Technik als Faktor des Europäischen Sonderwegs in die Industrialisierung

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Technik als Faktor des Europäischen Sonderwegs in die Industrialisierung Neuere Publikationen zu einer offenen Frage Marcus Popplow Ursachen des Europa ¨ischen Sonderwegs in die Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts werden in den letzten beiden Jahrzehnten aus immer neuen methodischen Perspektiven insbesondere in der englischsprachigen For- schung diskutiert. Dabei stellt diese Frage eine Seitenlinie der weiterhin unabgeschlossenen, ebenfalls prima ¨r in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte gefu ¨hrten Debatte um die Ursachen der Industrialisierung dar. In beiden Zusammenha ¨ngen gelten technische Innovationen zwar nur als einer von vielen Faktoren des Industrialisierungsprozesses, jedoch als einer von essen- zieller Bedeutung: Die kostengu ¨nstige Massenproduktion von Gu ¨tern durch umfassende Mechanisierung, neue Transporttechnologien und -infrastruk- turen als Katalysatoren des Industrialisierungsprozesses und nicht zuletzt die Produktion neuer Waffentypen als Stimulus auf der Nachfrageseite beruhten unmittelbar auf technischen Innovationen. Im Umfeld der Sonderweg-Debatte werden technische Innovationen in dieser Tradition entsprechend ha ¨ufig als besonders aussagefa ¨hige Messlatte fu ¨r die Leistungsfa ¨higkeit einzelner O ¨ kono- mien herangezogen (Landes 1999: 61–77, McClellan/Dorn 2006: 177–201). In Diskussionsbeitra ¨gen zum Europa ¨ischen Sonderweg wird allerdings hinsichtlich des Faktors Technik oft auf einen inzwischen veralteten For- schungsstand zuru ¨ckgegriffen. In einer genuin interdisziplina ¨ren und globalen Debatte, die immer wieder neue Forschungsergebnisse und methodische Entwicklungen beru ¨cksichtigen muss, lassen sich solche Diskontinuita ¨ten kaum vermeiden. Dennoch wa ¨re es zweifellos wu ¨nschenswert, wenn die Technikgeschichte ihre Forschungsergebnisse zuku ¨nftig sta ¨rker in Synthesen zum Europa ¨ischen Sonderweg einbringen ko ¨nnte, da diese in anderen Berei- chen der Geschichtswissenschaft wie auch in der interessierten O ¨ ffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit finden. N.T.M. 20 (2012) 91–105 0036-6978/12/020091-15 DOI 10.1007/s00048-012-0069-6 Published online: 14 June 2012 Ó 2012 SPRINGER BASEL AG 91 SAMMELBESPRECHUNGEN /ESSAY REVIEWS .

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  • Technik als Faktor des EuropischenSonderwegs in die IndustrialisierungNeuere Publikationen zu einer offenen Frage

    Marcus Popplow

    Ursachen des Europaischen Sonderwegs in die Moderne des 19. und 20.Jahrhunderts werden in den letzten beiden Jahrzehnten aus immer neuenmethodischen Perspektiven insbesondere in der englischsprachigen For-schung diskutiert. Dabei stellt diese Frage eine Seitenlinie der weiterhinunabgeschlossenen, ebenfalls primar in derWirtschafts- und Sozialgeschichtegefuhrten Debatte um die Ursachen der Industrialisierung dar. In beidenZusammenhangen gelten technische Innovationen zwar nur als einer vonvielen Faktoren des Industrialisierungsprozesses, jedoch als einer von essen-zieller Bedeutung: Die kostengunstige Massenproduktion von Gutern durchumfassende Mechanisierung, neue Transporttechnologien und -infrastruk-turen als Katalysatoren des Industrialisierungsprozesses und nicht zuletzt dieProduktion neuer Waffentypen als Stimulus auf der Nachfrageseite beruhtenunmittelbar auf technischen Innovationen. ImUmfeld der Sonderweg-Debattewerden technische Innovationen in dieser Tradition entsprechend haug alsbesonders aussagefahigeMesslatte fur die Leistungsfahigkeit einzelner Okono-mien herangezogen (Landes 1999: 6177, McClellan/Dorn 2006: 177201).

    In Diskussionsbeitragen zum Europaischen Sonderweg wird allerdingshinsichtlich des Faktors Technik oft auf einen inzwischen veralteten For-schungsstand zuruckgegriffen. In einer genuin interdisziplinaren und globalenDebatte, die immer wieder neue Forschungsergebnisse und methodischeEntwicklungen berucksichtigen muss, lassen sich solche Diskontinuitatenkaum vermeiden. Dennoch ware es zweifellos wunschenswert, wenn dieTechnikgeschichte ihre Forschungsergebnisse zukunftig starker in Synthesenzum Europaischen Sonderweg einbringen konnte, da diese in anderen Berei-chen der Geschichtswissenschaft wie auch in der interessierten Offentlichkeitbesondere Aufmerksamkeit nden.

