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THEMENHEFT 1 | 12 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte Wechseljahre: Amerika zwischen denWahlen

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T H E M E N H E F T 1 | 1 2BayerischeLandeszentralefür politischeBildungsarbeit

Einsichtenund Perspektiven

B a y e r i s c h e Z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k u n d G e s c h i c h t e

Wechseljahre:Amerika zwischen den Wahlen

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Autor dieses Heftes Impressum

Einsichten

und Perspektiven

Verantwortlich:

Monika Franz,

Praterinsel 2,

80538 München

Redaktion:

Monika Franz,

Christoph Huber,

Werner Karg

Gestaltung:

griesbeckdesign

www.griesbeckdesign.de

Litho und Druck:

creo Druck &

Medienservice GmbH,

Gutenbergstraße 1,

96050 Bamberg

Titelbild: Speisung für be-

dürftige Immigranten und

Arbeitslose im Friendship

House in Immokalee,

Florida, 2009

Foto: ullstein bild

Dr. Josef Braml ist seit Oktober 2006 wissenschaftlicher Mit-

arbeiter des Programms USA / Transatlantische Beziehungen

der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in

Berlin. Er leitet außerdem die Redaktion „Jahrbuch Internatio-

nale Politik“. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der

Stiftung Wissenschaft und Politik (2002–2006), Projektleiter des

Aspen Institute Berlin (2001), Visiting Scholar am German-

American Center (2000), Consultant der Weltbank (1999), Guest

Scholar der Brookings Institution (1998–1999), Congressional

Fellow der American Political Science Association (APSA) und

legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus (1997–1998).

Ausbildungsstationen: Berufsausbildung zum Bankkaufmann;

Wehrdienst Pionierbataillon 240; Abitur über den Zweiten Bil-

dungsweg; Auslandssemester an der Université de Nice – Sophia

Antipolis; Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien (Di-

plom) an der Universität Passau (1997); Promotion im Haupt-

fach Politikwissenschaft und in den Nebenfächern Soziologie

und Französische Kulturwissenschaft an der Universität Passau

(2001).

Einsichten und Perspekt iven

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Einleitung:Obamas „Change“ versus institutionelleKontinuitäten

Grundlagen des politischen Systems der USAMachtkontrolle: Checks and BalancesPolitische EinzelunternehmerSchwache Parteien, starke Interessengruppen undAd-hoc-Koalitionen9/11: Verschiebung der Machtbalance – Dominanzdes OberbefehlshabersJudikative: Inter arma silent legesDie Verantwortung der LegislativeÖffentliche und veröffentlichte Meinung

Die Wahlen 2008, 2010 und 2012:It’s the Stupid Economy!

Wirtschaftslage und innenpolitische Rahmen-bedingungen …Konsumschwäche und ArbeitslosigkeitRekordhaushaltsdefizit und StaatsverschuldungGefahr von Inflation und SpekulationsblasenPolitikblockade

… für die amerikanische AußenpolitikHandelspolitik

Freie Hand für freien Handel?Protektionismus auf dem Kapitol-Hügel

„Politik“ des schwachen DollarsEnergie(außen)politisches Umsteuern

Amerikas Sucht nach importiertem ÖlStrategische Energieressourcen-UnsicherheitEnergetische Wirtschafts- und HandelsrisikenWahrnehmung von Umwelt- und SicherheitsgefahrenReformunfähigkeit der US-Regierung unterGeorge W. BushChancen eines Kurswechsels unter Obamas Führung

Sicherheitspolitische „Neuorientierung“ nach Asien„Congagement“ mit ChinaEngagement mit JapanAufwertung Indiens„Af-Pak“-KriegGlobale NATO als „Allianz der Demokratien“

Amerikanische Ideen für eine neue Weltordnung

Schlussfolgerungen für Deutschland und die Welt

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Inhalt

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Barack Obama beim Wahlkampf 2008 in New Hampshire Quelle: alle Fotografien im Heft von ullstein

Wechseljahre:Amerika zwischenden WahlenVon Dr. Josef Braml

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Obamas „Change“ versus institutionelleKontinuitäten

„Change We Can Believe In“ lautete das Mantra des Wahl-kämpfers Barack Obama. Für seine Anhänger, ja Jünger,dies- und jenseits des Atlantiks waren seine Worte in der Tateine Glaubenssache. Jene, die im Vorfeld der Wahl Obamaszum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerikadie überzogenen Erwartungen zu dämpfen suchten und mitrationalen Argumenten davor warnten, dass Obama als Prä-sident nicht über Wasser gehen können würde,1 wurden alsAnti-Amerikaner diffamiert. Die sachlich begründeten Ein-wände, dass es institutionelle, fest im politischen System derUSA begründete Schwerkräfte gebe, die gegen die ersehn-ten Ad-hoc-Veränderungen wirken, wurden von den Vor-boten des neuen politischen Messias auf dem Scheiterhaufender political correctness gebrandmarkt.

Heute, im Jahre drei nach Obamas Inauguration,geläutert durch die Schwierigkeiten ihres Präsidenten,sich in den Niederungen der Tagespolitik unter ande-rem auch gegen den Kongress durchzusetzen, wird dieDebatte wieder etwas nüchterner geführt. Doch diesel-ben transatlantischen Honoratioren, die damals vomEuphemismus jugendlicher Wählerinnen und Wählerinspiriert „Yes, We Can“ skandierten, werden auchheute nicht müde, wieder einmal die „neue Lage“ zuerklären: Im amerikanischen System sei es nicht so ein-

fach, „durchzuregieren“. Wo sie recht haben, haben sierecht: Das politische System der USA unterscheidet sich– aber grundlegend – von parlamentarischen Regie-rungssystemen wie dem der Bundesrepublik Deutsch-land.

Grundlagen des politischen Systemsder USA

Der zentrale Unterschied zwischen dem US-amerikani-schen checks-and-balances-System und parlamentarischenRegierungssystemen liegt in der unterschiedlichen Bezie-hung zwischen der Legislative (Parlament) und der Exeku-tive (Regierung) begründet (siehe Abbildung 1).2 Anders alsder US-Präsident, der durch einen Wahlakt eigene Legiti-mation durch den Wähler beanspruchen kann (siehe Ab-bildung 2), wird zum Beispiel die deutsche Kanzlerin mit-telbar von der Mehrheit im Parlament gewählt. Auch in derpolitischen Auseinandersetzung muss der Kopf der Exeku-tive darauf vertrauen können, dass seine Politikinitiativenvon seiner Fraktion bzw. Koalition im Parlament, sprichdem Bundestag mitgetragen werden. Diese Gewaltenver-schränkung charakterisiert parlamentarische Regierungs-systeme, zumal die Stabilität sowohl der Regierung/derExekutive als auch jene der Parlamentsmehrheit von einerengen und vertrauensvollen Kommunikationsbeziehungzwischen beiden abhängen.3

1 Josef Braml/Eberhard Sandschneider/Simon Koschut: Netzwerke entscheiden. Nicht alles wird gut nach den US-Wahlen im November,DGAP Standpunkt Nr. 11/2008, Berlin: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Juli 2008.

2 Emil Hübner/Heinrich Oberreuter: Parlament und Regierung. Ein Vergleich dreier Regierungssysteme, München 1977; Winfried Steffani:Parlamentarische und präsidentielle Demokratie: Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, Opladen 1979; ebd.: Regierungsmehrheitund Opposition, in: Winfried Steffani/Jens-Peter Gabriel (Hg.): Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, Opladen 1991,S. 11–35.

3 „The confidence rule is the central element upon which the logic of the parliamentary system rests.“ R. Kent Weaver: Are ParliamentarySystems Better?, in: Brookings Review, 3 (1985) H. 4, S. 16–25; hier: S. 17.

Abbildung 1:Vergleich unterschiedlicher politischer Systeme Quelle: eigene Darstellung

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Machtkontrolle: Checks and Balances

Im politischen System der USA sind Legislative (Kongress)und Exekutive (Präsident) nicht nur durch verschiedeneWahlakte stärker voneinander getrennt. Das System derchecks and balances ist darüber hinaus gekennzeichnetdurch konkurrierende, sich gegenseitig kontrollierende po-litische Gewalten.4 (Dieses Prinzip ist auch auf der Ebeneder Einzelstaaten angelegt; zudem konkurrieren die Staatenmit dem Bund um Kompetenzen – das sind historisch ange-legte, permanente Auseinandersetzungen, die im Laufe deramerikanischen Verfassungsgeschichte auch das ObersteGericht immer wieder zu Grundsatzentscheidungen genö-tigt haben.) Der amerikanische Kongress übernimmt nicht

automatisch die politische Agenda der Exekutive, sprich desPräsidenten, selbst wenn im Fall des united government5 dasWeiße Haus und Capitol Hill von der gleichen Partei „re-giert“ werden; insbesondere dann nicht, wenn Präsidentund Kongress von unterschiedlichen Parteien „kontrol-liert“ werden, also in Zeiten des so genannten dividedgovernment – eine Regierungskonstellation,6 die mit denZwischenwahlen 2010 wieder eintrat.

Politische Einzelunternehmer

Während im US-System die Legislative (das heißt die zweiKammern im Kongress: Abgeordnetenhaus und Senat, sie-he Abbildung 3) als Ganzes mit der Exekutive um Macht-

4 Richard E. Neustadt beschreibt das amerikanische System treffend als „government of separated institutions sharing powers“. Charles O.Jones präzisierte Neustadts Idiom folgendermaßen: „separated institutions sharing and competing for powers“. Siehe Richard Neustadt:Presidential Power and the Modern Presidents: The Politics of Leadership from Roosevelt to Reagan, New York/Toronto 1990, S. 29;Charles O. Jones: The Presidency in a Separated System, Washington, D.C. 2005, S. 24.

5 James L. Sundquist: Needed: A Political Theory for the New Era of Coalition Government in the United States, in: Political Science Quar-terly 103 (1988) H. 4, S. 613-635.

6 Auch Weaver und Rockman differenzieren zwischen diesen beiden „Regimetypen“; vgl. R. Kent Weaver/Bert A. Rockman: Assessing theEffects of Institutions, in: dies. (Hg.): Do Institutions Matter? Government Capabilities in the United States and Abroad, Washington, D.C.1993, S. 1-41.

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Quelle: Zahlenbilder

Abbildung 2: Das Verfassungssystem der USA

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7 Kurt L. Shell beschreibt die „antagonistische Partnerschaft“ zwischen Kongress und Präsident treffend als den „Kern des amerikanischenpolitischen Systems, der es von parlamentarischen europäischen [Systemen] unterscheidet“. Vgl. ders., Kongreß und Präsident, in: WilliPaul Adams/Peter Lösche (Hg.): Länderbericht USA, Bonn 1998, S. 207. Sicherlich ist es oftmals schwierig zu beurteilen, inwieweit es sichum parteipolitische oder institutionelle Auseinandersetzungen handelt.

8 Die unterschiedlichen föderalen Strukturen und die Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder bzw. Machtbefugnisse der Einzelstaaten in denUSA werden hier nicht ausgeführt.

9 Vgl. Klaus von Beyme: Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt am Main 1993; Suzanne S. Schüttemeyer: Fraktionen im DeutschenBundestag 1949-1997: Empirische Befunde und theoretische Folgerungen, Opladen 1998; ebd.: Parliamentary Parties in the German Bun-destag, Washington, D.C. 2001.

10 „Nor should one expect political parties in a separated system to exercise power they do not or cannot possess.“ Siehe Jones (wie Anm. 4),S. 18.

befugnisse konkurriert,7 ist „Opposition“ im parlamentari-schen System auf die Minderheit im Parlament beschränkt,die nicht die Regierung trägt.8 Für die Regierungspartei/-koalition sind Partei- und Fraktions- bzw. Koalitionsdis-ziplin grundlegend erforderlich, um die Funktionsfähigkeitder eigenen Regierung, ja des parlamentarischen Regie-rungssystems zu gewährleisten. Da Exekutive und Parla-mentsmehrheit in einer politischen Schicksalsgemeinschaftverbunden sind, haben einzelne Abgeordnete ohnehin einEigeninteresse, bei wichtigen Abstimmungen nicht von derParteilinie abzuweichen und sich der Fraktionsdisziplin zufügen. Wahlverfahren, Parteienfinanzierung, Kandidatenre-krutierung und die hohe Arbeitsteilung im Parlament gebenweitere Anreize für parteidiszipliniertes Verhalten.9

Hingegen ist in den USA die politische Zukunfteinzelner Abgeordneter und Senatoren weitgehend unab-hängig von der des Präsidenten; ihre Wahlchancen sind imeigenen Wahlkreis bzw. Einzelstaat zu suchen. Aufgrund

des Wahlsystems und der Politikfinanzierung sind „politi-sche Einzelunternehmer“ in den USA primär selbst für ihreWiederwahl verantwortlich und haften gegebenenfalls auchpersönlich für ihr bisheriges Abstimmungsverhalten imKongress, weil sie sich gegenüber Interessengruppen undWählern nicht hinter einer Parteidisziplin verstecken kön-nen. In der legislativen Auseinandersetzung fehlen US-Par-teien Ressourcen und Sanktionsmechanismen, um denGesetzgebungsprozess zu gestalten.10

Schwache Parteien, starke Interessengruppenund Ad-hoc-Koalitionen

Parteien spielen in den USA – mit Ausnahme ihrerFunktion bei den Wahlen – eine untergeordnete Rolle.Das Unvermögen der Parteien, Politik zu gestalten undauch für personellen Nachschub zu sorgen, eröffnetsowohl Think-Tanks (das sind politikorientierte For-

Quelle: Zahlenbilder

Abbildung 3: Der Kongress – Aufgaben und Befugnisse

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schungsinstitute) als auch Interessengruppen größereAufgabengebiete und Einwirkungsmöglichkeiten.11 Sogenannte advokatische, interessenorientierte Think-Tanks,12 die oftmals auch den entsprechenden rechtli-chen Status erwerben, um Graswurzel-Lobbying be-treiben zu können,13 arbeiten strategisch mit politischgleichgesinnten Gruppen von Abgeordneten und Sena-toren sowie Lobbyisten und Journalisten in „Themen-netzwerken“14 oder „Tendenzkoalitionen“15 zusammen,um ihre Politikvorstellungen in die Tat umzusetzen.

Ein besonders wirksames Mittel für Interessengruppen, umEinfluss auf den Gesetzgebungsprozess und die Wieder-wahl zu nehmen, sind „Wählerprüfsteine“ (scorecards odervoter guides). Interessengruppen der Christlichen Rechtenmachen zum Beispiel kritische Abstimmungen publik, „da-mit unsere Abgeordneten und Senatoren wissen, dass ihreBevölkerung im Wahlkreis genau erfahren wird, wie sie ab-gestimmt haben“, erläutert etwa Lori Waters, die über vierJahre das Eagle Forum geleitet hat.16 Auch die ChristianCoalition, die prominenteste Organisation der ChristlichenRechten, ist seit jeher darum bemüht, vor allem im Vorfeldvon Wahlen ihre Anhängerschaft auf das bisherige Abstim-mungsverhalten einzelner Abgeordneter aufmerksam zumachen.17

Dieser externe Einfluss einer Vielzahl unterschied-licher und oft widerstreitender Interessen ist als erheblicheinzuschätzen, vor allem auch bei den Kongresswahlen. DaUS-Abgeordnete und Senatoren keiner Parteidisziplin un-terworfen sind, können sie sich auch nicht hinter ihr ver-stecken. Einzelne Politiker laufen ständig Gefahr, im Rah-men einflussreicher Kampagnen an den Pranger gestellt undgegebenenfalls bei der Kandidatur um eine Wiederwahl per-sönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie wägendeshalb bei jeder einzelnen Abstimmung gründlich ab, wiesie sich bei den nächsten Wahlen für sie auswirken könnte.Bei der UNFPA-Abstimmung (über die Finanzen des

Weltbevölkerungsfonds) zum Beispiel stellte neben anderenGrass-Roots-Organisationen der Christlichen Rechtenauch das Eagle Forum Kongressabgeordnete vor eine solcheGewissensentscheidung: „Die UNFPA-Abstimmung wirdmorgen stattfinden“, erklärte die damalige Geschäftsfüh-rerin des Eagle Forums, Lori Waters. „Deshalb haben wirmit einem E-Mail-Alarm unsere gesamte Mitgliederbasisinformiert: ‚Die Abstimmung wird extrem knapp ausfallen,fordert deshalb Euren Abgeordneten auf, für diese Ge-setzesänderung zu stimmen.‘“ Das Eagle Forum werde dieAbstimmung auch auf seinem scoreboard bekanntgeben, soWaters weiter, und eine target list herausgeben, auf der manlesen kann, dass zwar jeder kontaktiert werden solle, diegenannten Abgeordneten aber „besondere Aufmerksam-keit“ benötigten. Laut Waters erweist sich dieses Vorgehenals besonders effektiv: „Wenn ein Kongressabgeordnetersieht, dass er auf einer Liste steht, dann ist er wirklich hell-wach und merkt, dass er Farbe bekennen muss.“18

Der US-Präsident ist demnach laufend gefordert, imKongress für die Zustimmung seiner Politik zu werben,das heißt je nach Politikinitiative unterschiedliche undzumeist parteiübergreifende Ad-hoc-Koalitionen zuschmieden. Mit anderen Worten: Der Präsident muss sogenannte leadership demonstrieren und dafür sorgen,dass die (qualifizierte)19 Mehrheit der Abgeordnetenund Senatoren seiner Politik folgen,20 die ihrerseits eineinstitutionelle Identität als Mitglieder des Kongresseshaben und sich der „anderen Staatsgewalt“ (the otherbranch of government) zugehörig fühlen.

9/11:Verschiebung der Machtbalance –Dominanz des Oberbefehlshabers

Die Sorge um die institutionelle Machtbalance tritt jedochin den Hintergrund, wenn – wie mit den Anschlägen vom11. September 2001 deutlich wurde – Gefahr in Verzug ist

11 Vgl. Winand Gellner: Ideenagenturen fu?r Politik und O?ffentlichkeit. Think Tanks in den USA und in Deutschland, Opladen 1995, S. 254.12 Für eine Typologie von Think-Tanks siehe Gellner (wie ebd.) und R. Kent Weaver: The Changing World of Think Tanks, in: Political

Science and Politics 22 (1989) H. 3, S. 563-579.13 Vgl. Josef Braml: Think Tanks versus „Denkfabriken“? U.S. and German Policy Research Institutes‘ Coping with and Influencing Their

Environments; Strategien, Management und Organisation politikorientierter Forschungsinstitute (dt. Zusammenfassung), Aktuelle Mate-rialien zur Internationalen Politik 68, Stiftung Wissenschaft und Politik, Baden-Baden 2004, S. 50-70.

14 Vgl. Hugh Heclo: Issue Networks and the Executive Establishment, in: Samuel Beer/Anthony King (Hg.): The New American PoliticalSystem, Washington, D.C. 1978, S. 87-124.

15 Vgl. Gellner (wie Anm. 11), S. 26-27; Paul Sabatier: Advocacy-Koalitionen, Policy-Wandel und Policy-Lernen: Eine Alternative zur Pha-senheuristic, in: PVS-Sonderheft 24 (1993), S. 116-148.

16 Interview J.B. mit Lori Waters, Executive Director, Eagle Forum, 14.7.2003.17 Ausführlicher: Josef Braml: Das Themennetzwerk der Christlichen Rechten als politischer Machtfaktor in den USA, in: Winand

Gellner/Gerd Strohmeier (Hg.): Politische Strukturen und Prozesse im Wandel, PIN-Jahrbuch 2004, Baden-Baden 2005, S. 81-95.18 Interview J.B. mit Lori Waters, Executive Director, Eagle Forum, 14.7.2003.19 Um parlamentarische Manöver im Senat, so genannte filibuster, abzuwenden (to invoke cloture), ist eine qualifizierte Mehrheit von drei

Fünfteln (60) der Senatoren erforderlich.20 In Neustadts (wie Anm. 4, S. 29-49) Terminologie muss der Präsident „Überzeugungskraft“ (the power to persuade) an den Tag legen.

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Die Anschläge des 11. September 2001: Das zweite Flugzeug schlägt in den südlichen Turm des World Trade Center ein.

und auch die Bevölkerung vom Präsidenten politischeFührung erwartet, um das Land zu schützen. In Zeitenexistenzieller Bedrohung kommt dem Präsidenten die Rolledes Schutzpatrons der Nation zu. Als Oberbefehlshaber derStreitkräfte steht er im Mittelpunkt der (Medien-)Auf-merksamkeit. Der patriotische Sammlungsaffekt des rallyaround the flag bedeutet einen immensen Vertrauens-

vorsprung und Machtgewinn für den Präsidenten und dieExekutive.

Der Kongress hat, wie eingangs ausgeführt, impolitischen System der Vereinigten Staaten, anders als dieLegislative in parlamentarischen Regierungssystemen, all-gemein eine sehr starke, institutionell fundierte Macht-stellung gegenüber der Exekutive – ein Machtpotenzial, mit

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dem in Zeiten nationaler Bedrohung freilich sehr behutsamumgegangen wird. Denn in Kriegszeiten ist jeder einzelneAbgeordnete und Senator angehalten, Partei für die natio-nale Sicherheit zu ergreifen. Obschon amerikanische Kon-gressmitglieder grundsätzlich keine Parteisoldaten, sondernunabhängige politische Unternehmer sind, stehen auch siein solchen Zeiten an der Seite des Obersten Befehlshabers,wenn es darum geht, ihm „patriotische Handlungsbefug-nisse“ zu geben und ihn bei der „Verteidigung des Heimat-landes“ zu unterstützen.

In dieser Lage wäre die Legislative schlecht bera-ten, ihr institutionelles Gegengewicht in die politischeWaagschale zu werfen, um eine starke und markante Oppo-sitionsrolle zu spielen. Der Kongress hat in einer solchenAusnahmesituation nicht das politische Gewicht, einen der-artig populären Präsidenten im Kampf gegen den Terroris-mus herauszufordern, würde er doch damit den Garantender nationalen Einheit und Handlungsfähigkeit in Fragestellen.

In Krisenzeiten kann der Kongress nur eine bera-tende und unterstützende Rolle spielen. Der amerikanischePolitikwissenschaftler Charles O. Jones bringt es auf denPunkt: „So effektiv die Arbeit des Kongresses sein mag undso sehr sich der Kongress in den letzten dreißig Jahren er-folgreich darum bemühte, eine verantwortungsvollere Rollein der politischen Auseinandersetzung zu übernehmen –eine Krise wie diese, ein Pearl Harbor im eigenen Landgewissermaßen, verlangt nach politischer Führung. DerKongress ist keine Einheit. […] Er hat politische Führer,aber keinen Einzelführer. […] Die Macht kann sich also nurzum Präsidenten verlagern. […] Der Kongress nimmt indiesem Prozess eine beratende und unterstützende Rolleein. Aber sie ist nicht darauf angelegt, einen Krieg zu füh-ren.“21

Mit den Anschlägen des 11. September 2001 wurdeder bereits vorher artikulierte Wille der Exekutive kataly-siert und legitimiert, die in den vergangenen drei Jahr-zehnten entstandene Machtfülle des Kongresses22 wieder zubeschneiden. Schon unmittelbar nach Amtsantritt ließenPräsident George W. Bush und seine Gefolgsleute keinenZweifel darüber aufkommen, dass sie die Position der Exe-kutive auf Kosten der Machtbefugnisse der Legislative zustärken beabsichtigten. Diese offensive Strategie des Weißen

Hauses, den vor allem in der Amtszeit des Vorgängers BillClinton erstarkten Kongress wieder in eine untergeordneteRolle zu drängen, erhielt mit den Terroranschlägen vonNew York und Washington ihre Legitimation – die in deramerikanischen Bevölkerung gemeinhin gehegte Überzeu-gung, dass dies angesichts der nationalen Bedrohung rech-tens, ja notwendig sei. Im so genannten Globalen Krieggegen den Terror konnte der Präsident nunmehr die domi-nante Rolle des Oberbefehlshabers der Streitkräfte spielen.Aber auch in der nationalen Diskussion gelang es GeorgeW. Bush, seine Diskurshoheit zu etablieren und sich alsSchutzpatron zu gerieren, der die traumatisierte Nation vorweiteren Angriffen bewahrt.23

Das Weiße Haus ließ denn auch keinen Zweifel anseinem Selbstverständnis und nutzte das enorme Macht-potenzial, die so genannte contingency power, die dem Prä-sidenten bei nationalen Notlagen zufällt: „Aufgrund derArt und Weise, wie unsere Nation konstituiert und unsereVerfassung geschrieben ist, liegt die politische Macht inKriegszeiten hauptsächlich in den Händen der Exekutive“– lautete der Klartext des damaligen Pressesprechers AriFleischer.24 Um jeglichen Missverständnissen vorzubeugen,wurde der damalige Justizminister John Ashcroft im Kon-gress noch deutlicher: „Ich hoffe auch, dass der Kongressdie Amtsgewalt des Präsidenten respektiert, den Krieg ge-gen den Terrorismus zu führen und unsere Nation und ihreBürger mit der ganzen ihm von der Verfassung zugedachtenund vom amerikanischen Volk anvertrauten Machtfülle zuverteidigen.“25

Im Zuge des Globalen Krieges gegen den Terror hatPräsident George W. Bush als Oberster Befehlshabervor allem bei der inneren Sicherheit seine Handlungs-macht auf Kosten der Legislative und Judikative aus-geweitet. Zudem verdeutlichen die Einschränkungenpersönlicher Freiheitsrechte, insbesondere der Habeas-Corpus-Rechte mutmaßlicher Terroristen, partielleund vermutlich temporäre Defizite der einstigen Vor-bild-Demokratie USA. Diese – auch unter der Regie-rung Obama bislang fortgeführte – Entwicklung istumso prekärer, als der Zustand der amerikanischen,freiheitlich verfassten offenen Gesellschaft aufgrundihres Vorbildcharakters die weltweite Perzeption

21 Zit. n. John Cochran/Mike Christensen: Regrouping with a Common Purpose, in: Congressional Quarterly Weekly, 59 (15.9.2001) H. 35,S. 2114.

