Textgattungen: Lehrtexte (= Museumssignaturen · 40 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in...

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40 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1957 Textgattungen: Kardinaltaf eln (= Ephemerides) : Berechnete Örter und Daten der Kar- dinalpunkte für mehrere Jahre. Lehrtexte (= Procedure Texts) : Theoretische Erklärungen und Rechen- vorschriften. Museumssignaturen: Texte des British Museum: BM. Rm = Sammlung Rassam. SH = Sammlung Shemtob. Sp = Sammlung Spartoli. Texte des Louvre: AO. Bücher und Abhandlungen: Sternkunde: F. X. KUGLER, Sternkunde und Sterndienst in Babel, 2 Bde. Münster 1907-1924. Eudemus: B. L. VAN DER WAERDEN, Zur babylonischen Planetenrechnung, Eudemus 1, p. 23 (1941). Plan. Theory: O. NEUGEBAUER, Babylonian Planetary Theory, Proc. Amer. Philos. Soc. 98, p. 60 (1954) . ACT: O. NEUGEBAUER, Astronomical Cuneiform Texts I, II, III, London 1955. Alle Textnummern beziehen sich auf dieses Standardwerk. Pinches: A. SACHS, Late Babylonian Astronomical and Related Texts copied by T. G. PINCHES and J. N. STRASSMAIER, Providence 1955. 2. Einleitung. Die babylonische Planetenrechnung der hellenistischen Zeit ist zuerst von F. X. KUGLER im 1. Bande seiner monumentalen Sternkunde eingehend unter- sucht worden. KUGLER hat vor allem die Gesetze, nach denen die Örter der Kar- dinalpunkte der Planetenbewegung berechnet wurden, weitgehend aufgeklärt. Auf KUGLER'S Werk aufbauend, habe ich im einzigen Heft der Zeitschrift E u d e m u s (1941) die Prinzipien der Datenberechnung untersucht. Die wich- tigste Grundlage der Datenberechnung ist das P r in z i p des S o n n e n a b- s t a n d es, welches besagt, dass die Sonne in einer synodischen Periode den- selben Weg zurücklegt wie der Planet und im Falle eines äusseren Planeten noch einen vollen Umlauf dazu. Bei der Anwendung dieses Prinzips spielen noch zwei technische Einzelheiten hinein, nämlich erstens ein eigentümliches Verfahren der sukzessiven Approximationen, das sowohl in der Mondrechnung als bei der Berechnung der Jupiterbewegung zur Anwen- dung kommt, und zweitens die Verwendung der Mondtage oder T i t h i s als Zeiteinheit an Stelle des Tages. Ein Tithi ist der dreissigste Teil des mittleren

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40 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1957

Textgattungen:

Kardinaltaf eln (= Ephemerides) : Berechnete Örter und Daten der Kar-dinalpunkte für mehrere Jahre.

Lehrtexte (= Procedure Texts) : Theoretische Erklärungen und Rechen-vorschriften.

Museumssignaturen:

Texte des British Museum: BM.Rm = Sammlung Rassam.SH = Sammlung Shemtob.Sp = Sammlung Spartoli.

Texte des Louvre: AO.

Bücher und Abhandlungen:

Sternkunde: F. X. KUGLER, Sternkunde und Sterndienst in Babel, 2 Bde.Münster 1907-1924.

Eudemus: B. L. VAN DER WAERDEN, Zur babylonischen Planetenrechnung,Eudemus 1, p. 23 (1941).

Plan. Theory: O. NEUGEBAUER, Babylonian Planetary Theory, Proc. Amer.Philos. Soc. 98, p. 60 (1954) .

ACT: O. NEUGEBAUER, Astronomical Cuneiform Texts I, II, III, London1955. Alle Textnummern beziehen sich auf dieses Standardwerk.

Pinches: A. SACHS, Late Babylonian Astronomical and Related Texts copiedby T. G. PINCHES and J. N. STRASSMAIER, Providence 1955.

2. Einleitung.

Die babylonische Planetenrechnung der hellenistischen Zeit ist zuerst vonF. X. KUGLER im 1. Bande seiner monumentalen Sternkunde eingehend unter-sucht worden. KUGLER hat vor allem die Gesetze, nach denen die Örter der Kar-dinalpunkte der Planetenbewegung berechnet wurden, weitgehend aufgeklärt.

Auf KUGLER'S Werk aufbauend, habe ich im einzigen Heft der ZeitschriftE u d e m u s (1941) die Prinzipien der Datenberechnung untersucht. Die wich-tigste Grundlage der Datenberechnung ist das P r in z i p des S o n n e n a b-s t a n d es, welches besagt, dass die Sonne in einer synodischen Periode den-selben Weg zurücklegt wie der Planet und im Falle eines äusseren Planetennoch einen vollen Umlauf dazu. Bei der Anwendung dieses Prinzips spielennoch zwei technische Einzelheiten hinein, nämlich erstens ein eigentümlichesVerfahren der sukzessiven Approximationen, das sowohlin der Mondrechnung als bei der Berechnung der Jupiterbewegung zur Anwen-dung kommt, und zweitens die Verwendung der Mondtage oder T i t h i s alsZeiteinheit an Stelle des Tages. Ein Tithi ist der dreissigste Teil des mittleren

Abhandlung 2 B. L. VAN DER WAERDEN. Babylonische Planetenrechnung 41

synodischen Monats. Die Tithis, die bekanntlich 1 ) auch in der indischen Astro-nomie gebräuchlich sind (und dort eben Tithi heissen), decken sich genähertmit den wirklichen Tagen, so dass ein in Tithis berechnetes Datum wie I9 fürpraktische Zwecke genügend genau mit dem neunten Tag des Monats I identi-fiziert werden kann.

0. NEUGEBAUER hat in seiner höchst lehrreichen Abhandlung P 1 a n. T h e o -r y auf Grund des stark erweiterten Textmaterials der ACT die babylonischePlanetentheorie neu bearbeitet. Er kommt zu dem Schluss, dass die Vielfalt derSysteme viel grösser ist als KUGLER vermuten konnte. Er unterscheidet in derPlanetenrechnung wie in der Mondrechnung zwei Hauptsysteme A und B. InSystem A sind die Geschwindigkeiten stückweise konstant; sie ändern sichsprunghaft, wenn gewisse «Sprungpunkte» überschritten werden. In System Bnehmen die Geschwindigkeiten linear von einem Minimum zu einem Maximumzu und dann wieder linear ab.

Die Systeme B, deren Theorie weniger gut bekannt ist, werden wir beiseitelassen. Die Systeme A, die in den Lehrtexten recht ausführlich dargestellt sind,zeichnen sich in der Planetenrechnung wie in der Mondrechnung durch ihreinnere Logik und Geschlossenheit aus. Es gibt mehrere Systeme A, die sichgegenseitig ausschliessen, so für Merkur A1, A, und neuerdings A, (Plan.Theory, p. 89), für Venus A0, A1 und A,. Für Mars gibt es ein System A für denrechtläufigen Teil der Bewegung und vier Methoden R, S, T, U für den rück-läufigen Teil, aber es muss noch mehr geben; denn man hat ein Fragment einerKardinaltafel für Mars, die nicht nach System A berechnet ist (ACT 510; Plan.Theory, p. 81). Für Jupiter kennt man seit KUGLER die Systeme A, A' und B(KuGLER's Jupitertafeln erster, zweiter und dritter Gattung), aber die in ACTpublizierten Lehrtexte 811, 813 und 813a haben verschiedene Varianten von Aund A' sowie ein neues zu A' analoges System (ACT II, p. 380) ans Licht ge-bracht. Für Saturn kennt man bisher nur ein System A und ein System B.

Die vorliegende Arbeit bringt verschiedene Ergänzungen zu den erwähntenUntersuchungen, ist aber unabhängig von diesen lesbar. Zunächst werden diegrundlegenden Prinzipien der babylonischen Planetenrechnung dargestellt,unter besonderer Betonung des Sonnenabstandsprinzips. Der Begriff Ge-schwindigkeitsschema wird an Hand von zwei bekannten Beispielen (Jupiterund Saturn) erklärt. Anschliessend wird das Verfahren der sukzessiven Ap-proximation erläutert, das aber nur bei Venus, Jupiter und Saturn brauch-bar ist.

