeseigenheiten? Der Fes -tivalleiter sei auf drei Muster gestossen, wie israelische Künstler mit derGeschichte ihres Landes umgehen: Die einen laufen weg vom Thema,andere instrumentalisieren es. Und Dritte versuchen, das Geschehene zuverarbeiten. Letztere gehören zu den Künstlern, die den thematischenSchwerpunkt von Culturescapes bilden. Diejenigen, die ihren Rucksackmit dabeihaben. Und hierin liegt für Cooiman auch ein Teil der Antwort,wo die Wurzel von Kunst und Kultur zu finden ist: in der Verarbeitungvon Geschehenem. Die Kultur als Spiegel der Gesellschaft.

Die Opla Companya und Daniel Landau beispielsweise geben in «re-side 1.1 – Jessy Cohen» Einblicke in ihren Rucksack: Sie kombinierenLive-Performance und Dokumentarfilm und thematisieren dabei Bezie-hungen zwischen Migranten und der Gesellschaft, in welche sie ein-wandern. Jessy Cohen heisst ein Migrantenquartier in Holon bei TelAviv. Viele soziale Konflikte Israels bilden sich in Jessy Cohen ab, weilneue Einwanderer Tür an Tür mit Migrationsveteranen in einer ange-spannten Realität leben.

Eine ganz andere Form der Verarbeitung hat Yasmeen Godder ge-wählt: In ihrer Tanzvorführung «Storm End Come» geht es um eine Ge-fühlswelt, um persönliche Antworten der Tänzer und Tänzerinnen auf

die Frage nach ihrer Identität vor einer sozialen Ordnung. Das Zuckenund Zittern der tanzenden Körper zeigt den Überfluss an Energie, dienach draussen will. Die innere Unrast einer Person, einer Generationwird verbildlicht.

Erstmals findet 2011 auch eine «Gegenveranstaltung» im Gastlandstatt. Die Swiss Season, die von Oktober bis November dauert, bringt 35Schweizer Kulturveranstaltungen nach Israel. Darin werden wenigerlandesspezifische Konflikte thematisiert als vielmehr europäische The-men in den Fokus gestellt. Ziel der Swiss Season sei der «interkulturelleAustausch», so schreibt Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey, die2011 das Patronat für das Festival übernommen hat, in ihrem Grusswort.«Die Swiss Season erlaubt Schweizer Künstlern, Partnerschaften mit is-raelischen Künstlern zu schliessen, und es ergeben sich Einblicke in an-dere Gesellschaftskulturen», erläutert Cooiman. Spielt man damit viel-leicht auch auf eine fehlende Weltoffenheit der Schweizer Bevölkerungan? Das Bild sei vielleicht etwas naiv, meint Cooiman weiter, aber wennwir uns alle mehr herauswagen würden, in alle Richtungen, dann könn-te man das Zusammenleben grenzübergreifend besser gestalten. Einfortschrittlicher Gedanke, und auch mutig. Aber, so Cooiman: «Kulturdarf das wagen.» ■

Culturescapes, noch bis Ende November in Basel, Bern, St. Gallen, Zürich und an-

deren Orten in der Schweiz.

www.culturescapes.ch

Menschen, die zucken und zittern: «Storm End Come» von Yasmeen Godder.

Israel ist das diesjährige Gastland des Kulturfestivals Culturescapes. In Musik, Theater, Film und etlichen an-deren Kunstdisziplinen bildet sich die Gesellschaft des Landes ab. Und wird hörbar, sichtbar, begreifbar.