22 Ausführlicher zum „Triumph der Legislative“ siehe Jürgen Wilzewski: Triumph der Legislative: Zum Wandel der amerikanischen Sicher-heitspolitik 1981-1991, Frankfurt am Main/New York 1999.

23 Ausführlich dazu: Josef Braml: Machtpolitische Stellung des Präsidenten als Schutzpatron in Zeiten nationaler Unsicherheit, in: Zwei JahrePräsident Bush: Beiträge zum Kolloquium der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin am 13. Februar 2003, SWP-Studie S 9, Berlin2003, S. 35-39.

24 Zit. n. Dana Milbank: In War, It’s Power to the President, in: Washington Post v. 20.11.2001, S. A1.25 Testimony of Attorney General John Ashcroft, Senate Committee on the Judiciary, 6.12.2001, Washington, D.C.

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26 Ausführlicher: Josef Braml: Rule of Law or Dictates by Fear. A German Perspective on American Civil Liberties in the War Against Terro-rism, in: Fletcher Forum of World Affairs 27 (2003) H. 2, S. 115-140.

27 William H. Rehnquist: All the Laws but One: Civil Liberties in Wartime, New York/Toronto 1998, S. 224.28 Ebd.29 „Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Gesetze“, oder „Im Krieg ist das Recht kraftlos“ (Cicero, Rede für Milo; Übersetzung nach

Detlef Liebs: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 1982, S. 197).

demokratischer Rechtsstaatlichkeit und internationaleRechts- und Ordnungsvorstellungen beeinflusst.26

In der amerikanischen Geschichte gab es immer wieder Pha-sen äußerer Bedrohung, in denen sich die Machtbalance zuGunsten der Exekutivgewalt verschoben hat. In einer ein-gehenden Analyse dieses Phänomens mit dem Titel „All theLaws but One: Civil Liberties in Wartime“ warnte WilliamRehnquist, bis zu seinem Tode Anfang September 2005Chief Justice des U.S. Supreme Court, vor der Gefahr, dassder Oberste Befehlshaber in Kriegszeiten durch zusätzlicheMachtbefugnisse dazu verleitet werde, den konstitutionel-len Rahmen zu überdehnen.27

Judikative: Inter arma silent leges

Nach seinem Blick in die Geschichte hat der Oberste Rich-ter jedoch kein allzu großes Vertrauen, dass seine Zunft derExekutive die zu wahrenden Grenzen unmittelbar aufzeigt:„Wenn die (höchstrichterliche) Entscheidung getroffenwird, nachdem die Kriegshandlungen beendet sind, ist eswahrscheinlicher, dass die persönlichen Freiheitsrechtefavorisiert werden, als wenn sie getroffen wird, während derKrieg noch andauert.“28 Obschon vereinzelt zivilgesell-schaftliche advocacy groups einige Teilerfolge erzielt undeinschlägige Urteile erwirkt haben, wurden diese in der Re-gel nach Gegenhalten der Exekutive von höheren Instanzenwieder zurückgewiesen oder für nicht rechtskräftig erklärt.

Solange der „Globale Krieg gegen den Terror“ andauert,wird wohl die römische Maxime inter arma silent leges auchim politischen System der Vereinigten Staaten in Geltungbleiben.29 Wenn auch das Recht nicht völlig geschwiegenhat, so erweisen sich die bisherigen Äußerungen bislangdoch als kraftlos. Das Oberste Gericht hält sich in Krisen-und Kriegszeiten als (im eigenen Selbstverständnis) nicht-politische Instanz eher zurück – es will dem OberstenBefehlshaber nicht in den Arm fallen.

Zwischenzeitlich sprach jedoch der Oberste Ge-richtshof ein „Machtwort“: zum rechtlichen Status des inAfghanistan festgenommenen amerikanischen Staatsbür-gers Yaser Esam Hamdi (Hamdi et al. vs. Rumsfeld) und zuden Rechtsansprüchen von Nicht-Amerikanern auf demUS-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay, Kuba (Rasul etal. vs. Bush). Mit diesen Urteilen vom 28. Juni 2004 wider-sprach der Supreme Court der bisherigen Praxis der Exe-kutive, nach der diese die Möglichkeit einer Ex-Post-Überprüfung durch eine juristische Kontrollinstanz ver-wehrte und eigenmächtig a priori darüber urteilte, wer wel-che Rechte „verdient“. Der Oberste Gerichtshof verdeut-lichte, dass die richterliche Kontrolle exekutiver Entschei-dungen ein wesentliches Element des amerikanischen Sys-tems der checks and balances sei. Bei der Urteilsfindungging es um nicht weniger als das Habeas-Corpus-Prinzip,das Recht jedes Häftlings in demokratisch verfassten Staa-ten, die Verfassungs- oder Gesetzmäßigkeit seiner Festnah-me vor Gericht anzufechten. Die Richter nahmen nur zur

Der Sitzungssaal des Obersten

Gerichtshofs in Washington,

D.C.

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Frage der Gerichtsbarkeit Stellung,30 nicht aber zu den wei-teren Verfahrensweisen. Sie behaupteten damit zwar ihreMachtbefugnisse. Doch sie gingen nicht soweit, der Exeku-tive vorzuschreiben, wie diese rechtsstaatlichen Prinzipienauf die aktuellen Fälle angewendet werden sollen.

Auch mit der weiteren Entscheidung im Fall desauf Guantánamo inhaftierten Salim Ahmed Hamdan31

(Hamdan vs. Rumsfeld) wies das Oberste Gericht den Prä-sidenten einmal mehr in die Schranken, indem es die eigenenMachtbefugnisse und die Rolle des Kongresses verdeutlich-

te. Die Bush-Administration hatte im Vorfeld der höchst-richterlichen Entscheidung öffentlichkeitswirksam argu-mentiert,32 dass der Supreme Court im Fall Hamdan vs.Rumsfeld keine Jurisdiktion habe, weil der vom Kongressgebilligte Detainee Treatment Act (auch für laufende Fälle)vorsehe, dass Inhaftierte auf Guantánamo keine Habeas-Corpus-Petitionsrechte vor Bundesgerichten geltend ma-chen können, sondern ihre Fälle zunächst in Militärtribu-nalen (mit Revisionsmöglichkeit vor dem Berufungsgerichtdes District of Columbia) entschieden werden müssen und

30 Die Bush-Administration vertrat die Auffassung, dass der – wohl bewusst gewählte – Inhaftierungsort auf dem US-Marinestützpunkt inGuantánamo Bay (Kuba) außerhalb des souveränen Staatsgebietes der Vereinigten Staaten liege. Entsprechend könnten dort internierte aus-ländische Staatsangehörige keinen Anspruch auf einen Prozess vor einem US-Gericht geltend machen. Doch nach Auffassung der Richter-mehrheit des Supreme Court kontrollieren die USA de facto das Gebiet. Deshalb seien auch amerikanische Gerichte zuständig. Vgl. dieExzerpte aus den Urteilen des Supreme Court: Excerpts from Rulings in 3 Cases on Government Detention of Terror Suspects, in: NewYork Times v. 29.6.2004.

31 Osama bin Ladens Chauffeur, der in Afghanistan aufgegriffen und auf Guantánamo inhaftiert wurde.32 Siehe etwa die Verlautbarungen von Regierungsvertretern in: Warren Richey: At Court, a Terror Case Rife with Tough Issues, in: Christian

Science Monitor v. 27.3.2006; Charles Lane: Court Case Challenges Power of President. Military Tribunals’ Legitimacy at Issue, in:Washington Post v. 26.3.2006, S. A01; Linda Greenhouse: Detainee Case Will Pose Delicate Question for Court, in: New York Times v.27.3.2006.

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 1212

Das Gerichtssystem der USA

Im Gerichtswesen der USA herrscht ebenso das Prinzip der Gewaltenteilung – zwischen der Bundes-gerichtsbarkeit und der Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten, die parallel existieren. (Daneben gibt es auchnoch die – außerhalb der Judikative wirkende – Militärgerichtsbarkeit (military courts).

Die Bundesgerichtsbarkeit

besteht aus drei Instanzen: Auf der untersten Ebene richten

94 district (trial) courts, darüber stehen 13 Berufungsgerichte

(appellate courts), deren Urteile wiederum vom Obersten

Gericht (Supreme Court) revidiert werden können.

Der Supreme Court

besteht aus neun Richterinnen und Richtern, die auf Lebenszeit

berufen werden. Sie werden vom Präsidenten ernannt und

müssen von der Legislative, namentlich vom Senat, gebilligt

werden. Die höchstrichterlichen Urteile beeinflussen u.a. auch

die Kräfteverhältnisse der politischen Gewalten im US-System

der checks and balances. So wurden die Versuche der Regie-

rung George W. Bushs, die eigenen Machtbefugnisse auf Kos-

ten jener der Legislative und Judikative auszuweiten, vom

Supreme Court verurteilt. Unter anderem mit dem Urteil vom

Juni 2008 (Boumediene et al. vs. Bush et al.) wahrte das

Oberste Gericht einmal mehr die eigene Raison d’Être – gleich-

wohl mit einer denkbar knappen Mehrheit von fünf gegen vier

Stimmen. Dabei haben die beiden von Präsident Bush ernann-

ten Richter Samuel A. Alito und Chief Justice John G. Roberts,

Jr. in ihrer Minderheitsmeinung die Machtanmaßungen und

Vorgehensweise des Präsidenten im „Globalen Krieg gegen

denTerror“ gebilligt. Mit der künftigen Neubesetzung von

Richterämtern am Supreme Court stehen mit einer möglichen

Veränderung der Mehrheitsverhältnisse auch grundlegende, für

die Qualität der amerikanischen Demokratie ausschlaggebende

Entscheidungen auf dem Spiel.

Die Gerichte der Einzelstaaten

sind hauptsächlich für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit zustän-

dig. Jeder Einzelstaat hat sein eigenes, mehrstufig aufgebautes

Gerichtssystem. So gilt in einigen Staaten noch dieTodesstrafe,

während sie in anderen bereits abgeschafft wurde. Auch die

Berufung der Richter ist unterschiedlich: Je nach Bundesstaat

werden Richter entweder direkt vom Volk gewählt oder poli-

tisch, das heißt von der jeweiligen Exekutive und Legislative,

ernannt.

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Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12 13

33 Ebenso wenig wurde in diesem Fall die Frage geprüft, ob die Inhaftierung des Klägers im Gefangenenlager auf Guantánamo rechtmäßig ist.Vgl. Cass R. Sunstein: The Court’s Stunning Hamdan Decision, in: The New Republic Online v. 30.6.2006, http://www.tnr.com/doc.mhtml?i=w060626&s=sunstein063006 (Stand: 23.11.2006).

34 Democrats Will Now Have the Chance to Curtail the Bush Administration’s Human Rights Abuses, in: Washington Post v. 19.11.2006,S. B06.

dabei auch nicht grundsätzlich die Legalität von Militärtri-bunalen angezweifelt werden kann. Mit der Entscheidungvom 29. Juni 2006 behauptete die Richtermehrheit amObersten Gerichtshof einmal mehr die eigene Zuständig-keit und erklärte die Militärtribunale für unrechtmäßig, dasie zum einen gegen internationales Recht, namentlich ge-gen die Regeln der Genfer Konvention verstoßen, zum an-deren auch nicht explizit vom Kongress autorisiert wordenwaren. Damit widersprach das Gericht zwar dem unilatera-len Vorgehen des Präsidenten, aber nicht der Möglichkeit,Militärtribunale einzusetzen. Der Supreme Court fordertedie Exekutive vielmehr auf, in Zusammenarbeit mit demKongress einen praktikablen Weg zur Handhabung vonMilitärtribunalen zu finden.33

Die Verantwortung der Legislative

Nachdem der Oberste Gerichtshof im Juni 2006 dem unila-teralen Vorgehen des Präsidenten einmal mehr widerspro-chen und ihn zur Zusammenarbeit mit dem Kongress auf-

gefordert hatte, war die Legislative umso mehr in der Ver-antwortung.

Mit dem am 17. Oktober 2006 unterzeichnetenMilitary Commissions Act legalisierte der Kongress die vomPräsidenten unilateral autorisierten Militärtribunale. DieLegislative hat damit bis auf Weiteres das Recht von An-geklagten, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung von einemBundesgericht überprüfen zu lassen (Habeas Corpus), aus-gehebelt. Ferner erwirkte der Präsident legislative Rücken-deckung, um das lange Zeit geheim gehaltene Verhörpro-gramm der CIA fortzusetzen. Zudem wurde der Präsidentlegitimiert, die Genfer Abkommen im Umgang mit Kom-battanten und Kriegsgefangenen nach seinem Ermessenauszulegen.

Kritische Medien, allen voran die Washington Post,appellierten daraufhin eindringlich an den Kongress, dassdie Wiederinkraftsetzung des Habeas-Corpus-Prinzips un-erlässlich sei, um die USA wieder in Einklang mit interna-tionalen Rechtsnormen und Menschenrechtsstandards zubringen.34

Das Gefangenenlager Camp Delta auf dem Militärstützpunkt Guantánamo Bay im Jahr 2006

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Im gleichen Sinne, obgleich viel später, erklärte im Urteils-spruch vom 12. Juni 2008 das Oberste Gericht denn auchwesentliche Bestimmungen des Military Commissions Actvon 2006 für verfassungswidrig und die ein Jahr zuvor eben-so von der Exekutive und dem Kongress im DetaineeTreatment Act etablierten Verfahrensweisen für rechtlichunzulänglich. Die denkbar knappe Richtermehrheit (fünfgegen vier Stimmen) entschied im Fall des auf Guantánamoinhaftierten Lakhdar Boumediene (Boumediene et al. vs.Bush et al.), dass insbesondere Paragraph 7 des vom Präsi-denten im Oktober 2006 unterzeichneten Gesetzes nichtmit dem verfassungsmäßig garantieren Habeas-Corpus-„Privileg“ vereinbar ist, da die vom Kongress und Präsiden-ten vorgesehenen Bestimmungen es so genannten feindli-chen Kämpfern (enemy combatants) verwehrt haben, ihreInhaftierung vor einem Bundesgericht überprüfen zu las-sen. Nach Auffassung der Richtermehrheit ist der writ ofhabeas corpus unabdingbar für den Schutz der individuellenFreiheit, ja ein unentbehrlicher Mechanismus zur Überwa-chung der Gewaltenteilung. Damit behauptete der SupremeCourt seinen eigenen Machtanspruch bei der Gewalten-kontrolle im US-System der konkurrierenden, sich gegen-seitig kontrollierenden Gewalten.

Die Richter nahmen wie schon in früheren Urteilenauch in diesem Fall nur zur Frage der grundlegenden Zu-ständigkeiten Stellung, nicht aber zu den weiteren Verfah-rensweisen. Das Augenmerk bleibt demnach auf den Kon-gress gerichtet, die in mehreren Urteilen des Supreme Courtbestätigte legislative (Kontroll-)Funktion wahrzunehmen.Doch der demokratische Vorsitzende des Justizausschussesim Senat, Patrick J. Leahy, erwiderte auch dem Drängen desdamaligen Justizministers Michael Mukasey – der vomKongress neue Richtlinien für den rechtlichen Umgang mitInhaftierten auf Guantánamo forderte –, dass dieses Themaerst in der nächsten Legislaturperiode nach den Kongress-und Präsidentschaftswahlen verantwortungsvoller als bis-her behandelt werden sollte.35

Insgesamt kann man festhalten, dass sich auch derKongress bis heute noch nicht als die institutionelle Instanzbewährt hat, die wirksam für eine ausgewogene Balance

zwischen staatlicher Sicherheit und individuellen Freiheits-rechten sorgt. Dennoch wurde deutlich, dass selbst ein war-time president gezwungen ist, auf die Initiative des Kon-gresses zu reagieren – die jedoch aus politischen Gründennicht im Widerspruch zur öffentlichen Meinung stehendarf.

Öffentliche und veröffentlichte Meinung

Die Anschläge vom 11. September 2001 haben die gesell-schaftlichen Präferenzen, die Wahrnehmungen und dasSelbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft ver-ändert. Vor allem hat die nationale Sicherheit an Be-deutung gegenüber dem Schutz der individuellen Frei-heiten, der so genannten civil liberties,36 gewonnen.37

Das Grundvertrauen in die eigene Stärke als einzig ver-bliebene Supermacht wich dem Bewusstsein der Ver-wundbarkeit im „Heimatland“. Nicht zuletzt wurdenmit den Angriffen auf das World Trade Center und dasPentagon auch Symbole der wirtschaftlichen und mili-tärischen Macht der Vereinigten Staaten zerstört. DieWahrnehmung eigener Verwundbarkeit rief ein immen-ses Sicherheits-, Schutz- und Handlungsbedürfnis her-vor. In der ersten allgemeinen Verunsicherung undOrientierungslosigkeit wurde der Ruf nach staatlicherAutorität deutlich artikuliert.

Da der 11. September 2001 den Erfahrungshorizont auchder amerikanischen Bevölkerung sprengte, dürfte der enor-me Vertrauensvorschuss unmittelbar nach den Anschlägen– die Zustimmungsrate für den Präsidenten erreichte die 90-Prozent-Marke (siehe Abbildung 4, S. 16) – nicht allein aufeine Ex-post-Bewertung des Regierungsverhaltens zurück-zuführen sein. Vielmehr brachten die Bürger damit vermut-lich vor allem ihre Erwartung zum Ausdruck, dass die Re-gierung, namentlich der Präsident, sie schützen werde.38

Differenziertere Meinungsumfragen lassen daraufschließen, dass der Vertrauensbonus des Präsidenten inerster Linie auf den Erwartungen an seine institutionelleRolle als Oberster Befehlshaber im „Krieg gegen den Ter-

35 Patrick J. Leahy zit. in: Mukasey Asks Congress to Clarify Detainee Rights, in: Congressional Quarterly (CQ) Today Midday Update v.21.7.2008.

36 Die wichtigsten – im Weiteren synonym als individuelle oder persönliche Freiheitsrechte bezeichneten – civil liberties werden durch dieersten zehn Verfassungszusätze (amendments) garantiert. Diese auch unter den Begriff der Bill of Rights subsumierten Grundsätze wurdenam 15.12.1791 en bloc als integraler Bestandteil in die Verfassung aufgenommen. Nach dem Bürgerkrieg kamen weitere amendments hinzu,wobei das vierzehnte wegen seiner due-process- bzw. equal-protection-Bestimmungen besonders signifikant für den Schutz der individuel-len Freiheitsrechte „jeder Person“ ungeachtet der Staatsbürgerschaft ist.

37 Ausführlicher dazu: Josef Braml: USA: Zwischen Rechtsschutz und Staatsschutz. Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte, SWP-StudieNr. S 5, Berlin, Februar 2003.

38 Insofern trägt es zum Verständnis dieses Phänomens bei, wenn man nach David Easton zwischen spezifischer und diffuser Unterstützungdifferenziert. Erstere gründet auf der Zufriedenheit der Bürger mit konkreten Politikinhalten bzw. mit der spezifischen Leistung vonRegierungsvertretern; letztere reflektiert eine allgemeine Einstellung der Bevölkerung gegenüber den politischen Institutionen. Siehe DavidEaston: A Systems Analysis of Political Life, New York 1965.

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 1214

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Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12 15

39 Vgl. die Umfrage der Public Opinion Strategies v. 14.-17.1.2002; zit. in, American Enterprise Institute: AEI Studies in Public Opinion:American Public Opinion on the Terrorist Attacks, Washington, D.C., 28.6.2002, S. 25.

40 So das Ergebnis einer Umfrage der Washington Post und von ABC News; zit. in: Dana Milbank/Claudia Deane: President’s Ratings StillHigh, Poll Shows: 75 Percent View Bush As „Strong Leader“; 66 Percent Approve His Work Performance, in: Washington Post v.22.12.2002, S. A04.

41 In einer CNN/USA Today/Gallup-Umfrage vom 3.-5.9.2004 bekundeten 60 Prozent der Amerikaner, dass George W. Bush ein „starkerund entschlossener Führer“ sei, während nur 30 Prozent seinem Herausforderer, Senator John Kerry, diese Charaktereigenschaft zuschrie-ben. Siehe Lydia Saad: Bush Exceeds or Ties with Kerry on Most Ratings of Presidential Characteristics: Leadership and Honesty areBush’s Strong Points, Gallup Poll Analyses, Washington, D.C., 14.9.2004.

42 Siehe zum Beispiel Richard N. Haass: War of Necessity, War of Choice. A Memoir of Two Iraq Wars, New York 2009.43 Präsident Bush hatte in seiner kriegsvorbereitenden Ansprache zur Lage der Nation vom 28. Januar 2003 einmal mehr die Lage im Irak mit

der existenziellen Bedrohung der USA durch Massenvernichtungswaffen in den Händen von Terroristen assoziiert: „Stellen Sie sich diese19 Luftpiraten mit anderen Waffen und anderen Plänen vor – dieses Mal von Saddam Hussein bewaffnet. Eine Phiole, ein Kanister, eine indieses Land geschmuggelte Kiste würde ausreichen, einen Tag des Grauens zu veranstalten, wie wir ihn noch nie erlebt haben“; s. GeorgeW. Bush, Bericht zur Lage der Nation, 28.1.2003; Übersetzung der amerikanischen Botschaft in Berlin, USINFO-B-DE, Washington,D.C. 2003.

Erhöhte Sicherheitsstufe in der New Yorker Central Station im Februar 2003

ror“ beruhte.39 Auch 15 Monate nach den Anschlägen des11. September 2001 sahen drei von vier Amerikanern inihrem Präsidenten einen „starken Führer“40 – eine Charak-terisierung, auf die sich George W. Bush dann weiterhin, vorallem bei seiner Wiederwahl 2004 stützen konnte.41

Nach den Anschlägen des 11. September beein-trächtigten die durch Unsicherheit und Angst verstärktenpatriotischen Gefühle und religiösen Überzeugungen auch

das Differenzierungs- und rationale Urteilsvermögen vielerMedienschaffender. So konnte Oberbefehlshaber Bush ei-nen völkerrechtswidrigen – und von den meisten Sicher-heitsexperten42 als unnötig und kontraproduktiv qualifi-zierten – Krieg gegen das Regime Saddam Husseins mit fal-schen Behauptungen (Massenvernichtungswaffen in denHänden von Saddam Hussein, die an Terroristen weiterge-geben werden können)43 und religiösen Vorstellungsinhal-

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ten44 legitimieren45 und damit nicht zuletzt seine Wieder-wahlchancen wahren46 – ohne nachhaltige Kritik der eta-blierten Medienorgane wie Fox oder CNN.47

In dem Maße, in dem die Amerikaner die Bedro-hung für den Terrorismus wieder gelassener gesehen habenund auch die menschlichen und wirtschaftlichen Folgen desvon George W. Bush im Namen der Terrorbekämpfunggeführten Irak-Krieges begriffen, schenkten sie auch ande-ren Themen wieder mehr Aufmerksamkeit. Insbesondere

die Finanzkrise, die sich zur weltweiten Wirtschaftskriseausweitete, hat seitdem das Wahlverhalten der amerikani-schen Wählerinnen und Wähler dominiert.

Die Wahlen 2008, 2010, 2012:It’s the Stupid Economy!

Barack Obama wurde 2008 nicht zum Präsidenten gewählt,weil er als der stärkere Oberbefehlshaber galt, sondern weil

44 „Wir gehen mit Zuversicht voran, weil dieser Ruf der Geschichte das richtige Land erreicht hat. [...] Die Amerikaner sind ein freies Volk,das weiß, dass die Freiheit das Richtige für jeden Menschen und die Zukunft jeder Nation ist. Die Freiheit, die wir schätzen, ist nichtAmerikas Geschenk an die Welt, sie ist das Geschenk Gottes an die Menschheit. Wir Amerikaner glauben an uns, aber nicht nur an uns.Wir geben nicht vor, alle Wege der Vorsehung zu kennen, aber wir vertrauen in sie, setzen unser Vertrauen in den liebenden Gott, der hinterallem Leben und der gesamten Geschichte steht. Möge Er uns jetzt leiten. Und möge Er weiterhin die Vereinigten Staaten von Amerika seg-nen“, – so lauteten die Schlusssätze der kriegsvorbereitenden Rede des amerikanischen Präsidenten zur Lage der Nation; siehe ebd.

45 Angesichts der mangelnden parteiübergreifenden Unterstützung im Vorfeld des Irak-Krieges – 84 Prozent der Parteigänger des Präsidentenunterstützten den Krieg; auf Seiten der Demokraten waren dagegen nur 37 Prozent der Befragten bereit, dem Kurs George W. Bushs zu fol-gen – war für George W. Bush der Rückhalt seiner Parteifreunde umso wichtiger. Differenzierte Analysen zeigen darüber hinaus, dass ne-ben der Parteizugehörigkeit auch religiöse Faktoren für die Unterstützung des Kriegskurses des Präsidenten ausschlaggebend waren: Vonden Amerikanern, die in der Gallup-Umfrage angaben, dass ihnen Religion „sehr wichtig“ sei, unterstützten rund 60 Prozent den Krieg.Dagegen fiel dieser Wert bei den Befragten, die zu Protokoll gaben, dass ihnen Religion „nicht sehr wichtig“ sei, mit 49 Prozent deutlichniedriger aus; vgl. Frank Newport: Support for War Modestly Higher among More Religious Americans: Those Who Identify with theReligious Right Most Likely to Favour Military Action, Gallup Poll Analyses, Washington, D.C., 27.2.2003.