Sodann werden die erwähnten Grundprinzipien auf die rechtläufige Be-wegung von Mars angewandt. Dabei gelingt es, einige dunkle Stellen im Lehr-text 811 a aufzuklären und die grundlegenden Konstanten des Systems A zubestimmen. System A für Mars enthüllt sich als eine logisch aufgebaute Theorievon einer grossartigen Geschlossenheit. Die Fortführung der Gedankengängedes Lehrtextes führt zu einem Geschwindigkeitsschema, auf Grund dessen die

1 ) Siehe neuerdings OLAF SCHMIDT, On the computation of the ahargana, Centaurus 2, p. 140(1952).

1 Monat lang nach Me3 weitere Monate bis Mk4 Monate rückläufig3 Monate von Ak an1 Monat bis Aldann bis Me

15' pro Tithi

8' pro Tithi

5' pro Tithi7' 40" pro Tithi

15' pro Tithi

15' pro Tithi

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Eintritte von Mars in die Zeichen des Tierkreises berechnet werden können.Das Schema ist keilschriftlich nicht überliefert, aber es bewährt sich bei derAnalyse ägyptischer Planetentafeln.

Bei Venus zeigt sich, dass die Systeme A1 und A2 relativ jung sind, dass inihnen das Sonnenabstandsprinzip nicht gilt und dass sie auch sonst in innererLogik den übrigen Systemen A nachstehen. Eine Kardinaltafel nach System Afür Mars, Jupiter oder Saturn kann man Jahrhunderte lang weiterrechnen, ohneje etwas Unsinniges zu erhalten, aber eine für Venus nach System A1 oder A2ergibt nach 100 oder 200 Jahren Örter und Daten, die keine achtjährige Periodi-zität mehr aufweisen und gänzlich unbrauchbar sind.

Das System A1 ist, wie KUGLER schon erkannt hat, eine Verbesserung desSystems A 2 . Das System A2 ist, wie sich zeigen wird, zwischen —186 und —125entstanden. Das verbesserte System A1 lässt sich noch genauer datieren: eswurde um —125 in Babylon von B> L-UBALLITSU oder in dessen Umgebung er-funden.

Die hier gewonnenen Erkenntnisse setzen uns in den Stand, nicht nur diebabylonische, sondern auch die ägyptische Planetenrechnung besser zu ver-stehen. Das wird in Abschnitt 11 gezeigt werden.

3. Geschwindigkeitsschemata für Jupiter und Saturn.

A. Jupiter.

In dem bekannten g) Lehrtext, ACT 810 = Rm IV 431=BM 33 869, wird dieEkliptik zunächst in vier Teile zerlegt. Im «schnellen Teil» der Ekliptik von(x) 2° (d. h. Steinbock 2°) bis (ii) 17° legt Jupiter

zurück. Für die beiden «mittleren Teile» von (ii) 17° bis (iv) 9° und von (viii)

9° bis (x) 2° sind diese Geschwindigkeiten mit 16 zu multiplizieren und für den

«langsamen Teil» von (iv) 9 bis (viii) 9° mit 6 . Das ganze Schema wollen wir,

um einen bequemen Ausdruck zu haben, d a s G e s c h w i n d i g k e i t s-s c h e m a des Lehrtextes nennen.

2) KUGLER, Sternkunde I, p. 136. B. L. V. D. WAERDEN, Eudemus, p. 35. NEUGEBAUER, Plan.Theory, p. 86; ACT II, p. 376.

30°

20°

7 8 8 10 11 12 13 14 15 16 Monate

Bewegung des Jupiter nach dem Lehrtext ACT 810

Abhandlung 2 B. L. VAN DER WAERDEN. Babylonische Planetenrechnung 43

(t)

B. Saturn.

Der Lehrtext 801= AO 6477 3 ) teilt die Ekliptik nur in zwei Teile. Das Ge-schwindigkeitsschema ist:

Bewegung pro Tag

30 Tage nach Me3 Monate bis Mk

5'3' 20"

6'4'

52;30 Tage bis Op —4' 13" 40"' (?) —5' 4" 24"'60 Tage bis Ak —3' 20" —4'3 Monate nach Ak 3' 35" 30"' 4' 18" 40"'30 Tage bis Al 5' 6'bei der Sonne 5' 6'

Ob mit den «Tagen» im Saturnschema Tithis gemeint sind, ist unsicher.In beiden Schemas ist die Geschwindigkeit streckenweise konstant. Sobald

gewisse Sprungpunkte in der Ekliptik überschritten werden oder nach einerfesten Zeit ändert die Geschwindigkeit sich sprunghaft.

Die Zeit «bei der Sonne», d. h. die Zeit der Unsichtbarkeit von Al bis Me, istsowohl bei Jupiter als bei Saturn nicht angegeben. Das bedeutet praktisch:Wenn man mit der Berechnung der Bewegung von Me ausgehend, wieder beiMe angelangt ist, kann man das Datum des Me nicht nach dem Schema berech-nen, sondern man muss von neuem eine «Kardinaltafel» zur Hand nehmen, inder Örter und Daten der Kardinalpunkte vermerkt sind.

3 ) KUGLER, Sternkunde II, S. 578. NEUGEBAUER, ACT II, p. 368.

Voss (v) 10° bis (xi) 30° Von (xii) 0° bis (v) 10°

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4. Das Sonnenabstandsprinzip.

Eine Kardinaltafel für Jupiter ist bekannt, in der die Örter der Kardinal-punkte genau in Übereinstimmung mit dem zuerst wiedergegebenen Geschwin-digkeitsschema berechnet sind, nämlich die von KUGLER (Sternkunde I, p. 126)und NEUGEBAUER (ACT II, p. 344) aus sieben Bruchstücken zusammengesetzteTafel 611 für die Jahre 180-252 SA.

In dieser Kardinaltafel sind zwar die Örter in Übereinstimmung mit demLehrtext 810, nicht aber die Daten. Für die Daten stellen die runden Intervalledes Lehrtextes (1 Monat, 3 Monate usw.) nur eine erste Approximation dar.Die Verbesserung dieser Approximation geschieht nach folgendem Prinzip:In einer synodischen Periode (etwa von Me bis Me) mussdie Sonne jeweils denselben Weg zurücklegen wie derPlanet und im Falle der drei äusseren Planeten nocheinen v o 11 en Umlauf d a z u. Ich will dieses Prinzip, das im Lehr-text 813, Abschnitte 14-16 ausdrücklich ausgesprochen ist 4 ), das S o n n e n -a b s t a n d s p r i n z i p nennen. Man kann es auch so formulieren: Die E r-scheinungen Me, Mk, . . . finden jeweils bei einer be-stimmten Elongation zur Sonne statt.

Die Berechnung der Zeiten nach dem Sonnenabstandsprinzip gestaltet sichfür einen äusseren Planeten folgendermassen. Es sei S der synodische Bogenvon einem Kardinalpunkt zum nächsten gleichartigen (etwa von Me bis Me).Das Jahr werde auf 360+ ε Tithis gesetzt. Die meisten Texte nehmen ε= 11;4 an;nur der bereits erwähnte Lehrtext 813 (SH 279) für Jupiter hat ε = 11;3,20.Die meisten Texte wenden das Abstandsprinzip nicht auf die wahre, sondernauf die mittlere Sonne an. Diese braucht, um 1° zurückzulegen,

360

0 ε — 1 + 360 Tithis.360

Also ist die Zeit, die die mittlere Sonne braucht, um den Weg 360 + S zurück-zulegen,

lT = (360 + S) (1 + 3680

In den Lehrtexten wird dieses Produkt häufig in drei Teile aufgespalten:

T = S + (360 + t) + μ (1)

wobei μ das relativ kleine Korrekturglied

bedeutet. 360 S

Die Grösse des synodischen Bogens S wechselt je nach dem Ekliptikabschnitt,in dem der Ausgangspunkt sich befindet. Dieser wechselnde Bogen ergibt nach(1) auch eine wechselnde synodische Periode T. In dem Korrekturglied μ aber,wo S mit dem kleinen Faktor 6 /360 multipliziert erscheint, kann man ohne

(2)

4 ) KUGLER, Sternkunde I, p. 147. Ferner: V. D. WAERmEN, Eudemus, p. 33. NEUGEBAUER, Plan.Theory, p. 84 mit Fussnote 73 ) ; ACT, p. 412.