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Kulturtipps

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BuchKlangkarte einer Stadt

Neunmal ist Rafik Schami erzählend um die Erde gereist. Nun er-innert sich der 65-Jährige, wie er zum Erzähler wurde.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

2321 Lesungen und 362723 Reisekilometer sind es gewesen, wie RafikSchami dank seiner Steuerberaterin weiss. Zeit für ihn, um zurückzu-blicken und über die prägenden Erlebnisse zu schreiben, die ihn dazugebracht haben, einen scheinbar wahnsinnigen Schritt zu tun: eine si-chere, hochdotierte Stelle als Chemiker aufzugeben und den unsicherenBeruf des Erzählers zu ergreifen. Und das in einer fremden Sprache!Geboren in Syrien als Suheil Fadél, nannte er sich, um seine Familie zuschützen, nach seiner Flucht ins ferne Deutschland Rafik Schami: Da-maszener Freund. Seiner Heimatstadt blieb er verbunden, auch wenn erseit 40 Jahren nicht mehr dort war und nicht nur in Damaskus unwill-kommen ist – in politischen nicht weniger als in akademischen Schrift-stellerkreisen. Die Stadt, die in seinen Erzählungen lebendig wird, istimmer auch bedrohte Vergangenheit – nicht zuletzt, weil die arabischeKultur sehr wortbetont ist.Schamis Erzählkunst wurzelt in der mündlichen Überlieferung. Er sel-ber sieht sich als Nachfolger der arabischen Geschichtenerzähler. Seltenliest er aus seinen Büchern vor, in der Regel erzählt er frei. Dass er sei-nen Werdegang nun schriftlich festhält, ist ein notwendiger Wider-spruch.Und so erzählt er von seinem Grossvater, der den Siebenjährigen aufden Flohmarkt mitnimmt, wo eine Frau ihren schweigsamen Mann ver-kauft – weshalb sich der junge Schami schwört, den Frauen Geschich-ten zu erzählen, damit sie ihn nie verkaufen. Oder von den Geschichtenaus 1001 Nacht, die im syrischen Radio gelesen werden und ihn die Kraftder Märchen spüren lassen. Das Damaskus seiner Kindheit ist von denGeschichten und den Düften des Orients erfüllt, der Strassenplan eineKlang- und Duftkarte der Stadt.Daneben finden sich auch ein lesenswerter Essay über Märchen und derAbdruck der Rede zur Brüder-Grimm-Professur an der Uni Kassel. Dasist mitunter recht anspruchsvoll, aber es gelingt Schami, der Theorie dasSperrige zu nehmen, indem er sie fliessend ins Fantastische übergehenlässt. Wie selbstverständlich tritt etwa Don Quijote auf, um ihn, gegenalle Kritik, in seiner Lebensmission zu bestärken. Denn «Erzählengleicht dem Leben, Schweigen dem Tod».Rafik Schami: «Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte.

Oder wie ich zum Erzähler wurde.» Hanser 2011, 25.90 CHF.

DVDMagie und Zeichentrick

Sylvain Chomet, der Macher von «Les Triplettes de Belleville»,adaptierte für «L’Illusioniste» ein Script von Jacques Tati: die Ge-schichte eines Magiers und eines Mädchens. Und vom Verfliegendes Zaubers.