    N.T.M. 20 (2012) 911050036-6978/12/020091-15DOI 10.1007/s00048-012-0069-6Published online: 14 June 2012 2012 SPRINGER BASEL AG

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  • Eine Anmerkung zur Terminologie sei vorausgeschickt: Im Englischenwird fur die spezisch europaische Transformation in eine industrialisierteGesellschaftsformation, die wesentlich auf der Nutzung fossiler Rohstoffebasiert, entweder das Schlagwort ,,great divergence verwendet nach demTitel einerMonograe von Kenneth Pomeranz aus dem Jahr 2000 , oder es istdie Rede von der ,,Needham Question. Der Herausgeber des groen Sam-melwerkes zur chinesischen Wissenschafts- und Technikgeschichte verstandseine Arbeiten auch als Beitrag zu der Frage, warum die Industrielle Revolutionnicht zuerst in China eingesetzt habe (Needham 1956 ff.). Im Deutschenhingegen ist das Schlagwort ,,Europaischer Sonderweg gangig, wobei dieWahl des Begriffes Sonderweg ohne jeglichen Bezug auf politikhistorischeDebatten erfolgt. Dort zielt der Begriff des (deutschen) Sonderwegs auf ganzandere, namlich gesellschaftliche Entwicklungen zwischen den Polen vonDemokratie und Diktatur ab, seine Angemessenheit ist in diesem Kontextumstritten. In dem hier interessierenden Zusammenhang erscheint der BegriffEuropaischer Sonderweg jedoch gegenuber Varianten wie ,,groe Gabelung als Ubersetzung des von Pomeranz gewahlten Schlagwortes insofern aus-sagekraftiger, als er implizit eine bedenkenswerte These fur den Einstieg indieses Themenfeld transportiert: Dass namlich der europaische Weg pra-ziser: der Weg einiger europaischer Kernregionen in die industrialisierteModerne nicht den Regelfall einer quasi zwangslaug ablaufenden Zivilisati-onsgeschichte der Menschheit darstellt, sondern eine in einiger Hinsichtzufallige und ungeplante Entwicklung. Mit dieser Storichtung war ,,DerEuropaische Sonderweg auch Titel des bislang einzigen, groeren deutsch-sprachigen Forschungsprojektes zu diesem Thema, das unter der Leitung vonRolf Peter Sieferle im Auftrag der Stuttgarter Breuninger-Stiftung durchgefuhrtwurde. Als Ergebnis erschienen neben einem allgemeinen Problemaufriss(Sieferle 2003) vergleichende Studien beispielsweise zur Landwirtschaft, zuFamilienstrukturen oder zum Transportwesen in China, Europa und demarabischen Raum. Auch der zweite wesentliche deutschsprachige Beitrag zudieser Debatte, Michael Mitterauers Synthese Warum Europa? Mittelalterli-che Grundlagen eines Sonderwegs aus dem Jahr 2003 nutzt den Begriff desSonderwegs. Allerdings verortet Mitterauer die Weggabelung bereits imMittelalter und nimmt daher die in diesem Zusammenhang zumeist viel eherdiskutierten, fruhneuzeitlichen Entwicklungen nicht in den Blick. In der Folgesind in der deutschsprachigen Forschung keine ubergreifenden Beitrage zudieser Frage mehr erschienen, eine Debatte um alternative Bezeichnungenwurde nicht gefuhrt.

    An dieser Stelle sollen einige Neuerscheinungen zur Technikgeschichteauereuropaischer Kulturen zu Zeiten des europaischen Mittelalters und derFruhen Neuzeit vorgestellt werden. Ihre Autoren beziehen sich zwar in derMehrzahl nicht direkt auf die Sonderweg-Debatte, ihre Forschungsergebnissekonnten jedoch neue Aspekte in diese Diskussion einbringen. Denn indem die

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  • ausgewahlten Arbeiten technische Entwicklungen verstarkt in gesellschaftli-che Kontexte zuruckbinden, unterlaufen sie die eigentlich in der Technik-geschichte uberholte, in der Sonderweg-Debatte jedoch noch immer haugvorkommende Fixierung auf einen interkulturellen Vergleich der Leistungs-fahigkeit spektakularer Innovationen. Die hier ausgewahlten Titel unter-suchen zum einen Beispiele des Transfers von technischen Objekten undtechnischem Wissen, hier aus dem arabischen Raum in das mittelalterlicheEuropa, und betonen damit unterschiedliche kulturelle Modalitaten derTechnikentwicklung; sie belegen zum anderen die einschneidenden gesell-schaftlichen Konsequenzen innerasiatischer Technisierungsprozesse, hier amBeispiel der Feuerwaffen; und sie untersuchen drittens die Rolle grascherReprasentationen und technischer Literatur im China der Song- und Ming-Dynastie (9601279, 13681644) und nehmen damit ein breites Panoramatechnischer Wissensformen in den Blick. Insgesamt bieten sie damit neue unddetaillierte Moglichkeiten des interkulturellen Vergleichs. Die Einbeziehungihrer Ergebnisse in die Sonderweg-Debatte konnte dort auch technikhistori-schen Argumentationslinien die Scharfentiefe verleihen, die fur vergleichbaresozial- und wirtschaftshistorische Zusammenhange schon langer erreicht ist.

    Grundzge der Debatte

    Unter den meisten internationalen Protagonisten der Sonderweg-Debatteherrscht inzwischenKonsens, dass Europa in okonomisch-technischer Hinsichtkeinesfalls vor dem ausgehenden Mittelalter eine globale Vorrangstellung auf-zuweisen hatte. DieWirtschaftsgeschichte asiatischer Raume hat in den letztenbeiden Jahrzehnten gezeigt, dass noch um 1800 politische, institutionelle undkulturelle Rahmenbedingungen, die als entscheidend fur den Industrialisie-rungsprozess gelten, keineswegs auf Europa beschrankt waren (Pomeranz 2000,OBrien 2009, Parthasarathi 2011, Rosenthal/Wong 2011).Moderne StrukturenderMarktintegration, derGeldwirtschaft, vonHandelsnetzwerkenund selbst dieExistenz einer differenzierten Konsumkultur lassen sich auch in asiatischenGesellschaften dieser Epoche erkennen. Vernetzt waren die eurasischen Oko-nomien in der fruhenNeuzeit dabei durch globaleHandelsbeziehungen:Das vonden Europaern aus Sudamerika abtransportierte Silber oss zu erheblichenTeilen als Zahlungsmittel fur die in Europa begehrtenGewurze und Luxuswarennach Ostasien. Aus der Perspektive der asiatischen Hochkulturen kam Europasomit bis in die fruhe Neuzeit eine Randstellung zu es diente vor allem alsImporteur und Konsument asiatischer Produkte.

