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1 «texte» Februar 2013 «texte» Foto ©Alois Altenweger Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit Herausgeber: Alois Altenweger, www.psychologieforum.ch und Szondi-Institut Zürich

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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit

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Foto ©Alois Altenweger

Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse

und therapeutische Arbeit

Herausgeber: Alois Altenweger, www.psychologieforum.ch und Szondi-Institut Zürich

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«texte»

Das Online-Magazin

für psychologische Themen,

Schicksalsanalyse

und therapeutische Arbeit

Februar 2013

Szondi-Institut Zürich

Die Verantwortung für den Inhalt der Texte, die vertretenen Ansichten und Schlussfolgerungen liegt bei den Autoren bzw. den zitierten Quellen.

Fotos: © Alois Altenweger

Szondi-Institut, Krähbühlstrasse 30, 8044 Zürich, www.szondi.ch, [email protected], Tel. 044 252 46 55

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Inhalt

Themen im Schnittpunkt

Traumaforschung: In einer eisigen Nacht im Januar…

Virginia Hughes

Epigenetik: Kindliches Trauma hinterlässt bei manchen Opfern Spuren im Erbgut

Torsten Klengel et al.

Psychologisches Wider den Beschleunigungswahn

Medizin und Gesundheit ADHS ist keine Modekrankheit

Über den Tellerrand hinaus

Alter Ego: Virtueller Zwilling soll soziale Interaktion benachteiligter Menschen verbessern

Sterbende ganzheitlich begleiten

Mitteilungen

Zu guter Letzt

Moguer – das Dorf

Juan Ramon Jimenez

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__Themen in Schnittpunkt

Traumaforschung:

In einer eisigen Nacht im Januar…

Die meisten Menschen sind nach einem traumatischen Erlebnis schnell wieder auf den Beinen

– manche aber nie. Wissenschaftler wollen herausfinden, was den Unterschied macht.

Virginia Hughes

In einer eisigen Nacht im Januar 1986 trug Elizabeth Ebaugh ihre Lebensmittel über den

leeren Parkplatz eines Einkaufszentrums am Stadtrand von Washington DC. Sie stieg in ihr

Auto und warf die Tasche auf den freien Beifahrersitz. Aber als sie die Türe schließen wollte,

war die von einem kleinen, ungepflegten Mann mit großem Messer in der Hand versperrt. Er

zwang sie, auf den Beifahrersitz zu rutschen, und setzte sich hinters Steuer. Der Mann fuhr

ziellos durch die Landschaft und schimpfte dabei über seine untreue Freundin und seine Zeit

im Gefängnis. Ebaugh, damals 30 Jahre alt und ausgebildete Psychotherapeutin, versuchte ihn

zu beruhigen, um ihre Freiheit auszuhandeln. Nach mehreren Stunden mit ein paar Stopps

schleppte er sie in ein Motel, schaute sich einen Pornofilm an und vergewaltigte sie. Dann

zwang er sie zurück zu ihrem Auto.

Auf Ebaughs verzweifeltes Bitten hin, versprach er, sie frei zu lassen. Als er dann um etwa

zwei Uhr nachts auf einer Brücke anhielt und ihr befahl auszusteigen, dachte sie schon, sie

hätte es geschafft. Doch dann gab er ihr Zeichen, von der Brücke zu springen. "Da bin ich

dann völlig durchgedreht", erinnert sich Ebaugh: Angst und Erschöpfung ließen sie in

Ohnmacht fallen. Sie kam im freien Fall zu sich. Der Mann hatte sie – schwach wie sie war

und an den Händen gefesselt – aus einer Höhe von vier Stockwerken von der Brücke

gestoßen. Als sie ins eisige Wasser tauchte drehte sie sich auf den Rücken und begann mit den

Füßen zu strampeln. "In dem Moment war ich mir völlig sicher, ich würde es schaffen", sagt

sie.

Posttraumatische Belastungsstörung

Nur wenige müssen solche psychischen und körperlichen Qualen erleiden wie Ebaugh in

dieser Nacht. Extremer Stress ist aber nicht selten. Schätzungsweise 50 bis 60 Prozent aller

Amerikaner haben irgendwann in ihrem Leben ein traumatisches Erlebnis, sei es bei einem

Militäreinsatz, einem Überfall, einem schweren Autounfall oder einer Naturkatastrophe.

Heftiger Stress löst eine starke Reaktion im Körper aus und knüpft im Gehirn Verbindungen

zwischen dem Ereignis und der Angst. Bei etwa acht Prozent aller Traumaopfer bleiben diese

über mehr als einen Monat bestehen und man spricht von einer post-traumatischen

Belastungsstörung (PTBS; engl.: Posttraumatic Stress Disorder, PTSD). Immer

wiederkehrende, Furcht einflößende Erinnerungen, die Vermeidung jeglicher

Triggersituationen der Erinnerungen und ein erhöhter Erregungszustand gelten als die drei

diagnostischen Hauptkriterien. Auch Ebaugh entwickelte in den Monaten nach dem Überfall

solch Symptome und erhielt die Diagnose PTBS. Mit Hilfe von Freunden, Psychologen und

Seelsorgern besserte sich ihr Zustand; etwa fünf Jahre später waren die Symptome

verschwunden. Sie eröffnete ihre eigene Praxis, heiratete und bekam einen Sohn.

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Etwa zwei Drittel aller PTBS-Patienten erholen sich letztendlich wieder. "Die meisten

tolerieren sogar Angst einflößende Stresssituationen und erneute Traumata recht gut, meint

Robert Ursano, der Direktor des Center for the Study of Traumatic Stress an der Uniformed

Services University of the Health Sciences in Bethesda, USA. Er und seine Kollegen wollen

wissen, was zu dieser mentalen Stärke führt. "Wie erklärt sich diese psychische Belastbarkeit

der menschlichen Seele?"

Seit den 1970ern ist klar, dass psychosoziale Faktoren – etwa ein starkes soziales Netzwerk,

die Bereitschaft, sich mit Ängsten auseinander zu setzen und eine optimistische

Lebenseinstellung bei der Rekonvaleszenz – hilfreich sind. Inzwischen wird der Einfluss

biologischer Faktoren untersucht. So wurden bei Menschen und im Tiermodell genetische

Varianten gefunden, die das individuelle PTBS-Risiko beeinflussen. Erforscht wird auch,

wie sich Körper und Gehirn beim Erholungsprozess verändern und warum Psychotherapie

nicht immer hilft. Ziel ist es letztlich, Behandlungsmöglichkeiten zur Verbesserung der

psychischen Belastbarkeit zu entwickeln.

Zittern, Schreckhaftigkeit und Angst - ganz normale Reaktionen

Niemand wird je ganz nachvollziehen können, was sich während des Angriffs im Kopf

Ebaughs abspielte – immerhin aber lernen Forscher langsam immer mehr über die

physiologischen Reaktionen des Körpers. Die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) etwa sendete,

als Ebaugh Angreifer und Messer sah, Signale an die über den Nieren liegenden Nebennieren,

die nun wiederum die Stresshormone Adrenalin und Kortison ausschütteten: Ihr Puls

beschleunigte sich, ihr Blutdruck stieg, ihre Schweißdrüsen auf der Haut wurden aktiv und die

Sinne geschärft. Neuronenschaltkreise verknüpften sich und verdrahteten das Erlebnis so fest

im Gedächtnis: Bei einer neuerlichen Bedrohung wird sie sich sofort wieder an die Angst

erinnern und fliehen wollen.