VON NILS KELLER

Der titelgebende Magier ist ein alternder Gentleman, der Ende der 50er-Jahre gezwungen ist, die grosse Bühne für Rock’n’Roll-Bands freizu-machen. So landet der Franzose schliesslich in einem Kaff an der schot-tischen Küste. Sein Auftritt zur Feier des frisch gelegten Stromanschlussesverzückt das jugendliche Mädchen Alice. Er lässt aus dem Nichts – inihren Augen – ein Paar rote Lackschuhe erscheinen, woraufhin sie sichbei seiner Abreise an seine Fersen heftet.Zusammen gelangen sie nach Edinburgh, wo sich zwischen ihnen eineharmonische Freundschaft entwickelt: Er zeigt seine Tricks vor schwin-dendem Publikum, während sie den gemeinsamen Haushalt im lokalenHotel des kauzigen Vaudeville-Volks führt. Doch lange werden Zauber-tricks und das einfache Bühneneinkommen nicht reichen, um ihr sor-genfreies Leben aufrechtzuerhalten.Wie die Geschichte erahnen lässt, hat Chomet hier in keiner Weise ei-nen geistigen Nachfolger zu seinem Hit «Les Triplettes de Belleville» ge-sucht. Der selbst nach Edinburgh ausgewanderte Franzose kam überTatis Tochter zum Script. Die Regielegende Tati – dessen bürgerlicherName «Tatischeff» auch der Bühnenname des Protagonisten ist – hattedie Geschichte als Hommage an seine Tochter geschrieben, jedoch nieverfilmt. Solchen Stoff heutzutage im handgezeichneten Stil der Dis-neyfilme der 60er auf die Leinwand zu bringen, mag gewagt scheinen.Chomet und einer Heerschar von Zeichnern ist in fünfjähriger Arbeitdas Kunststück jedoch bravourös gelungen.Episodenhaft erleben wir die Gezeiten des Vater-Tochter-Gespanns –gespickt mit liebevoll überzeichneten Nebenfiguren wie dem dickleibi-gen, weissen Kaninchen des Magiers. In ruhigen Einstellungen bleibtgenügend Zeit für das Farbenspiel der Landschaften oder slapstickartigeAuftritte. Mit kaum einer Zeile Dialog – ausser dem kauderwelschen Ge-brabbel des benachbarten Bauchredners – wird das Publikum zum stau-nenden Beobachter.«L’Illusioniste» selbst ist als Film ein stilvoller Gentleman, unter dessenergrauten Augenbrauen ein Schalk leuchtet, der mehr vom Leben er-zählt, als es Worte je könnten.«L’Illusioniste» (FR, UK 2010), 80 Min. Original, Untertitel in Deutsch

Extras: Behind The Scenes, Trailer, Fotogalerie

http://lillusionniste-lefilm.com

Der Magier, das Mädchen und die Macht der Magie.

Nicht nur Ramsch: Auf dem Flohmarkt gibt es

sogar stumme Männer.

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Die 25 positiven FirmenDiese Rubrik ruft Firmen und Institutionenauf, soziale Verantwortung zu übernehmen.Einige haben dies schon getan, in dem siedem Strassenmagazin Surprise mindestens500 Franken gespendet haben. Damit helfensie, Menschen in pre kären Lebensumstän-den eine Arbeitsmöglichkeit zu geben undsie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zube g leiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? DieSpielregeln sind einfach: 25 Firmen werdenjeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jenerBetrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet

werden?

Mit einer Spende von mindestens 500 Franken

sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3,

Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck:

Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag.

Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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Philip Maloney, Privatdetektiv

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

Scherrer & Partner GmbH, Basel

Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

KIBAG Bauleistungen

responsAbility, Zürich

Odd Fellows, St. Gallen

Coop

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

Velo-Oase Bestgen, Baar

Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

Augusta-Raurica-Loge Druidenorden Basel

Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

Stellenwerk AG, Zürich

www.bauernschlau.ch, Hof, Web, Kultur

Axpo Holding AG, Zürich

AnyWeb AG, Zürich

Niederer, Kraft & Frey, Zürich

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

Knackeboul Entertainment, Bern

Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel

Kaiser Software GmbH, Bern

Responsability Social Investments AG, Zürich

Lions Club Zürich-Seefeld

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ErzählabendAlles wahre Geschichten

Denise Meili und Mathias Kippe bieten im Erzählcafé eine Platt-form für Geschichten aus dem Leben. Mitreden dürfen alle. Zuhö-ren sowieso.

