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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 50 51 TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS REMO NÄGELI S eine Reisen plant er haargenau: Wenn Patrick Schlenker sich einen Bart wachsen lässt, weiss seine Familie, dass er bald verreist. Zurück in die Ver- gangenheit, hinein in die Geschichte. Und je nach Rasur seines Voll-, Schnurr- oder Backenbartes, lässt sich das Ziel der Zeitrei- se erahnen. Denn bei Schlenkers histori- schen Ausflügen stimmt jedes Detail, Klei- dung, Behaarung, Umgangsformen. «Ich will über eine Epoche alles wissen», sagt er, «erst dann kann ich sie seriös und authen- tisch darstellen.» Alles andere sei nur sim- ples Verkleiden, plumpe Maskerade. Patrick Schlenker, 41, Basler, ist in der Schweiz führender Berater und Ausstatter für lebendige Geschichte, ge- fragt bei Film, Theater, TV und History- Festivals. Er erklärt Geschichte, er zeigt Geschichte, «ich lebe Geschichte». Und mit ihm Ehefrau Anaïs, 37, und die Kinder Kate, 7, Emily, 4, und der halb- jährige Matthew. Anaïs mag besonders die 1940er-Jahre, und die Mädchen sind längst in allerlei Epochen daheim und zanken sich um eine 100-jährige Schiefer- tafel genauso wie um Papas iPad. Dieses Wochenende hat Schlenker ein Problem. Zeitzonenkollision. Am Samstag reist er in die Belle Epoque von 1914 (und trägt einen breiten Backenbart durchgehend bis zum Schnauz), tags darauf ist er als Soldat von anno 1842 un- terwegs (mit schmalem Backenbart Er nimmt sich Zeit. Der Basler PATRICK SCHLENKER ist historischer Berater und Aus- statter für Zeitreisen. Er lebt die Vergangenheit hautnah – sogar Unterhose und Rasierer sind von anno dazumal. Kommt Zeit, kommt (sein) Rat «Wir können auch ganz normal» Die Schlenkers in ihren 2014-Kleidern. Die Zeitreisenden Familie Schlenker in ihrem Pat’s Uniform- und Kostümverleih in Basel. Patrick Schlenker (trägt Biedermeier von 1860), Ehefrau Anaïs (engl. Uniform um 1940), Kate (r., 15. Jahrhundert), Emily (um 1780) und Baby Matthew (im Matrosenkleid von 1940). u

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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS REMO NÄGELI

Seine Reisen plant er haar genau:

Wenn Patrick Schlenker sich

einen Bart wachsen lässt,

weiss seine Familie, dass er

bald verreist. Zurück in die Ver-

gangenheit, hinein in die Geschichte. Und

je nach Rasur seines Voll-, Schnurr- oder

Backenbartes, lässt sich das Ziel der Zeitrei-

se erahnen. Denn bei Schlenkers histori-

schen Ausflügen stimmt jedes Detail, Klei-

dung, Behaarung, Umgangsformen. «Ich

will über eine Epoche alles wissen», sagt er,

«erst dann kann ich sie seriös und authen-

tisch darstellen.» Alles andere sei nur sim-

ples Verkleiden, plumpe Maskerade.

Patrick Schlenker, 41, Basler, ist

in der Schweiz führender Berater und

Ausstatter für lebendige Geschichte, ge-

fragt bei Film, Theater, TV und History-

Festivals. Er erklärt Geschichte, er zeigt

Geschichte, «ich lebe Geschichte». Und

mit ihm Ehefrau Anaïs, 37, und die

Kinder Kate, 7, Emily, 4, und der halb-

jährige Matthew. Anaïs mag besonders

die 1940er-Jahre, und die Mädchen sind

längst in allerlei Epochen daheim und

zanken sich um eine 100-jährige Schiefer-

tafel genauso wie um Papas iPad.

Dieses Wochenende hat Schlenker

ein Problem. Zeitzonenkollision. Am

Samstag reist er in die Belle Epoque von

1914 (und trägt einen breiten Backenbart

durchgehend bis zum Schnauz), tags

darauf ist er als Soldat von anno 1842 un-

terwegs (mit schmalem Backenbart

Er nimmt sich Zeit. Der Basler PATRICK SCHLENKER ist historischer Berater und Aus-statter für Zeitreisen. Er lebt die Vergangenheit hautnah – sogar Unterhose und Rasierer sind von anno dazumal.