Die Kennzeichen von akutem Stress

Bedrohliche Ereignisse lösen eine Kaskade von Reaktionen im Körper aus.

Die Nachwirkungen sind heftig. In der ersten Woche nach dem Überfall "fühlte ich mich wie

ein Neugeborenes", berichtet Ebaugh. "Ständig wollte ich im Arm gehalten werden;

zumindest aber musste immer jemand in der Nähe sein." Zum ständigen Zittern kamen

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Schreckhaftigkeit und andauernde Angstgefühle – sowie die Unfähigkeit, auch nur in die

Nähe des Einkaufszentrums zu gehen.

Fast jeder Traumapatient kennt solche PTBS-Symptomen zumindest teilweise. Viele leiden

später an schweren Depressionen, Abhängigkeit oder Suizidgedanken. PTBS kann einen

horrenden Tribut fordern. Als zwischen 2005 und 2009 eine wachsende Zahl von Soldaten im

Irak und Afghanistan stationiert wurden, stieg die Suizidrate in der US-Army und bei den

Marines fast auf das doppelte.

In den letzten 20 Jahren haben Wissenschaftler mit unterschiedlichen bildgebenden Verfahren

das Gehirn von Traumapatienten untersucht. Dabei fielen zwei Hirnareale von PTBS-

Patienten auf, die stressbedingt zu schrumpfen scheinen: der Hippokampus – ein basaler Teil

des limbischen Systems, wichtig für die Gedächtnisbildung – und der anteriore cinguläre

Cortex (ACC), ein Teil des präfrontalen Kortex, der für Vernunft und Entscheidungsfindung

verantwortlich ist. Misst man mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) den

Blutfluss im Gehirn so zeigt sich, dass PTBS-Patienten, die an ihr Trauma erinnert werden,

einen weniger aktiven präfrontalen Kortex und eine überaktive Amygdala haben. Bei der

Amygdala handelt es sich um eine weitere Region des limbischen Systems, in der Angst und

Emotionen verarbeitet werden.

Bei Traumapatienten, die keine PTBS entwickeln, ist der präfrontale Kortex dagegen aktiver.

Wie der Neurowissenschaftler Kerry Ressler von der Emory University in Atlanta, USA, mit

seinen Kollegen im August zeigen konnte, sind der ACC und der Hippocampus bei bei

solchen weniger anfälligen Patienten stärker miteinander verschaltet [1]. Somit scheint die

Belastbarkeit des Menschen zumindest teilweise davon abzuhängen, wie intensiv die

Schaltkreise für eine rationale Bewertung im Kortex mit denen für die emotionale

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Verarbeitung im limbischen System interagieren. "Belastbare Menschen finden anscheinend

eine sehr heilsame Reaktion auf negative Stimuli," erläutert Dennis Charney, der als

Psychiater an der Mount Sinai School of Medicine in New York arbeitet und sich mit

bildgebender Analyse des Gehirns von Vergewaltigungsopfern, Soldaten und anderen

traumatisierten Patienten beschäftigt hat.

Schützendes Umfeld, Sozialkontakte schaffen Linderung

Nach der gewaltsamen Entführung begab sich Ebaugh in Psychotherapie und probierte

verschiedene alternativ-medizinische Behandlungen aus. Dass sie mit ihrem Erlebnis fertig

werden konnte, schreibt sie aber vor allem ihrem fürsorglichen Umfeld zu – Helfern, die sich

schon unmittelbar nach der Tat um sie kümmerten. Etwa der LKW-Fahrer, der ihr – nachdem

sie sich gerade über die felsige Böschung des Flusses geschoben hatte – sofort an der

nächstgelegen Raststätte mit heißem Tee versorgte. Auch die herbeigerufenen Polizisten

waren mitfühlend und geduldig und der Arzt im Krankenhaus behandelte sie wie seine eigene

Tochter. Dann nahm sie ein guter Freund für eine Weile auf, und ihre Familie gab ihr

Rückhalt und moralische Unterstützung. "Anfangs musste ich die Leute fast von Besuchen bei

mir abhalten, weil es so viele waren", berichtet sie.

Für verschiedene Traumata konnte gezeigt werden, wie soziale Unterstützung die

Entwicklung von PTBS und anderen psychischen Probleme dämpft. Der Psychologe James

Coan von der University of Virginia in Charlottesville in USA hat eine Reihe von

Untersuchungen mittels fMRT-Scanner durchgeführt. Dabei lagen Frauen in einem fMRT-

Scanner und erhielten immer wieder beängstigende Hinweise, wie die Ankündigung eines

kleinen elektrischen Schlags am Fußgelenk in den nachfolgenden 4 bis 10 Sekunden. Die

Hinweise lösten sensorische Erregungen aus und aktivierten Hirnregionen, die mit Furcht und

Angst im Zusammenhang stehen. Viel weniger heftig fiel ihre Reaktion aus, sobald ihr

Partner oder Freunde sie an der Hand hielten.

Warum Sozialkontakt Linderung schafft, vermag niemand genau zu erklären: Zu viele

Hirnkreisläufe und neurochemische Prozesse sind beteiligt. Eine Berührung setzt in unserem

Gehirn offenbar natürliche Opioide wie die Endorphine frei – und weil der ACC viele

Opioidrezeptoren trägt, beeinflussen vielleicht gerade Berührungen auch unsere

Stressantwort.

Auch das Hormon Oxytocin, das bei sozialen Kontakten im Gehirn zirkuliert, Vertrauen

fördert und Angst mindert spielt eine Rolle. In einer Studie bekamen Probanden zunächst eine

Dosis Nasenspray verabreicht, in die entweder Oxytocin oder ein Plazebo gemischt war. Dann

wurden Angst einflößende Bilder präsentiert und die Reaktion mit bildgebenden Verfahren

ausgewertet. Tatsächlich zeigten die oxytocinbehandelten Teilnehmer schwächere Aktivitäten

in der Amygdala und weniger starke Verbindungen zwischen Amygdala und dem Hirnstamm,

in dem Stressreaktionen wie die Herzfrequenz kontrolliert werden. Die Ausschüttung von

Oxytocin beim Kontakt mit anderen Leuten vermindert möglicherweise unsere Antwort auf

Stress, vergleichbar den Endorphinen.

Auch die sozialen Erfahrungen aus der Vergangenheit können wichtig sein. Ohne jeden

Zweifel ziehen chronische Vernachlässigung oder Missbrauch eine Reihe psychischer

Probleme nach sich und ein erhöhtes Risiko für PTBS. Allerdings weist Ressler auch auf

einen gut dokumentierten, dabei aber kaum verstandenen Nebeneffekt hin: Die

"Stressabhärtung". Sie führt dazu, dass zumindest Nagetiere und Affen im späteren Leben

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belastbarer sind, wenn sie in der frühen Kindheit vereinzelte Stressereignisse erleiden

mussten, etwa einen Elektroschock oder die kurzfristige Isolation von der Mutter.