Abhandlung 2

B. L. VAN DER WAERDEN. Babylonische Planetenrechnung 45

grossen Fehler S durch den mittleren synodischen Bogen S ersetzen. Statt (2)erhält man so ohne grossen Fehler

µ S (3)360

Trägt man das in (1) ein, so erhält man

T = S + c mit c = 360 +ε+ 360 S (4)

In der Tat rechnet die Jupitertafel ACT 600 = AO 6476 mit

T = S + 360 +12;5,10

(Eudemus, p. 43). Dieselbe Relation gilt, mit einer kleinen Abrundung oder ab-sichtlichen Korrektur, in einigen Kardinaltafeln für Jupiter, die nach System Bberechnet sind (ACT 622 = Sp II 46 und ACT 620 = AO 6480, siehe Eudemus,p. 37 und 43) . In der Kardinaltafel ACT 501= AO 6481 für Mars gilt entspre-chend T = S + 360 + 23;37,52

Für die inneren Planeten gilt eine analoge Herleitung; nur fällt in (1) daszweite Glied 360 + ε weg und man hat einfach

T=S+p, mit 0= 36

0 S

So ergibt der Lehrtext ACT 801= AO 6477 für Merkur die Relation

T = S + 3;30,39,4,20

(ACT II, p. 367), die in den Kardinaltafeln zu

T = S + 3;30,39

abgerundet wird (NEUGEBAUER, Plan. Theory, p. 76, und ACT II, p. 292) .Aus diesen Formeln, die in den Lehrtexten hergeleitet und in den Kardinal-

tafeln immer wieder angewandt werden, sieht man, dass das Sonnenabstands-prinzip eine grundlegende Rolle in der babylonischen Planetentheorie spielt.

NEUGEBAUER's Darstellung wird diesem Prinzip nicht ganz gerecht. Er be-gründet zunächst (Plan. Theory, p. 68) die Relation (4) — seine Relation (15) —für die mittlere synodische Periode Δτ. Dann schreibt er: "Strictly speaking(15) is only valid for the mean synodic time and the mean synodic arc." Als Be-gründung führt er an, dass in der Herleitung von (4) die Formel (3) benutztwurde, die nur für das mittlere 71 streng gilt. Dann fährt er fort: "In practice,however, the true synodic arcs are never so different from the mean values asto make (15) useless for the true motion. Thus, in the majority of ephemerides,we find the dates computed from (16) Ar Δ2,+ c (+ i • 12 months) ."

Obwohl das alles richtig ist, trifft es nicht den Kern der Sache. Was ich her-vorheben möchte, ist, dass das Sonnenabstandsprinzip in den babylonischenLehrtexten als exaktes Prinzip zugrunde gelegt wurde, nicht nur für die mitt-lere, sondern für jede synodische Periode. Bei der Anwendung wird allerdingsdie Näherung (3) verwendet, aber diese betrifft nur ein kleines Korrektur-glied, nicht das Prinzip.

(5)

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5. Sukzessive Approximationen.

Stellt man das Geschwindigkeitsschema für Jupiter oder Saturn mit demSonnenabstandsprinzip zusammen, so stellt sich ein Widerspruch heraus. Nachdem Schema für Jupiter betragen die Zeiten von Me bis Mk, von Mk bis Ak undvon Ak bis Ml je 120 Tage. NaCh dem Sonnenabstandsprinzip aber sind dieZeitintervalle grösser oder kleiner, je nach dem Ekliptikbereich. Der Kardinal-tafel 810 liegen also zwei siCh widersprechende Ansätze zugrunde: die Posi-tionen stimmen mit dem Geschwindigkeitsschema des Lehrtextes überein, dieDaten aber sind nach dem Sonnenabstandsprinzip berechnet.

Die Erklärung dieses Widerspruchs haben wir oben schon gegeben. Die run-den Zeiten des Lehrtextes sind offenbar nur als eine erste Approximation ge-dacht, die dann nach dem Sonnenabstandsprinzip zu einer zweiten Approxi-mation verbessert wird.

Man könnte natürlich so fortfahren und aus den verbesserten Zeiten nachdem Geschwindigkeitsschema wieder verbesserte Örter berechnen. Jedoch wür-den sich so, bei der langsamen Bewegung von Jupiter und Saturn, nur ganzunwesentliche Verschiebungen ergeben. Es ist also ganz vernünftig, dass mandas Korrekturverfahren nicht weiter fortgesetzt hat.

Ein ganz ähnliches Verfahren der sukzessiven Approximationen, oder ge-nauer der Verbesserung einer zu groben ersten Näherung, wird auch in derMondrechnung') angewandt. Hier werden die Monate (von Neumond zu Neu-mond oder von Vollmond zu Vollmond) zunächst in einer ersten Näherung alsvon gleicher Dauer angesetzt. Auf Grund dieses vorläufigen Ansatzes werdendie Sonnenörter berechnet. Die so erhaltenen Örter sind genügend genau, da esbei der relativ langsamen Bewegung der Sonne auf einen halben Tag nicht so sehrankommt. Sodann wird berechnet, welche Zeit der Mond braucht um die Sonneeinzuholen. So ergibt sich die Dauer des Monats in einer besseren Näherung.Das Prinzip dieser ReChnung ist ganz ähnlich dem Sonnenabstandsprinzip,nämlich: In einem synodischen Monat muss der Mond die-selbe Strecke zurücklegen wie die Sonne und noch einenvollen Umlauf dazu.

Der Erfolg des Näherungsverfahrens beruht darauf, dass die Sonne sich imVergleich zum Monde, der sie einholt, langsam bewegt. Ähnlich in der Planeten-rechnung: Jupiter und Saturn bewegen sich langsam gegen die Sonne.

Bei Mars, Venus und Merkur ist die Voraussetzung der langsamen Bewegungrelativ zur Sonne nicht erfüllt. Bei Venus schadet das nichts, da die synodischePeriode nahezu konstant ist. Man kann auf Grund eines Geschwindigkeits-schemas für Venus mit konstanten Zeiten eine sehr gute Näherung erhalten.Bei Mars und Merkur aber, mit ihrer sehr unregelmässigen Bewegung, würdedas Verfahren der sukzessiven Näherungen sehr schlecht konvergieren. Wieist man bei Mars verfahren?

5) F. X. KUGLER, Babylonische Mondrechnung, Freiburg 1900.

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6. Die Theorie des Mars.

Wie KUGLER (Sternkunde II, p. 580) bereits erkannt hat, wird in System Afür Mars die Ekliptik in sechs Abschnitte zu je zwei Tierkreiszeichen zerlegt.Im Abschnitt (iv) + (v) ist die Bewegung am langsamsten, in (x) + (xi) amschnellsten6). Der synodische Bogen ist 360° + s0 , wobei der Zusatzbogen s„nach folgenden Regeln berechnet wird:

In (ii) und (iii)ist der Bogen 45°, aber wenn er über (iii) hinausragt, wirdfür jeden überschüssigen Grad 20' subtrahiert.

In (iv) und (v) ist der Bogen 30°, aber wenn er über (v) hinausragt, wird f ürjeden überschüssigen Grad 20° addiert.

In (vi) und (vii) ist er 40°, für jeden übersChüssigen Grad wird 30' addiert.In (viii) und (ix) ist er 60°, für jeden überschüssigen Grad wird 30' addiert.In (x) und (xi) ist er 90°, für jeden überschüssigen Grad wird 15' subtrahiert.In (xii) und (i) ist er 67°30' und für jeden überschüssigen Grad wird 20'

subtrahiert.

Um diese Regeln einfacher formulieren zu können, teilen wir

den Bereich (ii) + (iii) in 24 gleiche Teile zu je 2° 30',den Bereich (iv) + (v) in 36 Teile zu je 1° 40',den Bereich (vi) + (vii) in 27 Teile zu je 2° 13' 20",den Bereich (viii) + (ix) in 18 Teile zu je 3° 20',den Bereich (x) + (xi) in 12 Teile zu je 5°,den Bereich (xii) + (i) in 16 Teile zu je 3° 45'.