46 Im Vorfeld der Wiederwahl George W. Bushs – die in den Augen vieler Beobachter wegen des Irak-Krieges gefährdet schien – wurde deut-lich, dass häufige Kirchgänger auch nach dem Waffengang eher geneigt blieben, den Krieg zu unterstützen, als weniger religiöse Amerika-ner; siehe National Annenberg Election Survey: Blacks, Hispanics Resist Republican Appeals But Conservative White Christians AreStronger Supporters than in 2000, Annenberg Public Policy Center of the University of Pennsylvania, 25.7.2004, S. 2, 5 und 7.

47 Anders ist die Leistung einiger überregionaler Zeitungen in der überwiegend innenpolitischen Debatte um die Einschränkung persönlicherFreiheitsrechte im Namen der Sicherheit zu bewerten. Insbesondere die New York Times und Washington Post haben die Einschränkungpersönlicher Freiheitsrechte durch die Exekutive und das Versagen des Kongresses massiv kritisiert.

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 1216

Abbildung 4: Zustimmungsrate für den Präsidenten, Februar 2001 bis Februar 2002

Quelle: Gallup

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48 Laut Umfragen des Pew Research Center for the People and the Press v. 21.-25.5.2008, zit. in: Congressional Quarterly (CQ) Weekly v.9.6.2008, S. 1512.

49 Umfragen zit. in: Kevin Friedl/Mary Gilbert, To Withdraw, Or Not To Withdraw?, in: National Journal Poll Track v. 15.7.2008.50 Laut einer Analyse der Daten des U.S. Census Bureau wurden eine von vier Stimmen von „nicht-weißen“ Wählern abgegeben.

Insbesondere konnte die Wahlbeteiligung schwarzer Wähler von 60,3 (2004) auf 65,2 (2008) Prozent gesteigert werden. Ebenso erhöhte sichder Urnengang von Wählern hispanischer Herkunft von 47,2 (2004) auf 49,9 Prozent (2008). Siehe Mark Hugo Lopez/Paul Taylor (Hg.):Dissecting the 2008 Electorate: Most Diverse in U.S. History, Pew Research Center Report, Washington, D.C., 30.4.2009.

51 Siehe: Presidential Election Results. How the Race Was Won, in: The Economist v. 6.11.2008.52 In vier der sechs swing states, die Präsident George W. Bush bei den Wahlen 2004 mit nur fünf oder weniger Prozentpunkten Vorsprung

gewann, konzentriert sich die Wählerschaft der Latinos: in New Mexico (mit einem Anteil von 37 Prozent der Wahlberechtigen), Florida(14 Prozent), Nevada (12 Prozent) und Colorado (12 Prozent). Weitere Staaten mit einem hohen Anteil hispanischer Wahlberechtigter sindTexas (25 Prozent), Kalifornien (23 Prozent), Arizona (17 Prozent) und New York (11 Prozent). Siehe Paul Taylor/Richard Fry: Hispanicsand the 2008 Election: A Swing Vote?, Washington, D.C., Pew Hispanic Center, Dezember 2007, S. 18. Siehe auch: Josef Braml: US-Wah-len: Mit Spanglish ins Weiße Haus: Wie Demokraten und Republikaner um die Latino-Wähler werben, in: Internationale Politik, 63 (Ok-tober 2008) H. 10, S. 86-89.

53 Ausführlicher zur Machtsymbiose zwischen Christlich-Rechten und Republikanern: Josef Braml: Amerika, Gott und die Welt. GeorgeW. Bushs Außenpolitik auf christlich-rechter Basis, Berlin 2005.

54 Ezra Klein: The Health of Nations, in: The American Prospect v. 7.5.2007. http://www.prospect.org/cs/articles?article=the_health_of_nations (Stand: 18.4.2011).

man ihm eher als seinem Herausforderer (und Irak-Kriegs-befürworter) Senator John McCain zutraute, das Land ausder größten Wirtschafts- und Finanzkrise seit den dreißigerJahren zu führen.

Mit der kritischen Wirtschaftslage rückten dieKriegsschauplätze im „Globalen Krieg gegen den Terror“,insbesondere im Irak und in Afghanistan, in der Wahrneh-mung der meisten Amerikaner in weite Ferne. Anders alsnoch bei der vom Sicherheitsthema dominierten Wieder-wahl George W. Bushs trieben im Wahlkampf 2008 nun-mehr die Sorgen um die hohen Energiepreise und die pre-käre wirtschaftliche Situation die amerikanischen Wählerum. Weitaus häufiger als außenpolitische Themen wie Irakoder Terrorismus wurden in Meinungsumfragen innenpoli-tische Belange wie Wirtschaft, Ausbildung, Arbeitsplätze,Gesundheitsfürsorge, Energie und soziale Sicherung alsausschlaggebend für das Abstimmungsverhalten im No-vember 2008 genannt.48 Differenzierte Analysen im Vorfeldder Wahlen zeigten, dass jene Wähler, denen Wirtschafts-themen am wichtigsten waren, den designierten Präsident-schaftskandidaten der Demokraten, Senator Barack Oba-ma, klar dem Bewerber der Republikaner, Senator JohnMcCain, vorzogen.49

Angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lageund der akuten oder drohenden Arbeitslosigkeit fühltensich Angehörige der Mittelschicht besonders verunsichert.Wie 1992 Bill Clinton konnte 2008 Barack Obama die pre-käre Wirtschaftslage bei den Präsidentschaftswahlen ineinen politischen Vorteil ummünzen. Obama sensibilisiertedie mittlere Einkommensschicht für wirtschaftspolitischeThemen und mobilisierte nicht zuletzt auch Minderheiten,sprich schwarze und hispanische Wähler,50 für seine wirt-schafts- und sozialpolitischen Ziele. Bei der schwarzenBevölkerung hat Obama 95 Prozent der Stimmen erhalten.51

Ebenso konnte Obama bei der mittlerweile größten Min-derheit, den Latinos, den Wähleranteil der Demokratenmerklich erhöhen. Er gewann über zwei Drittel der Stim-men hispanischer Wähler, die in vielen hart umkämpftenEinzelstaaten wie Florida, New Mexico und Colorado denAusschlag gaben.52

Das Erfolgsrezept war einfach: Obamas Wahlkämpfernist es unter anderem gelungen, den auf sexualmorali-sche Themen fixierten „religiösen Rechten“ und Repu-blikanern eine alternative Deutung so genannter moralissues entgegenzuhalten.53 Neue Graswurzelorganisa-tionen der „religiösen Linken“ haben (im Sinne derkatholischen Soziallehre) auch Armutsbekämpfung,Bildung, Krankenversicherung und Alterssicherung alsmoralische Themen definiert.

Seit seiner Amtsübernahme steht Präsident Obama nun-mehr in der Pflicht zu handeln, seine wirtschafts- und sozi-alpolitischen Versprechen einzulösen. Teilweise bereits mitErfolg: Anders als sein demokratischer Vorgänger Bill Clin-ton und die damals in diesem Politikfeld federführende FirstLady Hillary Clinton, die an einer umfassenden Gesund-heitsreform scheiterten, konnte Präsident Obama demKongress eine Jahrhundertreform abringen. Unter anderemkonnte er durchsetzen, dass den 45 Millionen bis dato nichtbzw. 16 Millionen unterversicherten54 Amerikanern eineKrankengrundversicherung gewährt werden soll.

Auch bei den Zwischenwahlen im November 2010– bei denen nicht der Präsident, sondern nur der Kongress,sprich alle 435 Repräsentanten des Abgeordnetenhausesund ein „Drittel“ (37) der Senatoren, zur Wahl anstanden –gab die prekäre wirtschaftliche Lage den Ausschlag. DieDemokraten verloren das Abgeordnetenhaus an die Repub-

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likaner und sechs Sitze im Senat. Gleichwohl konnten siedamit noch die „Mehrheit“ in dieser zweiten Kammer desKongresses verteidigen (siehe Tabelle 1).

Sechs von zehn Wählern (62 Prozent) erklärten inden Umfragen unmittelbar nach dem Wahlgang, dass wirt-schaftliche Probleme ihre Hauptmotivation waren, gefolgtvon der umstrittenen Gesundheitsreform (18 Prozent) undder illegalen Einwanderung (8 Prozent). Außenpolitik bliebaußen vor: Nur acht Prozent der Amerikaner hat der Kriegin Afghanistan umgetrieben.55

Auch mit Blick auf seine mögliche Wiederwahl imNovember 2012 ist Präsident Obama gut beraten, alles da-ran zu setzen, die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplät-ze zu schaffen. Diese Herkulesaufgabe wird umso schwie-riger, als zudem der Handlungsspielraum des Präsidentendurch die Blockademacht des Kongresses – insbesonderedurch dessen Haushaltsbewilligungsrecht, die so genanntepower of the purse – massiv eingeschränkt ist. Insgesamtwird die Bewältigung der Finanz-, Wirtschafts- und Infra-strukturprobleme viel Geld kosten, das Amerika aufgrundder desolaten Haushaltslage fehlt.

Angesichts der prekären Haushaltslage und abzu-sehenden Blockade der politischen Gewalten (Stichwort:gridlock) in den USA muss umso mehr Augenmerk auf dieGestaltungsmacht der US-Notenbank gerichtet werden:Die Federal Reserve versucht weiterhin, die Wirtschaft mitLiquiditätsspritzen wiederzubeleben. Erfolg oder Misser-folg ihres Handelns werden die Präsidentschaftswahlen2012 beeinflussen und auch das Wirtschaftswachstum inEuropa und in Schwellenländern nachhaltig bestimmen.

Wirtschaftslage und innenpolitischeRahmenbedingungen …

Die amerikanische Wirtschaft befand sich von Dezember2007 bis Juni 2009 in einer Rezession.56 Gemessen an derDauer und seinen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wardieser Konjunktureinbruch der längste und folgenreichsteseit dem Ende des Zweiten Weltkrieges (siehe Tabelle 2).

Bisherige Rezessionen konnten vor allem dank derZugkraft der Automobilindustrie und der Wachstums-impulse des Immobilienmarktes überwunden werden.Doch mit einem Auftritt dieser beiden Branchen alsDei ex machina ist dieses Mal nicht zu rechnen.

Die Automobilbranche, die in den glorreichen Zeiten der„Großen Drei“ – Chrysler, Ford und General Motors – et-wa ein Zehntel aller Konsumausgaben vereinnahmte, ist intechnischer Hinsicht von ihren internationalen Wettbewer-bern überholt worden. Amerikanische Autobauer habenMarktanteile insbesondere an asiatische Konkurrenten ver-loren, die Kraftstoff sparende oder Hybrid-Automobile mitverschiedenen Antrieben oder Kraftstoffen anbieten. DieFinanz- und Wirtschaftskrise verschärfte die ohnehin pre-käre Lage der amerikanischen Autoindustrie.

Seit den fünfziger Jahren haben Eigenheiminves-titionen ein Drittel der amerikanischen Wirtschaftsleistungbefördert. Mit der Immobilienblase platzte für viele auchder amerikanische Traum vom eigenen Heim. Mittlerweilesind nicht mehr nur die Kredite an Schuldner mit geringer

55 Laut Exit Polls des Nachrichtensenders CNN v. 3.11.2010.56 Am 1.12.2008 datierte das National Bureau of Economic Research (NBER) den Beginn der Rezession auf Dezember 2007. Da im dritten

und vierten Quartal 2009 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vergleich zu den jeweiligen Vorquartalen wieder um 2,2 bzw. 5,9 Prozentgewachsen ist, kann man von einem (vorläufigen) Ende der Rezession ausgehen.

57 Das ist die Differenz zwischen der Arbeitslosenquote am Ende und zu Beginn der Rezession.58 U.S. Bureau of Labor Statistics: Labor Force Statistics from the Current Population Survey, Monthly Seasonally Adjusted Household Data,

Washington, D.C., 8.1.2010.

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 1218

Tabelle 2:Die aktuelle Rezession im historischen Vergleich

Rezession

Dauer (in Monaten)

Zunahme der Arbeitslosen-

quote (in Prozentpunkten)57

1973-75

17

3,5

1981-82

18

2,6

2007-09

19

4,5

Quelle: U.S. Bureau of Labor Statistics,58

eigene Berechnung

Tabelle 1:Sitzverteilung im amerikanischen Kongress,112. Legislaturperiode (seit 3.1.2011)

Republikaner

Demokraten

Unabhängige

Gesamt

Abgeordnetenhaus

242

193

435

Senat

47

51

2

100

Quelle: U.S. Congress; eigene Darstellung

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Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12 19

59 Renae Merle: Unemployment Spike Compounds Foreclosure Crisis, in: Washington Post v. 18.8.2009.60 Laut Bericht des Representative of German Industry and Trade (RGIT), Nr. 4/2011, Washington, D.C.61 Gregory White: Joseph Stiglitz Predicts Another 2 Million Foreclosures in 2011, in: Business Insider v. 9.2.2011.62 America’s Property Market. On a Losing Streak, in: The Economist v. 24.3.2011.63 Gemäß einer Studie von LPS Applied Analytics; zit. in: Government’s Overwhelming Role in Mortgages, in: Wall Street Journal v.

12.1.2011.64 Nils Rüdel: Fannie Mae und Freddie Mac – Der Amerikanische Traum wird abgewickelt, in: Handelsblatt v. 11.2.2011.

Kreditwürdigkeit (so genannte subprime mortgages) notlei-dend, sondern aufgrund der anhaltenden Arbeitslosigkeitauch weitere Kreise von Hauseigentümern vom Verlust ih-rer Immobilie bedroht. Nach Schätzungen der Wirtschafts-analyseagentur Moody’s Economy mussten 2009 weitere1,8 Millionen Amerikaner ihre kreditfinanzierten Eigen-heime an ihre Banken abtreten. Im Vergleich zum Vorjahr(mit 1,4 Millionen Zwangsvollstreckungen) war das eineweitere spürbare Verschlechterung der Lage auf dem Immo-bilienmarkt.59 Für 2011 erwartete die US-Regierung, dassweitere 2,5 Millionen Einfamilienhäuser zwangsversteigertwerden.60 Insgesamt wären damit etwa neun Millionen

Amerikaner betroffen.61 Mit steigender Tendenz: Heutesteht eins von vier Häusern in Amerika „unter Wasser“,62

das heißt, die (Noch-)Eigentümer schulden ihren Bankenhöhere Beträge in Form von Hypothekendarlehen, als ihrHaus aktuell auf dem Markt wert ist.

Zur Zeit werden neun von zehn Hauskrediten di-rekt oder indirekt durch staatliche Stellen gesichert,63 nichtzuletzt von den de facto verstaatlichten HausfinanzierernFannie Mae und Freddie Mac. 2008 mussten beide Institutevom Staat gerettet werden – mit bislang 150 MilliardenDollar.64 Mit diesen Instituten sollte ursprünglich der ame-rikanische Traum realisiert werden – eine „Gemeinschaft

Konzernzentrale von General Motors in Detroit im Jahr 2007 – im Vordergrund ist eine Reklame für die Ende 2009 aufgegebene

Marke Pontiac zu sehen.

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Finanzkrise im Jahr 2009: Das Haus in Florida musste von seinen Bewohnern geräumt werden.

von Eigentümern in Amerika (ownership society)“ zu schaf-fen, wie es Präsident George W. Bush nannte.65 Hingegenlegte im Februar 2011 die neue Regierung unter Federfüh-rung von Finanzminister Timothy Geithner dem KongressReformpläne vor, wonach sich der Staat aus dem Immobi-lienmarkt wieder zurückziehen sollte.66 Angesichts der„prekären Lage auf dem Immobilienmarkt“ könne dies je-doch nur behutsam und in einem „richtig bemessenen Tem-po“ geschehen, um die Erholung der Wirtschaft nicht zugefährden.67

Auch im kommerziellen Bereich ist nichts Gutes zuerwarten: Die schwierige wirtschaftliche Lage wird Ge-schäftsschließungen und weitere schwerwiegende Belastun-gen für den Immobilienmarkt zur Folge haben. Nach Ein-schätzung des Congressional Oversight Panel (COP), dermit dem Bankenrettungspaket 2008 etablierten staatlichen

Aufsichtsbehörde, drohen ab 2011 auf dem Gewerbeimmo-bilienmarkt Kredite in Höhe von 200 bis 300 MilliardenDollar auszufallen und weitere Banken in den Konkurs zutreiben. Laut COP weisen selbst gut kapitalisierte Bankenund vor allem kleinere Institute eine riskante Geschäftskon-zentration im Gewerbeimmobiliensektor auf.68 Nach Anga-ben des staatlichen Einlagensicherungsfonds, der FederalDeposit Insurance Corporation (FDIC), sind weitere 700Banken mit einer Gesamteinlagensumme von etwa 400 Mil-liarden Dollar in großen Schwierigkeiten, nachdem im vor-herigen Jahr bereits 140 Bankpleiten verzeichnet wurden.69

Nunmehr sind Banken misstrauischer geworden:Sie sind zurückhaltend, anderen Instituten Geld zu leihen,und vorsichtiger, Kredite an Einzelpersonen zu gewähren,insbesondere wenn diese damit wie bisher ihren Konsumfinanzieren wollen.

65 Siehe zum Beispiel: White House, Office of the Press Secretary: Fact Sheet: America’s Ownership Society: Expanding Opportunities,Washington, D.C., 9.8.2004.

66 U.S. Department of the Treasury/U.S. Department of Housing and Urban Development: Reforming America’s Housing Finance Market. AReport to Congress, Washington, D.C., Februar 2011.

67 Ebd., S. 1.68 Congressional Oversight Panel, February Oversight Report: Commercial Real Estate Losses and the Risk to Financial Stability, 10.2.2010,

Washington, D.C., S. 2-4, 102, 131-132.69 Zit. in: FDIC-insured „Problem” Institutions. Botched Banks, in: The Economist v. 26.10.2010.

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70 ABC News Consumer Confidence Index v. 6.2.2011, http://www.langerresearch.com/uploads/m020611.pdf (Stand: 20.4.2011), vgl. auchden Bloomberg Weekly Consumer Comfort Index vom 15. Dezember 2011.

71 Vgl. U.S. Bureau of Labor Statistics (wie Anm. 58).72 Daten des U.S. Department of Labour zit. in: The Council of State Governments: State Unemployment Insurance Trust Funds, March 2011

Update.73 John Maggs: Jobless Picture Is Worse Than It Seems, in: National Journal v. 17.10.2009.74 The Council of State Governments (wie Anm. 72).

Konsumschwäche und Arbeitslosigkeit

Auch das fehlende Vertrauen der Verbraucher in diewirtschaftliche Lage – eine weitere, wesentliche Ursachefür das zurückhaltende Konsumverhalten – ist im Ja-nuar 2009 auf ein Rekordtief abgestürzt und hat sichseitdem nicht merklich verbessert. Selbst wenn die US-Bürger weiterhin konsumieren wollten, könnten sie esnicht mehr: Ihre hohe persönliche Verschuldung, dieanhaltende Immobilienkrise, der Verlust von Arbeits-plätzen und steigende Energiepreise schmälern dieKaufkraft der Amerikaner. Sogar jene, die noch ausrei-chend Mittel zur Verfügung haben, verzichten aufKonsum. Vor allem die Sorge um den Arbeitsplatz be-wirkt, dass sie wieder mehr sparen. Der ABC NewsConsumer Index ist denn auch seit zwei Jahren konti-nuierlich stark abgefallen und pendelte sich auf einemRekordtief ein.70

Diese Kennziffer ist ein Warnsignal für noch größere Pro-bleme: Die amerikanische Wirtschaft wird hauptsächlich,etwa zu zwei Dritteln, von der Nachfrageseite, also durchKonsum angetrieben. Sollten die Nachfrage weiterhin zu-rückgehen und zugleich die Unternehmen – aufgrund derallgemein sinkenden Kaufkraft und der Schwierigkeit, Kre-dite zu erhalten – noch weniger investieren und damit dieWirtschaft zusätzlich von der Angebotsseite her bremsen,könnten die USA in eine noch tiefere Rezession abrutschen(double-dip recession). Dies würde den Konsum noch mehrschwächen, die Abwärtsspirale beschleunigen und die Ar-beitslosigkeit weiter erhöhen.

Seit Beginn der Wirtschaftskrise im Dezember2007 hatte sich die Arbeitslosenquote bis zum Dezember2009 auf zehn Prozent verdoppelt und sich seither auf einemNiveau von neun Prozent eingependelt. Zwar wurden inden Medien hin und wieder leichte Verbesserungen gemel-det; doch diese sind häufiger der Tatsache geschuldet, dassviele Langzeitarbeitslose aus der Statistik genommen wer-den. Rechnet man noch jene hinzu, die ihre Jobsuche auf-gegeben haben und in den offiziellen Statistiken nicht mehrerfasst werden, kann man davon ausgehen, dass einer vonfünf arbeitswilligen Amerikanern (18 Prozent) ohne Be-schäftigung ist. In absoluten Zahlen bedeutete allein dieoffiziell ausgewiesene Arbeitslosenquote einen Anstieg um7,6 auf 15,3 Millionen – der stärkste Anstieg seit dem Endedes Zweiten Weltkrieges.71

Bezeichnend für das Ausmaß der Rezession ist nicht nur derrasante und nachhaltige Anstieg der Arbeitslosenzahlen,sondern auch die Zunahme der durchschnittlichen Dauerder Arbeitslosigkeit. Gemäß den Angaben des amerikani-schen Arbeitsministeriums bezogen im Februar 2011 Ar-beitslose im Durchschnitt bereits über 37 Wochen Arbeits-losenhilfe. Langzeitarbeitslose – die mehr als 27 Wochenohne Arbeit sind – machen mittlerweile 44 Prozent allerArbeitslosen aus.72

Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist auf demhöchsten Stand seit 1948 und belastet die Arbeitslosen-versicherung nachhaltig. Normalerweise werden die Leis-tungen vom Bund und den Einzelstaaten gemeinsam getra-gen. Doch die Kassen vieler Staaten waren bereits vor derWirtschaftskrise leer, sodass ihnen Washington seit demAusbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise wiederholtfinanziell unter die Arme greifen musste. Nach der üppigenUnterstützung im Rahmen des 787-Milliarden-Dollar-För-derprogrammes vom Februar 2009 verabschiedete die US-Legislative im November 2009 erneut ein 24-Milliarden-Dollar-Programm, um mit Bundeszuschüssen unter ande-rem die maximale Bezugsfrist für Arbeitslosengeld um wei-tere drei Monate zu verlängern. Nach Einschätzung vonArbeitsmarktexperten des Urban Institute fehlten der Ar-beitslosenversicherung zum Jahresende 2009 bereits zehnMilliarden Dollar.73 Weitere Verlängerungsrunden werdendiese Belastungen noch um Einiges erhöhen. Nach Angabendes Council of State Governments hatten zum März 2011bereits 32 Einzelstaaten knapp 46 Milliarden an Schuldenbeim nationalen Arbeitslosenfonds (Federal Unemploy-ment Account) angehäuft. Nach Prognosen des Arbeitsmi-nisteriums werden bis Ende 2013 voraussichtlich 40 der 50Staaten auf diese Finanzhilfe angewiesen sein und insgesamtüber 90 Milliarden Dollar benötigen, um die Leistungen ausder Arbeitslosenversicherung zahlen zu können.74

Ebenso wirken sich die durch Arbeitslosigkeit ver-ursachten Kosten für die Rentenversicherung belastend aufden Staatshaushalt aus: Vielen älteren Langzeitarbeitslosenbleibt keine andere Wahl als die mit persönlichen finanziel-len Einbußen verbundene Frühverrentung. Aufgrund derzurückgehenden Beschäftigung sinken die Beiträge zurRentenversicherung, sodass die Einnahmen hinter den Aus-gaben zurückbleiben. Zum ersten Mal seit den achtzigerJahren werden die zusätzlichen Ausgaben die Einnahmender Social Security übersteigen.

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Im Speisesaal des Friendship House in Immokalee, Florida, nehmen bedürftige Immigranten und von der Finanzkrise betroffene

Arbeitslose eine Mahlzeit zu sich, 2009.

Die angespannte soziale Lage – unter anderem auch diewachsenden Kosten für die staatliche Gesundheitsversor-gung sozial schwacher oder älterer Amerikaner, die über diestaatlichen Programme Medicaid bzw. Medicare grundver-sichert sind – erfordert politisches Handeln. Zudem wirddie Bewältigung der Finanz-, Wirtschafts- und Infrastruk-turprobleme viel Geld kosten, das Amerika aufgrund dervon George W. Bush mit verursachten desolaten Haushalts-lage fehlt.

Rekordhaushaltsdefizit und Staatsverschuldung

In der Amtszeit von Präsident Bill Clinton konnte der ame-rikanische Staat noch mehr an Steuern einnehmen, als gleich-zeitig in Form von Leistungen ausgegeben wurde, undsomit Haushaltsüberschüsse erzielen. Damit wurde auchdie Staatsverschuldung verringert. Mit seiner „Butter-und-Kanonen“-Politik der Steuererleichterungen trotz hoherKriegsausgaben brachte Präsident George W. Bush die USAwieder zurück auf den Pfad defizitärer Staatshaushalte undsteigender Schuldenlast (siehe Abbildung 5).