    Umstritten ist dementsprechend in der Sonderweg-Debatte, wann genausich der Weg Europas von dem anderer Hochkulturen abzuzweigen begann.Diese Zasur wird mit unterschiedlichen Argumenten zwischen etwa 1450 und

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  • 1850 verortet. Argumentationen, die spektakulare technische Innovationen alsMastab heranziehen, optieren tendenziell fur einen fruheren Zeitpunkt teilweise aufgrund nur oberachlicher Kenntnis asiatischer Entwicklungen. Sokommt David Landes 1998 in seinem Bestseller The Wealth and Povertyof Nations zu dem Schluss, dass Europa schon seit tausend Jahren eineFuhrungsrolle bei der Entwicklung moderner Strukturen in Technik, Wis-senschaft und Okonomie innehatte. Positionen hingegen, die eher dielandwirtschaftliche Produktivitat, die Hohe der Reallohne, funktionierendeurbane Strukturen oder Wirtschaftsleistungen des Gewerbes als Mastab desWohlstands verstehen, setzen die Zasur eher spater und konstatieren bis um1800 eine, so die Uberschrift eines Kapitels in Pomeranz 2000, ,,world ofsurprising resemblances. Nach diesem Verstandnis spielen technischeInnovationen eine geringere Rolle fur den Kulturvergleich, sobald ihnen diesymbolische Auadung als Markenzeichen westlichen Fortschritts entzogenwird. Bleibt in beiden Szenarien die Rolle des Faktors ,,Technik erklarungsbe-durftig, scheint es bis zu einem differenzierten Vergleich technikhistorischerEntwicklungen verschiedener Kulturraume noch ein weiter Weg.

    Methodische Defizite aus technikhistorischer Sicht

    Wie einleitend erwahnt, greifen Beitrage zur Sonderweg-Debatte fur tech-nikhistorische Zusammenhange haug auf einen veralteten Forschungstandzuruck. Fur das mittelalterliche Europa gilt ihnen oft immer noch LynnWhiteals mageblich obwohl seine Schlussfolgerungen zur gesellschaftlichenWirkmachtigkeit von Innovationen wie dem schweren Raderpug in derLandwirtschaft oder dem Steigbugel in kriegerischen Auseinandersetzungenfast durchgehend relativiert worden sind.1 Umgekehrt hat sich der Nachweis,dass die uberwaltigende Groe der Schiffe des chinesischen Entdeckungs-fahrers Zheng He im 15. Jahrhundert auf einer zumindest zweifelhaftenQuelleninterpretation beruht (Church 2005), bislang kaum durchgesetzt wobei dies nichts an der Bedeutung seiner Entdeckungsfahrten bis an dieafrikanische Kuste andert und seine Schiffe noch immer weit groer waren alsdie der europaischen Entdeckungsfahrer in den Indischen Ozean. Dass geradeder aktuelle Forschungsstand der Asienwissenschaften zu wenig rezipiertwird, zeigt der seltene Bezug auf Arbeiten zu den immensen sozialen Aus-wirkungen der Verbreitung des Buchdrucks in China, die sich nicht ohneweiteres mit den anders gelagerten und weit spater einsetzenden Umbruchendurch die europaische Variante dieser Technologie vergleichen lassen. Cha-rakteristischerweise nutzt die europaische Technikgeschichte auch das vonNeedham begrundete, enzyklopadische Sammelwerk vornehmlich als Stein-bruch fur technikhistorische Fakten. Ist Needhams methodischer Ansatz,

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  • insbesondere seine wenig differenzierte Analyse wissenschaftlicher undtechnischer Wissensformen in den alteren Teilbanden zwischenzeitlich tat-sachlich uberholt, beziehen die neueren Bande zu Textilgewerbe, Metallurgieund Bergbau, Landwirtschaft oder Porzellanherstellung nun weit starker diesozialen und okonomischen Kontexte des Einsatzes dieser Technologien inChina in die Darstellung ein.