Die Teilstrecken nennen wir, um ein bequemes Wort zu haben, S c h r i t t e.Insgesamt enthält die Ekliptik

24 + 36 + 27 ± 18 + 12 + 16 = 133 Schritte

Die obigen Regeln lassen sich jetzt so zusammenfassen: R e g e l A. M a r slegt in einer synodischen Periode die ganze Ekliptikund noch 18 Schritte zurück.

Diese Regel gilt nach den Lehrtexten und nach den Kardinaltafeln 500 bis504 für die synodischen Perioden von Al bis Al, von Me bis Me und von Mkbis Mk. Die Kardinalpunkte Op und Ak werden, von Mk ausgehend, nach an-deren Regeln berechnet, auf die wir hier nicht eingehen.

Nimmt man etwa (ii) 0° als Anfangspunkt der Ekliptik für Mars, so kannman für jeden anderen Punkt P die S c h r i t t z a hl berechnen, d. h. dieAnzahl der Schritte, die nötig sind, um vom Anfangspunkt aus den jeweiligenPunkt P zu erreichen. Die so berechneten Schrittzahlen für die KardinalpunkteAl, Me und Mk sind in den erhaltenen Kardinaltafeln, mit Ausnahme von 504,

S ) NEUGEBAUER bemerkt (Plan. Theory, p. 81), dass VARÂHA MI HRA (Pañca siddhāntikā,Kap. XVIII, 29-32) genau dieselbe Ekliptikteilung benutzt.

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immer ganze Zahlen. Nach Regel A erhöhen diese Zahlen sich von einem Kar-dinalpunkt zum nächsten gleichartigen immer um 18.

Durch den Übergang zu Schrittzahlen wird die Ergänzung und Kontrolleeiner Kardinaltafel sehr erleichtert. Als Beispiel wähle ich zunächst die Spal-ten I und II (Me und Mk) der Kardinaltafel 504 (ACT III, Plate 174a). Die inSchrittzahlen umgerechneten Längen dieser zwei Spalten fangen so an:

Text 504 I Me 1I Mk

Zeile 1 11;36 74;36Zeile 2 29;36 92;36Zeile 3 47;36 110;36

Will man, von Zeile 1 ausgehend, n Zeilen weiterrechnen, so braucht man nurn • 18 zu addieren und, wenn das Ergebnis über 133 hinausgeht, ein Vielfachesvon 133 zu subtrahieren.7)

Wie man sieht, ist die Differenz der Schrittzahlen für Me und Mk eine ganzeZahl, nämlich 63. Dividiert man diese durch den Zusatzbogen s 0 , der immer 18Schritte beträgt, so erhält man einen einfachen Quotienten, nämlich

b=68 =2=3;302

Dasselbe beobachtet man in anderen Texten. Der Uruktext 502 (ACT III,Plate 175) ergibt, wenn Zeile 1 der Rückseite nach dem Vorschlag von NEU-

GEBAUER neben Zeile 12 der Vorderseite gestellt wird, die folgenden Schritt-zahlen:

Text 502 Rev. AlObv. Me

Zeile 12Zeile 13Zeile 14

254361

13 (Zeile 1)31 (Zeile 2)49 (Zeile 3)

Wie man sieht, legt Mars nach diesem Text von Al bis zum unmittelbar dar-auffolgenden Me genau 30 Schritte zurück. Dividiert man das durch 18, so er-hält man wieder eine runde Zahl, nämlich

30 5b1 18 3 = 1;40

Kombiniert man versuchsweise die im Uruktext 502 angewandte Zahl derSchritte von Al bis Me mit der im Babylontext 504 angewandten Zahl der

7 ) Das Rechnen mit Schrittzahlen ist äquivalent der NEuGEBAUERschen Rechnung mittels«Diophant» (ACT II, p. 304).

Abhandlung 2 B. L. VAN DER WAERDEN. Babylonische Planetenrechnung 49

Schritte von Me bis Mk und beachtet man, dass die gesamte Schrittzahl von Albis Al 133 +18 =151 betragen muss, so erhält man die folgenden Schrittzahlenfür die drei Teilstrecken:

Al bis Me 30 Schritte ; b = 18 1;40

63 Me bis Mk 63 Schritte ; b2 =

= 3;3018

Mk bis Al 58 Schritte; b 3 = 1^ = 3;13,20

7. Vergleich mit dem Lehrtext 811a

Die eben angegebenen Werte für die Schrittzahlen

Al bis Me: 18 b i = 30Me bis Mk: 18 b 2 = 63Mk bis Al : 1813 3 = 58

sind nicht sicher, da sie aus nicht zusammengehörigen Kardinaltafeln gewon-nen wurden. Jedenfalls aber müssen diese Schrittzahlen in jeder Kardinaltafelvon Zeile zu Zeile konstant sein, denn der Übergang zur nächsten Zeile geschiehtimmer durch Addition von 18. Wir nennen also die Schrittzahlen

x=18bi , y=18b2, z=18b3

und versuchen, die Unbekannten x, y und z aus dem Lehrtext 811 a (ACT II,p. 381-392) herzuleiten.

Da 133 Schritte die ganze Ekliptik überdecken, so ist die mittlere Längeeines Schrittes

a 133 = 2;42,24,31,39, ...

Wird die letzte Stelle auf 40 aufgerundet, so erhält man für 18 Schritte

so = 18 a = 48;43,18,30

Addiert man noch 360°, so erhält man den mittleren synodischen Bogen

= 6,48;43,18,30

in genauer Übereinstimmung mit dem Lehrtext (Section 11).Der Teilbogen s 7 von Al bis Me besteht aus x Schritten. Da jeder Schritt die

mittlere Länge a hat, so ist die mittlere Länge des Teilbogens s1

si=xa=18bia=bigo (6)und ebenso

S2 = ya = b 2 so (7)S3 = za = 133 go (8)

Wenn b1 und b2 einfache Zahlen sind, wie nach dem Vorigen zu erwarten ist,so müssen und s2 bei Division durch s o einfache Quotienten ergeben. Diese

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Erwartung bestätigt sich. Nehmen wir nämlich für 5 1 und s, die von NEUGEBAUER(ACT II, p. 388) ermittelten Werte

d ld = 1,29;19,23,55

d 2d = 2,42;24,21,35

und dividieren sie durch s 0 = 48;43,18,30, so geht die Division bei s1 exakt aufund ergibt

b1 = 1;50, also x = 33

Bei s_, muss die letzte Stelle 35 durch 40 ersetzt werden, damit die Divisionaufgeht. Sie ergibt dann

52 = 3;20, also y = 60

Die Schrittzahlen x und y weichen um 3 Einheiten von den früher gefun-denen ab. Ihre Summe 33+60 =93 stimmt aber mit der früheren Summe 30+63überein. Da x+y+z immer 151 sein muss, stimmt z mit dem früher gefundenenWert überein. Man hat also wieder

b 3 = 3;13,20 und z = 58

Allerdings sind die von NEUGEBAUER berechneten mittleren Bogen si im Lehr-text nicht direkt gegeben, sondern aus den im Text gegebenen Bogen μi aufGrund der Formel

Nc 360

s i mit ε = 11;4 (9)

hergeleitet. NEUGEBAUER bemerkt dazu (p. 385): "It is furthermore natural toassume that (5) holds also for each single component". Wir werden im nächstenAbschnitt sehen, dass diese natürliche Annahme in der Tat gerechtfertigt ist.Die gefundenen Schrittzahlen x = 33, y = 60 und z = 58 können also unbedenk-lich der weiteren Rechnung zugrunde gelegt werden.

Multipliziert man b1, b, und b 3 mit s o =48;43,18,30, so findet man nach (6),(7), (8) die genauen mittleren Bogen

= 1,29;19,23,55

s2 = 2,42;24,21,40 (10)

§3 = 2,36;59,32,56,40

Rechnet man dann nach (9) die genauen μi aus und vergleicht sie mit denendes Textes (Zeile 13-15) , so findet man

1 = 2;44,45,6,46,46,40 Text 2;44,45,6,46[...]