VON FABIENNE SCHMUKI

Geschichten, die das Leben schreibt, sind bekanntlich die besten. Sovielfältig wie die Menschen selbst, so unterhaltend wie ihre Erzähler.Was gibt es also Besseres als einen Geschichtenabend voller Zeugenbe-richte und Schicksalserzählungen?Die Idee stammt aus Berlin: Im Erzählcafé wollte man nach dem Mauer -fall die Ost- und Westberliner einander näherbringen, indem sie sich Ge-schichten aus ihren Leben erzählten. Und siehe da: So unterschiedlichdie historischen Gegebenheiten, so verschieden die gesellschaftlichenStrukturen, so sehr ähneln sich die Geschichten von Liebeskummer,Heimweh oder Kinderstreichen. Seit 2005 moderiert das Schauspielerduo Denise Meili und Mathias Kip-pe im Zentrum Karl der Grosse in Zürich ebensolche Erzählcafé-Abende. Das Erzählcafé hat immer ein fixes Thema und einen Überraschungsgast.Dieser eröffnet den Abend mit einer passenden Geschichte. Danach istdie Bühne frei für das Publikum. Funktioniert das? «Auf jede Eröff-nungsgeschichte des Überraschungsgastes folgt eine Pause von vielleichtzehn Sekunden, das muss man aushalten. Dann aber kommt immer je-mand mit einer Geschichte. Wahrscheinlich will niemand dem anderenzuvorkommen», weiss Kippe. Höflichkeit statt Schüchternheit also imSchweizer Publikum. Die Gästeliste präsentiert sich vielfältig: WolfgangNägeli von der Nägeli Umzüge AG sprach über den «Umzug in ein neu-es Zuhause». Martha Regli, die Autorin von «Hummer und Haschguez-li», erzählte zum Thema «Erste Liebe» die Geschichte aus ihrer Kindheit,als sie im Namen der Liebe einen Bahnhof abgefackelt hat.Zum ersten Erzählcafé-Abend im Herbst 2011 war Fährfrau Sabine Brön-nimann zum Thema «Abschied» geladen. Geschichten können emotionaltiefschürfend sein – oder im Gegenteil, sagt Kippe: «Die Erfahrung zeigt,dass es gerade bei Themen, die auf den ersten Blick belanglos scheinen,auch mal Tränen geben kann. Und Themen, die einen stark emotionalgefärbten Eindruck machen, können ganz lockere Abende zur Folge ha-ben.» Der Abend im Erzählcafé ist also vor allem eines, nämlich unvor-hersehbar. Wie das Leben selbst, und die Geschichten, die es schreibt.Erzählcafé, immer am letzten Dienstag im Monat, 18.30 Uhr.

25. Oktober: Thema «Mein Schmuck», Zentrum Karl der Grosse, Zürich.

www.improundcontra.ch

Die Fährfrau bricht das Eis: Sabine Brönnimann spricht über den Abschied.

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Ausgehtipps

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Ehemänner als freischwebende Astronauten.

Biel /SolothurnWortschlachten unterKarrieristinnen

Plots, Thesen, Botschaften? Interessieren Feli-cia Zeller nicht. «Wenn ich Thesen hätte, wür-de ich sie an die Kirchtür schlagen», sagt dieangesagte Dramatikerin aus Berlin-Neukölln.Ihr Stück «Gespräche mit Astronauten» war ei-gentlich eine Auftragsarbeit für das TheaterFreiburg, nur hatte man dort ein Schauspiel mitBotschaften erwartet. Solche könne man beiihr aber nicht bestellen, sagte sie dem «Spie-gel» im Interview. Also liess sie ihr Stück amTheater Mannheim uraufführen, mit grossemErfolg. Zeller interessiert sich für die Oberflä-che, sprich, die Sprache. Ihre Protagonistenspielen mit Worten, ja regelrechte «Wort-schlachten» lässt sie sie aufführen. Ihr neusterWurf dreht sich um Karrierefrauen, die sichAu-pairs als Billiglohnkräfte halten. Ihre Män-ner sind grösstenteils abwesend, schwebenwie Astronauten um sie herum. Wenn sie Kon-takt zu den Au-pairs aufnehmen, dann, um sieanzumachen. Laura Koerfer stellte in ihrer In-szenierung konsequenterweise die Sprache inden Vordergrund, die Aufführung überzeugtaber ebenso mit pantomimischen, tänzeri-schen und körpersprachlichen Elementen. DasPremierenpublikum war begeistert. (fer)«Gespräche mit Astronauten», Schweizer Erstauffüh-

rung, Theater Biel Solothurn.