Ebenso wie sein Vorgänger George W. Bush, der im Ok-tober 2008 das erste 700 Milliarden Dollar schwere Stabi-lisierungsprogramm, das Troubled Asset Relief Program(TARP), aufgelegt hatte, um das Finanzsystem vor demKollaps zu bewahren, setzte Präsident Obama gleich zu Be-ginn seiner Amtszeit, im Februar 2009, mit dem AmericanRecovery and Reinvestment Act (ARRA) weitere 787 Milli-arden Dollar ein, um die Wirtschaft anzukurbeln.

Mit den beiden Rettungs- bzw. Konjunkturpro-grammen wurde der durch Bushs Finanzgebaren ohnehinschon angespannte Staatshaushalt umso mehr belastet.Bereits das Haushaltsjahr 2008 markierte mit 459 MilliardenDollar ein Rekorddefizit. 2009 war der Fehlbetrag mehr alsdreimal so hoch: 1.413 Milliarden Dollar. 2010 wurde derStaatshaushalt erneut um 1294 Milliarden Dollar überzo-gen. Auch im vergangenen Haushaltsjahr, das am 30.September 2011 endete, bezifferte sich das Haushaltsdefizitauf 1300 Milliarden Dollar.75

Sicherlich sind diese – in absoluten Zahlen ausge-drückten – Belastungen für Amerika leichter zu schultern,als sie für ein kleineres Land zu bewältigen wären. Doch

75 Gemäß den Daten des U.S. Department of the Treasury und des Congressional Budget Office, abrufbar unter: http://www.cbo.gov/.

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76 Congressional Budget Office: Estimated Impact of Automatic Budget Enforcement Procedures Specified in the Budget Control Act,Washington, D.C., 12.9.2011.

selbst auf die Wirtschaftsleistung bezogen hat das Defizitmit jeweils neun bis zehn Prozent des Bruttoinlandspro-dukts (BIP) in den letzten drei Jahren wiederholt die 1983erzielte Rekordmarke von sechs Prozent bei weitem über-troffen, die Präsident Ronald Reagan dem Land zugemutethatte.

Indem sich Jahr für Jahr Milliardendefizite sum-miert haben, musste die Gesamtschuldenobergrenze, dievom Kongress bereits im Februar 2010 auf 14 BillionenDollar erhöht wurde, erneut angehoben werden. Dass diesein der Vergangenheit routinemäßig abgewickelte Aktionnunmehr im heftigen politischen Streit eskalierte, der sichzwischen den Parteien, aber umso deutlicher innerhalb derbeiden Lager abspielte, verdeutlicht den Ernst der Lage.Selbst die Drohungen der Ratingagenturen – die Unfähig-keit der Politik, einen Kompromiss zu finden, als Anlass zunehmen, um die Kreditwürdigkeit der USA herabzustufen– brachte die politischen Kontrahenten nicht wirklich zurRaison.

Nach monatelangem, die Finanzmärkte beunruhi-gendem, politischem Ringen konnte Präsident Obama am

2. August 2011 dann doch noch den Budget Control Act un-terzeichnen. Wie der Name des Gesetzes suggeriert, wurdenmit der Anhebung der Schuldenobergrenze, um zunächst900 Milliarden Dollar, auch Ausgabenkürzungen verbun-den: In den nächsten zehn Jahren sollen insgesamt bis zu2.400 Milliarden Dollar eingespart werden. Zunächst muss-te eine überparteiliche Gruppe von Abgeordneten undSenatoren bis zum 23. November 2011 Vorschläge unter-breiten, um im Zeitraum von 2012–2021 mindestens 1500Milliarden zu kürzen. Nur wenn die Empfehlungen derArbeitsgruppe von beiden Kammern des Kongresses ohneÄnderungen bis zum 15. Januar 2012 angenommen werden,würde der Präsident autorisiert, die Schuldenobergrenzeum weitere 1.500 Milliarden Dollar zu erhöhen. Sollte dieArbeitsgruppe scheitern oder der Kongress deren Empfeh-lungen nicht zustimmen, könnte Präsident Obama dieObergrenze zwar erneut um 1.200 Milliarden Dollar anhe-ben, doch würde in diesem Fall ein automatischer Mecha-nismus greifen und in den künftigen zehn Haushaltsjahren1.200 Milliarden nach dem Rasenmäherprinzip im Sozial-und Sicherheitsbereich kürzen.76

Quelle: Congressional Budget Office (CBO), eigene Darstellung

Abbildung 5: US-Haushaltsdefizite und -überschüsse 1980–2011 (in Mrd. Dollar)

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Dieser für viele Außenstehende schwer durchschaubareKompromiss soll zweierlei ermöglichen: zum einen, kurz-fristig die Schulden zu bedienen, um die Zahlungsunfähig-keit der USA zu verhindern; zum anderen, mittel- bis lang-fristig den Schuldenberg abzubauen, um die Kreditwürdig-keit zu wahren und die wirtschaftliche Entwicklung nichtzu gefährden. Aus gutem Grund:

Aus wirtschaftspolitischer (keynesianischer) Sichtwar die Erhöhung der Staatsverschuldung kurz- bis mittel-fristig zu rechtfertigen, denn vorerst wurde der Zusammen-bruch des Bankensystems verhindert und Nachfrage gene-riert, die die Rezession abfedert und Arbeitsplätze sichert.Langfristig geht Staatsverschuldung jedoch auf Kosten desWirtschaftswachstums: Staatliche Investitionen erschwe-ren, ja sie verdrängen über den Mechanismus des crowdingout private Investitionen.

Eine weitere Gefahr besteht darin, dass die anhand des BIPgemessene Wirtschaftsleistung nicht mehr mit der Staats-verschuldung Schritt halten kann. Betrachtet man dasVerhältnis zwischen der auf Kreditmärkten öffentlich wirk-samen Verschuldung77 und dem BIP in den drei zurücklie-genden Dekaden, so wird eine Tendenz deutlich: Zwischen1980 und 1995 nahm die Verschuldung stärker als die Wirt-schaftsleistung zu, der Quotient stieg also an (siehe Abbil-dung 6). In den Jahren 1995 bis 2001 fiel er aufgrund sinken-der Verschuldung wieder, um dann seit 2002 im Zugezunehmender Staatsverschuldung wieder merklich zu stei-gen. 2008 wurde bereits die 40-Prozent-Marke überschrit-ten, 2009 wurden 47,2 Prozent des BIP erreicht.

Mittlerweile wurde die Höchstmarke der neunzigerJahre (1993: 49,4 Prozent), die Präsident Clinton von

77 Im Gegensatz zum gross federal debt beinhaltet die so genannte debt held by the public nur die – aufgrund ihres Einflusses auf Zinssätzeund Investitionsentscheidungen privater Akteure – in ökonomischer Hinsicht relevanten Staatsschulden, die über den Kreditmarkt veräu-ßert werden. Hingegen beinhaltet das gross federal debt auch intragouvernementale Verbindlichkeiten und Verpflichtungen (trust funds),etwa gegenüber der Sozial- und Arbeitslosenversicherung oder Pensionskassen für Staatsbedienstete.

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Abbildung 6:Von der Öffentlichkeit finanzierte Staatsverschuldung (debt held by the public) in Prozent des BIP, 1980–

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Quelle: Congressional Budget Office (CBO), eigene Darstellung

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78 So der Direktor des Congressional Budget Office, Douglas W. Elmendorf: Confronting the Nation’s Fiscal Policy Challenges, Testimonybefore the Joint Select Committee on Deficit Reduction, U.S. Congress, Washington, D.C., 13.9.2011, S. 17.

79 Office of Management and Budget: Mid-session Review, Budget of the U.S. Government, Fiscal Year 2010, Washington, D.C., August2009, S. 25.

seinen Amtsvorgängern Ronald Reagan und GeorgeBush sen. geerbt hatte, übertroffen: mit 62 Prozent imHaushaltsjahr 2010 und 67 Prozent im Haushaltsjahr201178 – mit weiterhin steigender Tendenz: Selbst gemäßden auf optimistischen Annahmen fußenden Prognosendes Weißen Hauses dürfte in zehn Jahren die von derÖffentlichkeit und zu einem Gutteil vom Auslandfinanzierte Staatsverschuldung der USA bemerkens-werte 80 Prozent des BIP erreichen.79

Dieses Szenario erscheint umso bedrohlicher für die US-Staatsfinanzen, wenn man zudem die demografisch beding-te Finanzierungslücke der sozialen Sicherungssysteme be-rücksichtigt. Ohne grundlegende Reformen werden dieKosten staatlich finanzierter Ansprüche (entitlement pro-grams) astronomische Höhen erreichen, sobald die „Baby-Boom“-Generation gegen Ende der nächsten Dekade ausdem Arbeitsleben scheidet.

Ein überproportionaler Anstieg der Staatsverschuldung imVerhältnis zum BIP birgt die Gefahr, dass Investoren keine„riskanten“ US-Staatsanleihen mehr kaufen. Freilich bleibtden Hauptfinanciers der US-Schulden, vor allem China undJapan, gar nichts anderes übrig, als weiter zu investieren, umnicht den Wertverlust ihrer bestehenden Anlagen in denUSA zu riskieren. Doch werden auch sie ihre Portfoliosdiversifizieren, sprich in anderen Staaten und Währungeninvestieren, um das Risiko zu begrenzen.

Hinzu kommt, dass der künftige US-Finanzie-rungsbedarf den bisherigen bei Weitem übertreffen wirdund zudem die Finanzkraft ausländischer Kreditgeber über-fordern dürfte, die wie Japan und China ihrerseits mit wirt-schaftlichen Problemen zu kämpfen haben. Insgesamt sindAnleger beim Kauf von lang laufenden Anleihen ohnehinvorsichtig und wählerisch, zumal viele Staaten und Unter-nehmen in den kommenden Jahren die Anleihemärkte mitneuen Emissionen zur Abdeckung der Schulden und Defi-zite fluten werden. Die US-Notenbank müsste dann nochumfangreicher intervenieren, indem sie Staatspapiere auf-kauft, sprich „Geld druckt“. Damit wäre zwar die Gefahrder Staatsinsolvenz vorerst gebannt, aber jene der Inflationheraufbeschworen.

Gefahr von Inflation und Spekulationsblasen

Zur Bewältigung der Wirtschaftskrise missachten die Wäh-rungshüter in den USA einmal mehr ihre monetaristischenPrinzipien. Indem die US-Notenbank mit massiven Liqui-ditätsspritzen die Wirtschaft wiederzubeleben versucht, ris-kiert sie weitere Finanzblasen und Inflation. Zudem werdenpolitische Erwägungen es künftig erschweren, frühzeitigInflationsgefahren einzudämmen. Ohnehin haben die US-Bundesregierung und die Einzelstaaten mit milliarden-schweren fiskalpolitischen Förderprogrammen in das ame-rikanische Wirtschaftsgeschehen eingegriffen.

Um das aktuelle geldpolitische Dilemma der US-Notenbank zu verdeutlichen, ist ein kurzer Rückblick aufdie Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise illustrativ:Nachdem im Jahr 2000 die Spekulationsblase an den US-Aktienmärkten platzte und die Terroranschläge vom 11.September 2001 ein Übriges taten, um die US-Wirtschaft zuverunsichern, reagierte die US-Notenbank mit merklichenLeitzinssenkungen, um eine Rezession zu verhindern.Selbst als sich die Wirtschaftslage verbesserte, hielt die Fe-deral Reserve an ihrer Niedrigzinspolitik fest und war mitdafür verantwortlich, dass im amerikanischen Markt zu vielLiquidität vorhanden war. Banken konnten damit ihre Kre-

Den Ordner mit dem Logo der amerikanischen Notenbank hält

ihr Präsident Ben Bernanke in Händen, 2010.

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ditvergabe ausbauen – vor allem zugunsten von Kreditneh-mern mit geringer Bonität – und verursachten so den Im-mobilienboom und die damit ausgelöste Finanz- undWirtschaftskrise.

Heute kann es sich die US-Notenbank indes wei-terhin nicht leisten, die Zinsen zu erhöhen und so Liquiditätvom Markt abzuschöpfen, weil dies die aufgrund des Ver-trauensverlustes im Bankensektor80 bereits vorhandeneKreditklemme forcieren würde. Zudem besteht die Sorge,dass ein erhöhtes Zinsniveau weitere Kreditnehmer, die auf-grund der schlechten Arbeitsmarktlage ohnehin über gerin-gere Einkommen und wegen der steigenden Benzinpreiseüber weniger Kaufkraft verfügen, mit einem so genannten„Zahlungsschock“ konfrontieren würde, wenn sie merken,dass der höhere Zinssatz die Rückzahlungslast spürbarerhöht. Dies würde noch mehr notleidende Kredite verur-sachen und die Gefahr einer weiteren Immobilien- unddamit Finanzkrise heraufbeschwören.

Die Notenbank reduzierte denn auch sukzessiveden Leitzins, zu dem sich Geschäftsbanken Geld verschaf-fen können, und signalisierte bereits bei ihrer Sitzung imDezember 2008, dass sie die Rekordtiefmarke (0 bis 0,25Prozent) bis auf Weiteres beibehalten wolle.81 Die nunmehrrisikoscheuen Banken gaben jedoch die an sie verabreichteLiquidität nicht an Privatunternehmen und Verbraucherweiter, sodass es für private Marktteilnehmer schwierigerwurde, Investitionen und Konsum zu finanzieren.

In der Folge setzte die Notenbank weitere „kreati-ve Instrumente“ ein, um die Privatunternehmen direkt mitGeld zu versorgen und die Kreditvergabe zu beleben:82 ImMärz 2009 kündigte die amerikanische Notenbank an, imZuge ihres so genannten quantitative easing – ein Euphe-mismus für „Geld drucken“ – 300 Milliarden Dollar anSchulden, also langlaufenden US-Staatsanleihen, aufzukau-fen, um sie marktfähig zu halten. Zudem erklärte sich dieFederal Reserve bereit, durch Hypotheken „gesicherte“Wertpapiere im Gegenwert von 1,45 Billionen Dollar zuerwerben. Im November 2010 verkündete die Notenbankeine zweite Runde des quantitative easing (QE2): Sie kauf-te bis Ende des zweiten Quartals 2011 weitere US-Staatsan-leihen im Wert von 600 Milliarden Dollar. Damit dürfte dieFederal Reserve seit Beginn der Krise insgesamt 2,3 Billio-nen Dollar in die Wirtschaft gepumpt haben.83

Die außerordentliche Geldschwemme der US-Notenbankwird die in bisherigen Krisenzeiten inflationshemmendeWirkung von Arbeitslosigkeit hinwegspülen. Der ehemali-ge Notenbankchef Alan Greenspan sagte den USA bereitsim Sommer 2009 eine Inflation von über zehn Prozent vor-aus, wenn die Federal Reserve nicht bald ihre Bilanz korri-gieren und die Leitzinsen anheben sollte.84 Doch es ist bisauf Weiteres denkbar, dass politischer Druck die US-No-tenbank auch künftig davon abhält, der Inflationsgefahrrechtzeitig zu begegnen, indem sie schon beim Wieder-anspringen der Konjunktur die von ihr in großen Mengenzur Verfügung gestellte Liquidität im Sinne einer so genann-ten „Exit-Strategie“ wieder vom Markt abschöpft.

Denn aus Sicht der schon im November 2012 zurWiederwahl anstehenden Abgeordneten und Senatoren imKongress wäre eine Straffung der Geldpolitik erst dannopportun, wenn sich das Wachstum der Wirtschaft als nach-haltig erweist und die Verbesserungen auch für die Arbeit-nehmer – sprich: die Wähler – spürbar werden. Laut Präsi-dent Obama, der ebenso zur Wiederwahl antreten muss, istdie Rezession erst vorbei, wenn die US-Wirtschaft „wiederneue Arbeitsplätze schafft“.85

Die Politik hat ohnehin milliardenschwere Wirtschafts-förderprogramme aufgelegt, um die Finanzkrise zubeheben und die Wirtschaft wiederzubeleben. Bereitsgegen Ende der Amtszeit George W. Bushs rettete derKongress mit einer Finanzspritze in Höhe von 700 Mil-liarden Dollar das Banken- und Finanzsystem vor demKollaps. Sein Nachfolger Obama brachte mit demAmerican Recovery and Reinvestment Act (ARRA) ein787 Milliarden Dollar umfassendes Konjunkturpaketauf den Weg. Mit den darin enthaltenen Steuererleich-terungen soll einerseits Nachfrage geschaffen werden.Andererseits versucht der Staat mit Investitionen, etwain die Verkehrsinfrastruktur und das Gesundheits- undSozialwesen, die Angebotsseite zu stärken. Insbesonderesoll die Förderung von Energieeffizienz und erneuerba-ren Energien die Grundlage für eine robuste und nach-haltige Wirtschaft des 21. Jahrhunderts legen.

Das Umsteuern auf eine so genannte low carbon economy,also das Wirtschaften mit möglichst niedrigem Verbrauch

80 US-Banken sitzen weiterhin auf „faulen Krediten“, die sie nach und nach aus ihren Büchern abschreiben müssen, um ihre Bilanzen zubereinigen.

81 Board of Governors of the Federal Reserve: FOMC Statement and Board Approval of Discount Rate Requests of the Federal ReserveBanks of New York, Cleveland, Richmond, Atlanta, Minneapolis, and San Francisco. Pressemitteilung v. 6.12.2008.

82 Vgl. Rede von Ben S. Bernanke: The Crisis and the Policy Response, London School of Economics, 13.1.2009.http://www.federalreserve.gov/newsevents/speech/bernanke20090113a.htm (Stand: 28.4.2011).

83 Conference Board. Hohe Spritpreise dämpfen US-Verbraucherstimmung, in: Handelsblatt v. 29.3.2011.84 Alan Greenspan zit. in: Assessing Quantitative Easing, in: The Economist v. 13.8.2009.85 Barack Obama zit. in: Neil Irwin: With Big Government Boost, U.S. Economy Grew in 3rd Quarter, in: Washington Post v. 30.10.2009.

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Windräder in Kalifornien im Jahr 2009

fossiler Brennstoffe, ist auch aus energie-, umwelt- undsicherheitspolitischen Gründen geboten. Doch bei der Um-setzung dieses langfristigen Zieles wird es mittelfristig An-passungsschwierigkeiten geben. Zwar ist politisches Han-deln erforderlich, um Marktversagen im Energie- und Um-weltbereich zu beheben. Doch die Politik hätte sich daraufbeschränken können, Forschung in erneuerbare Energienund energiesparende Technologien zu fördern, anstatt sichund andere Marktteilnehmer direkt auf bestimmte Ener-gieträger und Technologien festzulegen. Damit wird derMarkt als Such- und Entdeckungsverfahren ausgehebelt.Zudem besteht die Gefahr einer spekulativen Blase beiInvestitionen in erneuerbare Energien. Durch die Nullzins-politik und Liquiditätsschwemme der Notenbanken wer-den Investoren wieder einmal dazu verleitet, weltweit Risi-ken einzugehen, die sie nicht verstehen und tragen können.

Politikblockade

Mit den immensen Ausgaben von Notenbank und Politikwurde indes der künftige (politische) Handlungsspielraumausgereizt. Beide, Präsident Bush ebenso wie PräsidentObama, hatten bereits große Schwierigkeiten, nicht zuletztmit ihren Parteifreunden, ihre Gesetzesinitiativen durchden Kongress zu manövrieren. Bush scheiterte beim erstenVersuch mit dem 700-Milliarden-Dollar-Stabilisierungs-programm (TARP) – an der Blockadehaltung „seiner“ repu-blikanischen Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Erst als dieMärkte panisch reagierten – der Dow-Jones-Index fiel nachder Abstimmungsniederlage vom 29. September 2008 inner-halb eines Handelstages um die Rekordmarke von über 700Punkten86 –, gelang es Präsident Bush beim zweiten Anlauf,die erforderlichen Stimmen seiner Parteifreunde zu sichern.

86 The Bail-out Plan: A Shock from the House, in: The Economist v. 29.9.2008.

Page 28: THEMENHEFT 1 12 Einsichten und Perspektiven · Wechseljahre: Amerika zwischen denWahlen Einsichten und PerspektivenThemenheft 1 | 12 7 7Kurt L. Shell beschreibt die „antagonistische

Nach dieser für viele staatskritische Republikaner politischriskanten Stimmabgabe konnte sein Nachfolger Obama beider nächsten Intervention – mit seinem 787 Milliarden Dol-lar schweren American Recovery and Reinvestment Act(ARRA) – dann nicht mehr mit parteiübergreifender Unter-stützung rechnen und musste sich auf seine Parteifreundeim Kongress verlassen. Viele von ihnen, insbesondere fis-kalkonservative („Blue-Dog“-)Demokraten, folgten ihmwiderwillig oder widersetzten sich mit Verweis auf das ausdem Ruder laufende Haushaltsdefizit.

Spätestens seit den Zwischenwahlen 2010 ist die Schul-denlast politisch brisant geworden. So wurden auchrepublikanische Mandatsträger, die für Bushs 700-Milliarden-Rettungsplan stimmten, von den libertärenAnhängern und Herausforderern der „Tea Party“-Bewegung an den Pranger gestellt. In größerem Aus-maß wurden jedoch am Wahltag jene „Blue-Dog“-Demokraten abgestraft, die in Wahlkreisen mit eherfiskalkonservativer Wählerklientel zur Wiederwahlantreten mussten, darunter selbst langjährige Abgeord-nete wie der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses,Ike Skelton, und der Vorsitzende des Haushaltsaus-schusses, John Spratt, deren 34- bzw. 28-jährige Amts-zeiten jäh endeten.

Es ist bezeichnend, dass Präsident Obama seinen letztenDeal noch in der alten Legislaturperiode einfädelte – bevordie durch die Zwischenwahlen etablierten neuen Machtver-hältnisse im Januar 2011 greifen konnten. Gegen Jahresende2010 erwirkte Obama noch einen 800 Milliarden teurenKompromiss mit der Legislative, indem er die Steuerer-leichterungen seines Vorgängers um zwei weitere Jahre fort-schrieb und diese mit der Verlängerung der maximalenBezugsdauer der Arbeitslosenhilfe für weitere 13 Monateverband.

Die neu hinzu gewählten republikanischen Man-datsträger (über 60 Abgeordnete und 6 Senatoren), von de-nen viele über die „Tea Party“-Bewegung in den Kongresskatapultiert wurden, ebenso wie die seit den Wahlen umsomehr verunsicherten (fiskalkonservativen) Demokratenwerden es Präsident Obama nunmehr erschweren, weiterenennenswerte Wirtschaftsförderprogramme auf den Weg zubringen.

Die Exekutive wird demnach in der Exportför-derung ihr Heil für mehr Wirtschaftswachstum suchenmüssen. Bereits im März 2010 hat Präsident Obama perExekutivorder (das heißt ohne Mitwirken des Kongresses)die National Export Initiative (NEI) initiiert, wonach in-

nerhalb der nächsten fünf Jahre die amerikanischen Exporteverdoppelt werden sollen.

Dabei wird die Exekutive jedoch nicht auf die Un-terstützung des Kongresses zählen können. Mit den Kon-gresswahlen vom November 2010 wurde auf der einen Seitedes politischen Spektrums die freihandelsorientierte Frak-tion der „Blue Dog“-Demokraten dezimiert. Ebenso wirdder bei Handelsfragen wortführende Republikaner KevinBrady große Schwierigkeiten haben, viele der eher protek-tionistisch gesinnten Abgeordneten, die über die libertäre„Tea Party“-Bewegung in den Kongress gelangt sind, aufFreihandelslinie zu bringen.

… für die amerikanische Außenpolitik

Zwar argumentieren an den beiden Rändern des politischenSpektrums einerseits libertäre Republikaner und anderer-seits gewerkschaftsnahe Demokraten – aus unterschiedli-chen Gründen – gegen das internationale Engagement derUSA: Die einen, libertär gesinnten Republikaner, sind be-sorgt um die „innere kapitalistische Ordnung“ und daswachsende Haushaltsdefizit und stellen sich gegen kost-spieliges militärisches Engagement und zunehmend auchgegen Freihandel. Die anderen, traditionellen, den Gewerk-schaften nahen Demokraten (Old Liberals), verteidigen die„sozialen Interessen Amerikas“ und positionieren sich ge-gen Freihandel und kostspielige Interventionen. Insbeson-dere befürchten sie, dass Mittel für internationale bzw. mili-tärische Zwecke verbraucht werden und somit für inneresoziale Belange fehlen. Aber den Ton angebenden außenpo-litischen Mainstream einigt nach wie vor ein liberal-hege-moniales Weltbild, wonach die USA die Welt nach ihrenWertvorstellungen und Interessen ordnen (vgl. die Typolo-gie in Tabelle 3).

Gleichwohl gibt es im pluralistischen politischenSystem der USA bei der Umsetzung dieser Leitidee immerwieder heftige Auseinandersetzungen zwischen Individuen,Organisationen und Institutionen, die je nach Politikfeld inunterschiedlichen Machtkonstellationen ausgefochten undentschieden werden.

Handelspolitik

Die Handelspolitik ist ein Beispiel par excellence für dieStärke des Kongresses im politischen Entscheidungspro-zess: Ebenso wichtig wie die Haltung des Präsidenten indiesem Politikfeld ist die Zusammensetzung der Legislative:Internationale Handelsabkommen müssen vom Kongressratifiziert werden.

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 1228

Page 29: THEMENHEFT 1 12 Einsichten und Perspektiven · Wechseljahre: Amerika zwischen denWahlen Einsichten und PerspektivenThemenheft 1 | 12 7 7Kurt L. Shell beschreibt die „antagonistische

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12 29

Freie Hand für freien Handel?