μ 2 = 4;59,32,55,57,46,40 Text 4;59,22,55,47,46,40 (11)

μ3 = 4;49,33,50,5,51,46,40 Text 4;49,33,5[0,5]51,6,40

Die Übereinstimmung ist gut. Die Verbesserung von 22 in 32 bei μ 2 ist aufjeden Fall nötig, da in Zeile 18 der abgerundete Wert /μ2 = 4; 59,33 erwähnt wird.Die zwei verbleibenden Abweichungen (47 statt 57 bei μ2 und 6 statt 46 bei μ3)

sind leicht als Kopierfehler zu erklären. Auf die abgerundeten Ergebnisse

per = 2;44,45

μ'2 = 4;59,33 (12)μ 3 = 4;49,33,50

die der Text richtig bietet, haben diese kleinen Fehler sowieso keinen Einfluss.

Abhandlung 2 B. L. VAN DER WAERDEN. Babylonische Planetenrechnung 51

8. Zeitintervalle

Der mittlere synodische Bogen des Mars ist, wie wir gesehen haben

S = 360 + so = 6,48;43,18,30

Ferner besteht zwischen jedem synodischen Bogen S und der zugehörigenZeit T die Beziehung (1), die wir so schreiben können

T=S+c

c=360 +S +μ

wobei μ nach (3) zu berechnen ist:

mit

'μ 360 S 360 6,48;43,18,

m

30

Rechnet man das aus, so erhält man

Hi = 12;33,51,52,47,21und nach (14) weiter

c = 360 + 23;37,51,52,47,21 (17)

Im Lehrtext 811 a (ACT II, p. 382) wird in Zeile 13 die Zahl μ erwähnt, genauübereinstimmend mit (16). Also wurde μ tatsächlich nach (15) berechnet.

Auch die Zahl c findet sich im Lehrtext, aber aufgerundet. Der Abschnittüber die Berechnung der Daten fängt nämlich so an:(Zeile 3) ... the velocity, and (?) the distance (from one) appearance to the(next) appearance you compute (?) and 23;37,52(Zeile 4) ... and predict the dates. (Übers. von NEUGEBAUER, ACT II, p. 382).

Das heisst offenbar: man berechne den Abstand S von einer Erscheinung zumnächsten und man addiere (12 Monate und) 23;37,52 Tithis, um die ZeitT S + c zu erhalten.

In den Zeilen 4-6 wird die Zahl c = 6,23;37,52 in drei Teile zerlegt

C=C1+C2+C3 (18)

wobei c 1 = 33;40,4 sich nach der Aussage des Textes auf die Zeit von Al bis Mebezieht, c, = 1,53;13,13 auf die Zeit von Me bis Mk und c3 = 3,56;44,35 auf denRest der synodischen Periode von Mk bis Al. Das bedeutet nach NEUGEBAUER,dass für jede dieser drei Zeiten eine Relation von der Art

t i = si + Ci (i = 1,2,3) (19)angenommen wurde..

In den Zeilen 13-15 wird zunächst, wie gesagt, die Zahl μ mit allen ihrenSexagesimalstellen erwähnt. Sie wird dann ebenfalls in drei Teile zerlegt:

μ =eil + μ2 + i63 (20)

wobei μ1, μ2, μ3 die im vorigen Abschnitt erwähnten Zahlen (11) sind.

(13)

(14)

(15)

(16)

52 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1957

In den Zeilen 16-23 wird erklärt, wie man aus den (abgerundeten) μi; die c;erhalten kann. Die Rechnung kann nach NEUGEBAUER sehr übersichtlich durchdie Formel

(21)

wiedergegeben werden, in der die Faktoren ri die folgenden Werte haben:

r1 = 30 r2 = 105 r3 = 225

Die Formeln (21) sind leicht zu deuten. Nach dem Sonnenabstandsprinzipmuss die Sonne in der Zeit von Al bis Me dieselbe Strecke zurücklegen wie Marsund noch eine feste Strecke dazu. Al und Me finden nämlich nach dem früherGesagten beide bei einer festen Elongation statt. Der Unterschied dieser Elon-gationen ist die Strecke, die die Sonne mehr zurücklegen muss als Mars. Nun ist

ri (1 + 360) — ri 36360 ε

gerade die Zeit, die die Sonne braucht, um eine Strecke r i zurückzulegen. Dieri sind runde Zahlen; wir deuten sie als die Strecken, die die Sonne jeweils mehrzurücklegen muss als Mars. Mit anderen Worten, es wird angenommen, dassdie Elongation des Mars von Al bis Me um 30° abnimmt,von Me bis Mk um 105° und von Mk bis Al um 225°. DieSumme rl + r2 -{- r 3 ist 360°, wie es sein soll.

Zu diesen Zeiten (22) sind nun die Zeiten zu addieren, die die Sonne braucht,um die Strecke si zurückzulegen. Diese Zeiten sind

Si (1 + 300 1 = s'" + 360 St = Si + µ-z

Im Korrekturglied µi wird wieder si durch den Mittelwert si ersetzt. So erhältman die gute Näherung

(24)

Damit haben wir die Formeln (9) wiedergewonnen, die der Berechnung inAbschnitt 7 zugrunde liegen. Es zeigt sich jetzt, dass diese Formeln aus demSonnenabstandsprinzip folgen.

9. Elongationen des Mars

Die vorstehenden Überlegungen wurden im wesentlichen auf Grund vonNEUGEBAUER'S Plan. Theory angestellt, noch bevor seine ACT erschienen. Derin ACT publizierte Lehrtext 811 a zeigt nun, dass der Begriff der Elongation,von der wir ausgegangen sind, auch für die babylonischen Rechner den Aus-gangspunkt bildete. In Zeile 10-11 heisst es nämlich:

"From the first stationary point to setting you add and ... 5 degrees, whichit is distant in front of the sun, from it you subtract and..."

ci = ri (1 + 300 1 + N^i

(22)

(23)

ε

360 Si

Abhandlung 2

B. L. VAN DER WAERDEN. Babylonische Planetenrechnung 53

Schon NEUGEBAUER hat die hier erwähnte Elongation für Al versuchsweiseals 1] 5° ergänzt. Von Al bis Me nimmt die Elongation, wie wir gesehen haben,um 30° ab. Bei Me ist sie also —15°. Dem Lehrtext liegt demnach die Annahmezugrunde, dass Mars bei einer Elongation von 15° verschwindet und bei —15°wieder erscheint.

Beim Morgenkehrpunkt wird die Elongation —15°-105° =-120°. DieseZahl 2,0 wird in der Tat im Lehrtext in Zeile 9 im Zusammenhang mit demMorgenkehrpunkt erwähnt. Man hat also angenommen, dass der Morgenkehr-punkt des Mars im Trigonalaspekt zur Sonne stattfindet.8)

Ich fasse zusammen. Die Theorie der Erscheinungen Al, Me und Mk nachLehrtext 811a beruht auf folgenden Hypothesen:

1. Von Al bis Me legt Mars 33 Schritte zurück, von Me bis Mk 60 Schritteund von Mk bis Al 58 Schritte im Sinne von Abschnitt 6.

2. Das Sonnenjahr hat 12;22,8 mittlere synodische Monate oder 360 + 11;4Tithis.

3. Abendletzt, Morgenerst und Morgenkehrpunkt finden bei den Elongationen15°, —15° und —120° von der mittleren Sonne statt.

4. Bei der Anwendung der Formel (2), die aus dem Sonnenabstandsprinzipfolgt, darf S genähert durch S ersetzt werden und ebenso s„ s2 , s3 durch s1,

S2, S3.

Alle Rechenvorschriften und Zahlenwerte des Lehrtextes folgen logisch ausdiesen vier Grundhypothesen.