Auch Ebaugh meint, frühzeitiger Stress verbunden mit der Sicherheit, ihn zu bewältigen, hat

ihr bei der Erholung geholfen. Als Zehnjährige waren ihre Knie wegen einer angeborenen

Fußfehlstellung operiert worden, worauf sie sich ein Jahr lang intensiver

Rehabilitationsmaßnahmen unterziehen musste. "Mit Schmerzen zu leben, tapfer zu sein und

sich durchzubeißen war mir nicht fremd" meint sie. "So etwas trainiert – wie einen Muskel,

der dadurch stärker wird."

Von Natur aus belastbar

Die meisten Traumapatienten erholen sich zwar – manche aber schaffen es nie. Eine Ursache

suchen einige Wissenschaftler im Epigenom, also den chemischen Modifikationen, die beim

An- und Abschalten der Gene beteiligt sind. Andere untersuchen die Gene selber, zum

Beispiel FKBP5. Dieses Gen schaltet sich in die hormonellen Feedbackmechanismen zur

Regulation der Stressantwort im Gehirn ein. Ressler und Kollegen präsentierten im Jahr 2008

Untersuchungen zu Innenstadtbewohnern mit niedrigem Einkommen, die als Kinder physisch

oder sexuell missbraucht worden waren. Bei ihnen fand er einige Varianten des FKBP5-Gens,

die für PTBS im Erwachsenenleben prädisponierten und andere, die davor schützten.

Im Brennpunkt des Interesses steht als Biomarker psychischer Widerstandsfähigkeit aber vor

allem das Neuropeptid Y (NPY), ein vom Gehirn unter Stress freigesetztes Hormon. Anders

als die klassischen Stresshormone, die den Körper in Alarmstufe versetzen, wirkt NPY auf

Rezeptoren in verschiedenen Teilen des Gehirns – einschließlich der Amygdala, dem

präfrontalen Kortex, dem Hippokampus und dem Gehirnstamm – und schaltet dort den Alarm

wieder ab. "Dieses Bremssystem scheint der wichtigste Regulator der Belastbarkeit zu sein,"

meint die Neurowissenschaftlerin Renu Sah von der University of Cincinnati in Ohio.

Das Interesse am Zusammenhang von NPY und psychischer Belastbarkeit wurde im Jahr

2000 von einer Studie mit US-Soldaten geweckt, bei der in einem Überlebenstraining eine

Kriegsgefangenschaft simuliert – inklusive Essens- und Schlafentzug, Isolierung und

verschärften Verhören. Dabei stieg der NPY-Level im Blut der Probanden während der

Befragungen an. Soldaten von Sondereinsatzkommandos, die auf besonders harte Belastungen

trainiert waren, hatten außerdem von Haus aus höhere NPY-Spiegel als sonstige Soldaten.

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Inzwischen wird in Tiermodellen die Funktionsweise von NPY untersucht. In einem an der

Indiana University School of Medicine in Indianapolis durchgeführten Experiment wurden

Ratten erst für 30 Minuten in einem engen Plastikbeutel isoliert und anschließend wieder in

eine Box mit einer weiteren Ratte freigelassen. Das Einzwängen machte die Ratte so

ängstlich, dass sie 90 Minuten lang den Kontakt mit dem anderen Tier vermied. Wurde einer

Ratte aber vor dem Einzwängen NPY gespritzt, ging sie anschließend mit dem Käfiggenossen

um, als ob nichts gewesen wäre.

Diese Beobachtungen könnten neue Therapien anstoßen. Charneys Arbeitsgruppe am Mount

Sinai führt eine Phase-II-Studie durch, in der NPY-Nasenspray bei PTBS-Patienten getestet

wird. Andere Forscher untersuchen die Freisetzung von NPY beim Einsatz so genannter

"small molecules", also kleiner Moleküle, welche die Blut-Hirnschranke überschreiten

können. Diese blockieren Rezeptoren, die die Freisetzung von NPY regulieren.

Stressbewältigung

Bei der Suche nach weiteren biologischen Markern der psychischen Belastbarkeit ist das US-

Militär führend. Auch auf Grund steigender Suizidraten unter Soldaten kooperiert das US-

Militär seit 2008 im Rahmen des 65 Millionen teuren Projektes STARRS (the Study to Assess

Risk and Resilience in Servicemembers) mit dem National Institute of Mental Health und

verschiedenen akademischen Instituten. STARRS besteht aus mehreren Unterprojekten,

einschließlich einer retrospektiven Analyse der anonymisierten medizinischen und

verwaltungstechnischen Akten von über 1,6 Millionen Soldaten. Ziel ist es, Vorzeichen von

Suizid, PTBS und anderen mentalen Problemen zu erkennen. Die Projektmitarbeiter sammeln

auch von zehntausenden aktiver Soldaten Blutwerte, Daten zur medizinischen Vorgeschichte

und Ergebnisse kognitive Tests. Erste Ergebnisse sollen im kommenden Jahr veröffentlicht

werden.

Darüber hinaus finanziert das Militär Untersuchungen im Tiermodell. Die meisten Nagetiere

assoziieren sehr schnell einen schmerzhaften Elektroschock am Fuß mit einem bestimmten

Signal wie einem Ton oder einem bestimmten Käfig. Sobald sie diese Assoziation erkannt

haben, erstarren sie beim Ertönen des Signals, auch wenn der Elektroschock ausbleibt. Vor

einigen Jahren verpaarte Abraham Palmer, ein Genetiker von der University of Chicago in

Illinois, gezielt Mäuse, die für ungewöhnlich kurze Zeit erstarrten. Nach etwa vier

Generationen hatte er besonders belastbare Mäuse, die etwas halb so lange erstarrt blieben

[10]. Dies lag aber nicht an einer veränderten Schmerzsensitivität oder allgemeinen

Lernfähigkeit der Tiere. Stattdessen zeigt sich bei den Mäusen eine ungewöhnlich niedrige

Aktivität in Amygdala und Hippokampus, wie der Neurowissenschaftler Luke Johnson von

der Uniformed Sevices University bemerkte. Seine Daten passen zu Befunden bei PTBS-

Patienten. Darüber hinaus fand er im Urin der Mäuse niedrige Level des Stresshormons

Korticosteroid.

"Das Stresssystem dieser Mäuse ist deutlich herunterreguliert, auch in Ruhephasen,"

kommentiert Johnson. "Offenbar existieren biologische Mechanismen, die die

Angsterinnerungskapazitäten beeinflussen." In zukünftigen Experimenten will Johnson mit

Hilfe der Mäuse NPY und mögliche neue Therapien untersuchen.