    Gerade in methodischer Sicht ist die Sonderweg-Debatte so vielfach nochstark von klassisch fortschrittsorientierten Parametern aus westlicher Perspek-tive dominiert: technische Innovationen, Steigerungen der gewerblichen Pro-duktivitat durch Mechanisierung, Theoretisierung beziehungsweise Verwis-senschaftlichung. Doch wo Erstbelege, Leistungsfahigkeit oder die quantitativeVerbreitung bestimmter Maschinen oder Schiffstypen als Mastab gesell-schaftlichen Fortschritts gelten, bleibt eine differenzierte Kontextualisierung desEinsatzes solcher Technologien ebenso auen vor wie eine Analyse der Rah-menbedingungen, unter denen technische Innovationen in vormodernenGesellschaften erfolgten. Erstaunlicherweise ist dabei in der Sonderweg-Debattebislang uberhaupt nicht auf diemethodischenAnsatze eines dicht benachbartenForschungsfeldes Bezug genommen worden, und zwar auf die umfassendenReexionen zu der Frage, warum die Industrialisierung innerhalb Europasgerade in Grobritannien und nicht beispielsweise in Frankreich eingesetzthat.2 In der Linie dieser Arbeiten, die letztlich eine Pluralitat von Wegen in dieIndustrialisierung verschiedener europaischer Regionen diskutieren, liee sichauch fur die globale Perspektive die Fixierung auf spektakulare Innovationenebenso wie auf solche der Ingenieurtechnik im weiteren Sinne in Frage stellen(Adas 1989). Denn fur Lebensbedingungen und Wirtschaftsleistung vormo-derner Gesellschaften war das breite Panorama zum Teil hoch spezialisierterHandwerke weit entscheidender. Die materielle Ausstattung der Handwerkerund die damit verbundenen Arbeitsprozesse sind jedoch bislang kaum imKulturvergleich analysiert worden wahrend fur die Landwirtschaft nach-drucklich gezeigt worden ist, dass im kulturellen Vergleich keine eindeutigeKorrelation zwischen technischer Ausstattung und realisierten Ertragenbestand. Um die Debatte uber den europaischen Sonderweg voranzubringen,bleibt daher zu diskutieren, ob das Schwergewicht der Analyse weiterhinauf Kategorien wie technischen Innovationen, Produktivitatswachstum oderVerwissenschaftlichungsprozessen liegen soll, oder ob nicht verstarkt Mastabewie Lebensqualitat oder Ressourcenmanagement in den Fokus rucken sollten.

    Wissenschafts- und Wissensgeschichte als Faktoren derSonderweg-Debatte

    Hinzuweisen bleibt auf die spezische Stellung der fruhneuzeitlichen Natur-forschung in der Debatte um den Europaischen Sonderweg. Nur noch wenige

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  • Arbeiten deuten neben technischen Innovationen auch die so genannteWissenschaftliche Revolution des 16./17. Jahrhunderts als Ausweis europai-scher Uberlegenheit. Hauger wird dieses, in der neueren Wissenschafts-geschichte ohnehin umstrittene Konzept zwischenzeitlich vollig auen vorgelassen. Dies liegt weniger an der weiterhin offenen Frage, wie die Natur-forschung vor etwa 1800 im arabischen Raum, in Indien oder in China in eineglobale Geschichte der ,,Naturwissenschaften einzuordnen ist.3 Vielmehrwird, wie es scheint, die Auffassung neuerer Forschungen zur Geschichte derTechnikwissenschaften geteilt: Danach haben neue Erkenntnisse uberNaturgesetze in Europa kaum vor dem spaten 19. Jahrhundert begonnen,technische Entwicklungen mageblich zu pragen. Zur Erklarung der Weg-gabelung selbst, die zeitlich im Vorfeld der Herausbildung leistungsfahigerTechnikwissenschaften erfolgte, waren sie daher nicht von Belang. Damitentspricht die technische Entwicklung aller Hochkulturen bis in das 19.Jahrhundert im Ubrigen kaum dem vielfach vertretenen Diktum, dass Technikgrundsatzlich als angewandte Naturwissenschaft zu verstehen sei.

    Aktuell rekurrieren Beitrage zur Sonderweg-Debatte starker auf jungereArbeiten, die die trennscharfen Grenzen zwischen fruhneuzeitlicher Wis-senschaft und Technik in Frage stellen. Zuweilen mundet dies in denVorschlag, beide Kategorien als Teilbereiche einer breiter angelegten Wis-sensgeschichte okonomischer, technischer und wissenschaftlicher Expertisezu analysieren. Mit ganz unterschiedlichen Intentionen und inhaltlichenSchwerpunkten kursieren solche Ansatze sowohl in derWirtschaftsgeschichte(Mokyr 2009) als auch im Schnittfeld von Wissenschafts- und Technikge-schichte (Roberts/Schaffer/Dear 2007, Smith/Smith 2006, Klein 2005). IhreDifferenziertheit scheint fur den hier zu Debatte stehenden Kulturvergleichletztlich hilfreicher als ein Mastab moderner Naturwissenschaften nacheuropaischem Modell. Neben Parthasarathi (2011: 185203) hat zuletzt auchGoldstone in einem aktuellen Uberblick zur Sonderweg-Debatte solcheAnsatze unter den technik- und wissenschaftshistorischen Erklarungsmo-dellen nachdrucklich hervorgehoben (2009: 136161).

    Transferprozesse aus dem arabischen Raum

    Neuere deutschsprachige Arbeiten im Umfeld der Sonderweg-Debatte habenvor allem den Wissenstransfer aus dem Nahen Osten nach Europa seit derSpatantike in den Blick genommen. Der Austausch von Expertenwissen zwi-schen den historisch variierenden Kontaktzonen der Kulturkreise desMittelmeerraums ist seit langem bekannt. In seiner 2011 erschienenen Dis-sertation untersucht Thomas Schuetz solche Transferprozesse speziell imBereich der Bautechnik. Er verfolgt das anspruchsvolle Ziel, sowohl Transfers