Solothurn: 28. Oktober, 30. November,

Biel: 9., 18., 19. November, jeweils 19.30 Uhr,

am 19. November 19.00 Uhr.

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Groove, Humor und Grössenwahn: Balthazar.

BernReitschule feiert!

«Reitschule bietet mehr», hiess die Parole, alsim Herbst vor einem Jahr lokale SVP-ler wie-der einmal den – erfolglosen – Versuch unter-nahmen, den «Schandfleck von Bern» wegzu-putzen. Nun ist man in der Regel gut beraten,Abstimmungsslogans nicht für bare Münze zunehmen. Doch das Berner Kollektiv-Kultur-Party-Politik-Integrations-und-so-weiter-Wun-der ist eine Ausnahme, auch in dieser Hinsicht.Das soll Ende Oktober wieder einmal ordent-lich gefeiert werden – DIE Gelegenheit, sichvon dessen Angebot überzeugen zu lassen,sich reinzustürzen und darin zu verlieren. ImTojo-Theater gibt es zum Beispiel ein «Musik-Roboter-Objekt-Theater-Spektakel» namens«Six Freaks Under», im Kino lädt «Zaffaraya3.0» zu einer «Reise in die Innenräume anar-chistischer Subkultur in Bern», im «Sous lePont» wird «fein gegessen» und katergefrüh-stückt, und in Dachstock und Frauenraum wirdnatürlich fast rund um die Uhr zu Live- undDJ-Musik abgetanzt. Wen angesichts des wil-den Volks in der Reitschule noch Berührungs-ängste plagen oder wer einfach endlich mal ei-ne Übersicht über den sozialen und kulturellenWildwuchs gewinnen möchte, der kann sichzum Auftakt einer Führung anschliessen. Die-se sei auch Zeitgenossen ans Herz gelegt, dieAlternativkultur immer wieder mit Flecken aufeinem Postkartenbild verwechseln. (fer)Reitschulfest 2011, Reitschule Bern.

Vom 28. Oktober, 18 Uhr (Führung), bis 30. Oktober

5 Uhr (Katerfrühstück).

www.reitschule.ch

Kein Platz für Helden: T. Raumschmiere im Dachstock.

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Winterthur/St. GallenLässige Melange

Sein erstes Album «Applause» nennen, dassetzt Grössenwahn und/oder Humor voraus.Beide Eigenschaften bilden nicht die schlech-teste Voraussetzung für gute Musik. Vereintfindet man die Attribute öfter bei Bands ausBelgien. Denken Sie an Triggerfinger. An Deus.An Ghinzu. Und bald werden Sie an Balthazaraus Gent denken, die hierzulande noch zu ent-decken sind. Ganz so überdreht wie Deus oderGhinzu gehen Balthazar auf dem erwähntenErstling nicht ans Werk, ihren Indierock mitsaftig groovendem Bass spielen sie betont bei-läufig. Eine Portion Nonchalance darf sein,denn das machen Spoon auch so. JawohlSpoon, denn diese ewig unterschätzte US-Truppe liefert die offensichtlichste Referenz fürBalthazars lässig gespielte Melange aus Blues,Soul, Rock und Elektro. Tanzmusik für Genau-hinhörer. (ash)Donnerstag, 3. November, Gaswerk, Winterthur;

Freitag, 5. November, Palace, St. Gallen.

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Kunstpause: Mit dem Laptop in der Lounge.