Präsident Obama wird aufgrund der kritischen wirt-schaftlichen Situation in den USA bis auf Weiteresgroße Schwierigkeiten haben, Freihandelspolitik durch-zusetzen, sollte er es überhaupt wollen oder versuchen.Er wird es insbesondere schwer haben, vom Kongressdie als Trade Promotion Authority (TPA) bezeichneteHandelsautorität zu erhalten, um auf der internationa-

len Bühne überhaupt ernst genommen, das heißt, alsverhandlungsfähig wahrgenommen zu werden.

Bereits in der Amtszeit George W. Bushs, im Juli 2007, en-dete die so genannte TPA, wonach der Kongress die vomamerikanischen Präsidenten vorgelegten internationalenHandelsabkommen nur noch als Ganzes, das heißt, ohneÄnderungsanträge annehmen oder ablehnen kann. Damitwird auch die Verhandlungsmacht des Präsidenten auf inter-

Tabelle 3: Ideelle Grundorientierungen amerikanischer Außenpolitik

IdealtypischeGrundhaltungen87

Spielarten

Hauptmotivation/

zentrales Interesse

Idealtypische

Vertreter

Protagonisten im

politischen Diskurs

internationalistisch orientiert

konservativ

Machtpolitisch garan-

tierter zwischen-

staatlicher Frieden;

angesichts der Gefahr

der Überdehnung

eigener (politischer)

Ressourcen jedoch

Engagement mit

Augenmaß (nur bei

Bedrohung des

„vitalen“ Sicherheits-

interesses, wenn

Gefahr in Verzug ist)

Pragmatische Realisten

Brent Scowcroft, Henry

Kissinger,

Ex-Senator Chuck

Hagel

liberal

Schaffung einer Welt-

ordnung demokrati-

scher Staaten;

Förderung von Frei-

handel; auch Interven-

tion aus „humanitä-

rem“ bzw. „morali-

schem“ Interesse,

wenn „Wertinteres-

sen“ oder „moralische

Werte“ wie Menschen-

rechte oder „Religions-

freiheit“ auf dem Spiel

stehen

Idealisten, darunter

1. Progressive/

„New Liberals“ (multi-

laterales Engagement)

2. Neokonservative

und christlich Rechte

(unilaterales Vorgehen)

zu 1.: Vizepräsident

Joseph Biden

zu 2.: Richard Perle

bzw. Mike Huckabee

nach innen gerichtet

konservativ

Verteidigung „grundle-

gender amerikanischer

Interessen“, Hand-

lungsfreiheit und

strategische Unabhän-

gigkeit; Sorge um die

innere kapitalistische

Ordnung und das

Haushaltsdefizit;

zwar für Freihandel,88

aber gegen kostspie-

liges militärisches

Engagement

Libertäre

Republican Study

Committee (RSC)

im Kongress & „TeaParty“-Bewegung

Cato Institute

liberal

Verteidigung „sozialer

Interessen Amerikas“,

Befürchtung, dass

Mittel für internationa-

le/militärische Zwecke

verbraucht werden

und für innere soziale

Belange fehlen; gegen

kostspielige Interven-

tionen und Freihandel

Traditionelle

Liberale/„Old Liberals“

Gewerkschaftsflügel

der Demokraten

Institute for Policy

Studies

87 Die Variablen der Typologie wurden entlehnt von Peter Rudolf: New Grand Strategy? Zur Entwicklung des außenpolitischen Diskurses inden USA, in: Monika Medick-Krakau (Hg.): Außenpolitischer Wandel in theoretischer und vergleichender Perspektive. Die USA und dieBundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1999, S. 61-95.

88 In dieser Denkrichtung gibt es weitere Abstufungen: Während „Nationalisten“ wie Senator Jon Kyl und der ehemalige Senator GeorgeAllen auch internationalem Handel zunehmend kritisch gegenüberstehen, hegen so genannte „Palaeo-Konservative“ wie Pat Buchanan dar-über hinaus ein protektionistisches Gedankengut, das nicht frei von xenophoben Attitüden ist.

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Der Frachter im Hafen von Miami trägt das Logo der südkoreanischen Unternehmensgruppe Hyundai, 2009.

nationaler Ebene – unter anderem im Rahmen der Doha-Runde – berührt: nämlich Vereinbarungen ohne Wenn undAber politisch durchsetzen zu können. Die TPA, die damalsnoch unter der Bezeichnung „Fast Track“ firmierte, bliebschon dem demokratischen Präsidenten Bill Clinton vomdemokratisch „kontrollierten“ Kongress versagt.

Obama ist – auch aufgrund der Erfahrungen BillClintons – gut beraten, in der künftigen Auseinanderset-zung mit dem Kongress sein politisches Kapital mit Augen-maß einzusetzen. Nationale Wirtschaftsprobleme habenObama das Präsidentenamt beschert – jetzt wird er an ihrerLösung gemessen werden. Vorrang hat deshalb die Wieder-belebung der nationalen Wirtschaft. Zum jetzigen Zeit-punkt würde Obama mit Freihandelsinitiativen seineStammwählerschaft enttäuschen.

Selbst jene drei bilateralen Freihandelsabkommen(mit Südkorea, Kolumbien und Panama), die bereits Oba-mas Vorgänger Bush der Legislative noch im Rahmen des sogenannten „Schnellverfahrens“ (TPA) vorlegte und trotzmassiver Bemühungen nicht abschließen konnte, wurdenerst nach Jahren, im Oktober 2011, vom Kongress gebilligt.An darüber hinausgehende, umfangreichere Freihandelsini-tiativen wie die Transpazifische Partnerschaft (TPP) ist garnicht zu denken.

Protektionismus auf dem Kapitol-Hügel

Viele der auf dem Capitol Hill Ton angebenden Demo-kraten, nicht zuletzt auch einige Vorsitzende federführen-der Ausschüsse, sind protektionistisch eingestellt. Um ihreWiederwahl nicht zu gefährden, nehmen sie Rücksicht aufdie spezifischen Interessen der Wähler bzw. Wahlkampf-financiers in ihren Wahlkreisen und Bundesstaaten.

Die Stimmen der Freihandelskritiker finden durchdie Organisation verschiedener Interessengruppen politi-sches Gehör. An vorderster Front kämpfen die Gewerk-schaften: Sie wollen sicherstellen, dass die Lebensgrundlageamerikanischer Arbeitnehmer nicht durch die Niedriglohn-konkurrenz anderer Länder bedroht werden. Indem sie sichgegen die „Ausbeutung“ in anderen Ländern und für inter-nationale Arbeitnehmerrechte als „Menschenrechte“ ein-setzen, sind sie auch politisch teilkompatibel mit der Men-schenrechtslobby.

Ebenso kritisieren Umweltverbände Schädigungender Umwelt in anderen Ländern und fordern internationa-le Standards in Handelsvereinbarungen. Die Agrarlobby istzwar der natürliche politische Gegner der Ökobewegung,wenn es um wirtschaftliche Interessen auf Kosten des ame-rikanischen Umweltschutzes geht. Anders als die export-

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 1230

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Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12 31

orientierte Agrarindustrie sieht der importbedrohte Teil derUS-Landwirte jedoch im Freihandel eine Herausforderunganderer Natur: die Konkurrenz der Entwicklungsländer,die vor allem über die Doha-Runde zum Beispiel mit Baum-wolle, Zucker oder Textilien auf den Weltmarkt drängen.

Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, so ver-folgt diese häufig auch als „sonderbare Bettgenossen“(strange bedfellows) bezeichnete Tendenzkoalition ver-schiedenster Interessengruppen ein gemeinsames Ziel: dieVereitelung der Freihandelspolitik.

„Politik“ des schwachen Dollars

Angesichts der fiskal- und handelspolitischen Beschrän-kungen bleibt aus amerikanischer Sicht die US-Notenbankdie einzige handlungsfähige Institution, um aus der Wirt-schaftskrise herauszuführen: US-Notenbankchef Ben Ber-nanke wird bereits als „Helikopter-Ben“ karikiert, der

immer wieder im Noteinsatz Geld abwirft, um mit zusätz-licher Liquidität für die Banken der amerikanischen Wirt-schaft aus der Misere zu helfen.

Doch indem die Federal Reserve weiter Gelddruckt – Stichwort: quantitative easing –, setzt sie die ame-rikanische Währung noch mehr unter Druck. Ein schwa-cher Dollar bietet den USA Vorteile: Er verringert nicht nurdie vom Ausland finanzierte Schuldenlast, sondern hilftdem in handelspolitischen Fragen innenpolitisch einge-schränkten Präsidenten Obama, seine ehrgeizige Export-strategie umzusetzen.

Zwar werden die expansive Geldpolitik und derdamit geschwächte Dollar amerikanische Exportchancenkurzfristig fördern, doch langfristig bleibt ein Strukturpro-blem der US-Wirtschaft bestehen: Die amerikanische In-dustrie hat innerhalb weniger Dekaden spürbar an Wettbe-werbsfähigkeit eingebüßt. Die Obama-Regierung hat dasProblem erkannt und versucht im Zuge eines „Green New

Quelle: Energy Information Administration (EIA), Annual Energy Review 2010, Tabelle 1.3, S. 9

Abbildung 7: US-Energieverbrauch nach Energieträgern, 1950–2010 (in Quads89)

0,0

20,0

40,0

60,0

80,0

100,0

120,0

1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2006 2007 2008 2009 2010

Andere

Kohle

Gas

Öl

89 Die Bezeichnung „Quads“ bedeutet „Quadrillion Btu’s per Year“. „British Thermal Unit (Btu)“ ist eine gängige Maßeinheit, um verschie-dene Energietypen zu verrechnen.

Page 32: THEMENHEFT 1 12 Einsichten und Perspektiven · Wechseljahre: Amerika zwischen denWahlen Einsichten und PerspektivenThemenheft 1 | 12 7 7Kurt L. Shell beschreibt die „antagonistische

Die Trans-Alaska-Pipeline im Jahr 2010

gem Verbrauch fossiler Brennstoffe, erfordert. In ersterLinie geht es in den USA darum, alternative Kraftstoffeund effiziente Technologien für den Transportsektor zuentwickeln.

Amerikas Sucht nach importiertem Öl

Mit knapp fünf Prozent der Erdbevölkerung beanspruchendie Vereinigten Staaten von Amerika mehr als ein Fünftel(21 Prozent) des globalen Energiekonsums.91 In den letztensechs Jahrzehnten hat sich der Energieverbrauch der USAbeinahe verdreifacht (siehe Abbildung 7, S. 31).92

Der erhöhte Energiebedarf wurde in erster Liniedurch Öl gedeckt: 2010 betrug der Anteil des Mineralölsknapp 40 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs. Zwar istin den siebziger Jahren der Verbrauch der EnergiequellenGas und Kohle ebenso angestiegen. Aber seit den achtzigerJahren blieb ihr Anteil an der Deckung des Gesamtener-gieverbrauchs mit etwa einem Viertel bzw. einem Fünftel

Deal“ in den USA erneuerbare Energien zu fördern undUmwelttechnologien weiter zu entwickeln, um neue Ar-beitsplätze zu schaffen.

Energie(außen)politisches Umsteuern

Die von ihrer „Ölsucht“ verursachten Versorgungs-sicherheits-, Wirtschafts- und Umweltkosten ihrergegenwärtigen Energie(außen)politik werden die USAzum Kurswechsel, insbesondere im Verkehrssektor, ver-anlassen. Mit dem Fachbegriff der „Energiesicherheit“(energy security) wurde im angelsächsischen Raum einneues, mehrere Politikfelder umspannendes For-schungsfeld etabliert.90 Ebenso reift in der amerikani-schen Politik und Öffentlichkeit die Einsicht, dass dieOptimierung des Zieldreiecks von Energieversorgungs-sicherheit, wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit undKlimaschutz eine Umstellung auf eine so genannte lowcarbon economy, also Wirtschaften mit möglichst niedri-

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 1232

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

90 Für einen Überblick siehe: Jan H. Kalicki/David L. Goldwyn (Hg.): Energy and Security. Toward a New Foreign Policy Strategy,Washington, D.C., 2005.

91 U.S. Department of Energy: Energy Information Administration (EIA): Annual Energy Review 2009, Washington, D.C., August 2010,Abbildung 11.3, S. 310.

92 Ebd., Tabelle 1.3, S. 9.

Page 33: THEMENHEFT 1 12 Einsichten und Perspektiven · Wechseljahre: Amerika zwischen denWahlen Einsichten und PerspektivenThemenheft 1 | 12 7 7Kurt L. Shell beschreibt die „antagonistische

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12 33

relativ konstant. Nuklear- und erneuerbare Energie tragenmit neun bzw. acht Prozent nur wenig zur Deckung desGesamtenergiebedarfs bei.

Ökonomisch betrachtet wurden alternative Ener-gien benachteiligt, indem die Regierung seit den achtzigerJahren Nuklearenergie und insbesondere fossile Brenn-stoffe subventioniert hat.94 Sollte die US-Regierung diesenWettbewerbsvorteil fossiler Kraftstoffe nicht ausgleichen,sprich nicht massiv in die Forschung und Entwicklung alter-nativer Energien investieren, würde sich am derzeitigen

Energiemix in den USA auch künftig wenig ändern und sichdie Abhängigkeit von importiertem Öl weiter verstärken.

Der gestiegene Ölbedarf konnte auch bisher nichtdurch eigene Produktion gedeckt werden. Zwischen 1950und 2010 erhöhte sich zwar die Gewinnung amerikanischenMineralöls von 5,9 auf 7,5 Millionen Fässer pro Tag.95 Dochangesichts der insgesamt 19 Millionen Fässer, die heute inden USA täglich benötigt werden, nimmt sich dieser An-stieg geringfügig aus. Allein der – fast ausschließlich durchFlugbenzin, Benzin und Diesel angetriebene – amerikani-

Tabelle 4: US-Hauptimportländer von Mineralöl, 1965 vs. 2010

Kanada

Mexiko

Golf-Staaten

Nigeria

Venezuela

inTsd. Fässern

proTag

323

48

345

15

994

in % der Gesamt-

importe

13,1

1,9

14,0

0,6

40,3

inTsd. Fässern

proTag

2532

1280

1708

1025

987

in % der Gesamt-

importe

21,5

10,9

14,5

8,7

8,4Quelle: Energy Information Admini-

stration (EIA);93 eigene Berechnung

und Darstellung

Quelle: EIA, Annual Energy Review 2010, Tabelle 5.1b, S. 135

Abbildung 8: US-Mineralöleigenproduktion und -import, 1950–2010 (inTsd. Fässern proTag)

0

5000

10000

15000

20000

25000

1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2006 2007 2008 2009 2010

Import

93 EIA: Annual Energie Review 2010, Washington, D.C., Oktober 2011, S. 141 (Tabelle 5.4).94 Vgl. Nader Elhefnawy: Toward a Long-Range Energy Security Policy, in: Parameters, Frühjahr 2006, S. 101-114.95 Ein Fass entspricht 159 Litern; EIA: Annual Energy Review 2010 (wie Anm. 93), S. 133 (Abb. 5.1b).

1965 2010

Page 34: THEMENHEFT 1 12 Einsichten und Perspektiven · Wechseljahre: Amerika zwischen denWahlen Einsichten und PerspektivenThemenheft 1 | 12 7 7Kurt L. Shell beschreibt die „antagonistische

Kühle Begegnung: Barack Obama und Hugo Chávez auf dem

Amerika-Gipfel in Trinidad und Tobago im April 2009

sche Transportsektor verbrauchte 2010 knapp 14 MillionenFässer Erdöl pro Tag. Der Verkehrssektor beanspruchtmittlerweile über 70 Prozent des gesamten Ölkonsums.96

Aufgrund der hohen Abhängigkeit des amerikanischenTransportsektors von fossilen Kraftstoffen – und wegen derZeitspanne, die zur Entwicklung neuer markttauglicherTechnologien benötigt würde – werden die VereinigtenStaaten mindestens noch für mehrere Dekaden auf denImport von Öl angewiesen sein.97

Die internationale Abhängigkeit der WeltmachtUSA vom Erdöl hat – anders als beim Energieträger Gas98 –deutlich zugenommen: Deckten die USA 1950 ihren Bedarfnoch überwiegend durch die Gewinnung eigener Ressour-cen, so stammten 2010 über 60 Prozent des Gesamt-ölverbrauchs aus Importen (siehe Abbildung 8, S. 33), ins-besondere von den Nachbarstaaten der so genannten west-lichen Hemisphäre und von Ländern am Persischen Golf(siehe Tabelle 4, S. 33).99

Das amerikanische Energieministerium prognosti-ziert, dass die derzeitige Importmenge bis 2035 nur wenig,von zehn auf neun Millionen Fässer pro Tag, sinken wird,selbst wenn dabei angenommen wird, dass die inländischeBiokraftstoffproduktion bis dahin merklich, auf 2,5 Millio-nen Fässer pro Tag, steigen sollte.100 Demnach wird die mas-sive Importabhängigkeit bis auf Weiteres bestehen bleiben,insbesondere von den Staaten am Persischen Golf. Mit derInstabilität in der Golfregion wird dieses Problem der ame-rikanischen Öffentlichkeit immer deutlicher vor Augengeführt; Amerikas Abhängigkeit von importiertem Öl istzum (sicherheits-)politisch relevanten Thema geworden.

Strategische Energieressourcen-Unsicherheit

Sollten die Vereinigten Staaten ihre übermäßige Ab-hängigkeit von fossilen Brennstoffen beibehalten, blei-ben sie verwundbar. Zwar können die USA weiterhinauf ihre wichtigen Öllieferanten Kanada und Mexikozählen. Doch die angespannten Beziehungen mit Ve-nezuela verdeutlichen, dass es für die USA schwierigerwird, selbst in ihrer geografischen Nachbarschaft ihreEnergieressourcen zu sichern. Der Persische Golf er-weist sich sicherheitspolitisch als prekär und unzuver-lässig im Hinblick auf preiswerte Lieferung vonEnergieressourcen. Zudem ist mit dem wirtschaftlich

expandierenden China ein weiterer Konkurrent umknappe Ressourcen auf den Plan getreten, sowohl imNahen und Mittleren Osten als auch in hot spots, dasheißt, in entwicklungsfähigen Regionen wie Westafrikaoder Zentralasien.

Bislang konnten sich die USA auf gute Beziehungen zuVenezuela, ihrem viertwichtigsten Öllieferanten, verlassen.Aber das Verhältnis mit Staatsführer Hugo Chávez ist ange-spannt, insbesondere seitdem Venezuela 2005 die Zusam-menarbeit mit der amerikanischen Drogenbekämpfungs-behörde aufkündigte und ein bilaterales Militäraustausch-programm beendete. Im Inneren verstaatlichte die Regie-rung die Förderung der Ressourcen, und sie droht gelegent-lich, wie im April 2004, die Öllieferungen in die USA zustoppen. Venezuela versucht zudem, etwa mit Offertengegenüber China, seine Kundschaft zu diversifizieren.

Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 1234

96 Ebd., Tabelle 5.13c, S. 162; Abb. F1, S. 361.97 Council on Foreign Relations: National Security Consequences of U.S. Oil Dependency, Independent Task Force Report No. 58, New

York 2006, S. 14.98 Die USA beziehen netto derzeit nur etwa zehn Prozent ihres Gasverbrauchs von außerhalb; EIA: Annual Energy Review 2010 (wie Anm.

95, Abb. 6.1, S. 192).99 Ebd., Tabelle 6.1, S. 187.100 Vgl. Energy Information Administration (EIA), Annual Energy Outlook 2011, Executive Summary (Daten: Figure 1. U.S. liquids fuel

consumption, 1970-2035), Washington, D.C., 26.4.2011.

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Wechsel jahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12 35

Aufständische setzten die Pipeline in der Nähe von Falludscha in Brand, Irak im Jahr 2004.

Schließlich ist Venezuela – wie die meisten anderen ölpro-duzierenden Länder, von denen die USA abhängen – Mit-glied eines mächtigen Clubs, der Organisation Erdöl-exportierender Staaten (OPEC), in dem Venezuelas engsterPartner Iran bereits kooperative Beziehungen zu Chinaentwickelt.

Nach den Informationen des Congressional Re-search Service (CRS), eines der wissenschaftlichen Hilfs-dienste des Kongresses, wurden Mitarbeiter der staatlichenÖlfirma Venezuelas von iranischen Experten beraten, umasiatische Interessenten für Energielieferungen aus Venezu-ela zu gewinnen.101 Beim Besuch von Präsident Chávez inPeking im Dezember 2004 und der Gegenvisite des chinesi-schen Vizepräsidenten Zeng Qinghong in Venezuela imJanuar 2005 unterzeichneten die beiden Staaten Abkom-men, die die China Petroleum Corporation dazu verpflich-teten, 410 Millionen Dollar zur Gewinnung der Öl- undGasressourcen Venezuelas zu investieren. Indem er seineRessourcen dem „großen chinesischen Vaterland“ zur

Verfügung stellt, will Präsident Chávez Venezuela von der„100-jährigen Vorherrschaft der USA“ befreien.102

Während seines Besuchs in der Volksrepublik China erläu-terte Chávez Pläne, wonach eine Pipeline in Panamaumkonstruiert werden sollte, um Öl zum Pazifik zu leiten,und den möglichen Bau einer Pipeline von Venezuela an diePazifikhäfen Kolumbiens. In der Folge wurde dasGovernment Accountability Office (GAO) vomAuswärtigen Ausschuss des amerikanischen Senats beauf-tragt, einen Krisenplan für den Fall auszuarbeiten, dassVenezuela die Öllieferungen in die USA stoppt.103

Angesichts der Schwierigkeiten, Energieressour-cen in der eigenen, so genannten westlichen Hemisphäre zusichern, kommt der Golfregion umso mehr Bedeutung zu.Des Weiteren kann man aus der weltweiten Verteilung desRohstoffs Öl die zunehmende Abhängigkeit der USA vondieser Problemregion ersehen: Knapp 60 Prozent der heutebekannten Erdölreserven befinden sich im Mittleren Osten,vor allem in Saudi-Arabien, im Iran, im Irak, in Kuwait und

101 Vgl. Kerry Dumbaugh/Mark P. Sullivan: China’s Growing Interest in Latin America, CRS-Report, Washington, D.C., 20.4.2005, S. 4.102 Juan Forero: China’s Oil Diplomacy Lures Latin America, in: New York Times v. 2.3.2005.103 Vgl. Andy Webb-Vidal: US to Look into Venezuela Oil Supply Reliance, in: Financial Times v. 13.1.2005.

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in den Vereinigten Arabischen Emiraten.104 Eine unabhän-gige Expertengruppe des Council on Foreign Relations pro-gnostizierte, dass der Persische Golf mindestens noch fürdie nächsten zwei Jahrzehnte von „vitalem Interesse hin-sichtlich zuverlässiger Öllieferungen“ sein wird. Die in derGolfregion stationierten US-Militärtruppen hätten einenwichtigen Beitrag zur Verbesserung der Energiesicherheitgeleistet, und solche Anstrengungen seien auch künftig not-wendig. Laut Einschätzung der Expertengruppe sei dafüreine „starke militärische Präsenz“, die ein schnelles Eingrei-fen in der Region ermögliche, unabdingbar.105

Indem jedoch die USA 2003 Saddam HusseinsTyrannenregime beseitigten, aber bislang darin versagten,die Lage im Irak zu kontrollieren, schwächte die Weltmachtnicht nur ihren Einfluss in der Region, sondern sie schade-te sich auch wirtschaftlich: Instabilität verhindert die För-derung der weltweit ergiebigsten und ertragreichstenÖlquellen, was nicht nur dem Wiederaufbau Iraks, sondernauch zur Stabilisierung eines deutlich niedrigeren Ölpreiseshätte beitragen können.