Ebaugh hat sich inzwischen auf die Behandlung von Traumaopfern spezialisiert. Auch sie

glaubt, dass Medikamente zur Genesung beitragen können. Manche Patienten mögen auf

anderem Wege Erleichterung finden – religiöse Praktiken etwa, die Altruismus, das

Gemeinschaftsdenken und den Lebenssinn ins Zentrum stellen, sind hilfreich gewesen.

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Ebaugh selbst hat von Yoga, Meditation, Naturheilmitteln und Akupunktur profitiert.

Inzwischen kauft sie ihre Lebensmittel wieder in genau dem Supermarkt, auf dessen Parkplatz

sie entführt wurde. Sie fährt auch wieder über die Brücke, von der sie geworfen wurde, als

wäre es irgendeine Straße. Dem Täter habe sie vergeben, meint sie. Wenn sie darüber

nachdenkt, was er gemacht hat, dann tut sie dies ohne Ärger, Traurigkeit oder Angst. "Im

Moment wird mein Leben davon gar nicht beeinflusst, zumindest nicht negativ", sagt sie.

"Wenn ich das Positive herausziehen möchte, erkenne ich, wie viel ich durch alles gelernt

habe."

© Spektrum.de

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Epigenetik:

Kindliches Trauma hinterlässt bei manchen Opfern Spuren im

Erbgut

Gen-Umwelt-Interaktion bewirkt lebenslange Fehlregulation der

Stresshormone

Torsten Klengel et al.

Viele Erkrankungen des Menschen sind das Ergebnis vom Zusammenwirken seiner

individuellen Gene und den ihn umgebenden Umwelteinflüssen. Traumatisierende Ereignisse

vor allem in der Kindheit stellen dabei starke Risikofaktoren für das Auftreten von

psychiatrischen Erkrankungen im späteren Leben dar. Ob der einwirkende frühe Stress aber

tatsächlich das Opfer krank macht, hängt entscheidend von dessen genetischer Veranlagung

ab. Misshandelte Kinder sind erheblich gefährdet, angst- oder gemütskrank zu werden, weil

der einwirkende hohe Stress die Regulation ihrer Gene dauerhaft verändern kann.

Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München dokumentieren nun

erstmals, dass manche Varianten des FKBP5-Gens durch ein frühes Trauma epigenetisch

verändert werden. Bei Menschen mit dieser genetischen Veranlagung verursacht das Trauma

eine dauerhafte Fehlregulation des Stresshormonsystems. Die Folge ist eine lebenslange

Behinderung im Umgang mit belastenden Situationen für den Betroffenen, welche häufig zu

Depression oder Angsterkrankungen im Erwachsenenalter führt. Die Ärzte und

Wissenschaftler erwarten sich von ihren aktuellen Erkenntnissen neue, auf den einzelnen

Patienten zugeschnittene Behandlungsmöglichkeiten, aber auch eine verstärkte

gesellschaftliche Aufmerksamkeit, um Kinder vor einem Trauma und dessen Folgen zu

schützen.

Arbeitsgruppenleiterin Elisabeth Binder vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie untersuchte

daher das Erbmaterial von fast 2000 Afro-Amerikanern, die als Erwachsene oder auch bereits

als Kinder mehrfach schwer traumatisiert wurden. Ein Drittel der Traumaopfer war erkrankt

und litt mittlerweile unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Die Wissenschaftler

wollten durch den Vergleich der genetischen Sequenzen von erkrankten und nicht erkrankten

Traumaopfern den Mechanismus dieser Gen-Umweltinteraktion aufklären. Ihre Untersuchung

ergab, dass tatsächlich das Risiko an Posttraumatischer Belastungsstörung zu erkranken, mit

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steigender Schwere der Misshandlung nur in den Trägern einer speziellen genetischen

Variante im FKBP5-Gen zunahm. FKPB5 bestimmt, wie wirkungsvoll der Organismus auf

Stresshormone reagieren kann, und reguliert so das gesamte Stresshormonsystem.

In Experimenten an Nervenzellen konnten die Max-Planck Forscher im Weiteren

nachweisen, dass die von den Münchner Forschern entdeckte FKBP5-Variante für den

betroffenen Menschen tatsächlich einen physiologischen Unterschied macht. Extremer Stress

und somit hohe Konzentrationen an Stresshormon bewirken eine sogenannte epigenetische

Veränderung: Von der DNA wird an dieser Stelle eine Methylgruppe abgespalten, was die

Aktivität von FKBP5 deutlich erhöht. Diese dauerhafte Veränderung der DNA wird vor allem

durch Traumata im Kindesalter erzeugt. So lässt sich bei Studienteilnehmern, die

ausschließlich im Erwachsenenalter traumatisiert wurden, keine krankheitsassoziierte

Demethylierung im FKBP5-Gen nachweisen.

Torsten Klengel, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Psychiatrie, erklärt die

Studienbefunde wie folgt: „Traumata im Kindesalter hinterlassen je nach genetischer

Veranlagung dauerhafte Spuren auf der DNA: Epigenetische Veränderungen im FKBP5-Gen

verstärken dessen Wirkung. Die mutmaßliche Konsequenz ist eine anhaltende

Fehlsteuerung der Stress-Hormonachse beim Betroffenen, die in einer psychiatrischen

Erkrankung enden kann. Entscheidend für das kindliche Traumaopfer ist aber, dass die Stress-

induzierten epigenetischen Veränderungen nur dann auftreten können, wenn es auch diese

spezielle DNA-Sequenz besitzt.“

Die aktuelle Studie verbessert unser Verständnis von psychiatrischen Erkrankungen als Folge

der Interaktion von Umwelt- und genetischen Faktoren. Die Ergebnisse werden helfen,

Menschen individualisiert zu behandeln, bei denen vor allem eine Traumatisierung in früher

Jugend das Erkrankungsrisiko erheblich vergrößert hat.

Originalveröffentlichung:

Allele–specific FKBP5 DNA demethylation: a molecular mediator of gene–childhood trauma

interactions

Nature Neuroscience 2012 , DOI 10.1038/nn.3275.

Weitere Informationen erhalten Sie von:

Dr. Barbara Meyer Referentin für Öffentlichkeitsarbeit

Max-Planck-Institut für Psychiatrie

Tel.: 089 30622-616

Fax: 089 30622-348

Email: bmeyer[a]mpipsykl.mpg.de

__Psychologisches

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Psychotherapie: Wider den Beschleunigungswahn

Tilmann Moser

Der Trend zu Standardisierung, Modularisierung und immer mehr Effizienz ist eine

problematische Entwicklung. Warum man Psychotherapien nicht einfach abkürzen darf.

Zu Freuds Zeiten waren beim Meister selbst Psychoanalysen oft nur einige Monate lang.