Basel Stimmen auf dem Drahtseil

«Of Birds and Wires – Stimmen unter Strom» heisst das diesjährige The-ma von Shift, dem Festival für elektronische Kunst. Was geschieht,wenn wir die menschliche Stimme und die einer Maschine nicht mehrklar unterscheiden können? Wie haben die digitale Kultur und die tech-nologischen Entwicklungen die Wahrnehmung von Stimmen verändert?Solche Fragen stellt man sich im Haus für elektronische Künste Basel.Die Festivalausstellung wirft einen Blick auf die Mediengeschichte vonkünstlichen und bearbeiteten Stimmen zwischen Kriegstechnologie undPopkultur, untersucht die Inszenierung der Stimme in politischen Redenund präsentiert die titelgebenden Vögel mit Stimmen, die wir von ihnenso nicht gewohnt sind. Auch die elektronische Musik darf nicht fehlen:Denn auf der Clubbühne lassen sich Kunst und Ausgang perfekt aufein-ander abstimmen. (dif)Shift, 27. bis 30. Oktober, Dreispitzareal Basel und

Schaulager Münchenstein

www.shiftfestival.ch

Putzzeug als Zirkusutensilien: Silvanellas Seiltanz.

Auf TourneeSeiltanz und Schneckendressur

Kinder lieben den Zirkus und träumen von Auftritten in der Manege.Und manchmal erwachen bei den Grossen die alten Träume neu. So wiebei Milly und Silvie, zwei Frauen im besten Alter, die ihren Kindertraumverwirklichen und einen Zirkus gründen. Ein Zelt haben sie zwar nicht,dafür Putzutensilien, Kartonschachteln, Klebebänder und auch einen al-ten Kassettenrekorder. Nach nur zwei Proben feiert das Duo seine Pre-miere. Die stärksten Frauen der Welt treten auf, tanzen auf dem Seil undpräsentieren eine einmalige Schneckendressur! Alma Jongerius und An-ne-Marie Hafner liefern wortkarges, bildstarkes Kindertheater mit Ge-schichten um Angst, Mut und grosse Träume. (ash)Silvanellas Seiltanz, Kindertheater, So 30. Oktober,

15.00 Uhr, Bibliothek im Singsaal Breiti, Turbenthal;

Sa 5. November, 16.00 Uhr, Kellertheater im

Vogelsang, Altdorf; So 6. November, 17.00 Uhr, Gong,

Aadorf TG; So 13. November, 15.00 Uhr, Gottfried

Keller-Zentrum, Glattfelden. Weitere Termine:

www.silvanella.ch

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Im Odeon den Geist der Intellektuellen einatmen.

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Zürich und RegionIn der Bücherstadt

Ausgerechnet das angeblich so hektische Zü-rich lädt zum sinnlichen Verweilen zwischenBuchdeckeln ein: Demnächst am Buchfestival«Zürich liest ’11» mit über 100 Veranstaltungenin und um Zürich. Im «Odeon» zum Beispiel,dem berühmten Kaffeehaus am Bellevue wer-den Texte und Brunch im gleichen Gang ser-viert. Die Chronik «Café Odeon» erzählt dieGeschichte des Kaffeehauses und seiner Gäste:Klaus Mann, Albert Einstein, Max Frisch, Hu-go Loetscher, Else Lasker-Schüler – da läuftdem Germanisten am Sonntagmorgen dasWasser im Mund zusammen. (dif)Zürich liest ’11: Buchfestival, 27. bis 30. Oktober,

www.zuerich-liest.ch

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AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

«Ich bin im Frühling 2007 mit meiner Frau und unserem Sohn Josef,der damals noch ein kleines Baby war, in der Schweiz angekommen.Meine Heimat Äthiopien habe ich wegen politischer Probleme verlas-sen. Ich stamme aus dem Norden des Landes, aus Gonder, der ehema-ligen Hauptstadt von Äthiopien. Vor der Flucht habe ich viele Jahre alsKleider- und Schuhhändler gearbeitet. Im benachbarten Sudan habe ichdie Waren eingekauft und sie dann in Äthiopien verkauft.