10. Geschwindigkeitsschemata für Mars

Der Lehrtext 811a gibt in Abschnitt 10 (ACT II, p. 389) ein Geschwindigkeits-schema für die rechtläufige Bewegung von Me bis Mk. Die Anfangsgeschwindig-keit hängt von dem Zeichen ab, in welchem das Me stattfindet. Die Geschwindig-keiten sind:

(i) 40' (ii) 36'40" (iii) 33'20" (iv) 30' (v) 33'20" (vi) 36'40"(vii) 40' (viii) 43'20" (ix) 46'40" (x) 50' (xi) 46'40" (xii) 43'20"

Das Maximum ist also 50', das Minimum 30', das Mittel 40' pro Tag. Die mitt-lere Geschwindigkeit 40' soll 190 Tage gelten, dann wird die Geschwindigkeit30 Tage lang 36', dann 30 Tage lang 24', dann 30 Tage lang 12'. Insgesamt erhältman so eine mittlere Zeit von 280 6 und einen mittleren Weg von 162°40' oder2,42;40. Dieser mittlere Weg stimmt gut mit s2 = 2,42;24,21,40 überein. Jedoch

8 ) Vgl. PLINIUs, Nat. Hist., Buch 2, Kap. XV: «Die drei Planeten über der Sonne ... habenihren Morgenaufgang, wenn ihr Abstand (zur Sonne) nicht mehr als 11° beträgt ... und imGedrittschein bei 120° (Abstand) machen sie ihren Morgenstillstand ... bald darauf in derOpposition bei 180° ihren Abendaufgang und wenn sie sich nach der anderen Seite (derSonne) wieder auf 120° genähert haben, ihren Abendstillstand ...; im 12. Grade verdunkeltdie Sonne sie, was Abenduntergang genannt wird.» Ebenso XVI: «Im Trigonalaspekt ver-hindern die Sonnenstrahlen die Planeten, ihren geraden Lauf zu verfolgen.»

54 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1957

ist aus dem Text nicht zu ersehen, wie in den einzelnen Tierkreiszeichen dieGeschwindigkeiten von Me bis Mk abnehmen sollen.

Von Ak bis Al gilt ein ähnliches Schema: 30 Tage 12' pro Tag, 30 Tage 24'pro Tag, 30 Tage 36' pro Tag, 233 Tage 40' pro Tag. Diese 40' sind wieder diemittlere Geschwindigkeit, gültig in (i) und (vii) . Das Minimum ist 30' in (iv) ,das Maximum 50° in (x). Für den rückläufigen Bogen (Mk bis Ak) wird nureine Geschwindigkeit angegeben, nämlich 12' pro Tag.

Es ist klar, dass diese Geschwindigkeitsschemata nicht im Einklang stehenmit der Theorie der Kardinalpunkte Al, Me und Mk, die wir vorhin kennen-gelernt haben. Diese Theorie verlangt nämlich in den Zeichen (ii) und (iii)das gleiche Bewegungsgesetz, ebenso in (iv) und (v), usw.

Es fragt sich nun, ob es nicht möglich ist, ein Geschwindigkeitsschema anzu-geben, das mit der Theorie der Kardinalpunkte in strikter Übereinstimmungist, so dass man von einem Kardinalpunkt zum nächsten nach dem Geschwindig-keitsschema rechnen kann und dann wieder genau den Anschluss an die Kar-dinaltafel findet.

Das ist nun in der Tat möglich. Man braucht nur anzunehmen, dass d i eElongation des Mars bei jedem Schritt um einen be-stimmten B e t r a g e a b n i m m t. Dabei lässt man den Betrag e bei An-näherung an die Kehrpunkte schrittweise zunehmen, damit die Bewegung im-mer langsamer wird. Die Summe der Beträge e für die 30 oder 33 Schrittezwischen Al und Me muss 30° ergeben, ebenso muss sie für die 63 oder 60Schritte zwischen Me und Mk die Summe 105° ergeben, usw. Die Beträge dür-fen nur von der Schrittzahl, nicht vom Tierkreiszeichen abhängen.

Ein solches Geschwindigkeitsschema ist in den Keilschrifttexten nicht über-liefert. Es bewährt sich aber sehr gut bei der Analyse der Marsbewegung inägyptischen Planetentafeln aus der römischen Kaiserzeit, auf die wir im näch-sten Abschnitt zurückkommen werden.

Um diese Analyse vorzubereiten, berechnen wir jetzt auf Grund des eben an-gegebenen Schemas die Zeit, die Mars braucht, um ein Tierkreiszeichen zudurchlaufen.

Es sei u der zu diesem Tierkreiszeichen gehörige synodische Bogen, also

u = 45 in (ii) und (iii) , u = 30 in (iv) und (v) , usw. Die Schrittlänge ist dann u

und die Anzahl der Schritte, aus denen das Tierkreiszeichen besteht,

w = 30540

• 18 _ U U

Die Elongation des Mars nimmt in w Schritten um we ab. Die Sonne legt dengleichen Weg zurück wie Mars, also 30°, und noch we Grade dazu, insgesamtalso 30 + we Grade. Ist J=360 +r die Dauer des Jahres (in Tagen oder inTithis, je nachdem, ob man mit Tagen oder Tithis rechnen will), so braucht dieSonne, um den Weg 30 + we zurückzulegen, die Zeit

360 + ε ε a l 540 e t —

(30 + we) = 30 + 12 + (1 + 360 / u (26)360

(25)

Abhandlung 2 B. L. VAN DER WAERDEN. Babylonische Planetenrechnung 55

Wir schreiben dafür t = A + B

(27)

Dabei ist A ein wenig grösser als 30 und B ein wenig grösser als 540 e. Rechnetman in Tagen, so ist e = 5 1/4, also ist A ungefähr 30 1 und B ungefähr 548 e. Mankann auch das letzte Glied von (26)

ε 540 e 3 εe360 u 2 u (28)

abtrennen und u genähert durch den mittleren synodischen Bogen ersetzen;dann wird A etwas grösser und B genau 540 e. Jedenfalls ist aber t eine lineareFunktion von 1/u.

11. Die Marsbewegung nach ägyptischen Tafeln

0. NEUGEBAUER hat in den Trans. Amer. Philos. Soc. 32 (1942), p. 209, zweiägyptische Tafeln für die Eintritte der Planeten in die Tierkreiszeichen ver-öffentlicht. Meine Analyse dieser Tafeln (Proc. Kon. Akad. Amsterdam 50,p. 536) ergab verschiedene Berührungspunkte mit den Keilschrifttexten. Sofand ich bei der Untersuchung der Marsbewegung in der Stobart-Tafel, dass hiergenau dieselbe Ekliptikeinteilung zugrunde liegt wie in den babylonischen Tex-ten. In je zwei aufeinanderfolgenden Tierkreiszeichen (ii) + (iii), (iv) + (v)usw. waren die Durchlaufungszeiten genau gleich. Ferner fand ich, dass die amhäufigsten vorkommenden Durchlaufungszeiten t mit den synodischen Bogen uder babylonischen Texte durch eine Formel von der Gestalt (27) verknüpftsind, nämlich

t 720 = 30 +

(29)u

Die Formel wurde rein empirisch aus einer Statistik der Durchlaufungs-zeiten gefunden. Sie stimmt auf den Tag genau in fast der Hälfte aller Fälle.Grössere Abweichungen von der Regel (29) findet man vorwiegend in derMitte und an den äusseren Enden der rechtläufigen Strecke, und zwar sind inder Mitte die Durchlaufungszeiten oft erheblich kürzer, an den Enden aberlänger als nach der Formel (29). Gerade das ist nach der babylonischen Theorieauch zu erwarten, denn zwischen Al und Me wird die Bewegung nach derTheorie erheblich schneller als vorher und nachher, und bei Annäherung an dieKehrpunkte wird sie langsamer.

Es würde sich lohnen, die Zusammenhänge zwischen der babylonischen Theo-rie und den ägyptischen Tafeln genauer zu untersuchen.

12. Die drei Systeme für Venus

Die Venusbewegung hängt nur wenig von dem Bereich der Ekliptik ab, indem sich der Planet befindet, sondern fast nur von der Elongation zur Sonne. Inder Hauptsache wiederholt sich die Bewegung also nach einer synodischen Pe-riode. Der mittlere synodische Bogen ist in den meisten babylonischen Textenauf 19 Tierkreiszeichen + 5°30' angesetzt. Diesen Wert gibt auch VAR/HA

Vierteljahrsschrift d. Naturf. Ges. Zürich. Jahrg. 102, 1957 5

56 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1957

MIHIRA (Pañcha Siddhäntikä XVIII, 1) . Aus ihm lässt sich die grosse Periode720 synodische Perioden = 1151 Jahre

herleiten, die ebenfalls bei VARÂHA MIHIRA (XVIII 76) sowie bei RHETORIUS 9)vorkommt.