Nach dem Ersten Weltkrieg kamen bereits viele Amerikaner zu ihm in der Hoffnung auf

Heilung bei dem immer berühmter werdenden Mann. Die meisten aber waren Ärzte,

mehrheitlich sogar Psychiater, die sich aus- oder fortbilden lassen wollten. Nach wenigen

Monaten kehrten sie zurück, entweder weil das Geld aufgebraucht war oder sie nicht länger

Urlaub nehmen konnten von ihren Institutionen. Dafür behandelte Freud sie häufig bis zu

sechsmal in der Woche auf seiner Couch, seltener auch bei Spaziergängen. Es ging ihm

darum, bei seinen Patienten den Ödipuskomplex, den er im Zentrum aller Störungen sah,

aufzufinden, ins Bewusstsein zu heben,

Einsicht zu fördern und den so Ankurierten

den heilsamen Nachwirkungen der Kur zu

überlassen.

Seit jenen Jahrzehnten sind die Analysen

länger geworden, zwischen 300 bis 1‘000

Stunden. Man ist gemeinsam in tiefere

Seelenstockwerke abgestiegen, in frühere

Lebensphasen, die Diagnosen wurden

komplizierter. Aber wer genug Zeit und

Geld hatte, durfte sich mit der Geduld des

Therapeuten die Zeit lassen, die er zu

brauchen meinte. Man vertraute dem spontanen, wenn auch durch viele Widerstände

gebremsten Aufstieg des Unbewussten, ohne zu forcieren.

Im Berlin der Zwanzigerjahre gab es sehr wohl Überlegungen zu kürzeren Formen der

Therapie, vor allem für Angehörige der einfacheren Schichten des Volkes. Doch die

vorgeschriebenen Lehranalysen für angehende Analytiker zogen sich immer mehr in die

Länge. Es galt als unstatthaft, über die Zahl der Jahre überhaupt noch zu diskutieren. Der

berühmte amerikanische, ursprünglich deutschstämmige Analytiker Léon Wurmser erklärte

bei den Lindauer Psychotherapiewochen vor mehr als einem Jahrzehnt, bei einigen Patienten

hätten sich erst nach der 1 450. Stunde die ersten wirklichen Veränderungen ergeben – das

tausendköpfige Auditorium von Kollegen bestaunte seine Geduld und seine Beharrlichkeit.

Und dann kam in den 70er Jahren in Deutschland die Möglichkeit, Psychotherapien, auch

längere Psychoanalysen, von den Krankenkassen finanziert zu bekommen. Die Gutachter, die

die Anträge im Auftrag der durchaus bereitwillig gewordenen Kassen prüften, waren selbst

erfahrene Psychoanalytiker. Einigen Forscherpionieren war es vorher gelungen, in noch sehr

einfachen Massenstudien die Wirksamkeit von längeren tiefenpsychologischen Therapien

nachzuweisen und vor allem ihren prophylaktischen Wert zu dokumentieren.

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Aber das psychoanalytische Monopol bei den Kassen sollte nicht andauern. Ehrgeizige

Psychologen entwickelten die auf Lerntheorien basierende Verhaltenstherapie, die sich

weniger auf biografische Verstrickungen konzentrierte als vielmehr auf die rasche

Beseitigung von Symptomen, ohne ihren komplizierten Ursprung mit zu ergründen. Es gab

zum Teil rasche, wenn auch nicht immer stabile Erfolge. Die Analytiker konterten mit dem

Vorwurf bloßer Symptomverschiebung und der raschen Wiederkehr der Störungen.

Der Wettbewerb war eröffnet: Die Verhaltenstherapeuten gefielen sich darin, mit immer

kürzerer Behandlungsdauer bei den Kassen für sich zu werben. Diesen gefiel natürlich das

Angebot. Die Anzahl der neuen Adepten vervielfältigte sich rasch, die Ausbildungen waren

kürzer, kosteten weniger und verlangten bis in unsere Tage keine tiefgreifende

Selbsterfahrung des angehenden Therapeuten. Es ging um die Beherrschung von durchaus

aktiven Techniken, die von den Analytikern wiederum als Manipulation verdächtigt wurden.

Die Verhaltenstherapeuten meinten lange, sich nicht um Übertragungsphänomene kümmern

zu müssen, also um auftretende Störungen von Faktoren der Verlangsamung und hemmender

Verstrickungen im Verlauf der Therapien. Der Glaube an die Methode war stark. Nach den

Lehrbüchern konnte sogar die Persönlichkeitsstruktur des Therapeuten vernachlässigt werden,

wenn er nur von Stunde zu Stunde seine Methode korrekt anwandte. Das hat sich geändert: Es

herrscht inzwischen bei allen Schulen die Überzeugung, dass die warmherzige und

ermutigende Beziehung des erfahrenen Therapeuten zum Patienten der wirkmächtigste Faktor

für die Heilung ist.

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Aber die Versprechungen einer viel schnelleren Besserung lagen auf dem Tisch, und im

Unterschied zu den Analytikern konnte man – übrigens auch im tiefenpsychologischen Fach –

mit geringerem Aufwand Psychotherapeut werden und musste sich dafür mit einem weit

geringeren Kontingent an Stunden zufriedengeben.

Die Verkürzung von Psychotherapie ist ein wichtiges Thema vieler Beratungen und vor allem

einer wachsenden Effizienz-, aber auch Beschleunigungsforschung geworden. Effizienz,

messbare Dauer und Kalkulierbarkeit des Vorgehens sind Zentralbegriffe geworden. Dazu

passt, dass vor allem die Verhaltenstherapie mit ihren oft jugendlicheren Adepten

nachdrücklich versucht, ihre Methoden zu „manualisieren“. Das bedeutet, dass der Kandidat

ein Handbuch in die Hand bekommt, in der die therapeutischen Schritte, sogar nach ihrem

zeitlichen Ablauf, vorgeschrieben sind. Das erleichtert die Ausbildung und vor allen den

Vergleich der Prozesse, die sich, durchaus störungsspezifisch, einander angleichen,

kontrollierbar und leichter lehrbar werden sollen.

Der Trend hat inzwischen sogar mit der sogenannten Fokaltherapie einzelne

psychoanalytische Institute erfasst, die sich rühmen, mit kontrollierbaren Schnell- und

Kurztherapien ohne den langen Umweg über eine Erforschung der Persönlichkeit des

Patienten zum Ziel zu kommen. Dabei werden auch die Leistungen der Kandidaten leichter

überprüfbar. Diesen wird allerdings viel Gehorsam gegenüber den Manualen abverlangt und

die Überzeugung, dass Kostenersparnis in Verbindung mit Effizienzmessung die Leitlinien

für die Zukunft darstellen.

Und schon lauern die Symptome.

Bei der von vielen Seiten betonten Zunahme seelischer Erkrankungen wird natürlich der

Kostenfaktor ein Problem. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass die gesamten Kosten für

Psychotherapien nur eineinhalb Prozent des medizinischen Gesamtbudgets ausmachen.

Regelrecht schädlich ist es für viele durch Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt

traumatisierte Patienten, sich in die engen Stunden- und Kostenrahmen fügen zu müssen,

obwohl ihre Prozesse der Gewinnung von verlorenem Vertrauen und der Neugewinnung eines

tragfähigen Untergrunds ihre verletzten Seelen viel länger brauchen. Auch ihre Therapeuten

leiden unter dem viel zu raschen Abbruch einer genehmigten Therapie.