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  • vom arabischen Raum in das hochmittelalterliche Europa als auch spater vondort zuruck in das Osmanische Reich zu rekapitulieren und vergleichend zusynthetisieren. Ansonsten widmet sich die Forschung meist nur einer dieserPhasen, wobei die gewerblich-okonomischen Strukturen des OsmanischenReichs bislang generell kaum mit zentraleuropaischen Entwicklungen vergli-chen worden sind. Schuetz Titel Baumeister und Muhandis bezieht sich aufdie Bezeichnungen von Experten im Wehr- und Zivilbau beider Kulturkreise,ist aber nur der Aufhanger einer weit breiter angelegten, akribischen Synthesegroer Bestande an verstreuter Sekundarliteratur. In vielen Passagen behan-delt er ausfuhrlich die Grundzuge des mittelalterlichen Bauwesens bis hin zuarbeitsorganisatorischen und nanztechnischen Fragen, um einen fundiertenVergleich zum arabischen Raum zu ermoglichen. Fur das Hochmittelaltervertritt Schuetz die These, dass das Aufkommen von Spitzbogen und Rippen-gewolbe in Europa als Ubernahme dieser Bauelemente aus dem islamischenRaum zu erklaren sei. Die gotische Kathedralenarchitektur habe diese Elementedann zu neuen Bauformen weiterentwickelt. Das Osmanische Reich wiederumhabe spater zwar ebenfalls zentraleuropaische Technologien rezipiert imFestungsbau, demBauvonPrachtmoscheenoderderVerwendungkombinierterBlei- und Eisenwerkstucke als Verbindungselemente im Bruckenbau , diesejedoch nicht umfassend weiter entwickelt. Letzteres erklart Schuetz mit denjeweiligen sozio-okonomischen Kontexten des Bauens. Beide Transferprozessewiesen dennoch strukturelle Ahnlichkeiten auf: Sie beruhtenweitgehend auf derpersonalen Vermittlung durch Bauexperten und nicht auf dem Ruckgriff aufschriftlich festgehaltenes Wissen, in beiden Fallen wird ein ,,durch den Bedarfgelenkter, eklektizistischer Transfer konstatiert (S. 561).

    Schuetz differenzierte Argumentationen passen sich gut in das Bild quasiselbstverstandlichen Wissenstransfers uber Kulturgrenzen hinweg ein, woimmer entsprechende Migrationsprozesse moglich waren. Ebenso erganzensie das Bild einer relativen europaischen Dynamik bei der Weiterentwicklungaus dem Nahen Osten ubernommener Technologien seit dem Hochmittel-alter, wie es beispielsweise auch fur die Militartechnik oder die Papier-herstellung belegt ist. Schuetz Verwendung von Kategorien wie ,,Gelehrte,,,Architekten oder ,,Verwissenschaftlichungsprozesse, aber auch seineDiskussion technischer Traktate oder der Klassikation technischerWissensbestande hatten sich allerdings starker an bestehende methodischeAnsatze anbinden lassen beispielsweise an die etablierte Forschungstraditionzum Transfer handwerklichen und ingenieurtechnischen Wissens innerhalbverschiedener Territorien des vorindustriellen Europa (Hausberger/Popplow/Reith 2011).

    Weitere Ubernahmen technischer Innovationen aus dem arabischenRaum nach Europa fasst zuletzt der Katalog einer Mainzer Ausstellung zurGeschichte der Kreuzzuge zusammen (Kotzur 2004: 287294, 420497).Andernorts publizierte, spektakulare Funde zu spatantiken, wassergetriebenen

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  • Steinsagemuhlen in Kleinasien, die traditionelle Chronologien der zentraleu-ropaischen Muhlengeschichte ins Wanken bringen, seien hier erganzenderwahnt (Grewe 2009, Mangartz 2010). Hingewiesen sei zudem auf denumfangreichen Katalogband einer ambitionierten Ausstellung im Landes-museum fur Natur und Mensch in Oldenburg (Fansa 2009). An ausgewahltenBeispielen zeichnet er ,,Wege zur neuzeitlichen Wissenschaft unterschiedli-cher Kulturen im vorderasiatisch-europaischen Raum nach. Die Einbeziehungbereits vorgeschichtlicher und antiker Transferprozesse im gesamten Mit-telmeerraum kontextualisiert dabei in treffender Weise mittelalterlicheImporte aus dem arabischen Raum nach Europa, die sonst in der Regelgesondert betrachtet werden. Insgesamt stellt der popularwissenschaftlichausgerichtete Katalog weit verbreiteten Bildern der ,,WissenschaftlichenRevolution der europaischen Fruhen Neuzeit mit dem Titel gebenden xoriente lux? einen umfassenden alternativen, wenn auch im Rahmen einesAusstellungsprojektes notwendigerweise eklektischen Interpretationsrahmenzur Seite.

    Die genannten Beitrage zu arabisch-europaischen Transferprozessennehmen schon deshalb kaum explizit Bezug auf die Sonderweg-These, als siein der Regel nicht uber die Zeit um 1500/1600 hinausblicken. Eher stehen sievor dem Horizont aktueller Debatten des Verhaltnisses zwischen dem arabi-schen Raum und Zentraleuropa besonders deutlich zeigt dies die inFrankreich heftig gefuhrte Diskussion um Sylvain Gouguenheims Aristotelesauf demMont St. Michel, das denWissensimport aus dem arabischen Raum inwenig uberzeugender Weise weitgehend abstreitet. Sonja Brentjes hat in ihrerSammelrezension zu Neuerscheinungen zu den arabischen Naturwissen-schaften in dieser Zeitschrift jungst groere methodische Scharfe angemahnt,um derartige Kontroversen in kunftigen Forschungen zu uberwinden(Brentjes 2011).