Marktinterventionen der Öl-Monarchie Saudi-Arabien, nach Kanada und Mexiko der drittwichtigste Öl-lieferant der USA, haben den USA bislang geholfen, den Öl-preis stabil zu halten. Mitte der achtziger Jahre bis 2003konnten sich Konsumenten auf relativ stabile und niedrigePreise verlassen. Da die Ölproduktion mit der steigendenNachfrage, insbesondere aus den USA und China, nichtSchritt halten konnte, ist in den letzten Jahren der Ölpreismerklich gestiegen. Im April 2005 wurde US-PräsidentBush bei einem Treffen mit dem damaligen KronprinzenAbdullah mitgeteilt, dass Saudi-Arabien nur begrenzteÜberschusskapazitäten zur Verfügung habe und dass künf-tig Angebot und Nachfrage im Rahmen eines langfristigenPlans verhandelt werden müssten.106

Mit Blick auf die Schwierigkeiten in der PersischenGolfregion und die Entwicklungschancen in anderen Re-gionen suchen die USA nach Alternativen. Die Bush-Re-gierung machte kein Hehl aus ihrem Kalkül, wonach Ölim-porte aus Afrika das Potential hätten, einen Großteil dergegenwärtigen Lieferungen aus dem Mittleren Osten zu er-setzen. Bereits im Mai 2001 verdeutlichte eine von Präsident

Bush per Exekutivorder eingesetzte und vom Vizepräsi-denten Richard Cheney geleitete Task-Force die BedeutungAfrikas, vor allem seiner Ressourcen am Golf von Guinea:„Westafrika wird voraussichtlich eine der ergiebigsten Öl-und Gasquellen für den amerikanischen Markt werden.“107

2002 unterstrich das Weiße Haus mit der Nationalen Sicher-heitsstrategie dieses Vorhaben.108 US-Präsident Bush beauf-tragte seinen Verteidigungsminister, in Afrika eine regiona-le Kommandozentrale für US-Streitkräfte aufzubauen.Africa Command (AFRICOM), das nach wie vor in Stutt-gart beheimatet ist, solle als weitere Basis im „GlobalenKrieg gegen den Terror“ dienen und dabei auch den Zugangzu afrikanischen Öl- und Gasressourcen vor Terroristenschützen.109

Während George W. Bushs Regierungszeit bezogdie Weltmacht 15 Prozent ihrer Ölimporte aus Afrika süd-lich der Sahara, den Großteil aus Nigeria, und beabsichtig-te, bis 2015 ein Viertel seiner Importe aus Afrika zu bezie-hen. Die Prognosen des amerikanischen Energieministeri-ums ließen dieses ehrgeizige Ziel durchaus realisierbarerscheinen. Demnach werden künftig Nicht-OPEC-Län-dern in Afrika und im Mittleren Osten die größten Poten-tiale zugeschrieben, ihre Produktion zu erhöhen, nämlichvon sechs Prozent 2005 auf einen Anteil von elf Prozent derweltweiten Erdölförderung 2030.110

Doch andere, wirtschaftlich wachsende Mächte mitglobalen Energieinteressen, sind ebenso auf dieses Potentialaufmerksam geworden. China ist besonders bemüht, mit-tels bilateraler Verträge seine Öllieferung exklusiv zu si-chern. Während Chinas Konkurrenten sich schwerer tun,moralische und rechtsstaatliche Erwägungen hintan zu stel-len, ist Pekings Engagement mit afrikanischen Führern inNigeria und dem Sudan aufgrund seiner rigorosen Politikder Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten die-ser Staaten frei von menschenrechtlichen Erwägungen oderAuflagen guten Regierens.111

Zentralasien, während der Ost-West-Konfrontati-on noch integraler Bestandteil der Sowjetunion, ist eine wei-tere Region von strategischen Energieinteressen geworden.Mit einem Anteil von zwei Prozent der weltweiten Erdöl-produktion ist die Kaspische Region kein bedeutender, aber

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104 EIA: Annual Energy Review 2009 (wie Anm. 91), Tabelle 11.4, S. 313.105 Vgl. Council on Foreign Relations (wie Anm. 97), S. 30.106 Vgl. Alfred B. Prados/Christopher M. Blanchard: Saudi Arabia. Current Issues and U.S. Relations, CRS Report, Washington, D.C.,

11.7.2006, S. 15-17.107 Die unter dem Namen „Cheney Energy Task Force“ bekannte Gruppe erarbeitete einen Bericht: National Energy Policy Report of the

National Energy Policy Development Group, Washington, D.C., Mai 2001, Zitat siehe 8. Kapitel, S. 11.108 Vgl. White House: The National Security Strategy of the United States of America, Washington, D.C., September 2002, S. 19-20.109 Vgl. John C. K. Daly: Questioning AFRICOM’s intentions, in: ISN Security Watch v. 2.7.2007.110 Vgl. EIA, Annual Energy Outlook 2007, Washington, D.C., Februar 2007, S. 71.111 Vgl. Denis M. Tull: Die Afrikapolitik der Volksrepublik China, SWP-Studie 2005/S 20, Berlin 2005.

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Überflutetes Ölfeld in Kasachstan

angesichts der weltweit endlichen Ressourcen dennochwichtiger Energielieferant.112 Seit Ende der neunziger Jahrekonnte insbesondere Kasachstan seine Erdölförderung er-heblich steigern.

Um das erdölneureiche Kasachstan aus der politi-schen und infrastrukturbedingten Abhängigkeit Russlandszu lösen und um den Iran zu umgehen, haben die USA denBau der Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline unterstützt, die seit2005 Öl aus dem Kaspischen Raum durch Aserbaidschanund Georgien in den NATO-Staat Türkei pumpt. Währendseines Besuches im Mai 2006 lobte US-VizepräsidentCheney die politischen und wirtschaftlichen Fortschrittedes Gastlandes, betonte seine persönliche Freundschaft mitPräsident Nursultan Nasarbajew, bestätigte die „engen Be-ziehungen zwischen Kasachstan und den Vereinigten Staa-ten“ und erklärte schließlich den Stolz Amerikas, Kasachs-tans „strategischer Partner“ zu sein.113

Die Partnerschaft sollte gefestigt werden durchamerikanische Militärbasen in Kasachstan, die für die Welt-

macht umso wichtiger geworden sind, zumal nach demRausschmiss der US-Streitkräfte aus Usbekistan im Som-mer 2005, als der usbekische Präsident Islam Karimow denUSA eine Frist von 180 Tagen gesetzt hatte, um ihre Sol-daten, Ausrüstung und Flugzeuge vom Stützpunkt Karshi-Chanabad abzuziehen. Auch die Führung Kirgisistansspielt hin und wieder mit dem Gedanken, dem DrängenRusslands nachzugeben, das heißt, die Amerikaner zurRäumung ihres Luftwaffenstützpunkts in Manas zu bewe-gen und die USA damit aus der Region abzukoppeln.

Einige Beobachter dieses Wettstreits um fossileEnergieressourcen, der so genannten petropolitics, habenbereits eine „Achse des Öls“ identifiziert, wonach Russ-land, China und möglicherweise der Iran als „Gegenge-wicht zur amerikanischen Hegemonie“ agieren und denUSA ihre Ölversorgung und strategischen Interessen strei-tig machen könnten.114

Bereits heute werden die USA mit den Machtres-sourcen der Organisation Erdölexportierender Länder

112 Vgl. BP Statistical Review of World Energy, Juni 2006; EIA, Juli 2006; zit. in: Bernard A. Gelb: Caspian Oil and Gas. Production andProspects, CRS Report, Washington, D.C., 8.9.2006, S. 1-2.

113 Office of the Vice President: Vice President’s Remarks in a Press Availability with President Nursultan Nazarbayev of the Republic ofKazakhstan in the Presidential Palace, Astana, Kazakhstan, 5.5.2006.

114 Flynt Leverett/Pierre Noel: The New Axis of Oil, in: National Interest, Sommer 2006, S. 62-70.

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Ölverschmutztes Wasser im Golf von Mexiko nach der Explosion der Plattform Deep Water Horizon im Jahr 2010

(OPEC) konfrontiert. Die OPEC kann aufgrund der Kapa-zitätsgrenzen anderer Ölproduzenten seit Ende der neunzi-ger Jahre wieder ihre Kartellpolitik betreiben, damit denÖlpreis hochhalten und in wirtschaftlichen und politischenEinfluss ummünzen.115

Energetische Wirtschafts- und Handelsrisiken

Die durch die Ölpreiserhöhungen verteuerten Energieim-porte haben die seit mehreren Jahren ohnehin schon Be-sorgnis erregende amerikanische Außenhandelsbilanz wei-ter belastet: im Vorfeld der Wirtschafts- und Finanzkrise,2005, um zusätzliche 70 Milliarden Dollar, 2006 um weite-re 50 Milliarden Dollar.116 Das US-Außenhandelsdefizitwurde zu etwa einem Drittel auf Energieimporte zurück-geführt.117

Als 2007/08 die Finanz- und spätere Wirtschaftskrise mitder sinkenden Energienachfrage auch die Ölpreise drückte,von über 140 Dollar pro Fass im Juli 2008 auf unter 40Dollar pro Fass im Januar 2009, wurde zwischenzeitlichauch die Außenhandelsbilanz wieder etwas besser. Dochmit der wirtschaftlichen Erholung und der wachsendenEnergienachfrage stieg das Außenhandelsdefizit wieder.Nach Schätzungen des Congressional Research Service,eines der wissenschaftlichen Dienste des Kongresses, habenEnergieimporte 2010 bereits wieder über 40 Prozent desHandelsdefizits verursacht.118 Die zu Jahresbeginn 2011 vonden Unruhen im Nahen und Mittleren Osten befördertenÖlpreissteigerungen könnten die Außenhandelsbilanz umweitere 100 Milliarden Dollar belastet haben.119

Die USA sind wegen ihres Außenhandelsdefizitsverwundbar. Anzeichen einer noch schwächer werdenden

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115 Friedemann Müller: Energie-Außenpolitik. Anforderungen veränderter Weltmarktkonstellationen an die internationale Politik, SWP-Studie S33, Berlin 2006, S. 28.

116 James K. Jackson: U.S. Trade Deficit and the Impact of Rising Oil Prices, CRS Report, Washington, D.C., 13.4.2007, S. 1.117 Ebd., S. 4.118 James K. Jackson: U.S. Trade Deficit and the Impact of Rising Oil Prices, CRS Report for Congress, Washington, D.C., 28.2.2011, S. 6.119 Ebd., Summary.

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Der Generalsekretär der UNO, Ban Ki-Moon, eröffnet die Klimakonferenz in Bali im Dezember 2007.

US-Wirtschaft könnten die Handelspartner dazu bewegen,ihre Verkaufserlöse nicht mehr in den USA zu reinvestieren,sondern sie in anderen Finanzmärkten zu sichern.

Teure Energieimporte belasten die US-Wirtschaftohnehin. Bereits im Sommer 2005 gab der damalige Noten-bankchef Alan Greenspan der US-Legislative zu bedenken,dass allein die seit Ende 2003 erhöhten Energiepreise dasamerikanische Wirtschaftswachstum 2004 und 2005 jeweilsum einen halben bzw. Drei-Viertel-Prozentpunkt vermin-dert hätten.120 Während die dann folgende Wirtschafts- undFinanzkrise auch einen positiven Effekt zeitigte, indem diegesunkene Nachfrage die Preise zwischenzeitlich auf einemniedrigeren Niveau hielt, sind im Zuge der wirtschaftlichenErholung die Energiepreise nunmehr wieder spürbar ange-stiegen, nicht zuletzt auch aufgrund der Nuklearkata-strophe in Japan und den Unruhen im Nahen und MittlerenOsten. Analysten von Goldman Sachs rechnen damit, dassder höhere Benzinpreis (im Juni 2011 kostete das Fass der

Sorte Brent 110 Dollar) das Wachstum im zweiten Quartal2011 zwischen 0,5 und 0,75 Prozent vermindert haben dürf-te.121 Auch künftig ist keine Entspannung zu erwarten: DerÖlpreis soll nach Einschätzung von Goldman Sachs bis zumJahresende 2012 auf 140 Dollar (für ein Fass Brentöl) stei-gen.122

Hohe Energiepreise belasten in erster Linie ener-gieintensive Wirtschaftssektoren, und sie verursachen damitindirekt zusätzliche Kosten für andere Wirtschaftszweige.Konsumenten spüren den Anstieg der (Energie-)Preise, undsie sehen sich angesichts ihrer geschrumpften Kaufkraft ver-anlasst, an anderen Ausgaben zu sparen. Sollten der Kon-sum merklich zurückgehen und Unternehmen aufgrundgestiegener Energiekosten und der allgemein sinkendenKaufkraft zurückhaltender investieren, könnten die USAerneut in eine Rezession abrutschen, was die Arbeitslosig-keit erhöhen, den Konsum noch stärker vermindern und dieAbwärtsspirale beschleunigen würde.

120 Jeannine Aversa : Oil Prices Said to Slow U.S. Economy a Bit, in: Associated Press v. 18.7.2005.121 So der Chefökonom von Goldman Sachs im Interview: Jan Hatzius: „Der Ölpreis steigt auf 140 Dollar“, in: Handelsblatt v. 27.6.2011,S. 38-39.122 Ebd.

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Dank ihrer – auch in der Vergangenheit bewiesenen –Innovationskraft könnten sich amerikanische Märkteauf lange Sicht jedoch den neuen Gegebenheiten an-passen. Höhere Energiepreise geben starke Anreize,alternative Energieträger zu finden, neue Technologienzu entwickeln und die Energieeffizienz zu verbessern.Dahingehend wirkt eine zusätzlich treibende Kraft,nämlich das nicht erst seit der Explosion der Ölplatt-form im Golf von Mexiko im April 2010 gewachseneöffentliche Bewusstsein um die von fossilen Energienverursachten Umweltschäden, Gesundheits- undSicherheitsrisiken.

Wahrnehmung von Umwelt- und Sicherheitsgefahren

Mittlerweile ist auch in den USA die allgemeine Überzeu-gung gereift, dass Umweltthemen mehr politische Auf-merksamkeit verdienen. Nicht nur internationale Umwelt-organisationen, sondern auch renommierte US-Sicherheits-experten warnen öffentlichkeitswirksam vor (sicherheits-politischen) Risiken von Umweltbelastungen und -kata-strophen.123

Amerikaner sind seit längerem bereit, Gegenmaß-nahmen zu ergreifen und diese gegebenenfalls aus der eige-nen Tasche zu finanzieren. Zudem erwarten die US-Bürgerauch von ihrer Regierung Problemlösungen. Eine beträcht-liche Mehrheit von ca. 80 Prozent befürwortete bereits2007, während der Amtszeit George W. Bushs, Steuergelderzur Entwicklung alternativer Kraftstoffe für Autos auszu-geben, mehr Geld in die Entwicklung von Solar- und Wind-energie zu investieren, strengere Emissionswerte für Kraft-fahrzeuge und Pflichtkontrollen für Kohlendioxidemissio-nen und andere Treibhausgase einzuführen.124

Reformunfähigkeit der US-Regierungunter George W. Bush

Interessanterweise waren in der Amtszeit George W. Bushsdiese Vorschläge und Sorgen der amerikanischen Bevölke-rung weniger stark auf der politischen Agenda vertreten alsandere, die nicht in der Gunst der öffentlichen Meinungstanden, wie das Bohren nach Öl im Nationalen ArktischenNaturschutzgebiet (57 Prozent waren dagegen) oder derAusbau der nuklearen Energiegewinnung (46 Prozent wa-ren dagegen).125

Bush torpedierte immer wieder internationale Bemühungen– unter anderem 2007 beim G8-Gipfel in Heiligendammund bei der UN-Klimakonferenz auf Bali –, verbindlicheZiele zur Reduktion der Treibhausgasemissionen festzule-gen, und setzte stattdessen auf technologische Entwicklung.Ebenso verhinderte Präsident Bush in der legislativen Aus-einandersetzung mit dem seit 2006 von den Demokratenkontrollierten Kongress (unter anderem durch Vetodro-hungen) nachhaltige Reforminitiativen.

Der von Bush am 19. Dezember 2007 unterzeich-nete Energy Independence and Security Act 2007 erforder-te zwar die Verbesserung der Verbrauchswerte bei Kraft-fahrzeugen und eine Erhöhung des Produktionsanteils vonBiokraftstoffen. Aber aufgrund des Drucks des WeißenHauses sahen die Gesetzgeber letztlich davon ab, Stromer-zeuger zu verpflichten, den Anteil erneuerbarer Energie-quellen zu erhöhen und Steuererleichterungen für die Öl-industrie um rund 13 Milliarden Dollar zu kürzen – Steuer-mittel, die zur Forschung und Entwicklung alternativerKraftstoffe investiert worden wären. Anlässlich der Unter-zeichnung des Gesetzes forderte Präsident Bush hingegenden Kongress einmal mehr dazu auf, nicht weiter die För-derung einheimischer Öl- und Gasquellen (im arktischenNaturschutzgebiet) zu behindern.

Chancen eines Kurswechsels unter Obamas Führung

In den USA herrscht zwar immer noch die Experten- undLehrmeinung vor, wonach „die Aussichten für eine ernst-hafte Reform der Energiesicherheitspolitik schlecht sind,sofern nicht ein gravierender Schock des internationalenSystems eintritt“ – etwa der Zusammenbruch der saudi-ara-bischen Monarchie.126 Doch die gegebenen Energieversor-gungssicherheits-, Wirtschafts- und Umweltkosten erhö-hen den innenpolitischen Druck auf amerikanische Ent-scheidungsträger, einen Kurswechsel ihrer Energieaußen-politik einzuleiten.127

Bereits im Wahlkampf 2008 wurde deutlich, dassunternehmerisch denkende Politiker mit dem Thema um-weltverträglicher Energieinnovationen punkten und diekünftige politische Agenda abstecken können.128 George W.Bushs Nachfolger und politische Entscheidungsträger imKongress, die aufgrund der gestiegenen wirtschaftlichen,sicherheits- und umweltpolitischen Probleme mit zuneh-mender Kritik ihrer Bevölkerung und nicht zuletzt auch den

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123 So bereits die CNA Corporation: National Security and the Threat of Climate Change, Alexandria, V.A. 2007.124 Lydia Saad: Most Americans Back Curbs on Auto Emissions, Other Environmental Proposals, Gallup, Washington, D.C., 5.4.2007.125 Ebd.126 Siehe zum Beispiel Kalicki/Goldwyn (wie Anm. 90), S. 7.127 Ausführlicher: Josef Braml: Amerikas alternativer Antrieb. Erneuerbare Energieaußenpolitik der USA, DGAP-Analyse, Berlin 2007.128 Laut Meinungsumfragen war das Umweltthema für 35 Prozent der Amerikaner wahlentscheidend für die Präsidentschaftswahl; siehe

Americans’ View on the Environment, in: New York Times v. 26.4.2007.

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Barack Obama mit Chinas Staatspräsident Hu Jintao im Jahr

2009

Vorstößen der Einzelstaaten konfrontiert werden, sind an-gehalten, ihren politischen Führungsbeitrag zu leisten, umdie Abhängigkeit von traditionellen fossilen Kraftstoffen zuverringern.

Der von den amerikanischen Einzelstaaten ausge-hende Reformdruck und die – nach der Entscheidung desObersten Gerichts vom April 2007129 – generierten nationa-len Auflagen für CO2-Emissionen haben umsichtige Un-ternehmer dazu bewegt, sich an die Speerspitze der Reform-bewegung zu setzen, um deren Richtung in ihrem Sinne zubeeinflussen. In der U.S. Climate Action Partnership(USCAP) versuchen zum Beispiel Automobilhersteller wieGeneral Motors in Kooperation mit Umweltverbändenihren Gesetzgebern pro-aktiv zu helfen, um innovations-und technologieorientierte Lösungen durchzusetzen.

Das weltweite Interesse an erneuerbaren Energienschafft eine Gelegenheit für die Vereinigten Staaten,sich wieder als Führungsmacht zu etablieren, indem siedie internationale Zusammenarbeit koordinieren, umdas globale Energie- und Umweltproblem zu lösen.Während seine technologischen und politischenFähigkeiten – sprich Smart Power – vielversprechendeAlternativen für Amerikas Zukunft bieten, stößt dievon Geostrategen häufig ins Feld geführte konventio-nelle Hard Power Amerikas an die Grenzen seinerFähigkeiten, die nationale Energieversorgungs- undwirtschaftliche Sicherheit zu gewährleisten.130

Sicherheitspolitische „Neuorientierung“ nach Asien

Aus amerikanischer Perspektive ist Europa seit dem Endedes Kalten Krieges in weite Ferne gerückt. Abgesehen vonden wichtigen transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen istder europäische Kontinent keine strategisch relevante Re-gion mehr, sondern sicherheitspolitisch nur noch interes-sant, wenn die Europäer zur Lösung anstehender Problemein anderen Weltregionen beitragen können.

Nach dem Untergang der Sowjetunion sehen ame-rikanische Sicherheitsexperten aufsteigende asiatischeMächte, allen voran China und Indien, als künftige strategi-sche Herausforderungen. US-Außenministerin HillaryClinton will zwar jene „Bündnisse stärken, die sich über dieZeit bewährt haben“, und denkt dabei an die „NATO-Part-ner“; sie hat aber insbesondere die „Verbündeten in Asien“

im strategischen Visier. Das auf „gemeinsamen Werten undInteressen“ gründende Bündnis mit Japan sei „ein Eckpfei-ler amerikanischer Politik in Asien“, um Frieden und Wohl-stand in der asiatisch-pazifischen Region aufrechtzuerhal-ten. Zudem sollte die wirtschaftliche und politische Partner-schaft mit Indien, „der bevölkerungsstärksten Demokratieder Welt“ und einer „Nation mit wachsendem internatio-nalem Einfluss“, ausgebaut werden.131

Aus rein sicherheitspolitischer Perspektive müsstesich China ausgegrenzt, ja im schlimmsten Fall im Brenn-punkt jener Bemühungen sehen, die die so genannten libe-ralen Demokratien zur Verständigung bewegen sollten.Aber die westlichen Staaten, allen voran ihre Führungs-macht USA, sind von der Finanzkraft Chinas abhängig undwirtschafts- und handelspolitisch mit dem Reich der Mitteverflochten.

„Congagement“ mit China

Amerikas Umgang mit China ist ambivalent. Die US-Stra-tegie ist eine Mischung aus Eindämmung (containment) undEinbindung (engagement), also eine Doppelstrategie des sogenannten congagement.132 Zum einen stellt China mittel-bis langfristig eine sicherheits- und energieaußenpolitischeHerausforderung für die USA dar, die es einzudämmen gilt.Zum anderen sind die USA in der Wirtschafts- und Han-delspolitik bereits heute verwundbar und auf die finanzpo-

129 Mit ihrem Urteil im Fall Commonwealth of Massachusetts et al. v. Environmental Protection Agency et al. widersprach am 2.4.2007 dieRichtermehrheit des Supreme Court der Rechtsauslegung der staatlichen Umweltbehörde (Environmental Protection Agency, EPA), diesich weigerte, den CO2-Ausstoß zu regulieren.

130 Josef Braml: Can the United States Shed Its Oil Addiction?, in: Washington Quarterly, 30 (Herbst 2007) H. 4, S. 117-130.131 Erklärung der designierten Außenministerin Hillary Clinton vor dem Auswärtigen Ausschuss des Senats vom 13.1.2009.132 Zum Begriff des „congagement“ siehe: Zalmay Khalilzad/Abram N. Shulsky/Daniel Byman/Roger Cliff/David T. Orletsky/David A.

Shlapak/Ashley J. Tellis: The United States and a Rising China. Strategic and Military Implications, Santa Monica, CA., 1999.

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Militärparade in Peking im Jahr 2009

litische Kooperation mit China angewiesen. Wirtschafts-und Sicherheitsthemen bilden auch den Kern des auf hoherEbene angesetzten U.S.-China Strategic and Economic Dia-logue (S&ED), der Anfang April 2009 am Rande des G-20-Finanzgipfels in London von den Präsidenten Obama undHu Jintao initiiert wurde.

China ist Hauptfinanzier der amerikanischenStaatsschulden.133 Ohne Pekings Unterstützung wären diekreditfinanzierte Stabilisierung des US-Banken- und Fi-nanzsystems sowie die Ankurbelung der US-Wirtschaftnicht möglich gewesen. Das Verhältnis ist symbiotischerNatur, da auch das Wohlergehen Chinas von der amerika-nischen Kaufkraft abhängt. Die exportorientierte chinesi-sche Wirtschaft ist vom (kreditfinanzierten) Konsumver-halten in den USA abhängig.

Gleichwohl sind die sino-amerikanischen Wirt-schaftsbeziehungen nicht konfliktfrei: Die Führung in Pe-king befürchtet, dass sich die USA eines Teils ihrer – vorallem von China und Japan finanzierten – Schuldenlast ent-ledigen, indem sie durch die lockere Geldpolitik der US-Notenbank eine Abwertung des Dollars bewirken. Zumal

ein niedriger Dollar auch amerikanische Exporte begünsti-gen und das Außenhandelsdefizit begrenzen helfen würde.

Insbesondere mit China ist die Handelsbilanz ne-gativ: Das Defizit mit China wird für das Jahr 2010 auf 273Milliarden Dollar geschätzt.134 Damit hat sich der Fehlbe-trag in der letzten Dekade (2000: 84 Milliarden Dollar) mehrals verdreifacht. Permanente Auseinandersetzungen um sogenannte Währungsmanipulation, unfaire Subventionen,Produktqualität und geistige Eigentumsrechte sind Indizienfür die seit längerem bestehende und sich verstärkende Un-ausgewogenheit der Handelsbeziehungen mit der Volks-republik, deren wachsende Wirtschaft übermäßig vom Ex-port abhängig ist.

Mit dem wirtschaftlich expandierenden China istzudem ein weiterer Konkurrent um knappe fossile Energie-ressourcen auf den Plan getreten, sowohl im MittlerenOsten als auch in hot spots, das heißt in entwicklungsfähi-gen Regionen wie Westafrika oder Zentralasien. Mit Argus-augen wird beobachtet, dass Saudi-Arabien neben den USAauch andere strategische Partnerschaften sucht, insbesonde-re mit Russland und China. Chinas bilaterales Ressourcen-

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133 Laut Angaben des US-Finanzministeriums hat China derzeit (Stand: Oktober 2011) 1.134 Milliarden Dollar in amerikanischenStaatsanleihen investiert. Das entspricht einem Viertel (24 Prozent) aller ausländischen Forderungen. Siehe U.S. Department of theTreasury: Major Foreign Holders of Treasury Securities, Washington, D.C., 15.12.2011, http://www.treasury.gov/resource-center/data-chart-center/tic/ Documents/mfh.txt (Stand: 15.12.2011).

134 Wayne M. Morrison: China-U.S. Trade Relations, CRS Report, Washington, D.C., 7.1.2011, S. 2.

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management mit den Ländern der Region und vor allem inAfrika unterminiert die von den USA geförderten multila-teralen Regeln für den Energiehandel: China ist besondersbemüht, seine Öllieferungen mittels bilateraler Verträgeexklusiv zu sichern.

Chinas und Russlands pragmatisches Engagementeröffnet den Ländern des Mittleren Ostens und Afrikas –auch jenen, die amerikanischen Interessen entgegenstehen –neue wirtschaftliche und militärische Optionen. So habenChina und Russland im wirtschaftlichen Eigeninteresse bis-lang die Bemühungen der USA unterlaufen, im Sicherheits-rat der Vereinten Nationen spürbare Sanktionen gegen dasiranische Regime zu verhängen, um den Iran von der Atom-waffenproduktion abzuhalten.