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Ich selbst hatte und habe viele Patienten, die sich nach 50 bis 100 Stunden dankbar

verabschieden, weil ihnen das genehmigte Kontingent genügte. Aber bei vielen anderen wäre

ein Abbruch nach einer so begrenzten Stundenzahl ein grausamer Einschnitt.

Der sich ausbreitende Schwerpunkt auf Tempo und messbare Effizienz wird auch deshalb

„Beschleunigungswahn“ genannt, weil er sehr dem ökonomischen und technischen

Machbarkeitswahn der Moderne entspricht. Den Industriesoziologen ist längst klar, dass der

Beschleunigungszwang an seine Grenzen kommt.

Die finanziellen und sozialen Kosten für die Masse von Burn-out-Patienten nehmen

dramatisch zu, ebenfalls die erst allmählich sichtbar werdenden Zahlen für kirchlichen und

innerfamiliären Missbrauch, mindestens die, die bekanntwerden und langfristige Behandlung

benötigen. Der Psychotherapieforscher Prof. Dr. med. Horst Kächele hat sich unlängst mit der

grassierenden Mode der „Manualisierung“ von Psychotherapie beschäftigt und kommt zu dem

Ergebnis, dass Manuale zwar dem Anfänger als Hilfe dienen.

Erfahrene Therapeuten erreichen jedoch am meisten, wenn sie eine am besten für den

Patienten geeignete Therapie ohne vorgeschriebene Leitlinien anwenden.

Der Freiburger Ordinarius für Medizinethik, Prof. Dr. med. Giovanni Maio, schrieb im

Psychotherapeutenjournal (Ausgabe 2/2011) in einem grundlegenden Aufsatz über die

„ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie“ zur Mode der

Manualisierung: „Das gesamte Gesundheitswesen folgt immer mehr den Kategorien des

Marktes. Damit werden den Heilberufen Denksysteme übergestülpt, die ihrem Grundsatz,

einen verstehenden Dienst am Menschen zu verrichten, diametral entgegenstehen.“ Es steckt

in dem Beschleunigungsdruck bei Psychotherapien ein inhumaner Zug. Die Seele lässt sich in

ihren Prozessen kaum eine gravierende Beschleunigung aufzwingen, ohne dass es zu oft noch

unbekannten „Kollateral“-Schäden kommt, die dann der Internist oder der Psychosomatiker

zu sehen bekommt. Oder der Kostenfaktor steigt rapide an, wenn erst einmal die notwendig

werdenden Klinikaufenthalte anlaufen.

Quelle: Deutsches Ärzteblatt 2012; 109(44): A 2180–1

Anschrift des Verfassers: Dr. phil. Tilmann Moser, Aumattenweg 3, 79117 Freiburg (D)

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__Medizin und Gesundheit

Johannes Streif

Aufmerksamkeitsstörung:

"ADHS ist keine Modekrankheit"

Zu häufig diagnostiziert werde ADHS sicherlich, sagt Johannes Streif. Doch wirklich

Erkrankte brauchen Medikamente und dazu Verhaltenstherapien, sagt der Psychologe und

stellvertretende Vorsitzende von ADHS Deutschland e.V.

Parvin Sadigh

ADHS-Diagnosen und vor allem die Verschreibung von Ritalin sind in Deutschland

sprunghaft angestiegen. Sind wirklich so viel mehr Kinder krank? Oder ist ADHS zur

Modekrankheit geworden?

Johannes Streif: Die ADHS selbst ist keine Modekrankheit, es gibt das Störungsbild bereits

seit Jahrzehnten. Im Brennpunkt der öffentlichen Wahrnehmung ist allerdings seit einigen

Jahren die Diagnose. Ich sehe die Zunahme der Diagnosen vor allem als eine normale Folge

der wissenschaftlichen Kenntnisse über das Störungsbild sowie der therapeutischen

Möglichkeiten. Allerdings lassen Zahlen wie die der Barmer Ersatzkasse darauf schließen,

dass vor allem regional auch überhäufig oder falsch ADHS diagnostiziert wird.

Hat es die Aufmerksamkeitsstörung schon immer gegeben?

Ja. Dafür spricht, dass ihre Anlage im Gehirn sich über viele Generationen entwickelt haben

muss. In diesem Sinne kann man bei vielen historischen Personen vermuten, dass sie unter

einer ADHS litten, zum Beispiel Churchill und Edison. Besonders eindrucksvoll lesen sich

die Tagebücher der Mutter von Hermann Hesse. Die Eltern waren immer heilfroh, wenn sie

beruflich bedingt umziehen mussten, denn der Sohn hatte überall die Nachbarn verärgert und

schulische Konflikte. Einmal ist er aus der Schule weggelaufen und wäre im Wald beinahe

erfroren. Daran, dass die betroffenen Kinder sich mit ihrem Reden und Handeln selbst oft

schaden, obwohl sie um die Konsequenzen wissen, kann man gut erkennen, dass sie nicht

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einfach sozialverhaltensgestört sind. Das

problematische Verhalten von ADHS-

Kindern ist meist nicht konsequent und

zielgerichtet, um sich einen Vorteil zu

verschaffen. Es ist ihnen auch nicht

gleichgültig, wenn sie anderen schaden.

ADHS-Betroffene können weder äußere

Reize noch innere Impulse genügend

kontrollieren.

Gibt es trotzdem Hinweise darauf, dass

die moderne Gesellschaft ADHS fördert?

Die Fälle sind schon leicht angestiegen, das

haben auch andere Studien gezeigt. Das

Gehirn eines Kindes, das beispielsweise

mitten in New York aufwächst, passt sich an

die Reizüberflutung an, es wird alerter auf

die vielen Verkehrssignale reagieren als ein

Kind vom Land. Diese breite, unfokussierte

Aufmerksamkeit sichert quasi sein

Überleben. Leider erfolgt diese

frühkindliche Anpassung an die Reizfülle

auch durch die heute allgegenwärtige Beschallung. Dabei geht es nicht nur um MP3-Player,

Fernsehen und Computerspiele. Auch das allabendliche Kinderhörspiel zum Einschlafen oder

gut gemeinte Lernangebote können eine Überforderung des sich entwickelnden Gehirns

darstellen. Wer vielen Reizen ausgesetzt ist, hat auch eine größere Tendenz, eine ADHS

auszubilden – allerdings nur, wenn eine Veranlagung vorliegt.

Das heißt auch, dass wer in einer angenehmen überschaubaren Umgebung aufwächst,

mit seiner Veranlagung gut leben kann?

Ja, es macht viel aus, welches Verhalten in der Familie und der Umgebung vorgelebt wird.

Wenn beispielsweise ein ADHS-Kind in einer Amish-Familie aufwächst, wo es keinen

Medienkonsum gibt sowie Gewalt und Aggression absolut verpönt sind, wird es, wenn es

wütend ist, vielleicht einen Stuhl umwerfen und aus dem Raum rennen. Wächst es aber in

einer Familie auf, in der Eltern oder Geschwister gewalttätiges Verhalten zeigen, wo brutale

Fernsehfilme angeschaut werden, wird das Kind sein eigenes Verhalten vermehrt an diesen

problematischen Vorbildern ausrichten. Denn das Problem ist ja, dass die ADHS-Kinder nur

über eine eingeschränkte Fähigkeit zur Verhaltenshemmung verfügen.