Hier in der Schweiz bin ich ebenfalls Verkäufer, ein Surprise-Verkäu-fer. Sehr bald nach unserer Ankunft im Durchgangszentrum Halenbrü -cke in Herrenschwanden, etwas ausserhalb von Bern, suchte ich nachArbeit. Als neu angekommener Flüchtling hatte ich nicht viele Möglich-keiten, aber Surprise verkaufen durfte ich. Weil wir in dieser Zeit eineWohnung in Biglen bekamen, fing ich an, die Hefte in Konolfingen zuverkaufen. Diese Dörfer liegen so ungefähr in der Mitte des DreiecksBern, Thun, Langnau. Eine Zeit lang hatte ich noch einen Standplatz inOstermundigen, aber die Reise dorthin wurde im Vergleich zu meinemVerdienst zu teuer. Zudem hatte ich nicht mehr so viel Zeit für den Ver-kauf, weil ich mit Arbeitseinsätzen bei Bernmobil anfing.

Eineinhalb Jahre habe ich dort in einem Integrationsprojekt der StadtBern mitgearbeitet. Wir haben die Haltestellen geputzt, das heisst dieUnterstände inklusive Fahrpläne, Anzeigetafeln und Billettautomaten.Zuerst mussten wir immer auf den Bus oder das Tram warten, bis wirzur nächsten Haltestelle fahren konnten. Doch dann gab es neu das Ve-loteam, bei dem ich auch mitmachen konnte, und wir fuhren direkt voneiner Haltestelle zur nächsten. Das war super.

Nun bin ich einen Schritt weiter und absolviere gerade ein dreimo-natiges Praktikum in einer Firma, die unter anderem Hauswartsarbeitenmacht. Wir mähen für Kunden den Rasen, schneiden Bäume, putzenTreppenhäuser und kontrollieren die Lampen. Die Arbeit gefällt mir sehrgut, besonders diese elektrischen Sachen interessieren mich. Hätte ichden Führerausweis, wären meine Chancen grösser, dass ich in dieserFirma weiterarbeiten könnte. Aber bis ich mir Fahrstunden leisten kann,geht es wahrscheinlich noch eine Weile. Und sowieso: Vor dem Auto-fahren muss ich noch besser Deutsch lernen.

Wenn ich am Wochenende frei habe, hole ich die beiden Kinder ab.Ein Jahr nach Josef kam unser zweiter Sohn Daniel zur Welt. Der Grös-sere ist jetzt im Kindergarten, der Kleinere geht in die Spielgruppe. Lei-der hat die Ehe nicht gehalten. Aber meine Ex-Frau und ich kümmernuns beide um unsere Söhne. Ich gehe mit ihnen spazieren, auf den Spiel-platz, schwimmen, Fussball spielen – ich bin sehr gerne mit ihnen zu-sammen.

Als wir noch als Familie zusammenwohnten, hatten wir oft Besuch.Nun, wo ich alleine wohne, lade ich eigentlich niemanden mehr ein.

Der Äthiopier Dessalegne Melaku (30) verkauft Surprise seit gut vier Jahren in Konolfingen. Im Moment bleibtfür den Verkauf nicht viel Zeit, weil er ein Hauswartspraktikum absolviert und sich am Wochenende um seinebeiden Buben kümmert.

Kontakt habe ich ab und zu mit äthiopischen oder auch eritreischenKollegen. Um die Eritreer zu verstehen, musste ich zuerst ein bisschenihre Sprache Tigrinya lernen. Meine Muttersprache ist Amharisch. Ob-wohl wir die gleiche Schrift haben, verstehen wir einander nicht ein-fach so. Landsleute von mir treffe ich auch ab und zu am Sonntag imäthiopisch-orthodoxen Gottesdienst. Danach gibt es manchmal unsertraditionelles Gericht Injera, Sauerteigfladen mit verschiedenen Fleisch-und Gemüsesaucen.

Das Leben hier kann recht schwierig sein, wenn man nur sehr wenigGeld zur Verfügung hat. Gerade wenn die Kinder einen Wunsch haben,den ich nicht erfüllen kann, macht es mich traurig. Trotzdem möchtenicht zurück nach Äthiopien. Ich habe dort keine Familie mehr, meineEltern und mein Bruder leben nicht mehr. Ich sehe meine Zukunft hier,vor allem wegen meiner Buben.» ■

BIL

D:

ZV

G

VerkäuferporträtVerkäufer, Putzmann, Hausabwart

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29SURPRISE 261/11

Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hat-ten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben undihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf desStrassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. IhrAlltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neueSelbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Ver-dienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkau-fende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Pro-gramm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Ver-antwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für dieWelt und den Arbeitsmarkt zu werden.