Kommt Zeit, kommt (sein) Rat

«Wir können auch ganz normal» Die Schlenkers in ihren 2014-Kleidern.

Die Zeitreisenden Familie Schlenker in ihrem Pat’s Uniform- und Kostümverleih in Basel. Patrick Schlenker (trägt Biedermeier von 1860), Ehefrau Anaïs (engl. Uniform um 1940), Kate (r., 15. Jahrhundert), Emily (um 1780) und Baby Matthew (im Matrosenkleid von 1940).

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und Seehundschnauz). Andere Zeiten,

andere Bärte – da heisst es umrasieren.

Und selbstverständlich originalgetreu: mit

einem Rasierhobel der Firma GEM von

1910. Das scharfe Teil liegt schon parat,

in Pat’s Uniform- und Kostüm verleih in

Basel. 2000 Kostüme und 500 Uniformen

findet man bei Schlenker, gratis dazu gibt

er seinen Kunden Reise tipps und Be-

nimmregeln für die gewählte Epoche.

Am Samstag zeitreist Schlenker

fürs Fernsehens SRF. Ab dem 1. August

wird «Anno 1914 – Leben wie vor 100 Jah-

ren» ausgestrahlt. Der Basler stellt

Requisiten zur Verfügung und schult die

Darsteller. Eine davon ist «Schweiz

aktuell»-Moderatorin Sabine Dahinden.

Schlenker verwandelt sie in eine Dame

der Belle Epoque bis ins letzte (verbor-

gene) Detail. In seinem Kostümverleih

hängt ein cremefarbenes Kleidchen

mit neckischen Bordüren, verspielten

Rüschen, dazu Mieder und Korsett – das

wird Dahindens 1914-Unterwäsche. Die

TV-Frau trifft den Historienprofi am Sams-

tagmorgen im Hotel Victoria in Kander-

steg BE zum Trainigslager für die «Anno

1914»-Crew. Zeitreiseleiter Schlenker –

angemessen pomadiert und gewandet

(die Hose gehörte einst dem Fabrikanten

Carl Geigy) – doziert über die Etikette der

Belle Epoque, zeigt, wie man manierlich Handkuss Schlenker beübt SRF-Modera-torin Sabine Dahinden im Hotel Victoria.

Stilgerecht Im Hotelzimmer verwandelt sich Schlenker in einen Herrn von 1914.

speist, stilgerecht promeniert und Damen

mit Handkuss ehrt («den Handrücken nie

mit den Lippen berühren!»).

Patrick Schlenker ist gelernter

Architektur-Modellbauer. Schon als Kind

baute er Modelle zu militärischen The-

men und lauschte den Erst-Weltkrieg-

Erzählungen seiner Tante. Mittlerweile

ist er ein führendes Mitglied der soge-

nannten Reenactors (englisch reenact, zu

Deutsch «nachstellen»). Sein Wissen, die

Requisiten und Kostüme sind gefragt. Er

berät auch Filmproduktionen (zuletzt

«Akte Grüninger»), die historischen Mu-

seen Basel und Aargau und stellt sich

auch mal als lebendiges Unterrichtsobjekt

in Ritterrüstung vor eine Schulklasse.

Auch im Ausland kennt man den

Schweizer. Schlenker besucht «Living

History»-Events wie etwa Zweit-Welt-

krieg-Gedenkanlässe, und er beteiligt

sich gar beim Nachstellen der berühmten

Schlacht im US-Bürgerkrieg von Gettys-

burg – zusammen mit 15 000 Statisten

und 700 Pferden. Faszinierend sei es, die

Geschichte mit allen Sinnen zu erleben,

sagt Schlenker. Auch mit dem Herz. Wie

letzthin, als er 94 Liebesbriefe ersteiger-

te, die sich ein britischer Korporal und

eine Krankenschwester im Zweiten Welt-

krieg schickten. «Lehrreich, was die sich

geschrieben haben. Und herzerreissend.»

Es ist spät geworden 1914. Weit

nach Mitternacht. Das SRF-Trainings-

lager in Kandersteg gipfelt in einem

rauschenden Ball mit rauschenden

Roben. Wunderschön, aber anstrengend.