Verlangen viele Eltern auch deshalb nach Ritalin-Pillen für ihr Kind, weil sie Angst

haben, es könnte in der Schule versagen? Der Barmer-Bericht weist darauf hin, dass die

Diagnoseraten und Verschreibungen in dem Alter am höchsten sind, in dem die Kinder

von der Grundschule auf eine weiterführende Schule wechseln.

Ja. Vor allem viele Gymnasien verlangen, dass die Kinder ihre Lernmotivation selbst

mitbringen. Haben die Kinder in der Schule Probleme, werden bildungsbewusste Eltern

schnell nervös und suchen bei Ärzten und Therapeuten nach Hilfe. Dann werden unter dem

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hohen Erwartungsdruck aller Beteiligten bisweilen vorschnell Diagnosen gestellt, statt

gemeinsam mit dem Kind ein günstigeres Lernverhalten einzuüben.

Nun weist die Studie darauf hin, dass vor allem junge oder ungebildete Eltern ihre

Kinder mit Medikamenten behandeln lassen.

So einfach ist das nicht. Mehrere Faktoren führen zu einem Ergebnis, wie die Barmer-Studie

es erbracht hat. Erstens informieren sich gebildete Eltern eigenständig über pädagogische und

medizinische Belange, was heute über das Internet leicht möglich ist. Dabei stoßen sie

zwangsläufig auch auf viele ADHS-kritische Publikationen und hinterfragen die

Empfehlungen. Das ist gut so, führt aber auch zu vielen unnötigen Ängsten. Zweitens

begleiten Eltern aus der bildungsbürgerlichen Schicht die Entwicklung ihrer Kinder oft

aufmerksamer. Die Zahlen der Barmer sprechen dafür, dass zunächst sehr viele

medikamentöse Behandlungen eingeleitet werden, die rasch wieder abgebrochen werden.

Weniger gebildete und vermehrt autoritätsgläubige Eltern aus bildungsferneren Schichten

setzen die Behandlungen fort, solange die Fachleute sie für sinnvoll erachten. Das geschieht

auch – ein dritter Faktor – weil sie häufig einem stärkeren sozialen Druck von Lehrern und

Erziehern ausgesetzt sind. Sie raten den Eltern, mit dem vermeintlich verhaltensauffälligen

Kind zum Psychologen oder Arzt zu gehen, da sie nicht in ihre erzieherischen Kompetenzen

vertrauen.

Wie kann man Eltern und Kindern helfen, wenn es sich wirklich um ADHS handelt?

Medikamente können vor allem sehr stark betroffenen Kindern nutzen, wenn sie also sehr

impulsiv, unaufmerksam und unruhig sind. Im Alltag von Schule und Familie muss die

medikamentöse Behandlung aber mit einer guten Erziehung und sinnvollen Strukturierung

des Alltags einhergehen. Auch eine Stunde Verhaltenstherapie in der Woche kann nicht gegen

die vielen Stunden in Familie und Schule anstinken, wenn dort Überforderung und Chaos

herrschen. Deshalb sollten Familien mit betroffenen Kindern stets pädagogisch und

therapeutisch begleitet werden, damit sie ein Familienleben schaffen, in dem das Kind, aber

auch Eltern und Geschwister sich so wohl fühlen.

Das hört sich einfach an.

Ist es aber für alle Beteiligten nicht. Ich habe beispielsweise mit einer Familie gearbeitet, in

der ein ausgeprägt hyperaktives Mädchen lebt. Vor Silvester hat sie trotz Verbots mit Böllern

gespielt und einer der Böller ist in ihrer Hand explodiert. Nachdem die große und

schmerzhafte Wunde im Krankenhaus versorgt worden war, habe ich sie Stunden später

wieder mit einem Böller in der verbundenen Hand angetroffen. Diese Familie hat mehrere

Kinder, die Eltern können eine permanente Überwachung des Mädchens nicht leisten. Die

Folge sind gestresste Eltern und mitleidende Geschwister. Alle erzieherische Aufmerksamkeit

und ein Gutteil der Liebe werden von diesen Kindern absorbiert. Irgendwann sind alle

unglücklich. Das ADHS-Kind, weil es spürt, dass es die Erwartungen seiner Umwelt nicht

erfüllt. Die Eltern, die sich im Alltag nur mehr überwachend, schimpfend und strafend

erleben. Bisweilen ist es trotz der üblichen Erziehungstipps von Pädagogen und Psychologen,

die wenig von der ADHS verstehen, sinnvoller, nicht stets gemeinsam zu essen oder selbst

mit dem Kind die Hausaufgaben zu machen. Es geht darum, einen Familienalltag zu schaffen,

der jeden Tag wenigstens zehn Minuten der glücklichen Gemeinschaft ermöglicht. Nur dann

wird das Kind begreifen, dass es alle Anstrengung wert ist, das eigene Verhalten besser zu

steuern, um ein Teil dieser Familie zu sein.

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Kann Bewegung helfen?

Ja, Bewegung ist ein wichtiger, vielleicht der wirksamste Bestandteil in der

nichtmedikamentösen Therapie von ADHS-Kindern, weil sie den Kindern Spaß macht und

diese daher gerne mitmachen. Allerdings geht es nicht einfach ums Auspowern, wie viele

denken, sondern um von außen angeleitete Bewegung, die die Verhaltenssteuerung übt. Das

wirkt auch positiv in anderen Bereichen als der Bewegung. Dabei ist es egal, ob das Kind

Unterricht im Turnen, Klettern, Schwimmen, Schlagzeug- oder Klavierspiel nimmt, solange

es den Neigungen des Kindes entspricht. Alleine reicht die Psychomotorik jedoch nicht.

Von Erwachsenen mit Aufmerksamkeitsstörungen spricht man seltener. Sie selbst leiden

seit Ihrer Kindheit darunter. Verliert sich das?

Bei manchen ja. Viele frühere ADHS-Kinder haben jedoch auch gelernt, mit ihren Problemen

zu leben. Als Erwachsener ist man weniger gezwungen, stundenlang in kollektiven

Zwangsstrukturen wie Klassenzimmern zu sitzen. Ein Großraumbüro, in dem man mit

zwanzig Kollegen acht Stunden täglich an Computer und Telefon verbringt, ist für ADHS-

Betroffene kein guter Arbeitsplatz. Doch wenn sie eher für sich arbeiten, bei hinreichender

Selbstdisziplin ihre Zeit selbst einteilen können, interessante Tätigkeiten an wechselnden

Orten ausführen, dann können viele trotz einiger Probleme ein normales Leben führen. Wenn

Sie mich jetzt sehen würden, wie ich durch den Raum laufe und mit den Armen gestikuliere,

während ich telefoniere – manche Dinge verlieren sich nie.