Neben wirtschaftlichen Interessen teilen Russlandund China auch das strategische Interesse, die USA ausZentralasien zu verdrängen oder zumindest den amerikani-schen Einfluss zu begrenzen. Seit 2003 versucht Moskau,seine Machtstellung in der Region wieder zu errichten, un-ter anderem indem es mit autokratischen Regimen – aufKosten amerikanischer Demokratisierungsbemühungenund Interessen – zusammenarbeitet. Auch China will dieEinkreisung durch amerikanische Militärbasen verhindern,die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im Zugedes „Globalen Krieges gegen den Terror“ errichtet wurden.Peking ist der größte Abnehmer russischer Militärgüter undzunehmend abhängig von russischen Energieressourcen.Zudem verfolgt China Energieinteressen, die auf Kostenamerikanischer gehen. Die Volksrepublik hat damit begon-nen, eine Pipeline zu errichten, um das 2000 entdeckteKashagan-Öl- und -Gasfeld am Kaspischen Meer für sichzu nutzen. Um unter anderem auch die Energiequellen Zen-tralasiens zu sichern, hat China die Schanghaier Organisa-tion für Zusammenarbeit ausgebaut, der neben der Volks-republik China auch Russland, Usbekistan, Kasachstan,Kirgisistan und Tadschikistan angehören.135

Chinas regionales und weltweites Engagement geht einhermit steigenden Rüstungsausgaben. Die Volksrepublik Chi-na kündigte im März 2011 an, das Militärbudget im laufen-den Jahr auf umgerechnet 91 Milliarden Dollar, also um 13Prozent gegenüber dem Vorjahr zu steigern.136 Demnachwurde der chinesische Verteidigungshaushalt seit mehr alszwei Jahrzehnten – mit Ausnahme von 2003 (9,6 Prozent)und 2010 (7,5 Prozent) – jährlich jeweils um einen zweistel-ligen Prozentbetrag erhöht. Das Pentagon geht ohnehin da-von aus, dass die tatsächlichen Zahlen mehr als doppelt sohoch sind wie die von Peking veröffentlichten Zahlen: Chi-nas Militärausgaben für 2009 wurden auf über 150 Milliar-den Dollar geschätzt.137 Bereits 2009 verdeutlichte das Pen-tagon in seinem Jahresbericht über die Militärmacht derVolksrepublik China, dass Tempo und Umfang der militä-rischen Modernisierung in China in den vergangenen Jahrenzugenommen hätten.138 Damit sehen US-Strategen die eige-ne Militärpräsenz und amerikanische Sicherheitsgarantienin der Region insbesondere gegenüber Taiwan langfristiggefährdet.139

Engagement mit Japan

Japan, dessen Sicherheit insbesondere gegenüber China undNordkorea140 vom nuklearen Schutzschild Amerikas undden stationierten 53.000 US-Soldaten gewährleistet wird,141

beobachtet diese Veränderungen mit großer Aufmerksam-keit. Um jegliche Unsicherheit seitens des asiatischen Alli-ierten auszuräumen, unterstrich Präsident Obama gleich zuBeginn seiner Amtszeit die besondere Bedeutung der US-japanischen Beziehungen als „Grundpfeiler der Sicherheitin Ostasien“.142 Premierminister Taro Aso wurde als ersterausländischer Gast im Weißen Haus empfangen. Das Landder aufgehenden Sonne war das erste Besuchsziel vonAußenministerin Clinton.

135 Vgl. Heinrich Kreft: Neomerkantilistische Energie-Diplomatie. China auf der Suche nach neuen Energiequellen, in: Internationale Politik,Februar 2006, S. 57.

136 Jason Dean: China Defense Budget To Increase By 17,7%, in: Wall Street Journal v. 4.3.2011, S. 7.137 Office of the Secretary of Defense: Annual Report to Congress. Military and Security Developments Involving the People’s Republic of

China 2010, August 2010, S. 42-43, http://www.defense.gov/pubs/pdfs/2010_CMPR_Final.pdf (Stand: 16.6.2011).138 U.S. Department of Defense: Annual Report to Congress, Military Power of the People’s Republic of China 2009, Washington, D.C.,

25.3.2009.139 Um Amerikas Entschlossenheit deutlich zu machen, hat Präsident Obama, ebenso wie schon sein Vorgänger Bush, im Januar 2010 den für

Peking sensiblen Verkauf von Waffen an Taiwan angeordnet. Vgl. Jim Wolf/Paul Eckert: Obama proposes his first arms sales to Taiwan,in: Reuters v. 29.1.2010, http://www.reuters.com/article/2010/01/30/us-taiwan-arms-usa-idUSTRE60S4X420100130 (Stand: 16.6.2011).

140 Die wiederholten Atom- und Raketentests Nordkoreas haben die politischen und diplomatischen Fronten in Japan verhärtet. Zudem hates Tokio der Bush-Regierung verübelt, dass sie im Rahmen der Sechs-Parteien-Gespräche (mit den beiden Koreas, den USA, China, Japanund Russland) über das nordkoreanische Kernwaffenprogramm Pjöngjang einseitig Zugeständnisse gemacht hat, indem Washington dasRegime von der schwarzen Liste jener Staaten nahm, die Terrorismus unterstützen, ohne dabei das japanische Reizthema der Entführungjapanischer Staatsbürger mit zu berücksichtigen.

141 Zudem ermunterte die US-Regierung unter Obama Japan, sich in der Nordkorea-Frage besser mit Südkorea zu verständigen, für dessenSchutz vor möglichen Aggressionen aus dem Norden etwa 30.000 stationierte US-Soldaten sorgen.

142 Barack Obama zit. in: Glenn Kessler, Japan Premier Cautions on N. Korea, in: Washington Post, 25.2.2009.

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Amerikanische F-15 Kampfjets des Stützpunkts auf Okinawa während der Sonnenfinsternis am 22. Juli 2009

Während dieser Begegnungen wurden zwar die noch mitder Bush-Regierung vereinbarten Eckpunkte der 2+2-Gespräche bekräftigt, wonach die Allianz erweitert undJapan eine aktivere Rolle bei der weltweiten Gewähr-leistung von Sicherheit und Stabilität zugedacht wurde.143

Doch die von Premierminister Yukio Hatoyama geführtejapanische Regierung bekräftigte ihren Anspruch, künftigauf Augenhöhe („a close and equal alliance“) mit den USAzu verhandeln und unabhängig davon eigenständige außen-politische Initiativen in der Region zu verfolgen.

Diese werden einerseits von den USA befürwortet:Japan und Indien trennt keine problematische Geschichte;vielmehr teilen die beiden Wirtschaftsmächte mit den USAgemeinsame regionale Wirtschafts- und Sicherheitsinteres-sen. Amerikanische Sicherheitsexperten waren aber ande-rerseits über den diplomatischen Versuch Hatoyamas be-

sorgt, eine so genannte East Asian Community unter ande-rem mit China und Südkorea zu bilden, die die VereinigtenStaaten ausgeschlossen hätte.

Indem sie mehr Verantwortung für die eigeneSicherheit und teilweise auch finanzielle Beiträge für inter-nationale Stabilisierungsmissionen übernahm,144 wollte diejapanische Regierung die Grundkosten für die amerikani-sche Sicherheitsgarantie vermindern. Vor allem galt es, dieamerikanische Truppenpräsenz, insbesondere auf dem pro-blematischen Luftwaffenstützpunkt in Okinawa, zu redu-zieren. Japan hätte angeblich 26 Milliarden Dollar für dienoch mit der Bush-Regierung vereinbarte Umsiedlungamerikanischer Truppen zahlen sollen. Ohnehin hatte To-kio mit etwa vier Milliarden Dollar jährlich drei Viertel derKosten der auf der Insel stationierten US-Truppen über-nommen.145 Nicht zuletzt wegen seiner anhaltenden wirt-

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143 Ferner soll neben dem erweiterten Austausch nachrichtendienstlicher Informationen ein – offiziell gegen Nordkorea gerichtetes –Raketenabwehrsystem etabliert werden.

144 So unterstützte die Vorgängerregierung bereits logistisch und finanziell den Kriegseinsatz der USA im Irak und die von den USA geführteOperation Enduring Freedom in Afghanistan. Es bleibt abzuwarten, in welcher Form sich Tokio künftig an internationalenFriedenseinsätzen beteiligen wird, nachdem das Mandat im Indischen Ozean für die Betankung alliierter Truppen in Afghanistan imJanuar 2010 ausgelaufen ist.

145 Vgl. Emma Chanlett-Avery/William H. Cooper/Mark E. Manyin: Japan-U.S. Relations: Issues for Congress, CRS Report, Washington,D.C., 3.6.2009, S. 1, 8, 10, 11.

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Trauerfeier für die Opfer der Anschläge in Mumbai im

November 2008

schaftlichen Schwierigkeiten wollte Japan die Kosten für dieamerikanische Sicherheitsgarantie neu verhandeln.

Seit dem Rücktritt Hatoyamas im Juni 2010 haben sichdie angespannten Beziehungen zwischen den USA undJapan unter Premierminister Naoto Kan und auchunter dessen Nachfolger Yoshikiko Noda wieder etwasverbessert – unter anderem auch, weil Chinas undNordkoreas Drohgebaren den Strategen in Tokio denWert der amerikanischen Sicherheitsgarantien in Erin-nerung gerufen haben. Bereits im November 2010, amRande des APEC-Gipfels in Yokohama, verständigtensich US-Präsident Obama und der damalige Premier-minister Kan, die japanischen Zahlungen für die US-Militärpräsenz bis 2016 auf jährlich 188 Milliarden Yenfestzuschreiben.146 Diese Vereinbarung trägt auch deranhaltend prekären wirtschaftlichen Lage JapansRechnung.

Mit der bereits in den neunziger Jahren einsetzenden Wirt-schaftskrise, die durch die weltweite Wirtschafts- undFinanzkrise 2007 verstärkt wurde, erscheint Japan in denAugen der Amerikaner als weniger bedrohlich. Die ameri-kanische Elite und Öffentlichkeit sind vielmehr besorgt umChinas Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht und umdie eigene Abhängigkeit von Pekings Finanzkraft.

Gleichwohl ist Japan nach China der zweitwichtig-ste Investor bei amerikanischen Staatsanleihen. Ebenso fälltdie Handelsbilanz mit Japan weiterhin negativ aus. Aber dasDefizit hat sich seit dem Rekordjahr 2006 (88 MilliardenDollar) merklich verringert: 2007: 83 Milliarden Dollar,2008: 72 Milliarden Dollar, 2009: 45 Milliarden Dollar und2010 (nur Januar bis Oktober): 48 Milliarden Dollar.147 Au-ßerdem bewirkt der im Vergleich zum Dollar starke Yen,dass die japanischen Exporte in die USA teurer werden unddamit amerikanische Hersteller einen kompetitiven Vorteilhaben.

Aufwertung Indiens

Auch das Verhältnis zu Indien ist für amerikanische Si-cherheits- und Wirtschaftsberater wichtig geworden. Trotzseiner sozio-ökonomischen Probleme ist das Land wegenseines mittel- bis langfristigen Potentials für amerikanischeInvestoren und Exporteure bedeutend.

Ausländische Direktinvestitionen in Indien sind seit 1990rasant gestiegen: von 100 Millionen Dollar im Haushaltsjahr1990/91, 3 Milliarden Dollar (2000/01), auf 27 MilliardenDollar (2008/09). Seit 2000 wurden 7,5 Prozent davon vonamerikanischen Firmen getätigt.148

Zwar bewegen sich die derzeitigen Handelsbezie-hungen noch auf einem relativ niedrigen Niveau. Aber dieTendenz steigt. Das Gesamtvolumen des bilateralen Han-dels hat sich seit 2001 verdoppelt. Amerikanische Importebezifferten sich 2008 auf einen Wert von 26 MilliardenDollar – das ist eine Steigerung um neun Prozent gegenüberdem Vorjahr. 2009 fielen die Importe wieder etwas, auf21 Milliarden Dollar. Die US-Exporte nach Indien stiegen2008 ebenso (um neun Prozent im Vergleich zu 2007) auf19 Milliarden Dollar und betrugen 2009 17 MilliardenDollar.149

146 Masami Ito: Host-nation Support to stand at ¥188 Billion Until 2016, in: The Japan Times v. 14.12.2010.147 U.S. Commerce Department, Census Bureau; zit. in: Emma Chanlett-Avery/William H. Cooper/Mark E. Manyin: Japan-U.S. Relations:

Issues for Congress, CRS Report, Washington, D.C., 24.3.2011, S. 13.148 Gemäß den Daten des indischen Handels- und Industrieministeriums; zit. in: Alan Kronstadt/Paul K. Kerr/Michael F. Martin/Bruce

Vaughn: India-U.S. Relations, CRS Report, Washington, D.C., 27.10.2010, S. 46.149 U.S. Commerce Department, Census Bureau; zit. in: ebd., S. 46; Alan Kronstadt: India-U.S. Relations, CRS Report, Washington, D.C.,

30.1.2009, S. 56.

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Amerika sieht insbesondere wirtschaftliches und sicher-heitspolitisches Entwicklungspotential im Energiebereich.Mit der Unterzeichnung des Abkommens über die zivileNutzung der Atomenergie vom März 2006 haben die USAIndien de facto als Atommacht anerkannt. Die vom ameri-kanischen Kongress erst nach längerem Ringen im Oktober2008 gebilligte Initiative drehte drei Dekaden nuklearerNichtverbreitungspolitik ins Gegenteil.150 Für die diplo-matische Aufwertung soll Neu-Delhi einen hohen Preiszahlen: nunmehr seine eigenständige und unabhängigeAußenpolitik aufgeben und sich als strategischer Partnerder USA als Gegengewicht zu China im asiatisch-pazifi-schen Raum positionieren.151

Es bleibt abzuwarten, in welcher Form Indienkünftig seine westlich orientierten sicherheits- und energie-politischen Ambitionen mit seinen wirtschaftlichen Abhän-gigkeiten von der Volksrepublik austariert. Auch die USA,deren finanzielle Verwundbarkeit mit der Wirtschafts- undFinanzkrise umso deutlicher wurde, werden sich davorhüten, den Hauptfinanzier China weiter zu provozieren.Vielmehr hat das gemeinsame Statement Obamas und HuJintaos vom 17. November 2009 in Peking, in dem Chinaeine wichtige Vermittlerrolle in Südasien – unter anderemauch zwischen Indien und Pakistan – zugedacht wurde, inNeu-Delhi Empörung und Verunsicherung darüber ausge-löst, ob Amerika unter seiner neuen Führung am Energie-und Sicherheitspakt mit Indien festhalten wird.152

Sicherheitshalber sucht Indien weitere Partner inder Region. Neu-Delhi hat bereits im Oktober 2008 einbilaterales Sicherheitsabkommen mit Japan abgeschlossen.Der Vertrag wurde analog zu einer ähnlichen Vereinbarungformuliert, die Tokio schon im März 2007 mit Australienunterzeichnet hatte.

Diese wertebasierte Diplomatie im pazifischenRaum ist durchaus im Interesse Amerikas, das seinerseitseine Allianz der Demokratien zu schmieden sucht, um da-mit dem Aufstieg Chinas in Asien zu begegnen. Im Septem-ber 2007 partizipierte Indien mit den USA, Japan, Austra-lien und Singapur in einer multinationalen militärischenSeeübung an der strategisch wichtigen Straße von Malak-ka.153 Bislang sind diese militärischen Ad-hoc-Beziehungennoch nicht institutionalisiert. Doch eine derartige Verbin-dung, die es in den Augen einiger Beobachter bereits inForm einer globalen NATO gibt, könnte Amerika dabeihelfen, seine Präsenz in Asien zu festigen und die Kostenseines weltweiten Engagements mit Gleichgesinnten zuteilen.

Indien leistet seit jeher einen hohen Beitrag an Blauhelm-soldaten für UN-Friedenseinsätze. Neu-Delhi hat auch dieUSA mit Infrastrukturaufbau und Polizeiausbildung inAfghanistan unterstützt. Im Gegenzug erhält Indien vonden USA Militärhilfe, die die amerikanische Unterstützungfür Pakistan übersteigt. Washington versucht das seit denAnschlägen in Mumbai vom November 2008 besondersangespannte Verhältnis der beiden Erzrivalen – auch durchVermittlungsbemühungen der Sicherheitsdienste – auszu-gleichen. Eine Entspannung zwischen Indien und Pakistanwäre auch im Interesse der USA. Damit könnte Pakistanseine auf eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung mitIndien fixierten Grenztruppen lösen und im Kampf gegenden Terror, sprich gegen asymmetrische Gefahren durchnichtstaatliche Akteure einsetzen, die den pakistanischenStaat im Inneren terrorisieren und zu zersetzen drohen.

„Af-Pak“-Krieg

Aus amerikanischer Sicht ist der Krieg in Afghanistan längsteine regionale Angelegenheit. Die US-Regierung unterObama versucht auch Russland und China als eigeninteres-sierte Akteure, als so genannte stakeholder einzubinden, umAfghanistan und Pakistan zu stabilisieren.

Die Nordatlantische Allianz wird zwar rhetorisch wei-terhin an ihrem Credo festhalten, wonach die Staatendes euroatlantischen Raums frei, das heißt ohne Veto-möglichkeit Russlands, über ihre Bündniszugehörigkeitentscheiden können. Doch ein für zentrale Anliegen wiedie Stabilisierung Afghanistans und auch Verhinderungder militärischen Nuklearoption Irans notwendigesEinvernehmen mit Russland erfordert den doppeltenPreis: zum einen, dass die USA die Stationierung vonKomponenten des US-Raketenabwehrsystems in Polenund Tschechien bis auf Weiteres verschieben, und zumanderen, dass die USA ihre NATO-Erweiterungsagendaim Hinblick auf Georgien und die Ukraine auch weiter-hin weniger intensiv verfolgen.

Das NATO-Außenministertreffen am 5. März 2009 inBrüssel zeitigte denn auch erste Anknüpfungspunkte. US-Außenministerin Hillary Clinton befürwortete mit Nach-druck die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit Mos-kau, die nach dem Georgien-Krieg auf Drängen der Bush-Regierung auf Eis gelegt wurde.154 Die Außenminister der26 NATO-Staaten beschlossen demnach, die formellen

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150 Vgl. Kronstadt/Kerr/Martin/Vaughn (wie Anm. 148), siehe „Summary“.151 Vgl. Christian Wagner: Indien als strategischer Partner der USA, SWP-Aktuell Nr. 13, Berlin, März 2006.152 Vgl. David Brewster: The US-India Strategic Partnership: A Fair Weather Friendship?, in: East Asia Forum v. 12.12.2009.153 Die Meerenge ist eine wichtige Durchfahrt für die Handelsschifffahrt von Indien nach China.154 Vgl. Robert Burns: Allies Find Agreement on Ties with Russians, in: Associated Press v. 5.3.2009.

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Pakistanische Soldaten im Einsatz gegen militante Islamisten in der unzugänglichen Region Waziristan, 2008

Sitzungen des NATO-Russland-Rats wieder aufzunehmen.Das sei nach Einschätzung der US-Außenministerin eine„Plattform für Zusammenarbeit“ bei Themen, die imInteresse der NATO-Staaten sind, wie etwa der Zugang zuAfghanistan.155

Auch China, das gute Beziehungen zu Pakistanunterhält, soll in die Konfliktlösung eingebunden werden.China teilt mit Amerika das strategische Interesse, die desta-bilisierende Wirkung islamistischer Extremisten insbeson-dere in Pakistan einzudämmen. Spätestens seit Osama binLaden von amerikanischen Eliteeinheiten in Sichtweite vonPakistans wichtigster Militärausbildungsstätte ausfindig ge-macht und getötet wurde, ist Pakistan ins Zentrum ameri-kanischer Terrorbekämpfung gerückt. Bruce Riedel, der

vom damaligen Nationalen Sicherheitsberater James Jonesmit der Ausarbeitung einer umfassenden Strategie für Af-ghanistan und Pakistan beauftragte ehemalige Sicherheits-berater des CIA, verdeutlichte bereits im Oktober 2008 seinSchreckensszenario, nämlich die Möglichkeit, dass islami-sche Radikale nach Afghanistan zum Verfall eines weiterenStaates beitragen: „Ein gescheiterter Staat in Pakistan ist derschlimmste Alptraum, den sich Amerika im 21. Jahrhundertvorstellen kann.“156 US-Präsident Obama ordnete für Af-ghanistan denn auch eine „strategische Überprüfung“ an.Demnach sollen eine „umfassende“, auch Pakistan mit ein-beziehende Strategie erarbeitet und die zivilen und militäri-schen Ressourcen auf solidarische Weise genutzt werden.

155 Erklärung von US-Außenministerin Hillary Clinton auf der Pressekonferenz beim Treffen der NATO-Außenminister am 5.3.2009.156 Bruce Riedel zit. in: James Kitfield: „Af-Pak“ Presents a Daunting Challenge, in: National Journal v. 21.2.2009.

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Barack Obama vor der Berliner Siegessäule bei seiner Rede im

Juli 2008

Globale NATO als „Allianz der Demokratien“

Aus amerikanischer Perspektive haben die Europäer dieSolidarität innerhalb der NATO schon seit längerem stra-paziert.157 Insbesondere die beschränkten militärischen Ka-pazitäten der meisten europäischen Bündnispartner, be-dingt durch ihre niedrigen Verteidigungsbudgets und man-gelnde Koordination, würden der Erosion des BündnissesVorschub leisten.158 Über kurz oder lang würde sich dem-nach – wie im Militäreinsatz gegen Libyen deutlich wurde

– eine Arbeitsteilung verfestigen, gemäß derer die USA undweitere Staaten mit entsprechenden militärischen Fähig-keiten und politischem Willen für Kampfeinsätze zuständigsind, und die anderen NATO-Bündnispartner, die meistenEuropäer, für die länger andauernden Aufgaben der Stabili-sierung und des Wiederaufbaus verantwortlich zeichnen.159

Demnach forderte Will Marshall vom DemocraticLeadership Council (DLC) in seinem Memo an PräsidentObama, dass er die NATO von einem nordamerikanisch-europäischen Pakt in eine globale Allianz freier Nationenumwandeln solle. Demokratien wie Japan, Australien undIndien in die NATO einzubinden, würde nicht nur dieLegitimität globaler Einsätze, sondern auch die dafür not-wendigen personellen und finanziellen Ressourcen desBündnisses erhöhen.160

Diese in ihren Grundzügen von der Clinton-Regierung inspirierte Idee wird schon seit längerem vonDemokraten und insbesondere auch von Barack Obamanahestehenden Experten in Think-Tanks befürwortet.161

Eine Allianz der Demokratien, die es in den Augen einigerBefürworter bereits in Form der globalen NATO gibt,könnte mit den Vereinten Nationen konkurrieren oder alsAlternative bereitstehen,162 wenn es künftig darum geht, Ef-fizienz, Legitimation und damit auch Lastenteilung zu ver-binden.163 Der prominenteste Verfechter dieser Idee, IvoDaalder, wurde mit Amtsantritt der Regierung Obama zumneuen NATO-Botschafter der USA ernannt.

Amerikanische Ideen für eine neueWeltordnung

Demnach müsse sich die „großartigste Allianz, die je gebil-det wurde, um unsere gemeinsame Sicherheit zu verteidi-gen“ – wie US-Präsidentschaftskandidat Barack Obama dieNATO an der Siegessäule in Berlin pries – an die neuen geo-politischen Rahmenbedingungen und die strategischenHerausforderungen des 21. Jahrhunderts anpassen.164 In sei-ner Berliner Rede betonte Obama, dass sich Amerika undEuropa nicht von der Welt abwenden sollten, um der „Lastglobaler Staatsangehörigkeit“ und Verantwortung zu entge-

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157 Andrea Szukala/Thomas Jäger: Neue Konzepte für neue Konflikte. Deutsche Außenpolitik und internationales Krisenmanagement, in:Vorgänge, Nr. 1/2002, S. 70-80.

158 Siehe zum Beispiel: Ted Galen Carpenter: NATO’s Welfare Bums, in: National Interest Online v. 19.2.2009, http://www.nationalinterest.org/Article.aspx?id=20880 (Stand: 26.4.2011). Von offizieller Seite kritisierte der scheidende US-Außenminister Robert Gates dieUnfähigkeit der Europäer, für (ihre eigene) Sicherheit zu sorgen; vgl. Greg Jaffe/Michael Birnbaum: Gates Rebukes European Allies inFarewell Speech, in: Washington Post v. 10.6.2011.

159 Zum Beispiel Henry A. Kissinger: A Strategy for Afghanistan, in: Washington Post v. 26.2.2009, S. A19.160 Will Marshall: Taking NATO Global, Memo to the New President, Democratic Leadership Council, Washington, D.C., 15.1.2009.161 Ausführlicher zu amerikanischen NATO-Perspektiven: Josef Braml: Der weltweite Westen: Perspektiven amerikanischer NATO-Politik

unter Präsident Obama, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (ZfAS), Nr. 2/2009, S. 364-378.162 Vgl. auch G. John Ikenberry/Anne-Marie Slaughter: Forging a World of Liberty Under Law, Princeton University (The Princeton Project

Papers), September 2006, S. 7, 23-26, 61.163 Siehe Ivo Daalder/James Lindsay: An Alliance of Democracies. Our Way or the Highway, in: Financial Times, 6.11.2004.164 Übersetzt aus dem Transkript der Rede von Barack Obama in Berlin, in: New York Times v. 24.7.2008.