    Schiepulver und Feuerwaffen als eurasische Technologie

    Zur fruhen Technikgeschichte Chinas, Japans, Indiens und Sudostasienserscheinen in letzter Zeit vermehrtmonographische Darstellungen. Sie zeigen,dass Bewegung in dieses Feld kommt, das in den Asienwissenschaften einevergleichbare Randposition inne hat wie die Technikgeschichte in der euro-paischen und amerikanischen Geschichtswissenschaft. In der Offentlichkeitdienen solche Themen dabei zumindest am Rande auch der Selbstvergewis-serung der wachsenden okonomischen und weltpolitischen Bedeutungasiatischer Regionen. So wie groe Replikationen der Automatenentwurfe al-Jazaris aus der Zeit um 1200 zentrale Platze in Dubaier Einkaufspassagenschmucken, zeugt auch der hauge Verweis auf die Entdeckungsfahrten

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  • Zheng Hes mittels seiner uberlegenen Schifffahrtstechnologie von einerselbstbewussten Wahrnehmung der chinesischen Technikgeschichte.

    Peter Lorges The Asian Military Revolution. From Gunpowder to theBomb aus dem Jahr 2008 gehort zu einer ganzen Reihe neuerer Veroffentli-chungen zu Kriegstechnik und Kriegsfuhrung in Asien, in denen imGegensatzzu fruheren Werken auch zentralasiatische Diversitaten eingehend diskutiertwerden (Charney 2004, Chase 2003, di Cosmo 2002, Khan 2004). Zwar gibtLorge abschlieend in der Tat einen Ausblick auf den Griff nach der Atom-bombe, doch ist seine Studie vor allem eine umfassende, komparativeDarstellung asiatischer Militartechnik von der chinesischen Erndung desSchiepulvers bis in das 19. Jahrhundert. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf derRolle der Feuerwaffen in innerasiatischen Konikten. Dies ist fur europaischeHistoriker schon deshalb lehrreich, weil Lorge ein weiteres Mal die nochimmer gangige These grundlich widerlegt, das Schiepulver sei zwar in Chinaerfunden, aber dort vor allem fur Feuerwerke eingesetzt worden: Bei derAnkunft der europaischen Kolonialmachte an den asiatischen Kusten warendort langst die autochton im asiatischen Raum entwickelten Feuerwaffen imEinsatz. Insofern datiert Lorge die erste durch Feuerwaffen ausgeloste ,,mili-tarische Revolution nicht in das Europa des 15./16. Jahrhunderts, sondern indas China des 12./13. Jahrhunderts. Fur beide Kulturraume konstatiert erzugleich grundlegende Parallelen insbesondere auf politischer und institutio-neller Ebene: Aufgrund des fur den Einsatz von Feuerwaffen notwendigen,logistisch-strategischen Aufwandes konnte diese neue Technologie erst dannsubstanzieller Teil der Kriegfuhrung werden, als staatliche Institutionenumfassende Mittel fur Ausrustung und Training bereit stellen konnten. Dieswar nach Lorge bereits in der Spatzeit der Song-Dynastie der Fall. In Europafand die zwischenzeitlich uber den eurasischen Raum transferierte Techno-logie hingegen erst mit dem Aufstieg der Territorialstaaten der fruhen Neuzeitvergleichbare Bedingungen.

    Die zweite Kernfrage von Lorge greift einen zentralen Denkansto derSonderweg-Debatte auf, namlich in welchem Grad die technisch uberlegeneeuropaische Artillerie tatsachlich fur die militarischen Erfolge der Kolonial-machte an den asiatischen Kusten ausschlaggebend gewesen sei. Nach Lorgehingen die europaischen Erfolge letztlich starker von politischen und insti-tutionellen Faktoren ab, so dass die avancierte Artillerie aus seiner Perspektiveeher als simplizierendes Symbol europaischer Uberlegenheit erscheint.

    Visuelle Reprsentationen und technische Traktate in China

    Die oben skizzierten Ansatze einer Wissensgeschichte technischer Expertisesind zuletzt insbesondere fur China zu Zeiten der Song- und Ming-Dynastie

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  • untersucht worden speziell mit Bezug auf grasche Reprasentationen undtechnische Fachliteratur. Fur die Sonderweg-Debatte ist dies insofern wei-terfuhrend, als damit neben technischen Objekten und den Modalitaten ihresEinsatzes auch ein Kulturvergleich einerseits der Rahmenbedingungen derProduktion technischen Expertenwissens und andererseits der gesellschaftli-chen Rezeption bestimmter Technologien moglich wird. In den im Folgendengenannten Arbeiten geht es jedoch dezidiert um die Entwicklung eigenstan-diger Kategorien, um Nutzungsweisen solcher Medien zunachst im Kontextchinesischer Ordnungen des Wissens zu verorten.

    So versammelt die 2007 von Bray/Dorofeeva-Lichtmann/Metailie verof-fentlichte voluminose Anthologie Graphics and Texts in the Production ofTechnical Knowledge in China erstmals Beitrage zu visuellen Reprasentationenin der chinesischen Technik und Wissenschaft von der Vorzeit bis etwa 1900.Konzipiert ist der Band entlang der chinesischen Kategorie tu. In der aus-fuhrlichen Einleitung erklaren die Herausgeber unter anderem derenEtymologie:Tu umfasst eine groe Breite von graschen Reprasentationen, dienicht primar der (asthetischen) Illustration, sondern technischen Zwecken derWissensvermittlung in Lehrsituationen oder in administrativen Zusammen-hangen dienten. Besondere Beachtung gilt daher den Diskussionen derzeitgenossischen Autoren um die Interaktion von Bild und Text bei derWissensvermittlung. Ein Teil der Beitrage widmet sich tu in Form von Dia-grammen oder schematischen Darstellungen zum Beispiel graschenStrukturen in fruhen Kalendersystemen, Reprasentationen des Universumsund kartograschen Reprasentationen in Form raumlich angeordneter Texte.Im anderen Teil werden tu als technische Illustrationen im engeren Sinneanalysiert und zwar geometrische Diagramme, Darstellungen des menschli-chen Korpers in medizinischen Schriften oder Panzen in der Druckgrak.Ausfuhrlich wird auf illustrierte technische Schriften eingegangen, beispiels-weise Traktate zur Landwirtschaftstechnik.