Es gibt eine Kardinaltafel aus Uruk (ACT 400, p. 329), die für jede syno-dische Periode genau den gleichen synodischen Bogen

S = 575°30' (30)

annimmt. Dieses System ohne Anomalie nennt NEUGEBAUER A 0 . Die synodischePeriode im System A 0 ist T — S + 17;40 (31)

das sind 19 Monate und 231/6 Tithis. Das System A0 muss um —200 schon exi-stiert haben, denn die erwähnte Uruktafel 400 gilt für die Zeit von SA 111bis 135.

Multipliziert man (30) und (31) mit 5, so erhält man 8 Umläufe minus 2°30'beziehungsweise 99 Monate minus 4 (oder genauer 4 1/6) Tithis. Das heisst: nach8 Jahren kehren alle Venuserscheinungen wieder, aber mit einer um 2°30' klei-neren Länge und 4 Tage früher im babylonischen Monat. Diese sehr bequemeachtjährige Periode wird in allen Venustexten dauernd angewandt.

Es gibt Kardinaltafeln und zugehörige Lehrtexte, die die Korrektur nach 8Jahren auf —2°40' setzen. Das System dieser Texte nennt NEUGEBAUER A2.

Drittens gibt es ein System A 1, das den besseren Wert —2°30' benutzt. Zudiesem System gehört die grosse Kardinaltafel ACT 410, von der vier Frag-mente Sp I 545 + 328 + 548 (Plan. Theory, Fig. 3) und Sp 1230 (KUGLER, Stern-kunde I, S. 205) erhalten sind. Die drei erstgenannten Fragmente geben dieDaten und Längen für Ae und Ak. Wo die Zahlen erhalten sind, erfüllen sieimmer die Regel, dass nach 8 Jahren 4 Tage vom Datum und 2°30' von derLänge zu subtrahieren sind. Ergänzt man auf Grund dieser Regel die zerstörtenZahlen, so erhält man die folgenden Daten und Örter:

ACT 410

Zeile Ae (Abenderst) Alt (Abendkehrpunkt)

1 236 II 6 (iii) 4°30' 236 X 18 (xi) 26°2 237 X 6 (x) 18°40' 238 V 9 (vii) 9°30'3 239 V 7(?) (v) 25° 239 XII 25 (ii) 9°4 240 XII 20 (xii) 25°30' 241 VII 26 (ix) 16°30'5 242 VII 17 (vii) 30° 243 III 15 (iv) 15°6 244 II 2 (iii) 2° 244 X 14 (xi) 23°30'7 245 X 2 (x) 16°10' 246 VI 5 (vii) 7°8 247 V 3(?) (v) 22°30' 247 XII 21 (ii) 6°30'9 248 XII 16 1 ) (xii) 23° 249 VII 22 (ix) 14°

10 250 VII 13 (vii) 27°30' 251 III 11 (iv) 12°30'11 252I 28 (ii) 29°30' 252 X 10 (xi) 21°12 253 IX 28 (x) 13°40' 254 VI 1 (vii) 4°30'13 255IV 29 2 ) (v) 20° 255 XII 17 (ii) 4°

i) NEUGEBAUER liest hier 6, aber STRASSMAIER und PINCHES haben beide 16 kopiert.2) Von der Zahl 29 sind nur Spuren einer 9 vorhanden. Man Minute die Spuren auch zu 30 ergänzen; dann

müssten die entsprechenden Daten in Zeile 3 und 8 auch um 1 erhöht werden. NEUGEBAUER ergänzt [Vj 9.

H ) Catal. cod. astrol. Graec. I (1898), S. 163.

B. L. VAN DER WAERDEN. Babylonische Planetenrechnung 57Abhandlung 2

Die Zeitdifferenzen T und die zugehörigen Wegstrecken S sind:

Ae) T = 19 Monate + 30,S = 19 Zeichen + 14°10',

+ 31,+ 6°20',

+ 13,+ 30',

+ 27,+ 4°30',

+ 15 Tithis+ 2°

Ak) T = 19 Monate + 21,S = 19 Zeichen + 13°30',

+ 16,—30',

+ 31,+ 7°30',

+ 19,—1°30',

+ 29 Tithis+ 8°30'

Für Ak stimmen die Zeiten genau, die Strecken bis auf eine Abweichung von10' genau mit den in einem Lehrtext des Systems A 2 (ACT 821 b, Plan. Theory,p. 80) angegebenen Strecken und Zeiten überein. Der Lehrtext schreibt nämlichvor, wenn Ak in den nachstehend angegebenen Tierkreiszeichen stattfindet, diedarunter angegebenen Zeiten und Strecken zu addieren, um zum nächsten Akzu kommen:

(i)+(ii)+(iii) (iv)4-(v) (vi) + (vii) + (viii) (ix) + (x) (xi) + (xii)

T = 19 Monate +31 +29 +16 +19 +21S= 19Zeichen +7°30' +8°30' —40' —1°30' +13°30'

Nach dem Sonnenabstandsprinzip müsste (31) nicht nur für die mittlerenZeiten und Strecken, sondern für alle einzelnen T und S gelten. Für die obenangegebenen T und S gilt die Beziehung (31) jedoch nicht. Auch sind dieSchwankungen in S viel grösser als sie nach der heutigen Theorie und Wahr-nehmung sein sollten. Die Systeme A1 und A2 sind also theoretisch und prak-tisch verbesserungsbedürftig.

KUGLER hat schon erkannt, dass das System A 1 eine Verbesserung des Sy-stems A 2 darstellt. Die nach A 2 berechnete Kardinaltafel 421a (SH 193) für dieJahre SA 182-219 hat im Durchschnitt zu kleine Venuslängen 10). Dieser Feh-ler wächst in etwa 40 Jahren noch um 1° an. Die nach A1 berechnete Tafel 410(siehe oben) hat nicht nur die achtjährige Bewegung korrigiert, sondern auchdie Längen um 2°30' vergrössert. Die Daten aber stimmen in 410 genau mit dendurch Weiterrechnung der älteren Tafel erhaltenen Daten überein. Daraus er-gibt sich, dass die beiden Tafeln miteinander verwandt sind, in dem Sinne, dassder Rechner der jüngeren Tafel das System der älteren in einigen Punkten ver-bessert, manches aber auch beibehalten hat.

A 2 ist demnach älter als A1, aber nicht sehr alt. Rechnet man nämlich dieDaten und Örter der erwähnten Kardinaltafel 421a nach dem Schema des Lehr-textes 821 b um 64 Jahre zurück, so erhält man für das Jahr SA 124 völlig un-mögliche Zahlen, die gar nicht zu denen für das Jahr 132, eine achtjährigePeriode später, passen, wie der folgende Vergleich zeigt:

Jahr 124 Datum XI 14 Ort (i) 7°Jahr 132 Datum X 30 Ort (xii) 28°20'

10 ) Siehe KUGLER, Sternkunde I, p. 205. KUGLER hat die Tafel 421a (SH 193) irrtümlich mit421 (Sp II 663) vereinigt, aber seine Schlüsse werden dadurch nicht berührt.

58 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1957

Rechnet man noch weiter zurück, so werden die Widersprüche noch grösser.Das liegt daran, dass in einer achtjährigen Periode die fünf synodischen BogenS und die zugehörigen Zeiten T nur dann die richtige Summe ergeben, wennvon den fünf Örtern je einer den fünf Bereichen des Tierkreises angehört, dieim Lehrtext 821b unterschieden werden. Das System A 2 kann demnach nur inder Zeit von 125 bis 190 SA (-186 bis —121) entstanden sein.

13. BEL-UBALLITSU und die merkwürdigen Venustafeln430 und 420

Die Tafel BM 55 546 besteht aus einer Venustafel 430 (ACT II, p. 333) , einerMarstafel 501a (ACT II, p. 336) und einem Lehrtext 821aa für Mars (ACT II,p. 439). Diese ungewöhnliche Kombination deutet schon darauf hin, dass dieTafel nicht dazu bestimmt war, in das Archiv für Venus oder Mars aufgenom-men zu werden.