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Barack Obama und Dmitri Medwedew auf dem APEC-Gipfel in Singapur im November 2009

hen. „Ein Wechsel der politischen Führung in Washingtonwird diese Last nicht beseitigen“, gab Obama insbesondereauch den Verbündeten Amerikas zu bedenken. Es sei nun-mehr an der Zeit, „neue, global übergreifende Brücken“ zubauen, die genauso stark sein sollten wie die transatlantischeVerbindung, um die größer werdenden Belastungen zu tra-gen.165

Dass diese beiden Blöcke, der europäische und derasiatische, miteinander verbunden werden können, ver-deutlichen die Blaupausen der ehemaligen Leiterin desPlanungsstabes im US-Außenministerium, Anne-MarieSlaughter. Nach ihrer Ideensammlung soll die NATO Part-nerschaften mit liberalen Demokratien in Asien festigen.Eine derart globalisierte NATO wäre eines von vielen, for-mellen und informellen, multilateralen Foren, die zurSchaffung einer neuen vernetzten liberalen Weltordnungbeitragen.166

Sollten die Europäer nicht bereit oder fähig sein,die ihnen zugedachten Lasten zu schultern, hätten sie weni-ger stichhaltige Argumente gegen eine Globalisierung der

NATO. Aber auch ohne das Instrument der NATO wer-den die USA versuchen, neue Mittel und Wege zu finden,um neben den transatlantischen Verbündeten auch Demo-kratien in Asien stärker in die Pflicht zu nehmen.

Der auf Hawaii geborene Barack Obama stellte sich imNovember 2009 in Tokio als „erster pazifischer Präsi-dent“ der USA vor.167 Ebenso machte AußenministerinClinton mit ihrem Ausspruch „Amerika ist zurück!“bereits im Juli 2009 in Bangkok deutlich, dass die USAdie Zukunft der asiatischen Region mitgestalten wol-len.168 Mit der Hinwendung nach Asien trägt Amerikanicht nur seiner neuen sicherheitspolitischen Bedro-hungswahrnehmung und wirtschaftlichen Abhängig-keit Rechnung, sondern will auch seine „Lasten welt-weiter Verantwortung“169 neu verteilen.

Amerika will Institutionen in Asien, etwa das Asiatisch-Pa-zifische Wirtschaftsforum (APEC) oder den Verband Süd-ostasiatischer Staaten (ASEAN), für die eigenen Ordnungs-

165 Übersetzt aus ebd.166 Ikenberry/Slaughter (wie Anm. 162), S. 27-28.167 Barack Obama: Remarks by President Barack Obama at Suntory Hall, Tokyo, Japan, http://www.whitehouse.gov/the-press-office/

remarks-president-barack-obama-suntory-hall (Stand: 15.6.2011).168 Hillary Clinton zit. in: Clinton Declares U.S. ‘is Back’ in Asia, in: Associated Press v. 22.7.2009.169 Barack Obama in Berlin (wie Anm. 164).

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Barack Obama und Vizepräsident Joseph Biden (li.) verfolgen mit Regierungsmitgliedern und Angehörigen des Nationalen Sicherheits-

rats den Einsatz gegen Osama bin Laden am 2. Mai 2011.

vorstellungen in der Region nutzbar machen. Um die USAals pazifische Macht zu stärken, nahm US-Präsident Obamawährend seines Asienbesuches im November 2009 amAPEC-Gipfeltreffen teil, wo er auch Gelegenheit hatte, sichmit den zehn Staats- und Regierungschefs der ASEAN-Staaten zu beraten. Neben der künftigen, von Washingtondominierten APEC-Agenda wurde dabei auch die Intensi-vierung der Beziehungen zwischen den USA und derASEAN diskutiert.

Für Amerika ist die ASEAN-Integration höchst in-teressant: Bis 2015 sollen eine gemeinsame Freihandelszoneund eine Sicherheits-, Wirtschafts- und soziokulturelle Ge-meinschaft etabliert werden.170 Seit Obamas Amtsantritthaben die USA bereits erhöhte diplomatische Anstrengun-gen unternommen, um schließlich am 22. Juli 2009 mit Au-ßenministerin Clintons Unterzeichnung dem Vertrag fürFreundschaft und Zusammenarbeit (TAC), eines derHauptdokumente der ASEAN, beizutreten. Damit wurde

auch der Grundstein für Amerikas möglichen Beitritt zumOstasiengipfel (EAS) gelegt:171 Im November 2011 hat Ba-rack Obama als erster amerikanischer Präsident am Gipfelteilgenommen. Das Engagement der USA in der Regionwird von den ASEAN-Staaten begrüßt, weil AmerikasInteressen auch ihre Handlungsspielräume, nicht zuletztgegenüber China, erweitern.

Im Sinne eines kompetitiven Multi-Multilateralismuswerden die verschiedenen multilateralen Organisatio-nen und Institutionen künftig dazu angehalten, umdie Aufmerksamkeit der USA zu konkurrieren. Damitkann Amerika je nach Bedarf aus einem breiteren,regional und funktional ausdifferenzierten Angebot anmultilateralen Dienstleistungen für die jeweilige Auf-gabe das am besten geeignete Instrument auswählen,um seine Interessen und liberalen Weltordnungsvor-stellungen durchzusetzen.

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170 Ferner versuchen die USA im Rahmen des Trans-Pacific Partnership Agreement (TPP), die Liberalisierung und Marktintegration in dertranspazifischen Region voranzutreiben. Fraglich bleibt indes, ob die US-Administration das dafür nötige innenpolitische Kapital einset-zen wird, dem protektionistisch eingestellten Kongress dieses Freihandelsabkommen abzuringen.

171 Im Rahmen des Ostasiengipfels treffen sich seit 2005 die 16 Staats- und Regierungschefs der zehn ASEAN-Staaten sowie Chinas, Japans,Südkoreas, Australiens, Neuseelands und Indiens.

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Schlussfolgerungen für Deutschlandund die Welt

Nach den Alleingängen der Bush-Regierung beabsichtigendie USA unter Präsident Obama, wieder auf den Pfad mul-tilateraler Tugenden zurückzukehren. Während insbeson-dere die erste Amtszeit Bushs noch unter dem Mantra „uni-lateral, soweit möglich, multilateral, wenn nötig“ stand,kündigte die Regierung Obama eine umgekehrte Hand-lungslogik an: „Wir handeln in Partnerschaft, wo wir kön-nen, und im Alleingang nur, wenn wir müssen.“ ObamasRegierung befürchtet also nicht, dass internationale Bünd-nisse und Organisationen die Macht der Vereinigten Staatenverringern. Im Gegenteil: „Wir glauben“, so US-Vizepräsi-dent Joseph Biden, „sie helfen, unsere kollektive Sicherheit,unsere gemeinsamen Wirtschaftsinteressen und Werte zustärken.“172

Gleichwohl sollten die Europäer daran denken, dass„multilateral“ in den USA seit jeher anders verstandenwird, nämlich instrumentell. Multilaterale Organisatio-nen wie die Vereinten Nationen und die NATO wurdengeschaffen, um amerikanische Interessen und Weltord-nungsvorstellungen durchzusetzen und die dabei anfal-lenden Lasten mit den Nutznießern zu teilen und Tritt-brettfahrer abzuhalten.

Der innen- und fiskalpolitische Druck in den USA wird einekontroverse transatlantische Lastenteilungsdebatte forcie-ren. Die sich zuspitzende Banken-, Finanz- und Wirt-schaftskrise verschaffte dem Demokraten Obama einengroßen Vorteil bei den Präsidentschaftswahlen – aber auchein umso größeres Problem als Präsident: Einem demokra-tischen Präsidenten fällt es in der Auseinandersetzung –selbst mit einem ebenso demokratisch kontrollierten Kon-gress – um einiges schwerer, die eigene Wählerbasis undseine Landsleute vom nachhaltigen außenpolitischen Enga-gement Amerikas zu überzeugen. Denn Barack ObamasWahlerfolg ist in erster Linie der erfolgreichen Mobilisie-rung von Minderheiten gutzuschreiben. Diese sind wenigerdaran interessiert, dass Amerika weltweit Demokratien er-richtet (Stichworte: regime change und nation building),sondern wollen vielmehr die knappen Ressourcen dafüreinsetzen, um die sozioökonomische Lage im eigenen Land

zu verbessern. Unter Obamas Führung wird Amerika viel-mehr versuchen, einen größeren Teil der „Last globalerStaatsangehörigkeit“ auf die Alliierten zu verteilen.

Mittlerweile, nach der in den USA parteiübergrei-fend gefeierten Tötung Osama bin Ladens und trotz der all-gemeinen Einschätzung, dass damit die Terrorgefahr kei-neswegs beseitigt worden sei, erklärte die Hälfte der US-Bevölkerung, Amerika solle seine Truppen „so schnell wiemöglich“ aus Afghanistan zurückziehen.173 Nach Auffas-sung des scheidenden US-Verteidigungsministers RobertGates seien die amerikanischen Bürger und nicht zuletztauch die für die Finanzierung von Auslandseinsätzen aus-schlaggebenden Abgeordneten und Senatoren im Kongressmüde, amerikanische Steuergelder zu verwenden, um überdie NATO die Sicherheit trittbrettfahrender europäischerLänder zu gewährleisten.174

Den europäischen Alliierten wird weiterhin Gele-genheit geboten, ihr „effektives multilaterales“ Engagementunter Beweis zu stellen, sei es mit einem umfangreicherenTruppenkontingent in Afghanistan, mit weniger Auflagenbei Kampfeinsätzen, mit einem stärkeren finanziellen En-gagement beim Wiederaufbau im Irak, in Afghanistan undLibyen oder bei Wirtschaftshilfen für Pakistan. Die US-Regierung unter Obama wird sich an die diplomatischeArbeit machen, aus George W. Bushs viel gescholtener coa-lition of the willing eine Koalition der Zahlungswilligen zuschmieden.

Aber auch in der Wirtschafts- und Handelspolitikwerden die USA Mittel und Wege finden, um Lasten auf dieAlliierten in Europa und Asien abzuwälzen. Selbst wennman die positiven Einschätzungen amerikanischer Regie-rungsverantwortlicher teilt, wonach sich die Lage stabili-siert habe und bereits wieder nachhaltiges Wachstum erwar-tet werden könne, ist weiterhin mit hohen Arbeitslosen-zahlen zu rechnen, weil die Lage auf dem Arbeitsmarktimmer erst zeitverzögert die wirtschaftliche Lage wider-spiegelt. Arbeitslosigkeit oder die Sorge, den Job zu verlie-ren, werden die Konsumbereitschaft hemmen und denWiederaufschwung bremsen; sie könnten sogar eine weite-re Rezession verursachen. Entsprechend stark bleibt derDruck auf die sozialen Sicherungssysteme. Erhöhte Kostenfür Sozialausgaben, in Verbindung mit den enormen Sum-men, die bereits für die Rettung des Banken- und Finanz-sektors und für die Wiederbelebung der Wirtschaft inve-

172 US-Vizepräsident Joseph Biden bei der 45. Münchner Sicherheitskonferenz vom 7.2.2009.173 Laut Umfrage der Washington Post und des Pew Research Center vom 2.5.2011, zit. in: Jon Cohen/Peyton M. Craighill: More See Success

in Afghanistan; Half Still Want U.S. Troops Home, in: Washington Post v. 3.5.2011.174 „The blunt reality is that there will be dwindling appetite and patience in the U.S. Congress – and in the American body politic writ large

– to expend increasingly precious funds on behalf of nations that are apparently unwilling to devote the necessary resources or makethe necessary changes to be serious and capable partners in their own defense,“ lautete Robert Gates Warnung an seine Kollegen währendeines Treffens der NATO-Verteidigungsminister am 10.6.2011 in Brüssel. Robert Gates zit. in: Jonathan Broder: Bearing the Burden ofNATO, in: CQ Weekly v. 18.6.2011, http://public.cq.com/docs/weeklyreport/weeklyreport-000003891515.html#src=db (Stand:30.6.2011).

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Sinkendes Vertrauen in die

Währung? Bündel von Ein-

Dollar-Noten

stiert wurden, belasten den US-Haushalt und treiben dieStaatsverschuldung in die Höhe.

Auf Seiten der USA besteht die Versuchung, dasssie sich mit ihrer lockeren Geldpolitik eines Teils ihrer –zum Großteil vom Ausland finanzierten – Schuldenlast ent-ledigen, indem sie eine Abwertung des Dollars und auch eingewisses Maß an Inflation in Kauf nehmen. Ein niedrigerDollar würde zudem amerikanische Exporte begünstigenund das Außenhandelsdefizit begrenzen helfen.

Die Unausgewogenheit der Außenhandelsbilanzist neben der hohen Staatsverschuldung ein strukturellesProblem der US-Wirtschaft (twin deficit). Das in den letz-ten Jahren angestiegene Handelsdefizit stellte die USAzunächst vor keine größeren Schwierigkeiten, solange dieLieferanten ihre Erlöse in den USA reinvestierten. SolltenInvestoren jedoch Zweifel an der Produktivität, Wirt-schaftskraft und Geldwertstabilität der USA hegen und ihreErlöse für Waren und Dienstleistungen auf anderen inter-nationalen Finanzmärkten sichern, würden der Dollar unddie US-Wirtschaft noch massiver unter Druck geraten.

Indem die USA eine Schwächung des Dollars inKauf nehmen, riskieren sie nicht nur Verwerfungen auf deninternationalen Finanzmärkten, sondern schwächen auchdas Vertrauen in den Dollar. Insbesondere sind die Schwel-lenländer davon betroffen: Die US-„Politik“ des billigenGeldes und die daraus resultierende Dollarschwemme führ-ten zu großen Kapitalflüssen in die Schwellenländer. Dabeihatte Brasilien aufgrund seines relativ offenen Kapital-

marktes 2009 und 2010 den höchsten Kapitalzufluss zu ver-zeichnen. Dieser Geldsegen dürfte Brasilien mehr schadenals nutzen: Bereits zu Jahresbeginn 2010 hat die nun über 70Prozent aufgewertete brasilianische Währung dazu geführt,dass die Ausfuhren drastisch einbrachen. Da im Gegenzugauch die Importe anstiegen, musste Brasilien sogar ein Leis-tungsbilanzdefizit verzeichnen.175 Um zu verhindern, dassseine Währung weiterhin spekulativ aufgewertet und seineExportkraft geschwächt wird, verschärfte Brasilien bereitsseine Kapitalverkehrskontrollen. Damit soll auch verhin-dert werden, dass die Wirtschaft durch einen schnellenKapitalentzug destabilisiert wird, wie das viele Volkswirt-schaften im Laufe der Asienkrise 1997 schmerzlich erfahrenmussten. Möglicherweise ziehen andere Schwellenländerwie Indonesien und Südkorea nach.

Weltbankpräsident Robert Zoellick warnte bereitsim Sommer 2009 seine Landsleute, dass „die USA einemgroßen Irrtum auflägen, wenn sie weiterhin die Rolle desDollars als weltweit vorherrschende Währung als ehernesGesetz annähmen“. Ebenso besorgt zeigten sich Abgeord-nete und Senatoren im Kongress, dass das Grundvertrauender Märkte in den Dollar als „sicherer Hafen in stürmischenKrisenzeiten“ mit zunehmender Schuldenlast künftig inZweifel gezogen werden könnte und Investoren zurückhal-tender werden, „riskante“ US-Staatsanleihen zu kaufen.176

„Ob wir mehr US-Staatsanleihen kaufen werdenund, wenn ja, wie viele – wir sollten diese Entscheidung ge-mäß Chinas eigenen Bedürfnissen und entsprechend unse-

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175 Alexander Busch: Brasilien ist einer der globalen Krisengewinnler, in: WirtschaftsWoche (wiwo.de), online unter: http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/brasilien-ist-einer-der-globalen-krisengewinnler-417382/ (Stand: 30.6.2011).

176 Alexander Bolton: Lawmakers Show Worry over U.S. Dollar’s Dwindling Status, in: The Hill v. 10.8.2009.

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Abbildung 9: US-Handel mit dem Euro-Raum: US-Exporte und Importe (Güter und Dienstleistungen)1999–2010 in Mrd. Dollar

Abbildung 10: US-Handel mit Deutschland: US-Exporte und Importe (Güter und Dienstleistungen)1999–2010 in Mrd. Dollar

Quelle: U.S. Department of

Commerce, Bureau of Economic

Analysis, 16.3.2011

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177 Vgl. D. Ku, Treasuries Purchases Will Depend on Risk: China’s Wen, in: Reuters v. 31.1.2009.178 Moody’s-Warnung erschüttert das Vertauen in die US-Wirtschaft, in: Handelsblatt v. 2.6.2011.179 U.S. Department of Commerce, Bureau of Economic Analysis: U.S. International Transactions Account Data, Washington, D.C.,

16.3.2011, http://www.bea.gov/ (Stand: 28.4.2011).

res Zieles treffen, die Sicherheit und den Wert unsererAnlagen und Devisenreserven zu gewährleisten“.177 Mit die-ser Äußerung vom Januar 2009 in London gab Premiermi-nister Wen Jiabao den USA ein deutliches Warnsignal, dassAmerika nicht unbegrenzt mit Chinas Ankäufen von Staats-anleihen rechnen könne. Im November 2010 sorgte einechinesische Ratingagentur für Aufsehen auf den internatio-nalen Finanzmärkten, indem sie die Kreditwürdigkeit derUSA herabstufte. Etwas später, im April 2011, beunruhigteStandard & Poor’s (S&P) die Finanzwelt, als sie als ersteamerikanische Ratingagentur wirtschaftspolitische Realitä-ten zur Kenntnis nahm und die künftige Kreditwürdigkeitder USA infrage stellte.

Zudem erschütterte dann im Juni 2011 die War-nung von Moody‘s, der zweiten der prominenten drei ame-rikanischen Ratingagenturen, das Vertrauen in die US-Wirt-schaft noch weiter.178 Nach der innenpolitischen Auseinan-dersetzung um die Anhebung der Schuldenobergrenzemachte S&P dann im August 2011 seine Drohung wahr undstufte die Kreditwürdigkeit der USA von AAA auf AA+herab.

Dass Amerika seine internationale Führungsrolle ein-büßen könnte, wurde bereits auf dem G20-Gipfel inSüdkorea im November 2010 offensichtlich. Die USAscheiterten mit ihrem Vorstoß, exportlastige Volkswirt-schaften wie China und Deutschland unter Druck zusetzen und Begrenzungen der Leistungsbilanzüber-schüsse (auf 4 Prozent des BIP) festzulegen. Vielmehrwurde deutlich, dass die Staatengemeinschaft AmerikasGeldpolitik der so genannten quantitativen Lockerungscharf kritisierte.

Denn wirtschaftliche Probleme der „Neuen Welt“ habenzwangsläufig Auswirkungen auf den Rest der Welt. NebenAsien sind auch Europa und insbesondere die exportabhän-gige Bundesrepublik Deutschland massiv betroffen, wennWirtschafts- und Kaufkraft in den USA einbrechen. Bereitsheute wird deutlich, dass sich Europa nicht mehr auf dieKonsumlokomotive USA verlassen kann. AmerikanischeImporte von Gütern und Dienstleistungen aus dem Euro-Raum sind 2009 im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozentzurückgegangen. Ebenso sind im selben Zeitraum die Im-porte aus Deutschland um ein Fünftel von 132 auf 105 Mil-liarden Dollar geschrumpft. Damit wurde eine jahrzehnte-währende Erfolgsgeschichte mit kontinuierlichen Zuwäch-sen abrupt unterbrochen (siehe Abbildungen 9 und 10).179

Zwar sind die (vorläufigen) Zahlen 2010 wieder etwas bes-ser; doch die Kaufkraft der Amerikaner könnte künftig auchnoch über den Währungshebel reduziert werden: Sollte mit-tel- bis langfristig der Wert des Dollars merklich nachgebenund der Euro entsprechend stärker werden, würden sicheuropäische Exporte verteuern. Deutsche Unternehmerstellen sich bereits heute auf diesen möglichen Wettbe-werbsnachteil ein, indem sie Teile ihrer Produktion in dieUSA verlagern.

Für Standortverlegungen spricht ein weitererGrund: Mit der Wirtschaftskrise und dem härter werdendenglobalen Wettbewerb wachsen auch in den USA die Sorgenum den Verlust von Arbeitsplätzen. Im Wahljahr 2012 wirdder Druck auf Abgeordnete und Senatoren im US-Kongresssteigen, protektionistische Maßnahmen zu ergreifen. Dievon amerikanischen Wettbewerbern großzügig zu ihrenGunsten interpretierbaren „Buy-American“-Bestimmun-gen im US-Konjunkturpaket sind nur ein erstes Anzeichenbevorstehender Probleme. Die durch die Wirtschaftspro-bleme verunsicherte Öffentlichkeit und ihre Vertreter imKongress sowie etablierte Interessengruppen werden esUS-Präsident Obama erschweren, Freihandelspolitik vor-anzutreiben. Jenen Staaten und Regierungen, die angesichtseigener, nicht minder problematischer struktureller Schwie-rigkeiten von Obama erwarten, in der Wirtschafts- undHandelspolitik alsbald wieder eine globale Führungsrollezu übernehmen, sollte klar werden: No, he can’t.

Gleichwohl bestünde transatlantisches Kooperati-onspotential: Die (noch) führenden westlichen Industriena-tionen sollten schnell handeln, um weltweite Standards inden Bereichen Energie- und Umwelttechnologien zu ent-wickeln. Das bereits bestehende Forum des TransatlanticEconomic Council (TEC) sollte auf diesen Kernbereich fo-kussiert werden.

Eine transatlantische Umwelt- und Energiepart-nerschaft sollte Forschung und Investitionen für neue Tech-nologien und den freien Handel alternativer Kraftstoffe immultilateralen Rahmen fördern.

Die wachsende Sensibilität der Amerikaner für dievon Umweltverschmutzung und Klimawandel verursach-ten gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sicherheitspoli-tischen Probleme erhöht den politischen Druck auf ihreRegierung, Abhilfe zu schaffen. Angesichts der Abhängig-keit Amerikas von Öllieferungen aus instabilen Regionender Welt gilt es insbesondere Biokraftstoffe zu entwickelnund Alternativen zu veralteten, auf fossile Brennstoffe ange-wiesene Wirtschaftszweige zu finden.

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Der US-Regierung wird eine wichtige Rolle bei der Inno-vationsförderung zugeschrieben.180 Neue Technologien er-fordern hohe Entwicklungskosten, die Privatunternehmennicht leisten können. Um das – allen öffentlichen Güternwie Innovation – inhärente Marktversagen zu beheben,könnte die US-Regierung verstärkt die Forschung und Ent-wicklung von energieeffizienzsteigernden Techniken underneuerbaren Energien fördern.

Technische Fortschritte stellen die gängige Null-summenrechnung zwischen Umweltschutz und wirtschaft-lichen Interessen bzw. die Rhetorik von Staat versus Marktinfrage. Immer mehr politische und wirtschaftliche Ent-scheidungsträger und potentielle Wähler in den USA sehendie Lösung ihrer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffenaus problematischen Weltregionen in der Entwicklung er-neuerbarer Energien. Demnach schaffen neue Technologiennicht nur Arbeitsplätze, sondern sie erhöhen auch dieAttraktivität des Finanzstandortes USA.

Technische Innovationsvorsprünge im Bereich erneuer-barer Energien hierzulande geben deutschen und euro-päischen Politikern gute Argumente, um bei amerikani-schen Meinungsführern und Entscheidungsträgern füreine transatlantische Energie- und Umweltpartner-schaft zu werben, die als Generator einer multilateralenumweltverträglichen Energiesicherheitspolitik funktio-nieren könnte. Die weltweite Nachfrage nach erneuer-baren Energien und die Möglichkeit, dass andere Na-tionen die von Vorreitern im nationalen oder bilatera-len181 Alleingang betriebenen Forschungsanstrengun-gen früher oder später ebenso nutzen können (Stich-wort: Trittbrettfahrer-Problematik), sollte ein weltwei-tes Interesse an kollektiven Anstrengungen zurWeiterentwicklung und Vermarktung erneuerbarerEnergien begründen.

Zum Schutz gegen die Interessen der OPEC könnten inno-vationsorientierte Regierungen antizyklische Steuern auffossile Kraftstoffe erheben, deren Höhe an den Marktpreisfür Öl gekoppelt ist. Damit wären Investitionen in erneuer-bare Energien vor plötzlichen – von der OPEC initiierten –Preiseinbrüchen geschützt. Die Steuereinnahmen könntenwiederum zur Forschung und Entwicklung erneuerbarerEnergien verwendet werden.

Anstatt in einen Wettbewerb mit aufstrebendenMächten um knapper werdende fossile Energieressourcenzu treten, könnte sich Amerika in eine stärkere Lage als

Anbieter begehrter Ressourcen positionieren: Wegweisendwären kooperative und lukrative Arrangements, um diesteigende internationale Nachfrage nach erneuerbarenEnergien und neuen Technologien zu bedienen. In einemmultilateralen Rahmen sollte Europa gemeinsam mit denUSA für den freien Handel von Biokraftstoffen,Technologien und anderen „Umweltgütern“ sorgen, um die(Energie-)Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts weltver-träglicher zu gestalten. ❙

Forschung zu Photovoltaik im National Renewable Energy

Laboratory in Golden, Colorado, 2007

180 Vgl. Council on Foreign Relations (wie Anm. 97), S. 8.181 Im März 2007 vereinbarten die USA bereits mit Brasilien eine bilaterale Energiepartnerschaft, um bei der Entwicklung von Biokraftstof-

fen zusammenzuarbeiten.

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