    Eines der wichtigsten illustrierten technischen Traktate dieser Epoche istein 1637 erschienenes Sammelwerk des vielseitigen Gelehrten Song Yingxing.In 18 Kapiteln werden dort Arbeitsprozesse und technische Ausstattung vonder Textil- bis zur Metallverarbeitung, von der Landwirtschaft bis zumTransportwesen faktenreich beschrieben und illustriert (Yingxing 2004). DerAnalyse dieses Werkes widmet sich Dagmar Schafer in ihrer Monograe TheCrafting of the 10000 Things (2011a). Wahrend technische Traktate der Song-und Ming-Dynastie in der Tradition von Needham zunachst primar auf dendarin reprasentierten Stand der Technik hin befragt wurden, situiert Schaferdie Entstehung des Buches umfassend in seinem biograschen, politischenund okonomischen Kontext. Sie argumentiert, dass die Kategorien Technikund Wissenschaft den Zuschnitt von Yingxings Werk nicht angemessenabbilden konnen. Vielmehr werde es durch verschiedene chinesische Kon-zepte der Ordnung von Wissensbestanden strukturiert, die in der einen oder

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  • anderen Form technische Tatigkeiten umfassen. Ziel Yingxings war es dem-nach, technisch-handwerkliche Prozesse im Zuge von als dringlich erachtetengesellschaftlichen Reformen starker in der Welt des gelehrten Wissens zuverankern und ihre Harmonie mit universellen, kosmologischen Wirkprinzi-pien zu unterstreichen ohne dass dies allerdings mit einer sozialenHochschatzung der Handwerker selbst verbunden gewesen ware.

    Unter weiteren neueren Arbeiten, in denen die Autoren die Formentechnischen Expertenwissens und seiner kulturellen Rezeption in Chinaanalysieren, sind die in chinesischer Sprache erschienene Untersuchung zumTransfer wissenschaftlichen und technischen Wissens durch die Jesuiten amkaiserlichen Hof im 17. Jahrhundert (Zhang/Schemmel/Renn/Damerow2008) sowie ein Sammelband zu Genese, Transfer und Rezeption technischenWissens (Schafer 2011b) zu nennen. Weitere Fallbeispiele werden in einem2010 erschienenen Themenheft der Zeitschrift East Asian Science, Technology,and Society zum Thema ,,Specialist Traditional Knowledge diskutiert: DerHerausgeber Yung Sik Kim gibt einen Uberblick uber das Verhaltnis konfu-zianischer Kategorien zu technischem und wissenschaftlichem Wissenzwischen 1000 und 1700 und verweist in diesem Zuge auf die Schwierigkeiten,gangige Dichotomien der alteren westlichen Forschung wie naturlich versuskunstlich; Gelehrter versus Handwerker oder intellektuelle Neugier versuspraktischer Nutzen auf chinesische Verhaltnisse zu ubertragen. Andere Bei-trage diskutieren konkreter den Wissenstransfer im Papiergewerbe (JacobEyferth) oder die in wasserbaulichen Reformprojekten verhandelten, hierausfuhrlich kontextualisierten administrativen und lokalen Wissensbestande(Cho-ying Li).

    Ausblick und Perspektiven

    Die hier genannten Neuerscheinungen werfen zwei miteinander verbundeneFragenauf:Wiekanndie zunehmendeVielfalt vonStudien zurTechnikgeschichteauereuropaischer Kulturen bis etwa 1800 untereinander beziehungsweisemit der Forschung zu europaischen Entwicklungen in Beziehung gesetztwerden? Und wie waren ihre reichhaltigen Erkenntnisse fur eine differen-ziertere Analyse des Europaischen Sonderwegs fruchtbar zu machen? EineEtappe auf diesemWeg konnte es sein, ein Raster von Kategorien zur Analysesolcher Fallbeispiele zu erarbeiten, das die jeweiligen kulturellen Besonder-heiten nicht verdrangt, sondern einschliet. Dabei liee sich durchaus anbestehende Projekte aus Nachbardisziplinen der Technikgeschichte anknup-fen. So liegt in der Umweltgeschichte mit derMonograe von John F. RichardsThe Unending Frontier aus dem Jahr 2003 bereits seit langem eine methodischfundierte Globalgeschichte der Fruhen Neuzeit vor. Ohnehin scheint sich die

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  • Umweltgeschichte mit der globalen Perspektive leichter zu tun als benach-barte historische Disziplinen, vielleicht schon deshalb, weil die nationalebeziehungsweise territoriale Perspektive fur viele ihrer Untersuchungsge-genstande weniger wichtig ist.