© Zeit Online/ Quelle: spektrum.de

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__über den Tellerrand hinaus

Alter Ego: Virtueller Zwilling soll soziale Interaktion

benachteiligter Menschen verbessern

Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH, DFKI

29.01.2013

Interaktion mit einem virtuellen Charakter auf einem Bildschirm

Interaktion mit einem humanioden Roboter

Schwierigkeiten im Sozialverhalten und der Interaktion mit anderen Menschen sind

charakteristisch für soziale Pathologien wie Schizophrenie, Autismus und manische Ängste.

Sowohl bei den Patienten als auch deren Mitmenschen verursacht das zumeist viel Leid. Im

europäischen Forschungsprojekt „AlterEgo“ wird eine neuartige Rehabilitationsmethode zur

Behandlung solcher Defizite unter der Verwendung virtueller Realität und humanoider

Roboter erforscht.

Die Grundidee des Forschungsprojekts, an dem Wissenschaftler aus Frankreich, Deutschland,

England und der Schweiz gemeinsam arbeiten, beruht auf einer neuen interdisziplinären

Theorie im Bereich der Neuro- und Kognitionswissenschaften: der Theorie der

Gleichartigkeit. Diese Theorie besagt, dass es einfacher ist mit jemandem sozial zu

interagieren, der einem ähnlich ist. Die Ähnlichkeit kann dabei auf der Form und dem

Aussehen, dem Verhalten oder der Kinematik (Art der Bewegung) des Gegenübers beruhen.

Das Konzept von AlterEgo sieht vor, diese Ähnlichkeitsmerkmale in Echtzeit zu

nachzuahmen. Zu Beginn sollen die Patienten mit einem virtuellen Charakter auf einem

Bildschirm interagieren, später mit einem menschenähnlichen, “humanoiden” Roboter.

Merkmale und Veränderungen des Verhaltens während der Interaktion werden dabei

beobachtet und nach und nach auf den Avatar übertragen. Die Patienten sollen so spielerisch

zur Kommunikation mit Ihrem Gegenüber angeregt werden. Anhand von mehr oder weniger

sozial neutralen, künstlichen Agenten soll die damit entwickelte neue Rehabilitationsmethode

soll die Defizite betroffener Patienten verbessern und die Interaktion mit realen Personen

erleichtern.

Um ein auf Ähnlichkeiten basierenden virtuellen Charakter zu kreieren, müssen die

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verschiedenen Merkmale der Patienten präzise erfasst werden. Der Forschungsbereich

Erweiterte Realität des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in

Kaiserslautern beschäftigt sich im Rahmen des Projektes daher mit Body-Scanning-Techniken

welche das Aussehen registrieren. Des Weiteren kümmert sich das Team um Prof. Dr. Didier

Stricker um die Erfassung der Bewegungen der Patienten anhand verschiedener Sensoren,

sowie die Analyse der gesamten Szenerie.

AlterEgo ist eines von 17 ausgewählten Projekten unter 250 Einreichungen zum Aufruf der

Europäischen Union – „ICT 2.9 Cognitive Sciences an Robotics“ im Jahr 2012. Die Leitung

obliegt Prof. Benoit Bardy, Direktor des EuroMov Zentrums an der Universität Montpellier 1.

Das Projekt läuft ab dem Frühjahr 2013 und wird während seiner dreijährigen Laufzeit mit 2,9

Millionen Euro gefördert. Weiter sind Mathematiker der Universität Bristol (UK), Robotiker

der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (CH), sowie Pflegekräfte, Psychologen und

Psychiater der Universität Montpellier beteiligt.

Kontakt:

Prof. Dr. Didier Stricker

Leiter Forschungsbereich Erweiterte Realität

Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) GmbH

Trippstadter Straße 122

67663 Kaiserslautern

Tel: +49 (0)631 20575-3500

E-Mail : [email protected]

Sterbende ganzheitlich begleiten Dr. Romy Müller, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Welche Bedeutung haben zur Schulmedizin alternative und komplementäre Verfahren, wenn

es darum geht, schwerkranke und sterbende Menschen zu begleiten? Claudia Wenzel (Alpen-

Adria-Universität) ging in ihrer Dissertation dieser Frage nach.

«Komplementäre Behandlungen wie Musik-, Kunst-, Aroma- oder Körpertherapien fördern

Prozesse des Loslassens und des Abschiednehmens», so das Fazit der Wiener Psychologin

Claudia Wenzel, die an der Abteilung Palliative Care und Organisationsethik der Alpen-

Adria-Universität lehrt und forscht. «Wir konnten beobachten, dass sich sowohl das

subjektive Befinden als auch die Beziehungen zwischen den Menschen positiv verändern.

Wirkungen sind auf der körperlichen, psychischen, sozialen und sogar spirituellen Ebene zu

beobachten, wobei all diese Ebenen miteinander in Wechselwirkung stehen», so Wenzel. Zu

diesen Ergebnissen kommt sie in ihrer Dissertation mit dem Titel «Heil sterben - Zur

Bedeutung alternativer Ansätze für eine ganzheitliche Begleitung Sterbender in Hospizarbeit

und Palliative Care», für die sie im Rahmen einer Grounded Theory Studie qualitative

Interviews mit komplementären PraktikerInnen, Leitenden von Hospizen und MedizinerInnen

sowie Gruppendiskussionen mit multidisziplinären Teams in deutschen Hospizen geführt und

ausgewertet hat.

Der Einsatz komplementärer Verfahren wirkt jedoch nicht nur auf den einzelnen Kranken

bzw. Sterbenden und die betreuenden Personen in den Hospiz- und Palliativeinrichtungen,

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sondern auch auf Team- und Organisationsebene: So entschleunigen die Anwendungen

einerseits die Organisationsabläufe im Hospiz und wirken andererseits auf das Zeiterleben

aller involvierten Personen. Besonders am Lebensende wird es von Menschen als heilsam

erlebt, wenn physische und psychische Anteile (wieder) integriert werden. Der Einsatz

komplementärer Behandlungen kann dabei hilfreich sein, wie Claudia Wenzel betont:

«Prinzipiell ist es möglich, auch trotz körperlicher Krankheit „heil zu sterben“ ».

Claudia Wenzel wurde für Ihre Forschungsarbeit im Herbst 2012 mit dem "Ehrenpreis

Wissenschaft" des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes ausgezeichnet.

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__zu guter Letzt

BEI EINBRUCH DER NACHT ERTRINKT DAS DORF

In grossen Wolken.

Die Laternen sind traurig und schläfrig,

und der gelbe Mond wandelt zwischen Wasser und Wind.

Ein feuchter Feldgeruch naht. Irgendein

Schimmernder Stern

taucht auf, grünlich, hinter einem alten Kirchturm.

Der Siebenuhrwagen fährt vorüber…

die Hunde bellen…

Tritt man hinaus auf den Weg, fühlt man das Gesicht voll

vom kalten Mond…Über dem weissen Friedhof,

auf dem Hügel, weinen die hohen schwarzen Pinien.

Juan Ramon Jimenez

Diogenes, 1977

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