Wie SRF-Moderatorin Sabine Dahinden

später in ihrer Kolumne in der «Zen-

tralschweiz am Sonntag» vermerkt: «Auf

einmal schlägt mir die ganze Nostalgie

aufs Gemüt, das Korsett von 1914, die

vielen Haarnadeln in meiner Frisur, mein

Begleiter, der sich jedes Mal vom Tisch

erhebt, wenn ich aufstehe, und der mich

vor lauter Höflichkeit auf Schritt und

Tritt begleiten will.» Dieser gnadenlos rit-

terliche Begleiter – der Herr Schlenker.

Und er versteht Sabine Dahindens

Leiden: «Die gute alte Zeit war oft brutal

hart.» In welcher Epoche fühlt sich der

Zeitenspringer eigentlich am meisten zu

Hause? Eine Lieblingszeit habe er nicht,

klar wärs spannend, für ein paar Tage in

echt in die Vergangenheit reisen zu kön-

nen, zu überprüfen, ob die Recherchen

wirklich stimmen. Doch seine Zeit –

sei die Gegenwart. Zu sehr geniesst er

die Annehmlichkeiten von heute. Zudem

seien die Lebensumstände früher doch

meist sehr schwierig gewesen. Schlenker

spricht von der hohen Kindersterblich-

keit damals. «Ich bin froh, dass man

Beim Handkuss à la 1914 ja nie

den Handrücken der Dame mit den

Lippen berühren PATRICK SCHLENKER

Das Auto als Zeit­reisemaschine In Kandersteg an gekommen, packt Schlenker aus: 1914-Kostüme und 1842-Waffen.

1470 Torwache am Tag der Stadt-tore Basel 2012. Spätmittelalter-liche Kleidung mit Schaller (Helm) und Brustpanzer.

1900 Familien-foto während der Belle Epoque Woche Kandersteg 2013. Reise- und Winterkleidung.

Frühes 20. Jh. Im Badeanzug anlässlich der Belle Epoque Woche Kandersteg 2014.

1943/44 Spitfire-Pilot der Royal Air Force an der Breitling Air Show Sion 2011. Uniform: Warrant Officer mit Irvin-Jacke und 1941er- Schwimmweste.

1861–1865 US-Sezessions-krieg am Oldwest Unterkulm 2014. Uniform: Kaval-lerie-Colonel.

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einst tödliche Krankheiten heute mit

einer simplen Tablette heilen kann – ge-

rade als Vater von drei Kindern.»

Zeit-, Ort- und Bartwechsel Weni-

ge Stunden später, es ist Sonntagmorgen,

besucht Schlenker einen historischen

Anlass auf Schloss Wellenberg TG. Mit

Kameraden seines militärhistorischen

Vereins «Rost & Grünspan» mimt er einen

Soldatentrupp der Solothurner Ordon-

nanz von anno 1842. Die ganze Schweizer

Zeitreise-Familie ist hier, und alle kennen

Schlenker. Der römische Legionär drückt

sich den Basler an die gepanzerte Brust,

mittelalterliche Mägde zwinkern ihm

zu, und eine 30er-Jahre- Lady mit

Celluloid-Sonnenbrille haucht einen Luft-

kuss. Und Mittelalter-Mann Jack Balmer,

der eben eine 6-Kilo-Granitkugel in seinen

Bodenmörser aus dem 15. Jahrhundert

wuchtet, bringt es auf den Punkt:

«Schlenker ist unser Szenenkönig.»

Schlenker hat von Natur aus ei-

nen Vorteil: Mit seiner 1,68-Meter-Statur

und Schuhnummer 39 passen ihm selbst

uralte Kostüme von anno dazumal (die

Leute waren früher kleiner). Und schon

ist er parat für den nächsten Zeithüpfer,

seine nächste «Anno»-Malie: Egal, obs

ins Mittelalter geht, in die swingenden

1930er oder als Soldat in Napoleons

Dienst, Schlenker weiss, erst die richtige

Rasur macht den Zeitmeister. Kommt

Zeit, kommt Bart.

«Hast du schnell Zeit?» Am Historischen Markt auf Schloss Wellenberg nahe Frauenfeld TG trifft Schlenker (r.) als 1842-Soldat auf den Chef einer römischen Gruppe.

«Gebt Feuer!» Schlenker (r.) und seine «Rost & Grünspan»-Kameraden.

Quartier Selbstverständlich sind auch die Zelte der Zeit um 1842 nachgemacht.

Schlenker ist ganz klar unser Szenenkönig ZEITREISENDER JACK BALMER

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