Die Tafel ist auch darum merkwürdig, weil sie sich nicht wie üblich auf dieZukunft, sondern auf die Vergangenheit bezieht. Im Colophon Zmab (ACT I,p. 15 und 22) werden der Name des Schreibers BEL-UBALLITSU und die Jahres-zahl 186 genannt, aber die Venustafel fängt mit dem Jahre 96 an und die Mars-tafel endigt mit 187. Die Venustafel diente also nicht dazu, Venuserscheinungenfür die Zukunft vorauszuberechnen, sondern eher zum Vergleich der Venus-theorie mit älteren Rechnungen und Beobachtungen.

Jedenfalls wurde die Venustheorie zu dieser Zeit im Kreise der Männer umBEL-UBALLITSU lebhaft diskutiert. Sein Sohn ...-IDDINA war laut Colophon Zld(ACT I, p. 15 und 21) an der Entstehung der Venustafel 420 (ACT II, p. 332)für 180 bis 242 SA beteiligt, in der die Systeme A 1 und A, miteinander vermischterscheinen, was zu inneren Widersprüchen führt. Während der kurzen Zeit vonAl bis Me sollte Venus rückläufig sein; nach der Tafel ist sie aber manchmalrechtläufig, wie die folgenden Ortsangaben zeigen:

Jahr 193: Al (ix) 22°, Me (ix) 22°30'Jahr 241: Al (ix) 6°, Me (ix) 7°30'

Man sieht daraus, dass zur Zeit des BEL-UBALLITSU und seines Sohnes einebeträchtliche Unsicherheit in bezug auf die Venustheorie herrschte. Manschwankte offenbar zwischen dem System A2 und dem etwas jüngern System A,.

Zur Venustafel 430 des BEL-UBALLITSU zurückkehrend, versuchen wir zu-nächst einmal festzustellen, zu welchem System sie gehört. Zu dem Zweck ver-gleichen wir die Angaben der Tafel mit der auf die Jahre 96-107 zurückgerech-neten Tafel 420. Beide Tafeln geben für Mk und Ml zuerst die Zeit, dann den Ort.Von 430 ist aber nur wenig erhalten:

Abhandlung 2 B. L. VAN DER WAERDEN. Babylonische Planetenrechnung 59

430 420

z Mk Ml Mk (System A2) Ml (System A1)

1 - 96 XI 25 - - 96 XI 25 26,30 (xi)

2 [... ,5]0 (x) 98 VI 2[..] 97 X 18 15,20 (x) 98 VI 24 1,40 (vii)

3 9,20 (v) 99 XII2 2[..] 99 VII 2 10 (v) 99 XII2 25 0,30 (ii)4 22,10 (xii) 101 IX [.. .] 101 I 3 22,50 (xii) 101 IX 9 15,50 (ix)

5 1,30 (viii) 103IV [.. .] 102 VIII 28 2 (viii) 103 IV 6 24,20 (iv)

6 1,50 (iii) 104 XI 21 104 III 25 2,10 (iii) 104 XI 21 24 (xi)

7 [. .] (x) 106 VI 2[0] 105 X 14 12,40 (x) 106 VI 20 29,10 (vi)

8 (v) 107 XII2 2[..] 107 VI 28 7,20 (v) 107 XII2 21 28 (i)

Die Daten in Zeile 1, 6 und 7 der Tafel 430 stimmen, wie man sieht, genau mitder Tafel 420 überein. Nun ist es bekannt, dass die Systeme A1 und A2 nur inden Längen verschieden sind. Mit NEUGEBAUER können wir also vermuten, dass430 ebenfalls zu System A 1 oder A2 gehört.

Die Längen für Mk in den Zeilen 3-6 sind im Text 430 um 40', 40', 30' und 20'kleiner als in 420. Wenn in Zeile 2 die Länge versuchsweise zu 14,50 ergänztwird, ist sie ebenfalls um 30' kleiner als in 420. Übernimmt man die Längen fürMl und die Daten versuchsweise aus 420, so erhält man die folgende Ergänzungdes Textes 430:

Zeile Mk Ml

2 97 X 18 14,50 (x) 98 VI 24 1,40 (vii)3 99 VII 2 9,20 (v) 99 XII2 25 0,30 (ii)4 101 I 3 22,10 (xli) 101 IX 9 15,50 (ix)5 102 VIII 28 1,30 (viii) 103IV 6 24,20 (iv)6 104 III 25 1,50 (iii) 104 XI 21 24 (xi)

Die Längen für Mk stimmen, wie wir schon gesehen haben, nicht mit SystemA2 überein. Versuchen wir es also mit A1 ! Wir rechnen die eben aufgeschriebe-nen Daten und Längen für Mk nach System A1 weiter bis zu den Jahren 244 bis256 und vergleichen mit den Spalten IX und X des Textes 410 (ACT III, Pl. 171) :

Mk nach 430 (System A1) Mk nach 410 (System AI) Zeile

244 XI 21 7,10 (xi) 244 XI 21 [7, ...] 6

246 VI2 16 16,30 (vi) 246 VI2 16 16[ ..] 7

248 II 13 16,50 (i) 248 II 13 15[...] 8249IX 2 27,20 (viii) 249IX 2 2[0,...] 9251 V 16 21,50 (iii) 251 V 16 2[0,...] 10252 XI 17 4,40 (xi) 252 XI 17 11254 VII 12 14 (vi) 254 VII 12 1[0, ...] 12

256 II 9 14,20 (i) 256II 9 1[0, ...] 13

60 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1957

Dass die Daten genau stimmen, war zu erwarten, weil die Daten nach SystemA1 und A2 ja nicht verschieden sind. Die Längen stimmen aber auch recht gut.Dass PINCHES in Zeile 8 eine teilweise abgebrochene Zahl 15 gelesen hat, besagtnicht, dass die Zahl nicht auch 16 sein könnte. Wir können also als wahrschein-lich annehmen, dass 430 zum System A1 gehört.

Ich denke, der Zweck der merkwürdigen Tafel 430 wird jetzt klar. BEL-UBALLITSU hat nachprüfen wollen, ob System A 1 die Venuserscheinungen fürseine eigene Zeit und die Vergangenheit gut darstellt. Er hat zu dem Zweckdie Kardinalpunkte der Venusbewegung für eine lange Reihe von Jahren nachSystem A1 berechnet.

PTOLEMAIOS ist genau so verfahren. Er hat seine Mondtheorie auf HIPPARCH'sZeit zurückgerechnet und gezeigt, dass die von HIPPARCHOS beobachteten Fin-sternisse durch die neue Theorie mindestens ebensogut dargestellt werden alsdurch HIPPARCH's eigene Theorie. Eine sehr vernünftige Kontrolle!

Man könnte noch einen Schritt weitergehen und die Vermutung aufstellen,dass BEL-UBALLITSU der Erfinder des Systems A 1 war. Soviel ist aber sicher,dass das System zu seiner Zeit (um 186 SA = —125) und in seiner Umgebungals Verbesserung des etwas älteren Systems A 2 aufgestellt wurde.

Die Chronologie der drei Systeme für Venus ist demnach folgende:

A D war —200 in Uruk schon bekannt;A2 ist zwischen —186 und —125 entstanden;A1 wurde in Babylon um —125 erfunden.

Grosse Astronomen waren die babylonischen Schreiber, die die Systeme A2

und A1 erfunden und miteinander vermischt haben, jedenfalls nicht. Ihre Venus-tafeln geben keine gute Näherung, erfüllen nicht das Sonnenabstandsprinzipund lassen sich nicht über längere Perioden fortsetzen. Dabei ist Venus ein leichtzu berechnender Planet. Das ältere System A für den schwierigen Mars wareine viel grössere Leistung. Das 2. Jahrhundert vor Christus, in dem die griechi-sche Astronomie unter AP0LL0NIOS und HIPPARCHOS ihren grossen Aufschwungnahm, war für Babylon anscheinend eine Zeit des Niederganges.