    Modellcharakter konnten andererseits auch zwei systematisierend ange-legte, wirtschaftshistorisch ausgerichtete Sammelbande zum Textilgewerbehaben: The Spinning World (Riello/Parthasarathi 2009) und How India Clot-hed the World (Riello/Roy 2009) versammeln zur globalen Baumwollverar-beitung zwischen 1200 und 1850 beziehungsweise zum sudasiatischenBaumwollgewerbe zwischen 1500 und 1850 Beitrage namhafter Experten furunterschiedliche Weltregionen. Im abschlieenden Teil des letztgenanntenBandes werden dezidierte Vergleiche zum europaischen Textilgewerbegezogen technikhistorischen Zusammenhangen wird allerdings nur amRande Beachtung geschenkt. Auch wenn die Syntheseleistung in diesenBanden noch auf die ubergreifenden Einleitungen beschrankt bleibt, bieten sieaufgrund ihres stringenten Konzepts vielfache Anknupfungspunkte fur ver-gleichbare Projekte mit eher technikhistorischem Fokus insbesondere in derHinsicht, dass die Einzelbeitrage erstens stets die sozial- und kulturhistorischenKontexte der okonomischen Entwicklung des Textilgewerbes einbeziehen unddamit Spezialwissen zu unterschiedlichen Regionen untereinander ver-gleichbar machen und dass zweitens die Ergebnisse explizit vor demHintergrund zentraler methodischer Fragen der Sonderweg-Debatte reek-tiert werden. Das Bild, das solche Darstellungen von zentralen Aspekten derglobalen Wirtschaft in der Zeit bis 1800 zeichnen, ist, nebenbei bemerkt, invieler Hinsicht ein vollig anderes als das der Heldengeschichten der Dominanzder europaischen Technik und Wissenschaft in genau demselben Zeitraum.

    Ein andererWegwird in einem laufenden, vom European ResearchCouncilgeforderten Projekt an der London School of Economics beschritten, das unterder Leitung von Patrick OBrien dezidiert komparativ angelegt ist.4 Fur dieAnalyse von Japan, Indien, Europa, China und dem arabischen Raumwurde miteinem Vergleich der Formen von useful knowledge in diesen Kulturen einanspruchsvoller methodischer Ansatz gewahlt: Hier geht es einerseits uber dietechnischen Objekte hinaus um die Wissensbestande, die ihre Produktion undVerwendung ermoglichten, andererseits stehen damit die Trager solcher Wis-sensbestande ebenso im Fokus wie beispielsweise die Institutionen sowie diemedialen und sozialen Kontexte, innerhalb derer sie agierten.

    Vielleicht ist es kein Zufall, dass die zuletzt genannten Forschungen keinemonograschen Synthesen darstellen, sondern umfassendes Vergleichsma-terial auf der Basis global besetzter Arbeitsgruppen bieten. Denn entgegen allerGewissheiten, die Darstellungen a` la Landes allzu pointiert verbreiten, lasst derForschungsstand methodisch fundierte Synthesen einer Globalgeschichteder Technik vor dem Einsetzen des westlichen Industrialisierungsprozes-ses hochstens in Ansatzen zu. Wie die an dieser Stelle genannten

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  • Spezialuntersuchungen zeigen, ist die in den letzten Jahrzehnten vollzogeneErweiterung der Technikgeschichte gerade in sozial- und kulturhistorischerHinsicht fur ein solches Unterfangen leistungsfahig genug. Die Herausforde-rung scheint aktuell eher darin zu liegen, aus den im Einzelfall erreichten,differenzierten Einsichten zur Technikproduktion und -verwendung Katego-rien zu entwickeln, die erstens fur den interkulturellen Vergleich geeignet sindund denen zweitens damit auch in den master narratives ubergreifenderDebatten wie der des Europaischen Sonderwegs Gehor verschafft werdenkann.

    Wenn in komparativ angelegten Projekten zukunftig dieses Ziel verfolgtwird, ohne dabei von vornherein typisch westliche Fragestellungen vorauszu-setzen, mussen die in der Debatte um den Europaischen Sonderweg gangigentechnikhistorischen Kategorien allerdings vermutlich noch einmal neu ver-handelt werden. Denn moglicherweise ware damit letztlich auch eine Abkehrvom Konzept des Europaischen Sonderwegs selbst verbunden: Eine Globalge-schichte des Handwerks konnte daraus ebenso resultieren wie eine desRessourcenmanagements oder der Dynamik technischer Expertenkulturen.

    Danksagung

    Der vorliegende Beitrag schliet im Rahmen des Forschungsprojektes EarlyModern Technology and European Integration am Lehrstuhl fur Wirtschafts-,Sozial- und Umweltgeschichte der Universitat Salzburg an Vorarbeiten zuzwei fruheren Publikationen an (Popplow 2009, Reith/Popplow 2010). MeinDank gilt Klaus Hentschel fur den Vorschlag, zu diesem Thema eine Sam-melrezension bei NTM einzureichen, Sybilla Nikolow fur das professionelleManagement wahrend der Entstehungsphase sowie Beate Ceranski fur dieabschlieende Redaktion. Besonderer Dank gilt der grozugigen Forderungdes oben genannten Projektes durch den Fond zur Forderung der wissen-schaftlichen Forschung (FWF), Wien, Projektnummer M012019-P.

    Anmerkungen

    1 Siehe dazu Hall 1996, Roland 2003; eurozentrische Argumentationslinien Whitesdiskutiert Blaut 2000: 3144.

    2 Exemplarische Beitrage dazu in Prados de la Escosura 2004.3 Exemplarisch diskutiert in Parthasarathi 2011: 185203; mit starkerem Bezug auf das 19./

    20. Jahrhundert im Themenheft ,,Global Histories of Science in Band 101 (2010) derZeitschrift Isis. Der neu erschienene Band von Gunergun/Raina 2011 zu diesemThemenfeld konnte an dieser Stelle nicht mehr berucksichtigt werden.

    4 ,,Useful and reliable Knowledge in the East and the West from the accession of the Mingto the Industrial Revolution http://www2.lse.ac.uk/economicHistory/Research/URKEW/aboutUrkew.aspx; [29.01.2012].

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    Marcus PopplowFachbereich GeschichteUniversitat SalzburgRudolfskai 425020 SalzburgAustriaE-Mail: [email protected]

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