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Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, [email protected], PC-Konto 12-551455-3

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Ausserdem im Programm SurPlus:

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30 SURPRISE 261/11

Impressum

HerausgeberStrassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Baselwww.strassenmagazin.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9–12 Uhr, Mo–DoT +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 [email protected]äftsführungPaola Gallo, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) AnzeigenverkaufT +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 [email protected] T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99Reto Aschwanden, Florian Blumer, Diana Frei (Nummernverantwortliche)[email protected]ändige Mitarbeittexakt.ch (Korrektorat), Yvonne Kunz, Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Priska Wenger, Christopher ZimmerMitarbeitende dieser AusgabeAmir Ali, Monika Bettschen, Davide Caenaro, Dorothee Elmiger, Andrea Ganz, Nils Keller, Stefan Michel, Isabel Mosimann, Nicole Pont, Eva Rosenfelder, Fabienne SchmukiGestaltung WOMM Werbeagentur AG, BaselDruck AVD GoldachAuflage15000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./JahrMarketing, Fundraising T +41 61 564 90 61Theres Burgdorfer, [email protected]

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27Zoë Kamermans, Patrick Würmli, Spalentorweg 20, 4051 Basel, [email protected]üro ZürichT +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, [email protected]üro BernT +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02Andrea Blaser, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, [email protected] T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99Paloma Selma, [email protected] T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller [email protected], www.strassensport.chTrägerverein Strassen magazin Surprise Präsident: Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugs weiseoder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird vonder Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Post-sendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeich-nete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag vonCHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehendeBeträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oderdem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

Surprise ist:

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialenSchwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit.Surprise hilft bei der Integration in den Ar-beitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsitua-tion, bei den ersten Schritten raus aus derSchuldenfalle und entlastet so die SchweizerSozialwerke.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Be-nachteiligung betroffenen Menschen eineStimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellungfür soziale Gerechtigkeit.

Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinen-de Strassenmagazin Surprise heraus. Dieseswird von einer professionellen Redaktion pro-duziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illu-stratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft.Rund dreihundert Menschen in der deutschenSchweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlos-sen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur,verdienen eigenes Geld und gewinnen neuesSelbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport.In der Surprise Strassenfussball-Liga trainierenund spielen Teams aus der ganzen deutschenSchweiz regelmässig Fussball und kämpfenum den Schweizermeister-Titel sowie um dieTeilnahme an den Weltmeisterschaften für so-zial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hatSurprise einen eigenen Chor. GemeinsamesSingen und öffentliche Auftritte ermöglichenKontakte, Glücksmomente und Erfolgserleb-nisse für Menschen, denen der gesellschaft-liche Anschluss sonst erschwert ist.

Finanzierung, Organisation und internatio-nale VernetzungSurprise ist unabhängig und erhält keine staat-lichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mitdem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inse-raten finanziert. Für alle anderen Angebotewie die Betreuung der Verkaufenden, die Sport-und Kulturprogramme ist Surprise auf Spen-den, auf Sponsoren und Zuwendungen vonStiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte sozi-ale Institution. Die Geschäfte werden von derStrassenmagazin Surprise GmbH geführt, dievom gemeinnützigen Verein StrassenmagazinSurprise kontrolliert wird. Surprise ist führen-des Mitglied des Internationalen Netzwerkesder Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glas-gow, Schottland. Derzeit gehören dem Ver-band über 100 Strassenzeitungen in 40 Län-dern an.

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31SURPRISE 261/11

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Ist gut. Kaufen!Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache.Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.Alle Preise exkl. Versandkosten.

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Surprise Rucksäcke(32 x 40 cm); CHF 89.–

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